Bestimmung und Gliederung der "Arbeiterklasse"
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Inhaltsverzeichnis
Worum geht es? Darlegung der Fragestellung, des Sachverhaltes[Bearbeiten]
Wer oder was genau ist die „Arbeiterklasse“, und wie lässt sie sich konkret bestimmen? In dieser Grundsatzfrage der marxistischen Klassenstrukturanalyse gibt es unterschiedliche Ansätze und Positionen. Das liegt vor allem daran, dass Marx und Engels keinen systematisch ausgearbeiteten Ansatz zur empirischen Klassenanalyse vorgelegt haben. Es gibt daher mehrere Interpretationen, die sich auf ihre Ausführungen stützen und versuchen, sie für eine wissenschaftliche Realanalyse fruchtbar zu machen. Dabei geht es unter anderem um folgende Fragen:
- Mit welchen (ökonomischen) Kategorien lässt sich die Klassenstruktur einer Gesellschaft untersuchen und untergliedern?
- Wodurch lässt sich speziell die Arbeiterklasse bestimmen?
- Sind „Lohnabhängige“, „Arbeiterklasse“ und „Proletariat“ dasselbe?
- Hat die Arbeiterklasse einen „Kern“?
Vor allem in den 1970er Jahren gibt es sehr umfassende Versuche, die Marxsche Klassentheorie für eine empirische Strukturanalyse zu rekonstruieren. Die beiden umfassendsten sind der des damaligen Instituts für Marxistische Studien und Forschung (IMSF) in Frankfurt am Main um Heinz Jung, das der DKP nahestand und einen marxistisch-leninistischen Ansatz verfolgte, sowie des Berliner Projekts Klassenanalyse (PKA) um Joachim Bischoff, das keiner Organisation oder Partei zugehörig war und sich dezidiert nicht-leninistisch positionierte. Beide untersuchten die Klassen- und Sozialstruktur der Bundesrepublik der 60er und 70er Jahre – die hier entwickelten strukturanalytischen Ansätze sind jedoch nach wie vor Referenzpunkte entsprechender Veröffentlichungen.
Hintergrund[Bearbeiten]
Sowohl die Veröffentlichungen des IMSF als auch des PKA versuchen, den ganzen Fundus klassentheoretischer Elemente in den Schriften von Marx und Engels aufzuarbeiten und zu verarbeiten. (Das IMSF bezieht sich darüber hinaus auch auf Lenin.) Sie beziehen sich daher auf jene Zitate und Textpassagen, die auch im Wiki versammelt sind und hier darum nicht in Gänze wiedergegeben werden können bzw. müssen. Nur einige zentrale Kategorien sollen hier aufgerufen werden:
Der Begriff der produktiven Arbeit, den Marx vor allem im Kapital und den Theorien über den Mehrwert entwickelte, bezeichnet die produktive Arbeit für das Kapital im Sinne der Mehrwertproduktion. Er schrieb u.a.:
„Produktive Arbeit ist also solche – im System der kapitalistischen Produktion –, die Mehrwert für ihren employer produziert oder die die objektiven Arbeitsbedingungen in Kapital und ihren Besitzer in Kapitalisten verwandelt, also Arbeit, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert.
Sprechen wir also von produktiver Arbeit, so sprechen wir von gesellschaftlich bestimmter Arbeit, Arbeit, die ein ganz bestimmtes Verhältnis zwischen dem Käufer und Verkäufer der Arbeit einschließt.“ [1]
Damit ist also nicht die physische (Gebrauchswert-)Seite der Arbeit gemeint, sondern die Eigenschaft, Mehrwert schaffen zu können. Es geht also nicht zwangsläufig um die Produktion materieller Gegenstände, sondern um die von Mehrwert durch unbezahlte Mehrarbeit. Der Begriff der „produktiven“ Arbeit ist darum relational, insofern er sich durch das Verhältnis von Kapital und Arbeit bestimmt. Anders als die Lohnabhängigen, die das geschaffene Mehrprodukt nur transportieren oder verkaufen, sind die Arbeiter, die den Mehrwert schaffen, daher produktive Lohnarbeiter.
