Einleitung Dissens Staat

Zurück zu AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie

Einleitung Dissens Staat[Bearbeiten]

Allen opportunistischen Staatsauffassungen ist auf die ein oder andere Weise gemeinsam, dass sie von einer „Klassenneutralität“ des bürgerlichen Staats ausgehen. Bei der Darstellung der Debatten erscheint uns eine formale Unterscheidung in Dissens innerhalb der kommunistischen Bewegung und Dissens mit der bürgerlichen Ideologie als wenig gewinnbringend. Schließlich ist die angebliche Klassenneutralität des Staats das Kernideologem der bürgerlichen Staatstheorie. Der Staat, so sollen die Menschen glauben, ist der unparteiische Vertreter des „Allgemeininteresses“, vor ihm und seinen Gesetzen sind alle Menschen gleich, das Recht gilt für jeden, egal ob arm oder reich, und jeder bekommt bei den Wahlen eine gleichwertige Stimme. Warum soll der Staat also nicht im Interesse der Arbeiterklasse (also der großen Mehrheit der Bevölkerung) und gegen das Kapital in Stellung gebracht werden können?

Diese Vorstellung – die allen Grundannahmen des wissenschaftlichen Sozialismus zum bürgerlichen Staat als „Diktatur der Bourgeoise“ widerspricht – ist tief in die Arbeiterbewegung und die Reihen der kommunistischen Weltbewegung eingedrungen. Das Wesen des Opportunismus besteht aber gerade darin, dass er bürgerliche Ideologien in die kommunistische Bewegung hineinträgt. Die Positionen, um die es im Folgenden gehen wird, befinden sich also alle in einem mehr oder weniger direkten Kontinuum mit der bürgerlichen Staatsideologie, wir treffen sie aber bis heute überall in den Reihen der Arbeiterbewegung an.

Darstellung des Dissenses[Bearbeiten]

Zum dem hier untersuchten Spektrum gehören alle Auffassungen, die davon ausgehen, dass der kapitalistische Staat durch die Arbeiterklasse auf friedlichem Wege erobert und durch Reformen so weit verändert werden kann, dass er zu einem Instrument der Transformation des Kapitalismus wird (um ihm z.B. ein „menschliches Antlitz“ zu geben) oder sogar den Aufbau des („demokratischen“) Sozialismus einleiten kann. Darunter fallen also alle strategischen Positionen, die die Notwendigkeit der Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparats durch die Revolution und die Diktatur des Proletariats leugnen und von der Möglichkeit einer „Transformation“, eines „friedlichen Übergangs“ oder einer „demokratischen Zwischenetappe“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus ausgehen. Außerdem werden anarchistische und „antinationale“ Staatsauffassungen untersucht, die in ihren verschiedenen Spielarten den spezifischen Klassencharakter der politischen Macht überhaupt bzw. die Klassenfunktion des bürgerlichen Nationalismus leugnen.

Zur Klärung einiger Grundbegriffe:[Bearbeiten]

In den folgenden Abschnitten verwenden wir immer wieder die Begriffe „Revisionismus“, „Reformismus“ und „Opportunismus“. Diese sollen mit Hilfe des Kleinen politischen Wörterbuchs (DDR) eingangs kurz definiert werden. Eine ausführlichere Behandlung anhand der Klassiker findet sich in den Grundannahmen zum Thema Sozialdemokratie.

Opportunismus[Bearbeiten]

„[...] bürgerliche ideologische Strömung in der Arbeiterbewegung, die der imperialistischen Bourgeoisie bei ihren Versuchen dient, die Arbeiterklasse in das staatsmonopolistische Herrschaftssystem zu integrieren. ‚Die grundlegende Idee des Opportunismus ist das Bündnis oder die Annäherung (zuweilen Vereinbarung, Blockbildung usw.) zwischen der Bourgeoisie und ihrem Antipoden.‘ (Lenin) Der O. leugnet die Notwendigkeit des Klassenkampfes, der revolutionären Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer Kampfpartei und der Errichtung der Diktatur des Proletariats. Er bedeutet offene Abkehr vom Marxismus und ist in der bürgerlichen Weltanschauung verwurzelt. Die politische Hauptfunktion des O. ist die Spaltung der Arbeiterbewegung und die politisch-ideologische Bindung von Teilen der Arbeiterklasse an das kapitalistische System im Interesse der Aufrechterhaltung dieses Systems.“
Kleines politisches Wörterbuch, Berlin 1973, S. 615-616.


