Zur Eigenständigkeit der DDR

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Einführung[Bearbeiten]

In diesem Artikel soll dargestellt werden, worin sich der Dissens um die Eigenständigkeit der DDR ausdrückt und welche Konsequenzen der Aspekt nach sich zieht. Aber was meinen wir überhaupt damit? Es geht um die Frage, ob das Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik heute - Jahrzehnte nach der Konterrevolution - noch als eigenständig zu betrachten ist. Gegebenenfalls geht es um die Zuspitzung auf die Frage, ob es sich bei der DDR um eine eigene Nation handelt. Wir stellen diese Fragen nicht aus der Luft gegriffen, sondern weil sich darin ein strategischer Dissens in der kommunistischen Bewegung ausdrückt. Davon auszugehen, dass das Gebiet der DDR eigenständig zu betrachten ist, bedeutet auch, dass man es für ein von der BRD besetztes Land hält. In der Konsequenz heißt dies, dass - um diese Besatzung zu brechen - ein nationaler Befreiungskampf Ostdeutschlands gegen den BRD-Imperialismus an den Tag gelegt werden muss. Diesem Ansatz gegenüber steht die Position, dass die DDR mit der Konterrevolution ihren Weg zur Integration in die BRD, also den deutschen Imperialismus, fand. In der Konsequenz geht es hier folglich um den gemeinsamen Kampf der gesamtdeutschen Arbeiterklasse gegen den deutschen Imperialismus als dem Hauptfeind im eigenen Land.

Während die erste Position dem Anschein nach in der kommunistischen Bewegung die einer Minderheit ist (und außerhalb der Bewegung ist sie schätzungsweise nicht existent), findet die zweite größere Verbreitung. Das erklärt wahrscheinlich auch, warum dieser Dissens nicht besonders häufig in kommunistischen Diskussionen auftaucht. Dennoch existieren Vertreter der ersten Position, die wir im Folgenden kurz darstellen wollen.

Es geht an dieser Stelle nicht um einzelne Betrachtungen, welche Resultate die Konterrevolution mit sich brachte - für den deutschen Imperialismus aber auch für die ostdeutsche Bevölkerung, ihre Perspektiven und Lebensverhältnisse. Dies wird an anderer Stelle behandelt: auf den Seiten der AG Sozialismus bzw. auch im Dissens zur Annexion der DDR.

Positionen[Bearbeiten]

Nach einer ersten Sichtung ist die einzige Gesamt-Organisation in der deutschen kommunistischen Bewegung, die sich explizit in ihren Publikationen zur Annahme einer eigenständigen aber besetzten DDR bekennt, die Freie Deutsche Jugend (FDJ). Anhand von Zitaten aus Dokumenten auf der Website der Organisation, soll hier ihre Position kenntlich gemacht und ausdifferenziert werden.

„Das Gebiet der DDR ist einerseits ein Klotz am Bein des deutschen Imperialismus, indem sie die Arbeiter und Jugend erst einmal ernähren muß, als von ihnen ernährt zu werden. Andererseits ist sie aber auch Absatzgebiet für Produkte und Waren aus der BRD. Sie dient als militärisch wichtige strategische Position für den kommenden Krieg um Osteuropa. Die DDR liefert billiges Menschenmaterial für die niedrigsten Arbeiten aller Art. Sie ist ein Labor geworden, in dem man in Echtzeit testen kann, wieviel Sozialabbau die Deutschen vertragen und stillhalten.“
FDJ; Die Annexion der DDR; https://www.fdj.de/infoportal


„Was ist die DDR heute? Ist sie eine Kolonie der BRD geworden. Unter einer Kolonie verstehen wir doch, daß aus diesem Gebiet Rohstoffe oder sonstige Güter in das Mutterland herausgepreßt werden. Nein, das ist bei der DDR nicht der Fall. Die DDR ist keine Kolonie der BRD geworden. Sie ähnelt mehr einer ausgelutschten Tomate. Alles wurde herausgeschleppt und der Rest, die Schale wurde weggeworfen und die Menschen vergammeln. Nicht umsonst wird die ehemalige DDR als eine der ärmsten Regionen Europas bezeichnet.“
ebd.


