Klassisch-revisionistische Staatsauffassung (Bernstein, Kautsky): Unterschied zwischen den Versionen

(Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?)
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Als „Revisionismus“ bezeichneten führende Theoretiker der SPD ab 1899 jene Positionen ihrer innerparteilichen Gegner, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. Seine grundlegende Kritik am Marxismus begründete Bernstein in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899).  
 
Als „Revisionismus“ bezeichneten führende Theoretiker der SPD ab 1899 jene Positionen ihrer innerparteilichen Gegner, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. Seine grundlegende Kritik am Marxismus begründete Bernstein in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899).  
Die SPD-Parteiführung unter August Bebel kritisierte Bernsteins Positionen als Abkehr vom damaligen Parteiprogramm und den Grundsätzen des Marxismus. Zu den wichtigsten Gegnern Bernsteins gehörte Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, damals auf dem „linksradikalen“ Flügel der SPD. Luxemburg unterzog den Bernsteinschen Revisionismus in ihrer Schrift ''Sozialreform oder Revolution'' (1899) einer scharfen Kritik. Die Positionen Bernsteins wurden damals auch noch von der Parteimehrheit um das marxistische „Zentrum“ (insbes. Karl Kautsky) abgelehnt, auch wenn diese in der Praxis eine vermittelnde Position zwischen dem rechtem und dem linkem Parteiflügel einnahm.  
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Die SPD-Parteiführung unter August Bebel kritisierte Bernsteins Positionen als Abkehr vom damaligen Parteiprogramm und den Grundsätzen des Marxismus. Zu den wichtigsten Gegnern Bernsteins gehörte Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, damals auf dem „linksradikalen“ Flügel der SPD. Luxemburg unterzog den Bernsteinschen Revisionismus in ihrer Schrift ''Sozialreform oder Revolution'' (1899) einer scharfen Kritik. Die Positionen Bernsteins wurden damals auch noch von der Parteimehrheit um das marxistische „Zentrum“ (insbes. Karl Kautsky) abgelehnt, auch wenn diese in der Praxis eine vermittelnde Position zwischen dem rechten und dem linken Parteiflügel einnahm.  
  
 
Die politischen Kräfteverhältnisse innerhalb der SPD änderten sich jedoch spätestens mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914. Diese wurden von der „Burgfriedens“-Politik, der Spaltung der Arbeiterbewegung und dem offenen Übergang der sozialdemokratischen Führer ins Lager der Bourgeoisie gefolgt. Von diesem Zeitpunkt an übernahm die Mehrheitssozialdemokratie immer offener revisionistische Positionen. Dies zeigte sich am deutlichsten in der Staatsfrage und der endgültigen Abkehr von der proletarischen Revolution, sowie in Kautskys „Ultraimperialismus“-These, die letztlich in eine offene Apologie des Imperialismus umschlug <ref>vgl. Lenin, Wladimir I.:Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Berlin/DDR 1971, S. 275-276.</ref>. Dieser grundlegende Bruch mit dem wissenschaftlichen Sozialismus schuf letztlich die ideologischen Voraussetzungen für die praktische Rolle, die die SPD bei der blutigen Niederschlagung der Novemberrevolution 1918/19 spielte. Seit ihrer revisionistischen Wende entwickelte sich die SPD zu einem wesentlichen Stabilitätsfaktor des deutschen Imperialismus.
 
