Eurokommunistische Staatsauffassung

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Überblick [Bearbeiten]

Der Eurokommunismus vertrat ab ca. 1970 die Position eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus im Rahmen der bürgerlich-parlamentarischen Demokratien Westeuropas. Er grenzte sich offensiv von der Sowjetunion ab, vertrat eine Politik der „Nichteinmischung“ innerhalb der kommunistischen Weltbewegung, verwarf die Theorie von der Diktatur des Proletariats und strebte eine Regierungsbildung innerhalb des bürgerlichen Parlamentarismus und auf dem Boden der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse an. Innerhalb der kommunistischen Bewegung bestand und besteht also ein Dissens darüber, ob das Wesen des bürgerlichen Staates einen solchen Übergang zum Sozialismus zulässt, oder ob auch unter Bedingungen der bürgerlichen Republik an der klassischen These von Marx, Engels und Lenin festgehalten werden muss, dass der Staat der Bourgeoise in der Revolution zerschlagen werden muss.

Geschichte[Bearbeiten]

Der Begriff „Eurokommunismus“ bezeichnet eine politische Strömung, die einige der kommunistischen Parteien Westeuropas umfasste, während andere sich andere distanzierten. Die Eurokommunisten distanzierten sich beginnend mit den Ereignissen des sogenannten „Prager Frühlings“ 1968, also dem Versuch der Konterrevolution in Tschechien, zunehmend von der Sowjetunion und der KPdSU. Die eurokommunistischen Parteien versuchten eine Symbiose zwischen bürgerlichen Demokratievorstellungen und den Ideen des Sozialismus zu realisieren. Sie suchten also einen „Dritten Weg“ sowohl zwischen der reformistischen Sozialdemokratie und dem revolutionären Marxismus-Leninismus, als auch zwischen Kapitalismus und Kommunismus. In den 1970er Jahren war der Eurokommunismus die einflussreichste opportunistische Strömung in Westeuropa und strahlte auch auf zahlreiche kommunistische Parteien außerhalb Europas aus. Er beförderte einerseits die ideologische Verwässerung und die Integration der westlichen kommunistischen Parteien in das bürgerliche Herrschaftssystem und deren Anpassung an den kapitalistischen Status Quo, andererseits trug er massiv zur Spaltung und Destabilisierung des sozialistischen Lagers und der kommunistischen Weltbewegung bei.

Der Niedergang des Eurokommunismus begann nicht erst mit der Konterrevolution von 1989/90, sondern bereits deutlich früher. Dabei spielte insbesondere das Scheitern des „Historischen Kompromisses“ in Italien (1973), einer Koalitionsregierung aus Eurokommunisten und Christdemokraten, eine wichtige Rolle. Die konkrete Praxis der Eurokommunisten zeigte deutlich die Unmöglichkeit der opportunistischen Strategie, über Wahlen und Reformkoalitionen eine sozialistische Transformation des bürgerlichen Staats einzuleiten. Die Wahlerfolge der traditionsreichen PCI, die zeitweise über dreißig Prozent der Stimmen erhalten hatten, ließen sich nach diesem gescheiterten Experiment nie mehr erreichen. Der Zerfall der Partei setzte ein. Auch in anderen Staaten ging der Einfluss des Eurokommunismus bereits Anfang der 1980er Jahre massiv zurück.

Thesen und Positionen[Bearbeiten]

Die Eurokommunisten knüpften mit vielen ihrer theoretischen Positionen an die Tradition des klassischen Revisionismus an (Bernstein, Kautsky), begründeten ihre Haltung aber damit, dass die Kräfteverhältnisse und somit auch der Charakter des bürgerlichen Staats sich nach 1945 grundlegend geändert hätten. Daher seien der „sowjetische Weg zum Sozialismus“ und die Diktatur des Proletariats als historischer Sonderfall überholt und Europa mittlerweile in eine Epoche der demokratischen Übergänge eingetreten. Ausgerechnet nach der Erfahrung des Faschismus vertraten sie die Einschätzung, die bürgerliche Demokratie sei zu sehr gefestigt, als dass die Herrschenden gewaltsam gegen einen demokratischen Übergang zum Sozialismus vorgehen könnten.

