Faschismus und Bonapartismus

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Überblick[Bearbeiten]

Der Begriff des Bonapartismus geht ursprünglich auf Marx' Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis-Bonaparte[1] zurück. Die Bonapartismustheorie geht davon aus, dass der Faschismus nur eine neue Form des Bonapartismus sei und dann an die Macht kommt, wenn ein historisches Gleichgewicht zwischen den kämpfenden antagonistischen Klassen eintritt. Dann kann ein Führer im Staat oder der Staat selbst die politische Macht verselbständigen und über den Klassen stehend herrschen. Dabei bedient er sich diktatorischer Mittel, da er nicht mehr an die politischen Verkehrsformen der bürgerlich-republikanisch verfassten Gesellschaft gebunden sei.

Geschichte und Positionen[Bearbeiten]

Bereits vor der Machtübertragung an den Faschismus gewannen in der linken Sozialdemokratie und unter einigen Kommunisten bonarpartismustheoretische Faschismusinterpretationen an Einfluss. Als bekannteste Vertreter sind hier Otto Bauer, August Thalheimer und Leo Trotzki zu nennen. Ihre Theorien standen im Gegensatz zu den Analysen der Kommunistischen Internationalen.[2] Großen Einfluss hatte diese Konzeption bereits zu Beginn der zwanziger Jahre im Austromarxismus, unter dem führenden Theoretiker Otto Bauer. Er bezog sich auf die Situation in Österreich nach dem 1.Weltkrieg und behauptete, dass durch das Linzer Programm der SPÖ von 1926 ein Gleichgewicht der Klassenkräfte hergestellt worden sei.

August Thalheimer war von 1919-23 Mitglied des ZK der KPD. Nach seinem Ausschluss 1928 gründete er mit anderen die Kommunistische Partei-Opposition (KPO). 1930 ordnete Thalheimer den italienischen Faschismus als eine Form des Bonarpartismus ein. Er schrieb: „Wohlverstanden, ich setze nicht Faschismus und Bonapartismus gleich. Aber es sind verwandte Erscheinungen mit sowohl gemeinsamen als auch mit abweichenden Zügen, die beide herauszuarbeiten sind.“[3]. Ein weiterer bedeutender Vertreter der Bonarpartismusthese war Leo Trotzki, dessen Analyse derjenigen von Thalheimer sehr ähnelte, der allerdings in Bezug auf die Praxis zu konträren Schlussfolgerungen gelangte. Auch seine Faschismuserklärungen nahmen starken Bezug auf die Bonarpartismusschriften von Marx und Engels. Er unterschied allerdings zwischen der parlamentarischen Demokratie, dem Bonapartismus und dem Faschismus. Den Bonapartismus definiert Trotzki als eine Art Regierung des Säbels in der Eigenschaft des Schiedsrichter der Nation, welcher aus einer Situation des Kräftegleichgewichts der kämpfenden Klasse hervorgehe.[4] Allerdings könne die Trennung zwischen diesen verschiedenen Herrschaftsformen nicht allzu streng gezogen werden. So charakterisiert er die kurze Periode der Brüning-Schleicher-Regierung als einen „vorfaschistischer Bonapartismus“[5], während er die Regierung Hitlers und Mussolinis als „Bonapartismus faschistischen Ursprungs“[6] bezeichnet.

Auch Trotzki sieht im Bonapartismus faschistischen Ursprungs letztendlich die Herrschaft des Finanzkapitals. Der wesentliche Unterschied zwischen den Sichtweisen von Dimitroff und Trotzki ist, dass letzterer die Ansicht vertrat, das Finanzkapital sei nicht in der Lage, sich eine Regierung nach Belieben zu schaffen, der Bonapartismus trete also im Endeffekt als eine Art dritte Instanz auf, um die Herrschaft des Finanzkapitals zu retten und es nach einer Übergangsperiode wieder an die Macht zu holen. Fabian Kunow schreibt über die trotzkische Unterscheidung zwischen Faschismus und Bonapartismus: „Der Faschismus zeichnet sich anders als der Bonapartismus durch noch blutigere Repression, eigene Massenorganisationen und Massenbasis, eine eigene Sozialdemagogie sowie den Hass und Terror der Kleinbürger auf das Proletariat aus. Der Bonapartismus ist hingegen der starke Staat als Schiedsrichter, der ,letztendlich die beiden extremen Lager disziplinieren soll'“.[7]

Trotzki wandte die Kategorie des Bonapartismus jedoch nicht nur auf (vor)faschistische Regime in Europa an, sondern auch auf die Sowjetunion.[8] Wolfgang Wippermann sagte über Trotzki, dass dieser so eine Totalitarismustheorie auf bonapartistischtheoretischer Grundlage geschaffen habe.[9] Nach Trotzkis Tod knüpften andere an seine Faschismusvorstellungen an, darunter der deutsche Trotzkist Ernest Mandel. Er und andere übertrugen die Vorstellungen eines Bonapartismus auf den BRD-Staat.

