Staat und Revolution

Zurück zur AG Formen bürgerlicher Herrschaft

Überblick[Bearbeiten]

Den bürgerlichen Staat zerschlagen, die "Diktatur des Proletariats" errichten[Bearbeiten]

Hier soll kurz die Position der Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus (Marx, Engels, Lenin) zur Frage des Staats in der sozialistischen Revolution dargestellt werden. Auf Grundlage ihrer Analyse des bürgerlichen Staats als "ideeller Gesamtkapitalist" und Instrument der "Diktatur der Bourgeoisie" (siehe Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats) gingen die Klassiker davon aus, dass dieser durch die Arbeiterklasse zerschlagen und durch eine neue politische Macht, die "Diktatur des Proletariats", ersetzt werden müsse.

Bereits im Kommunistischen Manifest von 1848 hatten Marx und Engels in der Frage der Revolution und der Staatsmacht Stellung bezogen: "Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren." (MEW 4, S.481)

Vor dem Hintergrund der Erfahrung der Pariser Kommune von 1871, die Marx und Engels als ersten erfolgreichen Sturz der Herrschaft der Bourgeoisie und als ersten historischen Versuch der Errichtung einer proletarischen Staatsmacht analysierten, schärften sie ihre Position in der Staatsfrage. Die Pariser Kommune war durch die vereinten Kräfte der französischen und deutschen herrschenden Klassen im Blut ertränkt, ihre Anführer und Kämpfer zu Tausenden in den Straßen erschossen worden. Kurz nach dieser Niederlage schrieben Marx und Engels im Vorwort zur Ausgabe des Kommunistischen Manifests von 1872, dass sie den ursprünglichen Text des Manifests von 1848 um eine zentrale strategische Erkenntnis ergänzen würden: "Gegenüber […] den praktischen Erfahrungen, zuerst der Februarrevolution und noch weit mehr der Pariser Kommune, wo das Proletariat zum erstenmal zwei Monate lang die politische Gewalt innehatte, ist heute dies Programm stellenweise veraltet. Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, daß 'die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen kann‘." (MEW 4, S.573-574)

Lenin fasste in seiner Schrift Staat und Revolution (1917) die Lehre über die „Aufhebung“ und das „Absterben des Staates“ von Marx und Engels in scharfer Abgrenzung von den sozialdemokratischen Opportunisten sowie von den Anarchisten wie folgt zusammen: "Wenn der Staat das Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ist, wenn er eine über der Gesellschaft stehende und 'sich ihr mehr und mehr entfremdende' Macht ist, so ist es klar, daß die Befreiung der unterdrückten Klasse unmöglich ist nicht nur ohne gewaltsame Revolution, sondern auch ohne Vernichtung des von der herrschenden Klasse geschaffenen Apparats der Staatsgewalt, in dem sich diese 'Entfremdung' verkörpert. […] Engels sagt [im „Anti-Dühring“], daß das Proletariat, indem es die Staatsgewalt ergreift, 'den Staat als Staat aufhebt'. […] In Wirklichkeit spricht Engels hier von der 'Aufhebung' des Staates der Bourgeoisie durch die proletarische Revolution, während sich die Worte vom Absterben auf die Überreste des proletarischen Staatswesens nach der sozialistischen Revolution beziehen. Der bürgerliche Staat 'stirbt' nach Engels nicht 'ab', sondern er wird in der Revolution vom Proletariat 'aufgehoben'. Nach dieser Revolution stirbt der proletarische Staat oder Halbstaat ab. [...] Der Staat ist 'eine besondre Repressionsgewalt'. Diese großartige und überaus tiefe Definition legt Engels hier ganz klar und eindeutig dar. Aus ihr folgt aber, daß die 'besondre Repressionsgewalt' der Bourgeoisie gegen das Proletariat, einer Handvoll reicher Leute gegen die Millionen der Werktätigen, abgelöst werden muß durch eine 'besondre Repressionsgewalt' des Proletariats gegen die Bourgeoisie (die Diktatur des Proletariats). Darin eben besteht die 'Aufhebung des Staates als Staat'. Darin eben besteht der 'Akt' der Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft. Und es ist ohne weiteres klar, daß eine solche Ablösung der einen (bürgerlichen) 'besondren Gewalt' durch eine andere (proletarische) 'besondre Gewalt' unter keinen Umständen in Form des 'Absterbens' erfolgen kann. [...] Vom 'Absterben' und noch plastischer und bildhafter vom 'Einschlafen' spricht Engels ganz klar und eindeutig in bezug auf die Epoche nach der 'Besitzergreifung der Produktionsmittel durch den Staat im Namen der ganzen Gesellschaft', d. h. nach der sozialistischen Revolution. Wir wissen alle, daß die politische Form des 'Staates' in dieser Zeit die vollkommenste Demokratie ist. […] Den bürgerlichen Staat kann nur die Revolution 'aufheben'. Der Staat überhaupt, d.h. die vollkommenste Demokratie, kann nur 'absterben'." (LW 25, S. 400/408-410)

Historisch wurde diese Haltung zur Staatsfrage bis zur Spaltung der Zweiten Internationale von den revolutionären Strömungen innerhalb der alten sozialdemokratischen Parteien vertreten. Nach der Oktoberrevolution und dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde diese Tradition von den kommunistischen Parteien, allen voran den Bolschewiki, in der Kommunistischen Internationale weitergetragen. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg machten sich in zahlreichen kommunistischen Parteien wieder Vorstellungen von "friedlichen" und "demokratischen Übergängen" breit, die davon ausgingen, der Sozialismus sei auch ohne revolutionäre Zerschlagung des bürgerlichen Staats und "Diktatur des Proletariats" erreichbar (siehe dazu die folgenden Dissens-Artikel).