Die politischen Kräfteverhältnisse innerhalb der SPD änderten sich jedoch spätestens mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914. Diese wurden von der „Burgfriedens“-Politik, der Spaltung der Arbeiterbewegung und dem offenen Übergang der sozialdemokratischen Führer ins Lager der Bourgeoisie gefolgt. Von diesem Zeitpunkt an übernahm die Mehrheitssozialdemokratie immer offener revisionistische Positionen. Dies zeigte sich am deutlichsten in der Staatsfrage und der endgültigen Abkehr von der proletarischen Revolution, sowie in Kautskys „Ultraimperialismus“-These, die letztlich in eine offene Apologie des Imperialismus umschlug <ref>vgl. Lenin, Wladimir I.:Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Berlin/DDR 1971, S. 275-276.</ref>. Dieser grundlegende Bruch mit dem wissenschaftlichen Sozialismus schuf letztlich die ideologischen Voraussetzungen für die praktische Rolle, die die SPD bei der blutigen Niederschlagung der Novemberrevolution 1918/19 spielte. Seit ihrer revisionistischen Wende entwickelte sich die SPD zu einem wesentlichen Stabilitätsfaktor des deutschen Imperialismus.

Aktuelle Version vom 8. April 2019, 17:29 Uhr

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Überblick[Bearbeiten]

Die opportunistische Position, dass der Staat im Grunde klassenneutral sei und dass der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit auf dem Reformweg gelöst werden könne, ist so alt wie die Arbeiterbewegung selbst. Der Marxismus ist Mitte des 19. Jahrhunderts in scharfer Auseinandersetzung mit einem breiten Spektrum an idealistischen und utopischen Strömungen entstanden. Als „klassisch-revisionistisch“ bezeichnen wir im Folgenden jene Positionen, die nach der Herausbildung und Konsolidierung des wissenschaftlichen Sozialismus in der Arbeiterbewegung entstanden und gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Rahmen des „Revisionismusstreits“ die grundlegenden Erkenntnisse des Marxismus wieder zu revidieren versuchten.

Geschichte[Bearbeiten]

Karl Marx und Friedrich Engels setzten sich schon zu Lebzeiten immer wieder mit verschiedenen, aus ihrer Sicht falschen und Illusionären Staatsauffassungen in der Arbeiterbewegung auseinander. Marx schreibt bereits 1875 in seiner Kritik des Gothaer Programms mit Blick auf das „klassenneutrale“ Staatsverständnis der damaligen deutschen Sozialdemokratie:

„Die deutsche Arbeiterpartei – wenigstens, wenn sie das Programm zu dem ihrigen macht – zeigt, wie ihr die sozialistischen Ideen nicht einmal hauttief sitzen, indem sie, statt die bestehende Gesellschaft (und das gilt von jeder künftigen) als Grundlage des bestehenden Staats (oder künftigen, für künftige Gesellschaft) zu behandeln, den Staat vielmehr als ein selbständiges Wesen behandelt, das seine eignen ‚geistigen, sittlichen, freiheitliehen Grundlagen‘ besitzt. “
(Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 28).


Nach Marx Tod kritisierte Engels 1891 noch im hohen Alter das von Karl Kautsky und Eduard Bernstein geschriebenen Erfurter Programm, das aus seiner Sicht in zentralen Punkten hinter die Erkenntnisse des wissenschaftlichen Sozialismus zurückfiel. Dort wurde aus Furcht vor Repressalien das entscheidende in der Staatsfrage nicht gesagt und stattdessen sollte plötzlich alles auf „friedlichem Wege“ durchführbar sein. Engels betonte dagegen, dass sowohl in der Monarchie als auch in der Republik der Staat eine „Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre“ ist.[1]

Als „Revisionismus“ bezeichneten führende Theoretiker der SPD ab 1899 jene Positionen ihrer innerparteilichen Gegner, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. Seine grundlegende Kritik am Marxismus begründete Bernstein in seinem theoretischen Hauptwerk Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie (1899). Die SPD-Parteiführung unter August Bebel kritisierte Bernsteins Positionen als Abkehr vom damaligen Parteiprogramm und den Grundsätzen des Marxismus. Zu den wichtigsten Gegnern Bernsteins gehörte Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, damals auf dem „linksradikalen“ Flügel der SPD. Luxemburg unterzog den Bernsteinschen Revisionismus in ihrer Schrift Sozialreform oder Revolution (1899) einer scharfen Kritik. Die Positionen Bernsteins wurden damals auch noch von der Parteimehrheit um das marxistische „Zentrum“ (insbes. Karl Kautsky) abgelehnt, auch wenn diese in der Praxis eine vermittelnde Position zwischen dem rechten und dem linken Parteiflügel einnahm.