Weiter unterschied Marx verschiedene Revenuequellen voneinander, also Einkommensquellen, die eine Aussage über die Stellung innerhalb oder zum Produktionsprozess machen.
"Was den fund angeht, woraus die capitalists und landlords ihre Revenue ziehn, anderseits die funds, woraus die Arbeiter sie ziehn, so ist zunächst das Gesamtprodukt dieser gemeinsame fund. […] Das Wichtige ist, welche aliquote parts jede der Partien aus diesem gemeinschaftlichen fund zieht." [2]
In diesem Zusammenhang sind auch die Begriffe der formellen und reellen Subsumption unter das Kapital relevant, die Marx ebenfalls im Kapital analysierte. Die formelle Subsumption (also „Unterordnung“) der Lohnarbeit(er) besteht, sobald sich das Kapital zwar der Produktion bemächtigt, sie sich also untergeordnet, hat und die Arbeiter aufgrund ihrer Lohnabhängigkeit genötigt sind, ihre Arbeitskraft an das Kapital zu verkaufen, der Produktionsprozess selbst aber noch nicht vollständig kapitalistisch durchorganisiert und rationalisiert ist (z.B. in der Manufaktur). Die reelle Subsumption besteht, sobald sich das Kapital vollständig des Produktionsprozesses bemächtigt und ihn sich real untergeordnet hat. Auch die Arbeiter sind dem Kapital dann vollständig untergeordnet und reproduzieren mit ihm auch ihre eigene Abhängigkeit:
„Die Produktion des absoluten Mehrwerts dreht sich nur um die Länge des Arbeitstags; die Produktion des relativen Mehrwerts revolutioniert durch und durch die technischen Prozesse der Arbeit und die gesellschaftlichen Gruppierungen. Sie unterstellt also eine spezifisch kapitalistische Produktionsweise, die mit ihren Methoden, Mitteln und Bedingungen selbst erst auf Grundlage der formellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital naturwüchsig entsteht und ausgebildet wird. An die Stelle der formellen tritt die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital.“ [3]
Damit zusammenhängend gibt der Grad der Proletarisierung an, in welchem Umfang Arbeiter vom warenförmigen Verkauf ihrer Arbeitskraft abhängen. Die Entwicklung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse, schrieb Marx, tendiere mit der fortschreitenden reellen Subsumption der Arbeit(er) unter das Kapital auch zur gesteigerten Proletarisierung und Vergrößerung der lohnabhängigen Klasse insgesamt.
Welche Positionen / Thesen gibt es? Und wer vertritt sie?[Bearbeiten]
Das IMSF diskutierte in seiner Studie zur Klassenstruktur der BRD, anhand welcher Kategorien die Klasse der Lohnabhängigen zu gliedern und wie die Arbeiterklasse zu bestimmen ist. Der Begriff der produktiven Arbeit sei dafür zu ungenau, weil er zwar angeben könne, wo Mehrwertproduktion für das Kapital geleistet werde, darüber hinaus aber nicht zur Untergliederung der Lohnabhängigen diene. Denn an der produktiven Arbeit, so die IMSF-Autoren, seien neben der Arbeiterklasse z.B. auch leitende Angestellte beteiligt, die formal zwar ebenso lohnabhängig sind, funktional aber Aufgaben für das Kapital übernehmen würden. Mit der Kategorie der produktiven Arbeit lasse sich die Arbeiterklasse also nicht genauer bestimmen.
Dafür gingen die IMSF-Autoren vom „Warencharakter der Arbeitskraft“, sprich dem Grad der Proletarisierung, als zentraler Kategorie aus. Diese, so die Annahme, sei „die Grundlage zur Bestimmung der modernen Arbeiterklasse“, denn sie vermittle „entscheidende Einblicke in die Anatomie dieser Klasse als ausgebeutete Klasse und als Antipode des Kapitals“. [4] Das Lohngesetz sei schließlich das „Verteilungsgesetz des Kapitalismus für die Arbeiterklasse“:
„Wenn die Existenz des Lohnarbeiters an seine Arbeitskraft und ihren Verkauf als Ware gegen Lohn gebunden ist, so bringt der gesetzmäßige Zusammenhang der Bestimmung des Lohnes, das Lohngesetz, auch den ökonomischen Zusammenhang, das gemeinsame ökonomische Interesse als Klasse und die gesellschaftliche Stellung der Arbeiterklasse im Kapitalismus zum Ausdruck. Es ist das Verteilungsgesetz des Kapitalismus für die Arbeiterklasse.“ [5]
Für das IMSF sind „Lohnabhängige“ und „Arbeiterklasse“ daher nicht das selbe: Letztere ist ein Teil der ersteren, und auch das Proletariat ist nur ein Teil der Arbeiterklasse. Das IMSF unterscheidet zwischen einem „Kern“ der Arbeiterklasse, der „Gesamtklasse“ sowie Zwischengruppen und -schichten wie zum Beispiel die Intelligenz oder Teilen der Angestellten.