Die eurokommunistische Strategie des friedlichen, parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus ging mehr oder weniger offen davon aus, dass der Staat als ein „Feld im Klassenkampf" aufzufassen sei, auf dem sich zwar die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen widerspiegeln, das an sich aber klassenneutral sei. Durch Veränderungen der politischen Mehrheiten sollten der Staat und seine Institutionen durch die Kommunisten kontrolliert und im Sinne der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden. Die Regierung sollte ein Reformprogramm umsetzen, das die Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung Sozialismus entwickeln würde. Auch im Sozialismus sollte der bürgerlich-liberale Parlamentarismus als politische Herrschaftsform bruchlos beibehalten werden: „Die repräsentative Demokratie, kombiniert mit Formen der direkten Demokratie, kann ohne weiteres auch die Form des sozialistischen Systems sein.“[1] In Teilen der eurokommunistischen Strömung wurde sogar die Notwendigkeit der Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Länder in imperialistischen Staatenbündnissen wie der EG und der NATO offen verteidigt. Ausführlich dargelegt ist das Staatsverständnis der Eurokommunisten in Santiago Carrillos Eurokommunismus und Staat[2].

Auf internationaler Ebene lehnten die Eurokommunisten die Vorstellung einer gemeinsamen Strategie aller kommunistischen Parteien ab und propagierten ihre These der vielen „nationalen Wege zum Sozialismus“ und der gegenseitigen „Nichteinmischung“ der KPen in ihre jeweiligen „inneren“ Angelegenheiten. Jede KP sollte für ihr Land den jeweils geeignetsten Weg finden, ob nun über Reformen oder über eine Revolution, das sei keine allgemeingültige theoretische Grundsatzfrage, sondern eine Frage der „nationalen Besonderheiten“.

Vertreter der Thesen damals und heute[Bearbeiten]

Die wichtigsten und einflussreichsten Vertreter des Eurokommunismus waren die kommunistischen Parteien Italiens (PCI), Spaniens (PCE) und Frankreichs (PCF). Zu den wichtigsten ideologischen Vertretern des Eurokommunismus gehörten Enrico Berlinguer (von 1972 bis 1984 Generalsekretär der PCI) und Santiago Carrillo (von 1960 bis 1982 Generalsekretär der PCE). Antonio Gramsci wurde von dieser Strömung als wichtiger Stichwortgeber genutzt, inwiefern seine theoretischen Aussagen dazu tatsächlich dienen, muss erst noch untersucht werden. Nicos Poulantzas war anfangs selbst in der eurokommunistischen Strömung aktiv und war deren wichtigster Theoretiker - auch hier muss geprüft werden, inwiefern die politische Praxis des Eurokommunismus und die Staatstheorie Poulantzas' sich tatsächlich miteinander vereinbaren lassen.

Alle drei ehemals großen eurokommunistischen Parteien sind heute vollständig sozialdemokratisiert. Während die PCI sich 1991 gespalten und aufgelöst hat ist die PCF bis heute die Mitgliederstärkste „kommunistische“ Partei Europas und spielt in Frankreich eine Rolle, die etwa mit der der Linkspartei in Deutschland vergleichbar ist. Auch wenn der Begriff „Eurokommunismus“ eng mit dem Kalten Krieg verknüpft ist und seit 1990 nur noch historisch verwendet wird, so lebt die eurokommunistische Theorietradition doch in zahlreichen Parteien und Strömungen weiter, so z.B. in den Reihen der Europäischen Linkspartei (ELP) und ihren Mitgliedsparteien.

Die wichtigsten theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Eurokommunismus fanden in den 1970er und 1980er Jahren einerseits auf internationaler Ebene zwischen den eurokommunistischen Parteien und der KPdSU, und andererseits auf nationaler Ebene zwischen den jeweiligen Mutterparteien und ihren zahlreichen (meist maoistischen) linken Abspaltungen statt.