Auch bei Gramsci und später Poulantzas finden sich bonapartismustheoretische Elemente. Letzterer kritisierte zwar die Bonarpartismustheorie scharf dafür, dass sie dem faschistischen Staat eine Autonomie in einer Art und Weise und von einem solchen Umfang zugestand, wie er sie in Wirklichkeit nicht besaß. Dies sei letztlich auf die Unfähigkeit zurückzuführen, das Verhältnis zwischen Faschismus und Großkapital korrekt zu bestimmen: „Das ging beispielsweise so weit, daß man von einer Verschiebung im Verhältnis von ökonomischer Herrschaft und politischer Herrschaft sprach, wobei die ökonomische Herrschaft vom Großkapital eingenommen, die politische Herrschaft dagegen von einem vollständig ‚unabhängigen’ faschistischen Staat monopolisiert werde. Diese relative Autonomie würde letztlich sogar ein Zerbrechen der Verbindung zwischen Staat und hegemonialer Fraktion bedeuten“[10]. Auf der anderen Seite spricht Poulantzas selbst von einer verselbstständigten Exekutive im faschistischen Staat und führt aus, es sei „simplizistisch und falsch [...], zwischen Nationalsozialismus und Kapitalismus eine Identität anzunehmen, bei der der NS-Staatsapparat als ausführendes Instrument der herrschenden Klasse der extremsten Teile des Monopolkapitals fungierte“[11].So besteht die Differenz zwischen Trotzki, Thalheimer, Bauer und Poulantzas letztlich nur in der quantitativen Bewertung des Handlungsspielraumes der sich aus der relativen Autonomie des faschistischen Staates ergebe.[12]

Mit Thalheimers Analyse beschäftigte sich in der BRD der 60er Jahre eine ganze Reihe marxistischer und antifaschistischer Intellektueller. Ihren Schwerpunkt hatte sie in der Marbuger Schule um Wolfgang Abendroth. Ihre Diskussionen prägten ganze Generationen der westdeutschen Linken bis heute.

Auch der Abendroth-Schüler und Historiker Reinhard Kühnl vertritt die Auffassung, dass ein Wesensmerkmal des Faschismus, gegenüber dem bürgerlich-demokratischen Staat, ein besonders starkes Maß an Verselbständigung der faschistischen Führerclique gegenüber der herrschenden Klasse sei. Kurt Gossweiler kritisiert solche Formulierungen als besonders anknüpfungsfähig für bürgerliche Faschismustheorien, die den Faschismus nicht als Herrschaft des Monopolkapitals sondern der faschistischen Partei und ihres Führers sehen.[13] Auch Kühnl sei nicht davor gefeit gewesen, „Nazis zum Schiedsrichter“[14] der verschiedenen Interessen zu deuten. Gossweiler entgegnet dieser Theorie: ”In Wahrheit wurden jedoch die Konflikte zwischen den Gruppen der Monopolbourgeoisie im Prinzip nicht anders entschieden als früher, nämlich durch den Sieg jener Gruppierung, deren Konzeption versprach, den Zielen des deutschen Imperialismus unter den gegebenen Bedingungen am besten und schnellsten näherzukommen”[15]. Gerade in Deutschland habe der Kapitalismus zu diesem Zeitpunkt bereits das Stadium des staatsmonopolistischen Kapitalismus erlangt. Eine analytische Trennung zwischen Staatsmacht und Monopolkapital sei nicht zulässig.[16]

Es existieren viele weitere Varianten der Bonapartismustheorie – solche die eine Unterscheidung zwischen faschistischen-, bonapartistischen- und Militärdiktaturen vornehmen, ebenso wie solche denen ein begrifflicher Bezug auf Marx gänzlich fehlt.

Bezug zu den Grundannahmen[Bearbeiten]

Bei Marx und Engels taucht die mit dem Bonapartismus zusammenhängende Formulierung, der Staat stünde „scheinbar über der Gesellschaft“ bzw. „über den Klassen“ im Wesentlichen in zwei Kontexten auf: 1.) Mit Blick auf den historischen Sonderfall des „Bonapartismus“, und 2.) um eine spezifische Eigenschaft des bürgerlichen Staates zu beschreiben – mit Betonung auf dem Wörtchen „scheinbar“, das besagt, dass es sich bei diesem Eindruck eben um einen ideologischen „Schein“, eine Illusion handelt. Anknüpfend an Marx beschreibt Engels als „Bonapartismus“ die historische Ausnahmesituation eines vorübergehenden Klassengleichgewichts. Entscheidend ist, dass Engels hier betont, dass im „Bonapartismus“ lediglich der Schein der Selbständigkeit des Staates entsteht. Ebenso lässt sich Marx nicht als Kronzeuge einer tatsächlichen „Verselbstständigung“ oder gar „Klassenneutralität“ des Staates missbrauchen. Denn er weist in diesem speziellen Zusammenhang explizit darauf hin, dass es sich dabei eben nur um einen „Schein“ handelt. Auch im „Bonapartismus“ vertritt der Staat das Interesse der herrschenden Klasse.