Zu den wichtigsten und einflussreichsten Parteien, die auch heute noch an der Notwendigkeit der Zerschlagung der Diktatur der Bourgeoisie und ihres Staats und dem Aufbau der Diktatur der Arbeiterklasse festhalten, gehört die griechische KKE. In ihrem Programm von 2013 schreiben die griechischen Genossen: "Das strategische Ziel der KKE ist die Erringung der revolutionären Arbeitermacht, der Diktatur des Proletariats, für den sozialistischen Aufbau als die unreife Stufe der kommunistischen Gesellschaft." (S. 7) "So [durch den Volksaufstand der Arbeiter- und Volksfront] können die Mechanismen der bürgerlichen Herrschaft außer Kraft gesetzt und deren Neutralisierung erreicht werden, so können sich der Sturz der Diktatur der Bourgeoisie und die vom Volk geschaffenen revolutionären Institutionen durchsetzen, die die Neuorganisierung der Gesellschaft und die Errichtung der revolutionären Arbeitermacht durchführen." (S. 12) Abschließend stellt die KKE unmissverständlich kar: "Die sozialistische Macht ist die revolutionäre Macht der Arbeiterklasse, die Diktatur des Proletariats. Die Arbeitermacht ersetzt alle bürgerlichen Institutionen, die das revolutionäre Handeln zerschlagen hat, durch die neuen, vom Volk geschaffenen, Institutionen." (S. 29)

Für längere Auszüge und detaillierte Nachweise der Klassikertexte, siehe: Grundannahmen Staat

Den bürgerlichen Staat erobern und zum Instrument der Arbeiterklasse machen[Bearbeiten]

Wer davon ausgeht, dass der bürgerliche Staat ein "klassenneutrales Instrument" ist (siehe dazu: Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats), der wird aus diesen Annahmen entsprechende strategische Konsequenzen ziehen. Der Staat muss aus dieser Sicht nicht zerschlagen und durch die "Diktatur des Proletariats" ersetzt werden, sondern kann auf friedlichem und demokratischem Wege erobert und dann als Werkzeug in den Händen der Arbeiterklasse für die umfassende Reformierung oder Abschaffung des Kapitalismus und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in Bewegung gesetzt werden. In der Regel ist damit auch die Vorstellung verbunden, es sei möglich durch groß angelegte Verstaatlichungen der Wirtschaft mit Hilfe des bürgerlichen Staatsapparats Schritte in Richtung Sozialismus einzuleiten. Auf Grundlage dieser Annahmen vertreten zahlreiche Akteure eine Reihe unterschiedlicher Szenarien:

Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky): Zu den wichtigsten Vertretern einer Strategie, die darauf orientiert, den bürgerlichen Staat zu übernehmen und ihn als Instrument der Arbeiterklasse zu nutzen, gehörten die Wortführer des klassischen Revisionismus, zunächst Eduard Bernstein, später aber auch Karl Kautsky.

Nach Marx Tod kritisierte Engels noch im hohen Alter das von Karl Kautsky und Eduard Bernstein geschriebene Erfurter Programm (1891), das aus seiner Sicht in zentralen Punkten hinter die wesentlichen Erkenntnisse des wissenschaftlichen Sozialismus zurückfiel. Dort wurde aus Furcht vor Repressalien das entscheidende in der Staatsfrage nicht gesagt. Stattdessen sollte plötzlich alles auf „friedlichem Wege“ durchführbar sein. Engels betonte dagegen, dass sowohl in der Monarchie als auch in der Republik der Staat eine „Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre“ ist.[1]

Karl Kautsky gehörte selbst zu den Gegnern Bernsteins. Seine Kritik an diesem fiel zwar verbal hart aus, schonte ihn aber besonders in der Staatsfrage. Kautsky, der zuvor Revolutionär gewesen war und entscheidend zur Verbreitung des Marxismus beigetragen hatte, vermied eine schonungslose Kritik an Bernstein. In seinem Buch Bernstein und das sozialdemokratische Programm (1899) wurde seine Tendenz zum Opportunismus gerade in der Frage des Staates deutlich. Keine Erwähnung findet bei Kautsky die entscheidende Marxsche Aussage, die bereits von Bernstein bestritten wurde, nämlich dass der Staatsapparat zerschlagen werden muss. Das gipfelt in dem Satz: „Die Entscheidung über das Problem der proletarischen Diktatur können wir wohl ganz ruhig der Zukunft überlassen.“ [2]

In seinen Broschüren Die soziale Revolution (1902) und in Der Weg zur Macht (1909) ist überall von der „Eroberung der Staatsgewalt“ die Rede. Auch diese Formulierung lässt bewusst die Interpretation zu, dass damit die Eroberung der Macht ohne Zerstörung der Staatsmaschine gemeint ist. In dem Artikel Die neue Taktik (1912) sagt Kautsky schließlich offen, dass die Aufgabe des Massenstreiks nicht die sein kann, die Staatsgewalt zu zerstören, „sondern nur die, eine Regierung zur Nachgiebigkeit in einer bestimmten Frage zu bringen oder eine dem Proletariat feindselige Regierung durch eine ihm entgegenkommende zu ersetzen.“ Der Sieg des Proletariats könne aber nie „zu einer Zerstörung der Staatsgewalt, sondern stets nur zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der Staatsgewalt führen. […] Und das Ziel unseres politischen Kampfes bleibt dabei das gleiche, das es bisher gewesen: Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung.“[3] Lenin schlussfolgerte in seiner Abrechnung mit der alten Sozialdemokratie der Zweiten Internationale: „Wir aber werden mit diesen Verrätern am Sozialismus endgültig brechen und werden für die Zerstörung der ganzen alten Staatsmaschinerie kämpfen, auf dass das bewaffnete Proletariat selbst die Regierung sei. Das sind zwei grundverschiedene Dinge.“ [4] 1914 stand Kautsky schließlich auf der Seite der Kriegsbefürworter Noske, Ebert, Scheidemann.