Unmissverständlich betont die FDJ die prekäre Lage der annektierten DDR gegenüber dem deutschen Imperialismus. Sie erläutert, wie dieser sich an der Einverleibung der DDR bereichert (hat). Der Hinweis, dass die DDR dennoch nicht als Kolonie betrachtet wird, ist wichtig zur Ausdifferenzierung der Position. Wie sich das Bild der ausgelutschten Tomate am ehesten in den marxistisch-leninistischen Sprachgebrauch übertragen lässt, bleibt offen. Stärker drückt sich die streitbare Position zur besetzten DDR und der strategischen Orientierung in folgenden Zitaten aus:

„Die Jugend der DDR kann unter der Annexion der westdeutschen Imperialisten kein Leben, geschweige denn eine Zukunft haben. Ebenso hat auch die westdeutsche Jugend keine Chanche (Fehler im Original, Anm. BolscheWiki) auf eine Zukunft, solange sie die Annexion der DDR nicht bekämpft. Das ist ein notwendiger Schritt für die Jugend in Ost wie West auf dem Weg zur sozialistischen Befreiung.“
FDJ; 2018; Flugblatt anlässlich des 3. Oktobers, https://www.fdj.de/files/fdj-website-2015/website-inhalte/Nachrichten/2018_10_Tag_Der_Annexion/Flugblatt%203%20Oktober%202018_final.pdf}


„Unter der Annexion kann es für die Völker der Welt keinen Frieden und für das deutsche Volk keine Einheit geben, sondern nur durch die Revolution der Arbeiterklasse unter Führung ihrer – der kommunistischen – Partei. Der Kampf gegen die Annexion der DDR ist ein Schritt näher an diese Revolution !“
FDJ; 2018; Tag der Annexion; https://www.fdj.de/nachricht-details/tag-der-annexion.html


Zweierlei geht aus diesen Stellungnahmen hervor: erstens steht für die FDJ der Kampf gegen die Annexion der DDR auf der Tagesordnung. In ihrer Vorstellung ist er in die revolutionäre Strategie eingebettet (Der Kampf gegen die Annexion der DDR ist ein Schritt näher an diese Revolution!). Zweitens soll dieser Kampf nicht das alleinige Werk der Ostdeutschen sein, sondern das gemeinsame Handeln der ost- und westdeutschen Jugend (es kann davon ausgegangen werden, dass Jugend hier nicht klassenneutral verstanden wird, sondern die Arbeiterjugend, ferner wohl auch die anderen Altersgruppen der Klasse gemeint sind) voraussetzen. Auch diese Äußerung ist relevant, verneint sie zumindest sehr klar die simple Vorstellung eines nationalen Befreiungskampfes <q<Ost gegen West und betont die Stoßrichtung gegen den deutschen Imperialismus sowie das einheitliche Handeln der Arbeiterklasse dabei. Aber dennoch geht es um den Kampf gegen die Annexion der DDR mit dem Ziel, sie rückgängig zu machen, also das Gebiet der DDR aus dem Hoheitsgebiet des deutschen Imperialismus zu entreißen und nicht etwa um den direkten Schritt zum Sozialismus in ganz Deutschland:

„Und eine Antwort können wir am Schluß noch allen jenen geben, die uns immer wieder staunend fragen: Und ihr in der FDJ wollt also die DDR wieder haben? Nein, antworten wir darauf, niemand will sein gestohlenes Auto als Schrott wiederhaben, nachdem es vom Dieb kaputt gemacht worden ist. Wir wollen ein neues Auto haben , eine neue DDR und alle angerichteten Schäden ersetzt!“
FDJ; Die Annexion der DDR; https://www.fdj.de/infoportal/


Bezug zu unseren Grundannahmen[Bearbeiten]

Von zentraler Bedeutung zur Klärung dieses Dissens sind ohne Frage die Erkenntnisse des Marxismus-Leninismus zur Frage der Nation. Sie wurden von den Klassikern als allgemeingültig aufgestellt, weshalb wir sie bei der Beantwortung von Fragen zu unserer konkreten Situation wie Ist das Gebiet der DDR eine eigenständige Nation? oder Sollte die deutsche Arbeiterklasse sich auf den Kampf gegen die Annexion der DDR fokussieren? auf keinen Fall außer Acht lassen sollten. Ferner spielen natürlich auch die Grundlagen zum historischen Materialismus und die marxistisch-leninistische Staatstheorie eine Rolle. Die Klärung des Dissenses hat zwangsläufig Berührungspunkte mit diesen Themenfeldern. Schließlich geht es erstens um eine historische Entwicklung und zweitens dreht sich alles in diesem Dissens letztendlich um zwei Staaten (mit unterschiedlichen gesellschaftlichen und Produktionsverhältnissen), die heute einer sind.