Als „Kern“ der modernen Arbeiterklasse machen die IMSF-Autoren das Industrieproletariat der industriellen Monopolbetriebe aus. Hier seien sowohl der Warencharakter der Arbeitskraft als auch der Klassenantagonismus am weitesten entwickelt, weshalb die Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse hier am weitesten entfaltet seien. Entsprechend ihrer Qualifikationsstufe, Arbeitsfunktion sowie Form und Höhe der Entlohnung wäre diese Gruppe dann weiter zu untergliedern. Die Arbeiterklasse finde sich aber nicht nur in der materiellen Produktion: Von „zunehmender Bedeutung“ seien auch „Gruppen der Arbeiterklasse in Kaufhäusern und Handelszentralen, in staatlichen Institutionen, Konzernverwaltungen, Versicherungen, Großbanken usw.“ [6] , denn hier erreiche die Beschäftigungskonzentration ein der Industrie vergleichbares Ausmaß.
Das PKA hingegen ging von der Kategorie der produktiven Arbeit als zentraler Bestimmungs- und Gliederungskategorie aus. Die PKA-Autoren machten die verschiedenen Revenuequellen, (also Einkommensquellen – Kapital, Lohnarbeit, Grundrente) der bürgerlichen Ökonomie und die „Formbestimmung“ der Lohnarbeit zum Ausgangspunkt ihrer Klassenstrukturanalyse: Als Lohnabhängige wurden hier alle gefasst, die ihre Reproduktion maßgeblich über Lohnarbeit und die Revenuequelle des Lohnes sicherstellen.
Diese seien dann zunächst danach zu untergliedern, „ob sie eine primäre oder abgeleitete Revenue beziehen, d.h. ob sie den Fond, aus dem sie bezahlt werden, selbst produzieren oder ob ihr Lohn nur aus den Primärrevenuen Profit, Rente und Lohn abgezweigt ist.“ [7] Damit, so die Annahme, ließen sich die produktiven Lohnarbeiter des Kapitals genauer bestimmen.
Als „Arbeiterklasse“ fassten die PKA-Autoren jedoch eine weitaus größere Gruppe als die des IMSF zusammen: „Wir fassen die Lohnarbeiter des Kapitals einschließlich der industriellen Reservearmee des Kapitals, der Arbeitslosen, und die Lohnarbeiter in der nichtkapitalistischen Warenproduktion und -zirkulation im Gegensatz zu den Lohnarbeitern, die von abgeleiteter Revenue leben, unter der Kategorie der Arbeiterklasse zusammen. Wenn wir im folgenden von der Arbeiterklasse sprechen, dann sind damit also nicht nur die Lohnarbeiter des Kapitals gemeint, sondern auch die Abhängigen in den Zweigen der Produktion und Zirkulation, die sich der Unterordnung unter das Kapital bislang entzogen haben; die Unterscheidung zwischen der Arbeiterklasse und den Lohnarbeitern des Kapitals ist also allein dem Umstand geschuldet, daß selbst unter entwickelten kapitalistischen Verhältnissen die Klassengliederung nicht rein hervortritt.“ [8]
Schon dieser skizzenartige Überblick zeigt, dass die Frage, anhand welcher Kategorien eine marxistische Klassenanalyse die Sozialstruktur untersuchen muss, keine rein theoretische ist, sondern zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der Bestimmung und Größe der Arbeiterklasse führt.