Wie wollen wir den Dissens klären?[Bearbeiten]

1.) Die theoretische Kernfrage, die durch die Bonapartismustheorie aufgeworfen wird, ist die nach dem Verhältnis zwischen Staatsmacht und ökonomischer Macht (Basis-Überbau) im Faschismus. Diese Frage muss im Wesentlichen historisch-empirisch untersucht werden. Ist die These einer weitreichenden „relativen Autonomie“ des faschistischen Staates gegenüber den Monopolen historisch haltbar? Gab es im deutschen Faschismus einen Widerspruch zwischen den politischen Herrschaftsinteressen der NSDAP und den ökonomischen Interessen der Monopolbourgeoise? Wenn ja, mit welchen Machtmitteln setzten die jeweiligen Seiten ihre Interessen durch? Wer konnte sich letztlich durchsetzen? Oder ist die These der besonders ausgeprägten „relativen Autonomie“ des faschistischen Staates grundsätzlich abzulehnen? Steht sie in einem grundlegenden Widerspruch zur marxistischen Staats- und Imperialismustheorie und ist auch durch die Empirie bereits widerlegt? Diese Frage muss in enger Zusammenarbeit mit der AG Deutscher Imperialismus angegangen werden. Zunächst muss ein Überblick über die bereits geführten Debatten erarbeitet und deren Argumente bewertet werden – gegebenenfalls müssen sich daran eigene historische Untersuchungen anschließen.

2.) Es stellt sich die Frage, welche (falschen) Schlussfolgerungen für die politische Praxis sich aus der Bonapartismustheorie ergaben (sofern diese als falsch eingeschätzt werden müssen). Welche Bündniskonzeptionen und welche Strategie und Taktik leiteten die Vertreter der Bonapartismustheorie aus ihren Analysen ab? Können diese Erfahrungen historisch untersucht und bewertet werden? Hat sich die KI bereits ausführlich mit dieser Frage beschäftigt?

3.) Der Bonapartismus-Begriff stammt von Marx und Engels, die ihn auf den Bürgerkrieg in Frankreich in der Epoche der bürgerlichen Revolutionen in Europa auf die damaligen Phänomene des Klassenkampfes anwendeten. Wenn wir davon ausgehen, dass der Begriff damals eine richtige Analyse darstellte, was hat sich in den Kräfteverhältnissen zwischen den Klassen im Monopolkapitalismus grundsätzlich verändert, so dass die einst zutreffende Analyse sich nicht auf diese neue Epoche übertragen lässt?

4.) Wo treffen wir heute noch auf bonapartistische Faschismusanalysen? In welchen Vorstellungen und in welcher Praxis schlagen sich diese nieder? Ist es notwendig, auch heute bonapartistische Vorstellungen in der Arbeiterklasse und in den antifaschistischen Bewegungen zu bekämpfen? Wenn ja, mit welchen Argumenten und welcher Taktik?

Literatur- und Quellennachweise[Bearbeiten]

AIB, https://www.antifainfoblatt.de/artikel/trotzkis-perspektive-auf-den-faschismus

AIB, https://www.antifainfoblatt.de/artikel/faschismustheorien

F. Engels, Zur Wohnungsfrage, MEW 18.

K. Gossweiler, Über Wesen und Funktion des Faschismus, in: Gossweiler, Kühnl, Opitz (Hrsg.), Faschismus. Entstehung und Verhinderung, Frankfurt am Main 1972.

Griepenburg, R./Tjaden, K.H.: Faschismus und Bonapartismus, in: Das Argument 41, 8. Jahrgang, Hamburg 1966, S. 461 - 472.

R. Kühnl, Texte zur Faschismusdiskussion 1. Positionen und Kontroversen (Kapitel: August Talheimer, S. 14-30) .

K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW 8.

R. Opitz, Über Faschismustheorien und ihre Konsequenzen, in: Kühnl, Texte zur Faschismusdiskussion I, 1979 Hamburg.

A.Thalheimer, Über den Faschismus, 1928. Url: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/thalheimer/1928/xx/fasch.htm.

Trotzki, Leo (1971): »Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen? Auswahl aus »Schriften über Deutschland««. (Hrsg.) Helmut Dahmer. Europäische Verlagsanstalt. Frankfurt am Main.

Trotzki, Leo: Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus, Domène 1935. URL: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1935/02/arbstaat.htm (zuletzt abgerufen am 3.12.2018).

Trotzki, Leo (1971): »Schriften über Deutschland«. (Hrsg.) Helmut Dahmer. Europäische Verlagsanstalt. Frankfurt am Main.

Wippermann; Wolfgang (1997): Faschismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis Heute. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. https://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1852/brumaire/index.htm
  2. vgl saage faschismus s55
  3. A. Thalheimer 1928
  4. Vgl. Trotzki 1934
  5. ebd.
  6. ebd.
  7. Trotzki, Leo (1971):»Schriften über Deutschland« . S. 682
  8. vgl. Trotzki 1935
  9. Vgl. Wippermann, 1997
  10. Saage, Faschismus, S. 63.
  11. ebd.
  12. Vgl. ebd.
  13. vgl. Gossweiler, Wesen und Funktion Faschismus, S. 14
  14. ebd.
  15. Gossweiler, Wesen und Funktion, S. 15
  16. Gossweiler, Wesen und Funktion, S. 16