In den kommunistischen Parteien Portugals (PCP) und Frankreichs (PCF) sind die ideologischen Einflüsse des Eurokommunismus bis heute stark, so z.B. in deren Konzept der „fortgeschrittene Demokratie“ bzw. "Democratique avancée".

Die DKP kann nicht ins Lager des Eurokommunismus gezählt werden, da sie im Kalten Krieg ihre Orientierung an der KPdSU und der SED nie aufgab. Dennoch gibt es zwischen der „antimonopolistischen Strategie“ und den eurokommunistischen Strategievorstellungen deutliche Parallelen. Auch die KPdSU vertrat in den 1970er und 1980er Jahren ihre eigene Variante der Strategie der „friedlichen Übergänge“ in Westeuropa. Nach 1989/90 bildete sich mit dem „Leo Mayer Flügel“ auch in der DKP eine starke Strömung mit offen eurokommunistischer Orientierung und engen Kontakten zur ELP.

Bezug zu den Grundannahmen[Bearbeiten]

Die Thesen der Eurokommunisten stehen im offenen Widerspruch zu den Grundannahmen über den Klassencharakter des bürgerlichen Staats und über die Notwendigkeit der Aufhebung dieses Staats in der Revolution (Grundannahmen Staat).

Klärung / Arbeitsschritte [Bearbeiten]

Welche theoretischen Fragen müssen beantwortet werden?[Bearbeiten]

Theoretisch müssen wir uns damit beschäftigen, wie der Eurokommunismus seine These von der Möglichkeit eines friedlichen und parlamentarischen Übergangs auf Grundlage seines spezifischen Staatsverständnisses begründet. Was genau ist das Charakteristische an der eurokommunistischen Staatstheorie? Wo unterscheidet sie sich im Konkreten von der Staatsauffassung der Theoretiker der antimonopolistischen Strategie (DKP) und der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus? Warum lässt sich der „ideelle Gesamtkapitalist“ durch Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse nicht in einen „ideellen Gesamtarbeiter“ verwandeln? Gibt es eine direkte Traditionslinie von Gramsci über Togliatti und Poulantzas zum Eurokommunismus und schließlich zur "Transformationsstrategie"?

Wir dürfen nicht bei der Feststellung stehen bleiben, dass diese Ansicht den Grundannahmen des wissenschaftlichen Sozialismus widerspricht, sondern müssen im konkret-historischen Fall nachweisen, warum das eurokommunistische Staatsverständnis falsch und die daraus abgeleiteten strategischen Schlussfolgerungen zum Scheitern verurteilt waren. Zudem muss geprüft werden, wo genau die Trennlinie zwischen dem Staatsverständnis und der Strategie der Vertreter des Eurokommunismus und der Vertreter der antimonopolitischen Strategie verläuft.

Welche empirischen Untersuchungen sind notwendig?[Bearbeiten]

Zur Beantwortung der theoretischen Fragen ist eine tiefergehende historisch-empirische Untersuchung der Erfahrungen jener eurokommunistischen Parteien notwendig, die tatsächlich in bürgerliche Koalitionsregierungen eingetreten und bei der Umsetzung ihres Programms gescheitert sind. („Historischer Kompromiss“ der PCI ab 1976, gemeinsames Regierungsprogramm der PCF mit dem Parti Socialiste 1972, Eintritt der PCF in die Mitterand-Regierung 1981-1984, etc.). Warum gelang es ihnen nicht, ihre Reformprogramme mithilfe der politischen Macht auch gegen den Widerstand der Bourgeoisie durchzusetzen? Welchen ökonomischen Bewegungsgesetzen waren sie bei diesem Versuch unterworfen? Wie verhielten sich der Staats- und Beamtenapparat gegenüber den „linken“ Regierungen? Wie gestaltete sich dabei das Verhältnis von Überbau und Basis? etc.