Wie wollen wir diesen Dissens klären?[Bearbeiten]

Haben wir uns einmal Klarheit über die Grundannahmen, über die allgemeinen Positionen der Klassiker verschafft, müssen wir prüfen, inwieweit die gegenwärtige Situation in Deutschland Indizien für eine Besatzung der DDR und damit verbunden einen nationalen Befreiungskampf liefert. Dazu gehört sicherlich ebenso, Daten zu erfassen und auszuwerten, die unter dem Gesichtspunkt der Annexion die aktuelle Situation der ostdeutschen Arbeiterklasse - verglichen und in Beziehung gesetzt mit der westdeutschen - beschreiben. Erkenntnisse aus der Klärung des Dissenses Annexion der DDR Ende des 20. Jahrhunderts können dies bereichern. Es wird außerdem nötig sein, die Recherche auszuweiten und auch Organisationen oder Gruppen direkt anzusprechen, um zu ermitteln, ob und inwieweit Positionen wie die der FDJ existieren.

Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?[Bearbeiten]

Zunächst bekräftigen die Programmatischen Thesen im Abschnitt Klassengesellschaft die nationalstaatliche Ebene als vorrangiges Feld des Klassenkampfes:

„Trotz vorhandener Unterschiede weist ihre (der Arbeiter, Anm. BolscheWiki) Klassenlage in allen Ländern grundlegende Gemeinsamkeiten auf. Überall ist das Kapital ihr Klassengegner. Der Kampf zwischen den beiden Klassen findet zuerst auf der Ebene des Nationalstaates statt, er muss aber im internationalen Maßstab koordiniert werden.“
KO; 2018; Programmatische Thesen der Kommunistischen Organisation; S. 7


Eine eindeutige Positionierung zur strategischen Orientierung findet sich in den Abschnitten Imperialismus und Revolutionäre Strategie:

„Als Kommunisten in Deutschland sehen wir den deutschen Imperialismus, d.h. die deutsche Monopolbourgeoisie und ihren Staat als unseren Hauptgegner an.“
ebd. S. 10


„Auch wenn die revolutionäre Strategie im Wesentlichen nicht von nationalen Besonderheiten abhängen kann, ist die Analyse der konkreten Kampfbedingungen in der BRD die Grundlage für eine Strategie, die sich nicht in abstrakten Lehrsätzen und Erkenntnissen erschöpft, sondern im alltäglichen Kampf handlungsleitend sein kann.“
ebd. S. 23


Das erste Zitat stellt klar, dass der Hauptstoß in unserem Kampf dem deutschen Imperialismus gelten muss, dass er der gesamtdeutschen Arbeiterklasse als ihr Hauptfeind gegenübersteht. Die zweite Aussage schließt die Annahme ein, dass wir davon ausgehen, unseren Kampf auf dem Boden der BRD zu führen und daran anzusetzen. Dass in dieser Strategie keine Zwischenschritte wie ein nationaler Befreiungskampf der annektierten DDR vorgesehen sind, drückt folgendes Zitat ebenfalls im Abschnitt Revolutionäre Strategie aus:

„Gemeint ist vielmehr, dass der Sozialismus auch heute schon in allen Klassenkämpfen als das nächste strategische Ziel propagiert werden muss, dass die Arbeiterbewegung und die kommunistische Partei auf dieses Ziel unmittelbar hinarbeiten müssen.“
ebd. S. 23


Schließlich finden sich im Abschnitt Internationalismus Aussagen, die noch einmal betonen, dass die Frage der Nation nicht losgelöst von der Frage des Kampfes der Arbeiterklasse also vom Sozialismus gesehen werden kann:

„Für Revolutionäre ist die Stellung der Arbeiterklasse zum Heimatland durch das Interesse des Kampfes für die Befreiung der nationalen Arbeiterklasse, das Ende ihrer Ausbeutung, bestimmt. Es bedeutet, dass für die Arbeiter und die revolutionäre Partei die Nation das jeweilige Feld des Kampfes ist, allerdings immer als Bestandteil des allgemeinen Kampfes für den Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab.“
ebd. S. 13f


Angesichts der Erläuterung der FDJ, dass in ihrer Vorstellung der Kampf gegen die Annexion Teil des Kampfes für den Sozialismus ist, muss es hier nicht unbedingt einen Dissens geben - jedoch abhängig davon, ob nun nur das Gebiet der DDR oder eben ganz Deutschland als nationales Feld des Kampfes verstanden wird.