Rosa Luxemburg stellte im Gegensatz zu Kautsky in ihrer scharfen Polemik gegen Bernstein (Sozialreform oder Revolution, 1899) die Staats- und Machtfrage von Anfang an ins Zentrum ihrer Kritik: "Es ist grundfalsch und ganz ungeschichtlich, sich die gesetzliche Reformarbeit bloß als die in die Breite gezogene Revolution und die Revolution als die zusammengedrängte Reform vorzustellen. Eine soziale Umwälzung und eine gesetzliche Reform sind nicht durch die Zeitdauer, sondern durch das Wesen verschiedene Momente. Das ganze Geheimnis der geschichtlichen Umwälzungen durch den Gebrauch der politischen Macht liegt ja gerade in dem Umschlage der bloßen quantitativen Veränderungen in eine neue Qualität, konkret gesprochen in dem Übergange einer Geschichtsperiode, einer Gesellschaftsordnung in eine andere. Wer sich daher für den gesetzlichen Reformweg anstatt und im Gegensatz zur Eroberung der politischen Macht und zur Umwälzung der Gesellschaft ausspricht, wählt tatsächlich nicht einen ruhigeren, sicheren, langsameren Weg zum gleichen Ziel, sondern auch ein anderes Ziel, nämlich statt der Herbeiführung einer neuen Gesellschaftsordnung bloß unwesentliche Veränderungen in der alten."[5]

Verstaatlichung als Weg zum Sozialismus (Owen/Lasalle): Die Idee eines friedlichen und demokratischen Übergangs zum Sozialismus durch allmähliche Verstaatlichung aller Produktionsmittel durch den (bürgerlichen) Staat ist fast so alt wie die Arbeiterbewegung selbst. Als erster entwickelte und propagierte der britische Frühsozialist Robert Owen (1771-1858) diese Vorstellung. Owen war selbst Kapitalist und Fabrikbesitzer, kritisierte aber die unmenschlichen und irrationalen Auswüchse, die diese Produktionsweise mit sich brachte. Eine mögliche Lösung sah Owen darin, die Fabriken in Genossenschaftseigentum zu überführen und sie so der Kontrolle aller in der Fabrik beschäftigten Arbeiter zu übergeben. Um diese genossenschaftlichen Musterfabriken in der Krise vor der Pleite zu bewahren, sollte der Staat durch Subventionen, Verstaatlichungen und andere Eingriffe auf lange Sicht dafür sorgen, dass sich das Genossenschaftsmodell gegen die privatkapitalistischen Unternehmen durchsetzt. Früher oder später sollte sich auf diesem Weg ein „Genossenschaftssozialismus“ – auf der Grundlage von Staats- und Genossenschaftseigentum, aber ohne zentrale Planung – als vorherrschende Produktionsweise etablieren. [6]

Eine fast identische Auffassung gewann in den 1860er Jahren durch Ferdinand Lassalle (1825-1864) zunehmend Einfluss in der deutschen Arbeiterbewegung. Auch Lasalle wollte die sozialistische Gesellschaft über Produktionsgenossenschaften und Staatshilfen erreichen. Mit Blick auf die Rolle des Staates griff er auf die idealistischen Standpunkte von Fichte und Hegel zurück und ging von einer über den Klassen stehenden „Staatsidee“ und einem sich in der Geschichte immer weiter verselbständigen Staat aus. Der wichtigste Kampf der Arbeiterklasse, so Lasalles Einschätzung, würde nicht auf ökonomischem, sondern nur auf politischem Gebiet geführt werden und habe die „Demokratisierung“ des bürgerlichen Staates zum Ziel - dann würde dieser unweigerlich zum Vertreter der Interesse der größten Klasse, also des Proletariats. [7]

Heutige Vertreter dieser Position, zum Beispiel die Kommunistische Partei Portugals (PCP), gehen davon aus, dass durch die Verstaatlichung wichtiger Unternehmen ein "sozialistischer Sektor" innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft geschaffen werden könne (vgl. Programm der PCP).

Alle Varianten dieser Genossenschafts- und Verstaatlichungsstrategie setzen einen „wirklich demokratischen“ Staat voraus, der das Allgemeinwohl der Gesellschaft zu verwirklichen sucht – letztlich also einen klassenneutralen Staat. Durch die Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts durch die Arbeiterbewegung sollte diese in die Lage versetzt werden, die Staatsmacht zu übernehmen und den friedlichen Weg in Richtung Genossenschaftssozialismus einzuschlagen. Der bürgerliche Staat sollte dabei von den Arbeitern nicht zerschlagen, sondern als Werkzeug für die Umsetzung ihrer sozialistischen Ziele auf demokratischem Weg erobert werden.

"Antimonopolistische Strategie" (DKP): Die Strategie der DKP geht davon aus, dass der bürgerliche Staat im staatsmonopolistischem Kapitalismus als alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopolbourgeoisie fungiert (siehe Dissens Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats). Das ermöglicht die Formierung eines breiten "antimonopolistischen Bündnisses", dass in Reformkämpfen die Macht der Monopole allmählich zurückzudrängen vermag. Dadurch soll schließlich eine "Wende zu sozialem und demokratischen Fortschritt" eingeleitet werden.