Klären müssen wir außerdem die Überschneidungen mit der „AG revolutionäre Arbeiterbewegung“ – unsere Aufgabe kann nicht eine umfassende Darstellung des Eurokommunismus sein, sondern muss sich auf die Staatsfrage und die daraus abgeleiteten strategischen Orientierungen fokussieren.

Bezug zu den Programmatischen Thesen[Bearbeiten]

In unseren Programmatischen Thesen halten wir mit Blick auf den Eurokommunismus fest:

„Während die kommunistischen Parteien in der BRD trotz ihrer opportunistischen Abweichungen gleichzeitig auch noch an einigen theoretischen und praktischen Grundsätzen des Marxismus-Leninismus festhielten, kam es in anderen Ländern Westeuropas, vor allem in Italien und Frankreich, unter dem Vorwand der Berücksichtigung ‚nationaler Besonderheiten‘ zu einem völligen Bruch der dortigen kommunistischen Parteien mit der kommunistischen Bewegung. Unter dem Banner des sogenannten ‚Eurokommunismus‘ wurde offenster Opportunismus und Revisionismus propagiert und praktiziert, die Solidarität mit den sozialistischen Staaten aufgekündigt, das kapitalistische Ausbeutersystem akzeptiert, die enge Verbindung mit der Arbeiterklasse zerschlagen. Die ‚eurokommunistischen‘ Parteien beteiligten sich an der Verwaltung des Kapitalismus auf Kosten der Arbeiterklasse, sie verwandelten einst mächtige kommunistische Kampfparteien in sozialdemokratische Systemparteien und liquidierten sie schließlich in einigen Fällen vollständig. Der ‚Eurokommunismus‘ ist somit eine gefährliche Spielart des Revisionismus, die wir bekämpfen.“
Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.27-28.

Zudem steht die These der „nationalen Besonderheiten“ und der Politik der „Nichteinmischung“ im Widerspruch zu den Grundprinzipien des proletarischen Internationalismus. Dazu schreiben wir in unseren Programmatischen Thesen:

„Der proletarische Internationalismus ist Grundlage für den gemeinsamen Kampf der Arbeiter und Arbeiterinnen unterschiedlicher Länder gegen Kapitalismus und Imperialismus und findet seinen konkreten Ausdruck in der praktischen Klassensolidarität über nationale Grenzen hinweg. Aus dem proletarischen Internationalismus ergibt sich auch, dass die Arbeiterklasse die Einheit des Handelns der internationalen Arbeiterbewegung im Klassenkampf anstreben muss. Insbesondere schließt der proletarische Internationalismus grundsätzlich die Entschlossenheit der revolutionären Arbeiterbewegung ein, existierende sozialistische Staaten gegen alle Angriffe des Imperialismus zu schützen, wie es beispielsweise die Haltung der Kommunisten zur UdSSR war und heute zu Kuba sein muss.[...]

Die Kongresse der ersten und zweiten Internationalen Arbeiterassoziation, der Sieg der Oktoberrevolution und die Bildung der Kommunistischen Internationale (Komintern) waren wichtige historische Etappen in der Entwicklung des proletarischen Internationalismus. Durch die Existenz einer revolutionären Weltorganisation konnten die Klassenkämpfe auf der Grundlage einer gemeinsamen strategischen Perspektive weltweit koordiniert werden. In diesem Rahmen war ein historisch einmaliges Maß an internationaler Klassensolidarität, gegenseitiger Hilfe und Unterstützung der Kommunisten, der klassenkämpferischen Arbeiterbewegung und der fortschrittlichen nationalen Befreiungsbewegungen möglich. Die Auflösung der Komintern 1943 und des Kommunistischen Informationsbüros (Kominform) 1956 waren schwere Rückschläge für die kommunistische Bewegung.“
Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S. 13-15.


Literatur und Quellen[Bearbeiten]

  • Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen in: Zeit Online, 15. Juli 1977, URL: https://www.zeit.de/1977/29/der-haeretiker-aus-asturien (letzter Zugriff: 13.12.2018).
  • Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. zitiert nach: Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen, 1977.
  2. Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.