Die politischen Kräfteverhältnisse innerhalb der SPD änderten sich jedoch spätestens mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914. Diese wurden von der „Burgfriedens“-Politik, der Spaltung der Arbeiterbewegung und dem offenen Übergang der sozialdemokratischen Führer ins Lager der Bourgeoisie gefolgt. Von diesem Zeitpunkt an übernahm die Mehrheitssozialdemokratie immer offener revisionistische Positionen. Dies zeigte sich am deutlichsten in der Staatsfrage und der endgültigen Abkehr von der proletarischen Revolution, sowie in Kautskys „Ultraimperialismus“-These, die letztlich in eine offene Apologie des Imperialismus umschlug [2]. Dieser grundlegende Bruch mit dem wissenschaftlichen Sozialismus schuf letztlich die ideologischen Voraussetzungen für die praktische Rolle, die die SPD bei der blutigen Niederschlagung der Novemberrevolution 1918/19 spielte. Seit ihrer revisionistischen Wende entwickelte sich die SPD zu einem wesentlichen Stabilitätsfaktor des deutschen Imperialismus.

Thesen und Positionen[Bearbeiten]

Bernstein „revidiert“ den Marxismus in seinen Schriften nicht nur mit Blick auf die Staatsfrage, sondern auf allen Ebenen: In der Philosophie und Erkenntnistheorie, indem er den dialektischen und historischen Materialismus verwirft, in der Ökonomie, indem er die Arbeitswerttheorie ablehnt, und auf der Ebene der Strategie und Taktik, indem er die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Aufhebung des bürgerlichen Staats negiert und stattdessen einen friedlichen Reformweg zum Sozialismus vorschlägt. Bernstein argumentiert, die bisherige Ausrichtung der Sozialdemokratie auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus sei durch die Realität überholt. Das kapitalistische System habe sich als krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, ein „Zusammenbruch“ des Kapitalismus bzw. eine revolutionäre Situation sei nicht mehr zu erwarten. Die Aufgabe der SPD sei es nun, im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch „Sozialreformen“ Verbesserungen für die Arbeiterklasse und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards zwischen den Klassen durchzusetzen. Das entsprechende Credo des Reformismus lautete: „der Weg ist alles, das Ziel ist nichts.“

Der klassische Reformismus setzt notwendig eine bestimmte Auffassung über den bürgerlichen Staat voraus. Wenn es möglich sein soll, den Kapitalismus allmählich durch Sozialreformen zu überwinden, so muss es auch möglich sein, dass die Arbeiterklasse diese Reformen im Staatsapparat gegen den Willen der Bourgeoisie durchsetzt oder diese zu Kompromissen zwingt – und zwar so weit, dass die Gesellschaft immer mehr sozialistische Züge annimmt und der Staat letztlich aufhört, bürgerlicher Staat zu sein und allmählich zu einem Instrument in den Händen der Arbeiterklasse wird. Dieses Instrument an sich muss also „klassenneutral“ sein und je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse sich entwickeln, kann es sowohl von der einen, als auch von der anderen Klasse kontrolliert und im eigenen Interesse eingesetzt werden. Der Staat steht in dieser rein instrumentalistischen Sichtweise der ihm zugrunde liegenden Produktionsweise also äußerlich gegenüber, er besitzt keine innere Verbindung zu ihr. Der Überbau scheint unabhängig von seiner ökonomischen Basis agieren zu können.

Folglich sind Demokratie und Parlamentarismus für Bernstein nicht nur taktische Mittel im Klassenkampf, sondern tatsächliche Machtinstrumente in den Händen der Arbeiterklasse: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. […] Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“[3] Für die Strategie der Arbeiterbewegung heißt das: „die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.“[4] Die Arbeiterbewegung soll sich also darauf beschränken, im legalen Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus für Reformen und schrittweise Verbesserungen zu kämpfen – anstatt für die Abschaffung des Kapitalismus.