Im Einleitungsreferat von Willi Gerns auf dem Mannheimer Parteitag von 1978 ist diese Etappen-Vorstellung ausführlich dargelegt: "Was unsere Zielsetzung einer Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt angeht, so handelt es sich um eine Orientierung für die unmittelbar vor uns liegende Periode. Dabei geht es darum, die Versuche des Großkapitals, einen reaktionären Ausweg aus der Krise zu finden, zu durchkreuzen, die sozialen und demokratischen Errungenschaften des arbeitenden Volkes sowie die Ergebnisse der Entspannungspolitik zu verteidigen und den aktiven Kampf für ihre Erweiterung zu führen. […] Die in der Orientierung auf eine Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt gestellten Aufgaben gehen noch nicht über den Kapitalismus hinaus. Sie bleiben noch im Rahmen der alten Gesellschaft. Innerhalb dieses Rahmens schränken sie die Macht der Monopole ein und verbessern so die Positionen der Arbeiterklasse und der anderen antimonopolistischen Kräfte. Zu grundlegenderen Veränderungen kommt es, wenn – wie wir das für möglich und erstrebenswert halten – der Kampf um eine Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt in eine antimonopolistische Demokratie einmündet. Auch sie stellt allerdings noch keine neue Gesellschaftsordnung dar. Vielmehr handelt es sich um eine, ausgehend von den heutigen Bedingungen des Klassenkampfes in einem hochentwickelten kapitalistischen Land wie der Bundesrepublik, mögliche Form der Einleitung des revolutionären Prozesses des Übergangs von der alten zur neuen Ordnung."[8]

Mit dieser Vorstellung ist auch die Beteiligung der Kommunisten an der bürgerlichen Regierung verbunden, wie sie im Programm der DKP von 2006 beschrieben wird: "Dieser Kampf [um eine Wende zu sozialem und demokratischem Fortschritt] kann in antimonopolistische Übergänge einmünden. Voraussetzung dafür ist, dass der antimonopolistische Block über so viel außerparlamentarische Kraft und parlamentarischen Einfluss verfügt, dass er eine die gemeinsamen Interessen vertretende Regierung bilden kann. Gestützt auf starke außerparlamentarische Bewegungen, die Organisationen der Arbeiterbewegung und den Aufbau einer neuen demokratischen Macht können tiefgreifende politische und ökonomische Umgestaltungen eingeleitet werden, in deren Ergebnis die Macht des Monopolkapitals gebrochen wird. Die DKP ist stets davon ausgegangen, dass die antimonopolistische und die sozialistische Umwälzung miteinander verbundene Entwicklungsstadien in dem einheitlichen revolutionären Prozess des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus sind. Antimonopolistische Umwälzung bedeutet eine Periode des revolutionären Kampfes, in der noch Elemente des Kapitalismus und schon Keimformen des Sozialismus vorhanden sind. Zunächst werden noch die Elemente des Alten überwiegen, im Klassenkampf aber werden mehr und mehr die Wesenselemente der neuen Gesellschaft das Übergewicht erlangen müssen, wenn es der Konterrevolution nicht gelingen soll, den revolutionären Prozess zu ersticken." [9] Zu den beschriebenen "antimonopolistischen Umwälzungen" gehört auch die Verstaatlichung der wichtigsten Produktionsmittel mit Hilfe des eroberten bürgerlichen Staatsapparats: "Der wesentliche Schritt muss die Überführung der Banken und Versicherungskonzerne sowie der produktions- und marktbeherrschenden Konzerne in anderen strategischen Wirtschaftsbereichen in demokratisch kontrolliertes öffentliches Eigentum sein." [10]

Die Antimonopolistische Strategie beruht also auf der Grundannahme, dass der bürgerliche Staatsapparat, der im Monopolkapitalismus zunächst als das alleinige Machtinstrument der Monopole charakterisiert wird, durch eine „antimonopolistische Regierung“ unter die Kontrolle der Arbeiterklasse und deren Bündnispartner gebracht und als Instrument verwendet werden kann, um die Macht eben dieser Monopole zu brechen und sie schrittweise zu enteignen. Zwar finden sich im Programm der DKP auch Formulierungen, die von der Notwendigkeit einer "revolutionären Überwindung" des Kapitalismus ausgehen (S. 28), die Strategie der DKP orientiert jedoch eindeutig auf eine demokratische und legale Übernahme des bürgerlichen Staatsapparates, nicht auf dessen Zerschlagung.

Eurokommunismus: Zu den wichtigsten Vertretern einer Theorie des "friedlichen Übergangs" gehörten in Westeuropa ab den 1970er jahren die sogenannten "Eurokommunisten", hauptsächlich vertreten durch die kommunistischen Parteien Frankreichs (PCF), Italiens (PCI) und Spaniens (PCE). Die Strategie der Eurokommunisten ging nicht nur davon aus, dass der bürgerliche Staat und seine Institutionen nicht zerschlagen werden müssten, sondern dass die bürgerliche Demokratie sogar in ihrer konkreten Organisationsform bruchlos in den Sozialismus übertragen werden könne. Das "sowjetische Revolutionsmodell" und die Theorie der "Diktatur des Proletariats" wurde von den Eurokommunisten explizit verworfen. Bis heute ist diese Theorietradition besonders in den reihen der kommunistischen Partei Portugals (PCP) und der PCF vertreten.

Ausführlicher Text: Eurokommunistische Staatsauffassung

"Demokratischer Sozialismus" (Linkspartei/PDS): Innerhalb der deutschen Sozialdemokratie gibt es verschiedene Kräfte, die zumindest theoretisch für sich in Anspruch nehmen, einen „demokratischen Sozialismus“ zu vertreten, der von allen angeblichen Mängeln und Deformationen des sowjetischen Sozialismus frei sein soll. Dahinter verbirgt sich in der Regel die Vorstellung der Möglichkeit eines „dritten Wegs“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus oder eines reformierten "Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“. Diese Strömungen gehen zumindest implizit von einer Klassenneutralität, nicht nur des bürgerlichen, sondern auch des sozialistischen Staats aus, der in dieser Vorstellung nur eine reformierte Variante des bürgerlichen Staats ist.

Verbreitung fand der Ausdruck „demokratischer Sozialismus“ ab etwa 1920 infolge der Spaltung der europäischen Arbeiterbewegung. Mit dem Begriff grenzte sich die Sozialdemokratie von den Kommunisten ab, die ihrerseits am Begriff der „Diktatur des Proletariats“ festhielten und die Sowjetunion verteidigten. Seitdem haben sowohl sozialdemokratische und sozialistische als auch „kommunistische“ Gruppen, Parteien und Regierungen unterschiedliche Politiken als „demokratischen Sozialismus“ bezeichnet. Der Ausdruck wurde seit etwa 1970 im „Reformkommunismus“ Osteuropas, im westeuropäischen "Eurokommunismus" sowie 1989 von Teilen der DDR-Opposition verwendet. Nach 1989 wurde der „demokratische Sozialismus“ zum Leitbegriff der PDS, heute der Linkspartei.