Revisionismus[Bearbeiten]

„Strömung des Opportunismus in der revolutionären Arbeiterbewegung, deren Besonderheit darin besteht, dass sie ein ganzes System der Revision des Marxismus (später des Marxismus-Leninismus) als theoretisches Fundament der opportunistischen Politik entwickelt. Der R. fordert eine Korrektur der theoretischen und politischen Grundlagen des Marxismus-Leninismus mit dem Ziel, den revolutionären Inhalt der wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse zu beseitigen und durch bürgerliche Theorie zu ersetzen. […] Auf dem Gebiet der Philosophie wurde die materialistische Weltanschauung durch den Neukantianismus und den Empiriokritizismus, die revolutionäre Dialektik durch einen flachen Evolutionismus ersetzt. In der politischen Ökonomie leugnete der R. die von K. Marx und F. Engels nachgewiesenen Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Entwicklung. Die Entstehung von Monopolen, behaupteten die Vertreter des R., schwäche den Grundwiderspruch zwischen Kapital Arbeit ab und führe zu einer Milderung der Klassengegensätze. An die Stelle der revolutionären Beseitigung der kapitalistischen Ausbeuterordnung müsse die evolutionäre Durchdringung des Kapitalismus durch den Sozialismus, das friedliche Hineinwachsen in den Sozialismus treten. Die politischen Anschauungen des R. bedeuteten die Revision der Lehre vom Klassenkampf und von der Diktatur des Proletariats: Den bürgerlichen Staat sahen die Vertreter des R. nicht als Organ der Klassenherrschaft der Bourgeoisie, sondern als klassenindifferent an; den Ausbau der bürgerlichen Demokratie erklärten sie zur vorrangigen Aufgabe der Arbeiterbewegung. Das wesentliche des R. ist also, dass er den Marxismus durch bürgerliche Anschauungen verwässert und ihn teils völlig durch sie ersetzt und damit der revolutionären Arbeiterbewegung das theoretische Fundament ihres Kampfes um die Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaft und den Aufbau des Sozialismus nimmt.“
Kleines politisches Wörterbuch, Berlin 1973, S. 725-726.


Reformismus[Bearbeiten]

„Erscheinungsform bürgerlicher Ideologie und Politik in der Arbeiterbewegung. Der R. vertritt die Auffassung, dass die Arbeiterklasse auf dem Wege über Reformen zum Sozialismus gelangen kann, und lehnt die proletarische Revolution, die Eroberung der politischen Macht der Arbeiterklasse und die Errichtung der Diktatur des Proletariats als einzig möglichen Weg zum Aufbau des Sozialismus ab. Die Reformisten verbreiten die Illusion, dass sich die Lage der Arbeiterklasse im Kapitalismus durch Reformen grundlegend verbessern kann. Der Marxismus-Leninismus ist nicht gegen Reformen. Er erkennt den Kampf um Reformen im Kapitalismus an, Im Gegensatz zu den Reformisten orientiert er aber die Arbeiterklasse darauf, dass die auf dem Reformwege errungenen Verbesserungen dazu dienen müssen, ‚desto hartnäckiger den Kampf gegen die Lohnsklaverei fortzusetzen‘ und die Reformen ‚zur Entfaltung und Erweiterung ihres Klassenkampfes‘ genutzt werden müssen (Lenin).“
Kleines politisches Wörterbuch, Berlin 1973, S. 713-714.


Klärung / Arbeit mit dem Dissens[Bearbeiten]

Die grundsätzliche Feststellung, dass alle Vorstellungen, die auf die eine oder andere Art von einer Klassenneutralität und daher einer Transformierbarkeit des bürgerlichen Staats ausgehen, im Widerspruch zu unseren Grundannahmen stehen, entbindet uns nicht von der Aufgabe, uns mit diesen Vorstellungen und ihrer jeweiligen Geschichte tiefergehend wissenschaftlich zu beschäftigen.

Dabei muss einerseits die historisch-theoretische Frage beantwortet werden, wie die Entstehung dieser Ideologien nicht nur konstatiert, sondern auch verstanden werden kann, wie diese Ideologien in die Arbeiterbewegung eindringen konnten. Dazu muss geklärt werden, welche Entwicklungen der ökonomischen Basis der bürgerlichen Gesellschaft dies in der jeweiligen Entwicklungsetappe begünstigten und welche Teile der Arbeiterklasse dafür besonders empfänglich waren. Als Grundlage für diese Untersuchung muss uns eine materialistische Ideologietheorie dienen, wie sie Marx, Engels und Lenin entwickelt haben.

Andererseits sind auch empirische Untersuchungen darüber notwendig, welche Teile der Arbeiterklasse heute besonders stark von falschem Bewusstsein über den Staat durchdrungen sind und sich Illusionen über dessen Charakter machen, über welche Wege diese Vorstellungen ins Alltagsbewusstsein eindringen, welche Rolle dabei der Staat, die Parteien, die Gewerkschaften, etc. spielen – und nicht zuletzt: in welchen Teilen der Klasse sie (z.B. durch Krisen und Sozialabbau) tendenziell wieder an Einfluss verlieren, weil ihre ökonomische Basis zunehmend wegbricht.