Karl Kautskys Kritik an Bernstein fiel zwar verbal hart aus, schonte ihn aber besonders in der Staatsfrage. Im Namen der Einheit der Partei verwischte sie die Gegensätze zwischen bürgerlichem und proletarischem Klassenstandpunkt. Der Zentrismus schwankte zwischen Marxismus und Opportunismus, bekannte sich in Worten zum Klassenkampf, zur Revolution und zur Diktatur des Proletariats, umging aber systematisch die Frage des Staates. Kautsky, der zuvor Revolutionär gewesen war und entscheidend zur Verbreitung des Marxismus beigetragen hatte, vermied eine schonungslose Kritik an Bernstein. In seinem Buch Bernstein und das sozialdemokratische Programm (1899) wurde seine Tendenz zum Opportunismus gerade in der Frage des Staates deutlich. Keine Erwähnung findet bei Kautsky die entscheidende Marxsche Aussage, die bereits von Bernstein bestritten wurde, nämlich dass der Staatsapparat zerschlagen werden muss. Das gipfelt in dem Satz: „Die Entscheidung über das Problem der proletarischen Diktatur können wir wohl ganz ruhig der Zukunft überlassen.“ [5]

In seinen Broschüren Die soziale Revolution (1902) und in Der Weg zur Macht (1909) ist überall von der „Eroberung der Staatsgewalt“ die Rede. Auch diese Formulierung kommt den Opportunisten entgegen, da sie die Eroberung der Macht ohne Zerstörung der Staatsmaschine zulässt. In dem Artikel Die neue Taktik von 1912 sagt Kautsky schließlich offen, dass die Aufgabe des Massenstreiks nicht die sein kann, die Staatsgewalt zu zerstören, „sondern nur die, eine Regierung zur Nachgiebigkeit in einer bestimmten Frage zu bringen oder eine dem Proletariat feindselige Regierung durch eine ihm entgegenkommende zu ersetzen.“ Der Sieg des Proletariats könne aber nie „zu einer Zerstörung der Staatsgewalt, sondern stets nur zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der Staatsgewalt führen […] Und das Ziel unseres politischen Kampfes bleibt dabei das gleiche, das es bisher gewesen: Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung.’“[6] Lenin Schlussfolgerte in seiner Abrechnung mit der alten Sozialdemokratie der Zweiten Internationale: „Wir aber werden mit diesen Verrätern am Sozialismus endgültig brechen und werden für die Zerstörung der ganzen alten Staatsmaschinerie kämpfen, auf dass das bewaffnete Proletariat selbst die Regierung sei. Das sind zwei grundverschiedene Dinge.“ [7] 1914 stand Kautsky auf der Seite der Kriegsbefürworter Noske, Ebert, Scheidemann.

Rosa Luxemburg stellte im Gegensatz zu Kautsky in ihrer scharfen Polemik gegen Bernstein (Sozialreform oder Revolution, 1899) die Staats- und Machtfrage von Anfang an ins Zentrum ihrer Kritik:

„Es ist grundfalsch und ganz ungeschichtlich, sich die gesetzliche Reformarbeit bloß als die in die Breite gezogene Revolution und die Revolution als die zusammengedrängte Reform vorzustellen. Eine soziale Umwälzung und eine gesetzliche Reform sind nicht durch die Zeitdauer, sondern durch das Wesen verschiedene Momente. Das ganze Geheimnis der geschichtlichen Umwälzungen durch den Gebrauch der politischen Macht liegt ja gerade in dem Umschlage der bloßen quantitativen Veränderungen in eine neue Qualität, konkret gesprochen in dem Übergange einer Geschichtsperiode, einer Gesellschaftsordnung in eine andere. Wer sich daher für den gesetzlichen Reformweg anstatt und im Gegensatz zur Eroberung der politischen Macht und zur Umwälzung der Gesellschaft ausspricht, wählt tatsächlich nicht einen ruhigeren, sicheren, langsameren Weg zum gleichen Ziel, sondern auch ein anderes Ziel, nämlich statt der Herbeiführung einer neuen Gesellschaftsordnung bloß unwesentliche Veränderungen in der alten.“
Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution, Gesammelte Werke Bd.1, S.428f.