In ihrem Programm (2011) leitet die Linkspartei zunächst die Notwendigkeit eines „demokratischen Sozialismus“ aus dem Scheitern der Sowjetunion und des sozialistischen Lagers her: "Der erste große Versuch im 20. Jahrhundert, eine nichtkapitalistische Ordnung aufzubauen, ist an mangelnder Demokratie, Überzentralisation und ökonomischer Ineffizienz gescheitert. Unter Pervertierung der sozialistischen Idee wurden Verbrechen begangen. Dies verpflichtet uns, unser Verständnis von Sozialismus neu zu bestimmen. Wir wollen einen demokratischen Sozialismus, der den gesellschaftlichen und globalen Herausforderungen und Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts gerecht wird." (Programm der Partei DIE LINKE, S. 27)[11]

In den folgenden Passagen wird aber klar, dass die Linkspartei anstatt von der Zerschlagung des Staats als Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus explizit von einer Kontinuität der bürgerlichen Staatlichkeit und ihrer Organe ausgeht: "Die Überwindung der Dominanz kapitalistischen Eigentums in der Wirtschaft und ein sozialer Rechtsstaat sind dafür die wichtigsten Grundlagen. Alle Menschen sollen am Reichtum teilhaben können. Der sozial gleiche Zugang jedes Menschen zu den Bedingungen eines freien Lebens und die Demokratisierung aller Lebensbereiche gehören zusammen. Sozialismus und Demokratie sind untrennbar. […] Wir wollen, dass Rechtsstaat und Sozialstaat eine Einheit bilden, und streiten für eine weltweite Ordnung, die durch Frieden, Solidarität und Gerechtigkeit geprägt ist. So kann ein gutes Leben gestaltet, eine soziale Demokratie hergestellt und erweitert werden." (S. 27.)

Es geht also nicht mehr um die Abschaffung, sondern nur noch um die „Überwindung der Dominanz“ des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln – gemeint ist vermutlich eine allmähliche Verstaatlichung im Rahmen einer irgendwie gearteten kapitalistischen Mischwirtschaft, kombiniert mit sozialstaatlichen Mechanismen der Reichtumsumverteilung. Wichtigstes Merkmal des „demokratisch-sozialistischen“ Staats ist aus dieser Sicht nicht etwa sein Klassencharakter als Staat der Arbeiterklasse, sondern dass er formal die Formen der liberalen Demokratie und des bürgerlichen „Rechtsstaates“ einhält. Dies setzt nicht nur bestimmte Vorstellungen über die Reformierbarkeit und Klassenneutralität des bürgerlichen Staats voraus, sondern unterstellt letztlich auch, der sozialistische Staat müsse ebenfalls klassenneutral sein, also für einen „pluralistischen“ und „demokratischen“ Ausgleich zwischen den nach wie vor existierenden Klasseninteressen sorgen.

Der Weg zu diesem „demokratischen Sozialismus“ führt über eine allmähliche „Transformation“ im Rahmen der bürgerlichen Staatlichkeit und Legalität: „DIE LINKE kämpft in einem großen transformatorischen Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung für den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Dieser Prozess wird von vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gekennzeichnet sein.“[12] Damit wird der Unterschied zwischen bürgerlichem und sozialistischem Staat zu einer rein graduellen Differenz, die sich daran bemisst, wie weit das politische Kräfteverhältnis bereits in Richtung Sozialismus verschoben ist und wie viele Reformen bereits umgesetzt wurden. (Vgl. dazu die Position des "klassischen Revisionismus", s.o.)

"Demokratischer Sozialismus" im Programm der SPD: Die SPD versteht unter „demokratischem Sozialismus“ seit dem Godesberger Programm (1959) „soziale Marktwirtschaft“ mit „gerechter Verteilung“ von Gewinnen, die gleiche Lebenschancen eröffnen soll. Nach dem Politikwissenschaftler Thomas Meyer (SPDler mit Nähe zur Frankfurter Schule) vertreten alle Theorien eines demokratischen Sozialismus ein „egalitäres Gerechtigkeitskonzept", bejahen den „demokratischen Rechtsstaat“, streben sozialstaatliche Sicherungen aller Bürger an, wollen das Privateigentum „sozialverträglich“ begrenzen und den Wirtschaftssektor „gesellschaftlich einbinden“ und „politisch regulieren“. In ihrem Hamburger Programm (2007) schreibt die SPD: „Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, deren Verwirklichung für uns eine dauernde Aufgabe ist. Das Prinzip unseres Handelns ist die soziale Demokratie.“[13]

Die SPD meint mit "demokratischem Sozialismus" also nichts anderes, als eine bestimmte Spielart des Kapitalismus. Er kann aus dieser Sicht durch Reformen erreicht werden und setzt nicht nur keinerlei Bruch mit dem bestehenden bürgerlichen Staat voraus, sondern hat diesen sogar zur Existenzbedingung.

Andere Vertreter: Es gibt so viele Vertreter einer Strategie der Übergänge, dass hier nur einige wenige Beispiel aufgezeigt werden konnten. Einen wichtigen historischen Bezugspunkt, nicht nur für die Anhänger des "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Lateinamerika, sondern auch für viele andere Linke, bildet die Chilenische Unidad Popular unter Führung von Salvador Allende, dessen Versuch eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus 1973 durch einen Militärputsch blutig beendet wurde.