Selbstverständlich hat es seitdem noch weitere Ansätze und Versuche der Wiederaufnahme klassenstrukturanalytischer Überlegungen gegeben – etwa durch Ekkehard Lieberam (2011) oder durch Jörg Miehe, der sich mit der Frage der sozialstatistischen Methode der Klassenanalyse auseinandersetzte (2011).
Obwohl beide Ansätze bzw. Studien bereits über 40 Jahre alt sind, dienen sie auch heute noch als Referenzpunkt für aktuelle Veröffentlichungen:
- Jörg Miehe (DKP) nimmt das IMSF-Konzept der „Arbeiterklasse“ zum Ausgangspunkt für seine Untersuchungen zum „Schwinden der Arbeiterklasse“ (2016)
- Ebenso das „Projekt Klassenanalyse@BRD“, jedoch in kritischer und modifizierter Form.
- Stephan Krüger bezieht sich in seinen aktuellen politökonomischen (Klassen-)Analysen auf den Ansatz des PKA (2017)
Bezug zu den Grundannahmen[Bearbeiten]
Auf der Grundlage der ökonomischen Analyse unterscheiden wir vorerst folgende Aspekte der Klassengliederung:
Wir unterscheiden die Arbeiterklasse in Nichtproletarische Klassen und das Proletariat.
Innerhalb der nicht-proletarischen Klassen unterscheiden wir:
Innerhalb des Proletariats unterscheiden wir ferner:
- Qualifizierte und unqualifizierte Arbeiter
- Kopf- und Handarbeiter
- Produktions- und Zirkulationsarbeiter
Inwiefern diese Kategorien angemessene Unterscheidungsmerkmale für die Klassenanalyse sind, bleibt Forschungsfrage unserer AG. Schließlich wird es darum gehen, aus dieser Analyse taktisch-strategische Schritte für den auf die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus gerichteten Klassenkampf abzuleiten.
Wie wollen wir den Dissens klären?[Bearbeiten]
Für die AG Klassenanalyse ergibt sich die Aufgabe den beschriebenen Dissens theoretisch nachzuvollziehen. Dazu wird es nötig sein die hierzu vorliegenden Veröffentlichungen durchzusehen und aufzuarbeiten. Auf dieser Grundlage werden wir entscheiden müssen, welche Konsequenzen sich daraus für die weiteren Arbeiten der AG ergeben und welche Relevanz die theoretische Ableitung eines Klassenbegriffes für empirische Untersuchungen hat. Ein gut beschriebener Ansatz zur Bestimmung und Gliederung der Arbeiterklasse wird von zentraler Bedeutung für die AG Klassenanalyse sein.
Selbstverständlich ist die Frage nach der Bestimmung, Größe und Gliederung der Arbeiterklasse eine, die empirisch untersucht werden muss. Ob wir das im Rahmen der AG leisten können, ist jedoch mehr als fraglich. Die Bedingung dafür ist ohnehin zuerst die Durchsicht der vorliegenden Diskussion.
Literatur[Bearbeiten]
- Institut für Marxistische Studien und Forschung (Hrsg.): Klassen- und Sozialstruktur der BRD 1950–1970. Theorie, Diskussion, Sozialstatistische Analyse. Teil I: Klassenstruktur und Klassentheorie. Theoretische Grundlagen und Diskussion, Frankfurt am Main 1973.
- Krüger, Stephan: Soziale Ungleichheit. Private Vermögensbildung, sozialstaatliche Umverteilung und Klassenstruktur. Kritik der Politischen Ökonomie und Kapitalismusanalyse, Band 5. Hamburg 2017.
- Lieberam, Ekkehard/Miehe, Jörg (Hrsg.): Arbeitende Klasse in Deutschland. Macht und Ohnmacht der Lohnarbeiter, Bonn 2011.
- Marx, Karl: Theorien über den Mehrwert, in: MEW, Band 26-1/26-2, Berlin 1965.
- Marx, Karl: Das Kapital, Bd. 1, in: MEW, Band 23, Berlin 1966.
- Projekt Klassenanalyse (PKA): Materialien zur Klassenstruktur der BRD (2 Bände). Hamburg/Westberlin 1973.