Wer vertritt die Thesen heute?[Bearbeiten]

Der direkte historische Bezug auf Bernstein und Kautsky ist bei den Wortführern der Sozialdemokratie heute weitgehend aus der Mode – man bezieht sich lieber direkt auf den Arbeitermörder Friedrich Ebert. Die grundlegenden Argumentationsmuster des klassischen Revisionismus ziehen sich aber auch heute noch als roter Faden durch das gesamte Spektrum der „linken“ Diskurse über die Reformierbarkeit des Kapitalismus. Die SPD, aus deren Schoß der moderne Revisionismus Ende des 19. Jahrhunderts hervorgegangen ist, bezieht sich in ihrem Programm zwar bis heute rhetorisch auf ein sozialistisches Ziel, hat diesen Begriff seiner ursprünglichen Bedeutung jedoch vollständig entleert. Die traditionelle Sozialdemokratie kann also im ursprünglichen Wortsinn kaum mehr als „reformistisch“ gelten (der Begriff impliziert Sozialismus als Ziel, Reformen als Weg). Das hält die SPD jedoch nicht davon ab, weiterhin allerlei Illusionen über die Reformierbarkeit des Kapitalismus zu verbreiten, sei es nun durch mehr Keynesianismus und mehr Sozialstaat oder durch mehr „Wettbewerb“ und „Eigenverantwortung“ (Agenda 2010). Warum sollte der Kapitalismus also abgeschafft werden, wenn durch die richtige Wirtschaftspolitik angeblich eine friedliche und krisenfreie Entwicklung mit anhaltendem Wachstum und Wohlstand für alle möglich ist? Im klassischen Sinne reformistisch ist heute allenfalls noch der linke Rand der Linkspartei, der zumindest in Worten noch den (natürlich „demokratischen“) Sozialismus fordert, während die Parteimehrheit längst den Weg einer „regierungsfähigen“ Systempartei eingeschlagen hat.

Bezug zu den Grundannahmen[Bearbeiten]

Der klassische Revisionismus steht in der Staatsfrage im Widerspruch zu allen Grundannahmen von Marx und Engels. Marx und Engels fassten den Staat nie als „selbständiges Wesen“, sondern als politischen Überbau einer bestimmten ökonomischen Basis auf (vgl. Grundannahmen zu Basis und Überbau). Bernstein und Kautsky negieren dagegen den Klassencharakter des bürgerlichen Staates als Herrschaftsapparat der Bourgeoisie und „ideeller Gesamtkapitalist“. Davon ausgehend propagiert der klassische Revisionismus die schrittweise Reform anstelle der Notwendigkeit der Zerschlagung des bürgerlichen Staats zur Überwindung des Kapitalismus.

Wie wollen wir den Dissens klären?[Bearbeiten]

Welche theoretischen Fragen müssen beantwortet werden?[Bearbeiten]

Wir müssen aus heutiger Sicht glücklicherweise nicht die Debatten des historischen „Revisionismusstreits“ nochmal neu aufrollen und Bernsteins und Kautskys Argumente im Detail widerlegen. Das haben nicht nur Lenin, Rosa Luxemburg und andere Genossen, sondern auch die Geschichte bereits zu genüge getan. Wohl aber müssen wir die alten Argumente dort aufdecken, wo sie heute in moderner Verkleidung wieder auftauchen – was bei fast allen Strömungen der heutigen reformistischen „Linken“ auf die ein oder andere Weise der Fall ist. Die drei Kernthesen, die dabei immer wieder in neuer Form auftauchen, sind: 1.) Eine krisenfreie, friedliche und „nachhaltige“ Entwicklung des Kapitalismus ist durch die „richtige“ Wirtschaftspolitik möglich. 2.) Voraussetzung dafür ist, dass die „richtigen“ politischen Kräfte Einfluss auf die Regierungsmacht gewinnen. 3.) Ist dies gelungen, so lässt sich der bürgerliche Staat in ein Instrument zur „Transformation“ der Gesellschaft verwandeln – bis hin zur Überwindung des Kapitalismus auf „demokratischem“ Weg.