"Hegemoniekrise", "Bewegungs-" und "Stellungskrieg" (Gramsci)[Bearbeiten]

Antonio Gramscis strategische Überlegungen bauen auf seiner Theorie der "Hegemonie" und des "integralen Staats" auf (siehe dazu: Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats). Die Kernthese seiner Analyse lautet, dass die bürgerliche Herrschaft nicht nur auf Repression, sondern auch auf zahlreichen Mechanismen der Integration, auf der Herstellung von "Konsens", beruht. Die Macht der Bourgeoisie geht demnach nicht nur von den staatlichen Apparaten aus, sondern durchzieht auch die Strukturen der "Zivilgesellschaft". Gramsci spricht von einem System an "Schützengräben", die der "Staatsfestung" vorgelagert sind. Je weiter diese Zivilgesellschaft und die Hegemonie der Bourgeoisie entwickelt sind, desto stabiler ist deren Herrschaft und desto weniger wahrscheinlich wird es, dass sie durch einen schnellen Sieg über den staatlichen Gewaltapparat (z.B. durch einen Aufstand, einen Generalstreik oder einen Staatsstreich) gestürzt werden kann.

Gramsci ging davon aus, dass die Oktoberrevolution in Russland so verhältnismäßig schnell siegen konnte, weil die bürgerliche Zivilgesellschaft im rückständigen Russland noch kaum entwickelt war. In den viel weiter entwickelten kapitalistischen Ländern Westeuropas war die bürgerliche Herrschaft durch eine viel stärker ausgeprägte Hegemonie abgesichert - der revolutionäre Sturm auf den Staat musste scheitern. Auf Grundlage dieser historischen Beobachtungen entwickelte Gramsci seine strategisch-taktischen Überlegungen: Notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für das Gelingen einer Revolution war aus Gramscis Sicht das Eintreten einer "Hegemoniekrise". Unter Voraussetzung der stabilen Hegemonie der Bourgeoisie musste die Arbeiterbewegung von der Taktik des "Bewegungs-" (Oktoberrevolution) zu der des "Stellungskriegs" übergehen. [...]

[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]

Gramsci ging keineswegs davon aus, dass die Revolution sich einfach durch den friedlichen Übergang der Hegemonie von der Bourgeoisie auf das Proletariat und ohne Zerschlagung des Staatsapparats vollziehen würde. Tritt eine Hegemoniekrise ein, etwa durch eine tiefe ökonomische Krise oder die Niederlage in einem Krieg, so kommt es zur "Loslösung der zivilen Gesellschaft von der politischen: ein neues Hegemonieproblem ist aufgetreten, das heißt, die historische Basis des Staates hat sich verschoben. Es gibt eine extreme Form politischer Gesellschaft: entweder um gegen das Neue zu kämpfen und das Wankende zu erhalten, indem man es repressiv wiederbefestigt, oder als Ausdruck des Neuen, um die Widerstände zu brechen, auf die es bei seiner Entfaltung trifft, usw." (H. 7, §28, S. 882) Hier beschreibt Gramsci also die zwei möglichen Funktionsweisen der Staatsgewalt in der revolutionären Situation: Entweder der Staatsapparat befindet sich noch in den Händen der Bourgeoisie und sie versucht mit dessen Hilfe ihre Herrschaft zu sichern und die Hegemonie wieder herzustellen, oder das Proletariat hat bereits die Macht übernommen und sich einen eigenen politischen Herrschaftsapparat errichtet, der nun die kapitalistische Gesellschaftsordnung abschafft, die Macht der Bourgeoisie bricht und schließlich die Zivilgesellschaft der neuen ökonomischen Struktur anpasst, d.h. die Hegemonie der Arbeiterklasse herstellt.

Kampf um "Hegemonie" statt um Staatsmacht ("Gramscianer")[Bearbeiten]

[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]

Staat als "Feld im Klassenkampf" (Poulantzas-Anhänger)[Bearbeiten]

[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]

"Revolutionärer Volkskrieg" (Maoismus)[Bearbeiten]

[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]

Kampf um demokratische Rechte[Bearbeiten]

Hier sollen die Positionen dargestellt werden, die davon ausgehen, dass der Kampf um demokratische Rechte innerhalb des Kapitalismus und der bürgerlichen Herrschaft möglich ist und ein zentrales Element des Klassenkampfes darstellt. Dabei geht es sowohl um die offensive Durchsetzung sozialer und politischer Errungenschaften (allgemeines Wahlrecht, Sozialversicherung, Mindestlohn etc.) als auch um Abwehrkämpfe, die diese Errungenschaften gegen Angriffe der Bourgeoisie verteidigen (z.B. Kampf gegen Notstandsgesetze, Verbot der Kommunistischen Partei etc.). Damit ist an sich noch nichts darüber gesagt, wo genau die Grenzen der Demokratisierung innerhalb der bürgerlichen Herrschaft verlaufen und ob der Staat transformiert werden kann oder zerschlagen werden muss. Der Kampf um demokratische Rechte hatte aus Sicht der revolutionären Arbeiterbewegung einerseits die Funktion, möglichst gute Kampfbedingungen herzustellen und andererseits den "subjektiven Faktor" auf die Revolution vorzubereiten, also das Bewusstsein der Arbeiter in diesen politischen Kämpfen zu schärfen und zu entwickeln. Diese Haltung ist nicht zu verwechseln mit der Auffassung, es handle sich beim bürgerlichen Staat um eine "echte Demokratie", in der nicht das Kapital, sondern die Mehrheit herrscht (siehe Dissens Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats) bzw. dass "Demokratisierung" an sich schon ein Schritt in Richtung Sozialismus sei (s.o.).

[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]

Den Staat sofort abschaffen (Anarchismus)[Bearbeiten]

Der "Anarchismus" (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) umfasst ein sehr diffuses und heterogenes Spektrum, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Dennoch lassen sich grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Anarchisten vertreten eine politische Haltung, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesell­schaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbst­bestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammen­schließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich aus Sicht der Anarchisten auch schon die Bewegung selbst messen lassen, die für die „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Position so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren darf. In Abgrenzung zu solchen individual-anarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen.