Mit Blick auf die Staatsfrage gilt es, allen Illusionen über die Reformierbarkeit des Kapitalismus und die Möglichkeit einer friedlichen und krisenfreien Entwicklung entgegenzutreten. Alle Theorien über die Transformierbarkeit des bürgerlichen Staats müssen durch die Kommunisten bekämpft und wissenschaftlich widerlegt werden. Zu diesem Zweck müssen die verschiedenen konkreten Spielarten des modernen Revisionismus (mit besonderem Fokus auf SPD, Linkspartei und Gewerkschaften) aufgearbeitet und marxistisch analysiert werden. Dies ist allerdings nicht eine Aufgabe, die durch eine einmalige theoretische Forschungsarbeit erledigt werden kann, sondern die zum festen Bestandteil der tagtäglichen Agitationstätigkeit werden muss – dafür gilt es den wissenschaftlichen Grundstein zu legen. Einen ersten Überblick über die verschiedenen Varianten des modernen Revisionismus geben die nachfolgenden Dissens-Kapitel.

Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?[Bearbeiten]

In unseren Programmatischen Thesen vertreten wir im Einklang mit den Grundannahmen von Marx, Engels und Lenin die Auffassung, dass der bürgerliche Staat nicht reformiert und für die Interessen der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden kann, sondern in einer revolutionären Situation zerschlagen werden muss:

„Dieser Klassencharakter des Staates macht es für die Arbeiterklasse (oder auch jede andere Klasse) unmöglich, ihn zu übernehmen und in ihrem Interesse zu verwenden. Die proletarische Revolution bedeutet aber auch nicht die sofortige Abschaffung des Staates. Sie ist die Zerschlagung des bürgerlichen Staates und die Errichtung eines neuen Staates der Arbeiterklasse, der Diktatur des Proletariats.“
Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.8.


Literatur und Quellen[Bearbeiten]

  • Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899.
  • Kautsky, Karl: Bernstein und das Sozialdemokratische Programm. Eine Antikritik, Stuttgart 1899.
  • Kautsky, Karl: Die Soziale Revolution. I. Sozialreform und soziale Revolution, Berlin 1902.
  • Kautsky, Karl: Der Weg zur Macht. Politische Betrachtungen über das Hineinwachsen in die Revolution, Berlin 1909.
  • Kissel, Philipp: Die Frage der Staatsmacht und der Zentrismus in: Deutsche Kommunistische Partei, 25. November 2016, URL: http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2016/11/die-frage-der-staatsmacht-und-der-zentrismus/ (letzter Zugriff: 27.12.2018).
  • Lenin, Wladimir Iljitsch: Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, Bd. 25: Lenin Werke, Berlin/DDR 1974, S. 393-507.
  • Lenin, Wladimir Iljitsch: Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, Bd. 28: Lenin Werke, Berlin/DDR 1970, S. 94-103.
  • Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), in: Gesammelte Werke Bd.1, erster Halbband, Berlin 1982, S.369-445.

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Lenin, Wladimir I.: Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, Berlin/DDR 1974, S.467.
  2. vgl. Lenin, Wladimir I.:Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Berlin/DDR 1971, S. 275-276.
  3. Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.154-156.
  4. Ebd., S. 154-156.
  5. Zitiert in: Lenin, Wladimir I.: Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, Berlin/DDR 1974, S. 493.
  6. Zitiert in: Ebd., S.504.
  7. Ebd., S.505.