Gemeinsam haben fast alle anarchistischen Strömungen die Auffassung, dass die siegreiche Revolution den Staat sofort Abschaffen und den unmittelbaren Übergang zum Zustand der "Herrschaftsfreiheit" einleiten soll. Den Aufbau einer eigenen revolutionären Staatsmacht zur Niederhaltung der Unterdrücker, zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel und zur Durchführung der zentralen Planung der Produktion lehnen die Anarchisten ab. Gemeinsam mit den Kommunisten haben sie die Auffassung von der Notwendigkeit der Zerschlagung des bürgerlichen Staats - der zentrale Dissens zwischen Anarchisten und Kommunisten besteht in der Frage der Notwendigkeit der "Diktatur des Proletariats".

Marx und Engels vs. Bakunin: Die erste ausführliche theoretische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. Friedrich Engels fasste seine grundsätzliche Kritik an den strategischen Positionen der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen: "Bakunin [behauptet], der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. Da also der Staat das Hauptübel sei, so müsse man vor allem den Staat abschaffen, dann gehe das Kapital von selbst zum Teufel; während wir umgekehrt sagen: schafft das Kapital, die Aneignung der gesamten Produktionsmittel in den Händen weniger, ab, so fällt der Staat von selbst. Der Unterschied ist wesentlich: die Abschaffung des Staats ist ohne vorherige soziale Umwälzung ein Unsinn – die Abschaffung des Kapitals ist eben die soziale Umwälzung und schließt eine Verändrung der gesamten Produktionsweise in sich. Nun aber, da für Bak[unin] der Staat das Grundübel ist, darf man nichts tun, das den Staat, d.h. irgendwelchen Staat, Republik, Monarchie oder wie immer, am Leben erhalten kann. Daher also vollständige Abstention von aller Politik. Einen politischen Akt begehn, besonders aber an einer Wahl teilnehmen, wäre Verrat am Prinzip. Man soll Propaganda machen, auf den Staat schimpfen, sich organisieren, und wenn man alle Arbeiter auf seiner Seite hat, also die Mehrzahl, so setzt man alle Behörden ab, schafft den Staat ab und setzt an seine Stelle die Organisation der Internationalen. Dieser große Akt, womit das Tausendjährige Reich anfängt, heißt die soziale Liquidation. [...] Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll, sondern damit sie bei der sozialen Liquidation sofort an die Stelle der alten Staatsorganisation treten kann, so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität = Staat = absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!" [14]

Zapatistas: Einen gewissen Aufschwung erlebte die anarchistische Strömung in Folge des Aufstands der mexikanischen Zapatisten (EZLN) 1994 und während der Hochzeit der globalisierungskritischen Bewegungen, in denen neben einer sozialdemokratisch-keynesianistisch orientierten Mehrheit auch zahlreiche anarchistische Gruppen und Tendenzen aktiv waren. Bis heute gibt es in der deutschen linken Szene ein weit verzweigtes Netz an Zapatista-Solidaritätsgruppen.

Über die Zapatisten wurde die anarchistische Parole "Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen" popularisiert.[15] Dies markierte den endgültigen Abschied eines Teils der nationalen Befreiungsbewegungen und der "Dritte-Welt"-Solidaritätsbewegungen vom Leninismus. In einem Interview von 2004 sagte Subcommandante Marcos, der wichtigste Sprecher der Zapatistas: "The worst that could happen to it [the EZLN], [...] would be to come to power and install itself there as a revolutionary army. For us it would be a failure. What would be a success for the politico-military organizations of the sixties and seventies which emerged with the national liberation movements would be a fiasco for us. We have seen that such victories proved in the end to be failures, or defeats, hidden behind the mask of success. That what always remained unresolved was the role of people, of civil society, in what became ultimately a dispute between two hegemonies. There is an oppressor power which decides on behalf of society from above, and a group of visionaries which decides to lead the country on the correct path and ousts the other group from power, seizes power and then also decides on behalf of society. For us that is a struggle between hegemonies, in which the winners are good and the losers are bad, but for the rest of society things don't basically change." [16]

Die Zapatistas grenzen sich also explizit von den nationalen Befreiungsbewegungen der 1960er und 1970er Jahre und damit auch von der Kubanischen Revolution ab. Sie verwerfen die Position, Ziel der revolutionären Bewegung müsse es sein, die Staatsmacht zu erobern und die Bourgeoisie und die Großgrundbesitzer zu enteignen. Dadurch würde nur eine Autorität durch eine andere ersetzt, ohne dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse änderten. Stattdessen vertreten die Zapatistas de facto eine politische Strategie, die explizit nicht die Interessen der Mehrheit der Gesellschaft, also der Arbeiterklasse und der Werktätigen, sondern nur die Partikularinteressen einer Minderheit, nämlich einiger weniger indigener Gemeinden in Chiapas, vertritt. Das Ziel ist nicht, die Abschaffung des Kapitalismus oder die Zerschlagung des bürgerlichen Staats, sondern lediglich die Verwirklichung der autonomen Selbstverwaltung in den zapatistischen Gemeinden.

"Demokratischer Konföderalismus" (PKK) und deutsche Kurdistansolidarität: Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff: "Der Demokratische Konföderalismus ist das Gegenparadigma des unterdrückten Volkes. Der Demokratische Konföderalismus ist ein nichtstaatliches gesellschaftliches Paradigma. Er wird nicht staatlich kontrolliert. Zugleich ist er der kulturell-organisatorische Entwurf einer demokratischen Nation. Demokratischer Konföderalismus basiert auf der Mitwirkung der Basis. Seine Entscheidungsfindungsprozesse liegen bei den Gemeinschaften. Höhere Ebenen dienen nur der Koordination und Umsetzung des Willens der Gemeinschaften, die ihre Delegierten zu den Vollversammlungen schicken. Für einen begrenzten Zeitraum sind sie sowohl Sprachrohr als auch ausführendes Organ. Jedoch liegt die grundlegende Entscheidungsgewalt bei den lokalen Basisorganisationen." [17]

Öcalan spart in seiner Darstellung sowohl die Frage nach der Zerschlagung des bestehenden bürgerlichen Staatsapparats als auch nach dem Privateigentum an den Produktionsmitteln aus. Eindeutig ist aber, dass der "demokratische Konföderalismus" zentralistische Planungsstrukturen grundsätzlich ablehnt und die Autonomie der lokalen Basisorganisationen als höchste Priorität ansieht. Es handelt sich hier also um eine strategische Vorstellung, die die Herstellung eines Zustands der "Herrschaftsfreiheit" ohne Bruch mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen, sondern nur durch die Änderung der politischen Organisationsform anstrebt.

Zusammenfassung: Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der Zweck der Revolution besteht für die Anarchisten darin, den Staat zu zerschlagen und unmittelbar zu einem Zustand der Herrschaftsfreiheit überzugehen. Je nach Strömung innerhalb des Anarchismus unterscheiden sich dabei die Haltungen zur Eigentumsfrage (es gibt z.B. auch „libertäre“ Vertreter des Kapitalismus) und die Haltung zur Organisationsfrage. Manche Anarchisten fordern totale Organisationslosigkeit und „Hierarchiefreiheit“, andere erkennen im unmittelbaren Kampf gegen den Staat die Notwendigkeit von Mehrheitsprinzip und hierarchischen Organisations- und Beschlussstrukturen an.

Der Marxismus ist dagegen immer davon ausgegangen, dass in der Revolution zwar der bürgerliche Staat zerschlagen, an dessen Stelle aber ein revolutionärer Staat, die „Diktatur des Proletariats“, errichtet werden müsse. Diese Aufgabe macht eine gut organisierte, hierarchische und zentralisierte Kaderpartei notwendig, die diszipliniert und einheitlich handelt. Der Staat der Arbeiterklasse hat die Aufgabe, in seinem ersten politischen Akt der Bourgeoisie die Produktionsmittel zu entreißen und mit dem Aufbau des Sozialismus zu beginnen. Da mit dem erbitterten Widerstand der gestürzten herrschenden Klasse zu rechnen ist, braucht auch der neue Staat Machtmittel, um die Unterdrücker niederzuhalten. Er verteidigt die Revolution gegen ihre Feinde, während er für die Unterdrückten Massen zugleich die breiteste Demokratie bedeutet. Die Planwirtschaft kann nicht in Form des spontan organisierten Produktentauschs zwischen autonomen Kommunen und selbstverwalteten Betrieben umgesetzt werden, wie es die Anarchisten vorschlagen, sondern muss aus Sicht der Kommunisten gesamtgesellschaftlich geplant werden.

Nicht schon die Revolution, sondern erst die Aufhebung der Klassen und der Aufbau des Sozialismus schafft aus Sicht der Kommunisten die Voraussetzung für das allmähliche „Absterben“ des Klassenstaates. Während die Anarchisten also die „Aufhebung“ des bürgerlichen Staats und das „Absterben“ aller Staatlichkeit überhaupt in einem einzigen revolutionären Akt fordern, treten die Marxisten für die Staatsmacht der Arbeiterklasse als Voraussetzung für die Aufhebung der Klassen und das Absterben des Staates ein.

Siehe dazu auch den Dissens Den bürgerlichen Staat zerschlagen und die Diktatur des Proletariats aufbauen (s.o.)

Zu den Fragen der zentralen Planwirtschaft arbeitet die AG Sozialismus

Bezug zu unseren Grundannahmen[Bearbeiten]

Wie wollen wir den Dissens klären?[Bearbeiten]

Was steht zu diesem Dissens in unseren Programmatischen Thesen?[Bearbeiten]

  1. Lenin, Wladimir I.: Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, Berlin/DDR 1974, S.467.
  2. Zitiert in: Lenin, Wladimir I.: Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, Berlin/DDR 1974, S. 493.
  3. Zitiert in: Ebd., S.504.
  4. Ebd., S.505.
  5. Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution, Gesammelte Werke Bd.1, S.428f.
  6. Vgl. Wolfgang Abendroth, Einführung in die Geschichte der Arbeiterbewegung von den Anfängen bis 1933, Heilbronn 1988, S. 35.
  7. Vgl. Abendroth, Geschichte der Arbeiterbewegung, S. 88-93.
  8. DKP Parteivorstand, Protokoll des Mannheimer Parteitags der Deutschen Kommunistischen Partei, 1978, S. 188.
  9. DKP-Programm 2006, Abschnitt „unser Weg zum Sozialismus“
  10. Programm der DKP (2006), Abschnitt: Für eine Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt.
  11. URL: https://www.die-linke.de/fileadmin/download/grundsatzdokumente/programm_formate/programm_der_partei_die_linke_erfurt2011.pdf (10.1.2019)
  12. Programm der Partei DIE LINKE (2011), S. 27 und 29.
  13. Hamburger Programm der SPD (2007), URL: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Beschluesse/Grundsatzprogramme/hamburger_programm.pdf (10.1.2019)
  14. Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33;Dietz-Verlag; S. 388-389.
  15. Siehe dazu: John Holloway, Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen, 2018.
  16. Subcommandante Marcos, The hourglass of the Zapatistas, in: Tom Mertes (Hrsg.), Is another world really possible?, New York 2004, S. 4-5.
  17. Abdullah Öcalan, Demokratischer Konföderalismus, International Initiative Edition, Neuss 2012, Titelblatt. URL: https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=2&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwjGiMTLnfblAhVSIVAKHfU2BywQFjABegQIAxAI&url=http%3A%2F%2Fwww.freeocalan.org%2Fwp-content%2Fuploads%2F2012%2F09%2FAbdullah-%25C3%2596calan-Demokratischer-Konf%25C3%25B6deralismus.pdf&usg=AOvVaw2rCSMa64g0B7lGNpS84gd7