Anarchistische Staatskritik

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Worum geht es?  [Bearbeiten]

Der Anarchismus ist ein sehr diffuses und heterogenes Phänomen, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Zumindest in der Staatsfrage lassen sich jedoch grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Die anarchistische Staatskritik richtet sich nicht hauptsächlich gegen den bürgerlichen Staat als Klassenstaat der Bourgeoise, sondern lehnt jede Form der Macht, der Autorität und der Staatlichkeit überhaupt als Grundübel der Gesellschaft ab. Als Ziel streben die Anarchiste einen Zustand der völligen „Herrschaftsfreiheit“ an. An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich auch schon die Bewegung messen lassen, die für diese „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Sicht so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren, geschweige denn nach der siegreichen Revolution einen eigenen Staat zur Niederhaltung der Unterdrücker und zum Aufbau und zur Verteidigung des Sozialismus schaffen darf. In Abgrenzung zu solchen individualanarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen - blieb dabei aber bei der anarchistischen Grundposition, dass der Staat durch die Revolution unmittelbar abgeschafft und durch eine "herrschaftsfreie" Räte-Basisdemokratie ohne zentrale Staatsmacht ersetzt werden solle. Der Anarchismus vertritt also in letzter Konsequenz einen klassenneutralen Machtbegriff – er lehnt die Macht nicht als Klassenmacht der Ausbeuter ab, sondern als abstraktes Ding an sich, das aus der Welt geschafft werden soll.

Geschichte[Bearbeiten]

Karl Marx und Friedrich Engels setzten sich schon in jungen Jahren mit einem der philosophischen Vordenker des Anarchismus, Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865), auseinander (Das Elend der Philosophie, 1847). In der Arbeiterbewegung spielten anarchistische Strömungen immer wieder eine Rolle. Die erste ausführliche theoretische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. Diese Auseinandersetzungen spielten eine wichtige Rolle beim Scheitern und Zerfall der Ersten Internationale.

Die Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Anarchisten spielten an vielen wichtigen Stationen der Geschichte der Arbeiterbewegung eine Rolle. So zum Beispiel während der Pariser Kommune von 1871, in der die Anhänger des französischen Revolutionärs Auguste Blanqui (1805-1881) gegen die kommunistischen Mitglieder der Internationale auftraten. In Russland versuchten die anarchistischen Narodniki Ende des 19. Jahrhunderts den zaristischen Staat durch Attentate gegen seine Repräsentanten und die „Propaganda der Tat“ zu stürzen. Die russischen Sozialdemokraten lehnten diese Strategie explizit ab und setzten stattdessen auf die Organisation der Arbeitermassen. Auch nach der Oktoberevolution kam es in Russland immer wieder zu scharfen Widersprüchen zwischen anarchistischen Strömungen und der Sowjetmacht, so z.B. beim Aufstand der Matrosen von Kronstadt (1921), der selbst nicht unbedingt von Anarchisten angeführt wurde, auf den sich diese seither aber positiv beziehen, oder der „Machno-Bewegung“ in der Ukraine während des Bürgerkriegs (1917-1922). Scharfe Auseinandersetzungen zwischen Anarchisten und Kommunisten gab es außerdem zwischen 1936 und 1939 im Spanischen Bürgerkrieg, wo besonders in Katalonien anarchosyndikalistische Organisationen eine entscheidende Rolle spielten.

Thesen und Positionen[Bearbeiten]

Der „Anarchismus“ (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) ist eine politische Ideologie, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesell­schaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbst­bestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammen­schließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. Im Mittelpunkt stehen die Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, und Selbstverwirklichung der Individuen und kollektive Selbstverwaltung („Autonomie“). Im Anarchismus fließen die Traditionen des bürgerlichen Liberalismus (individuelle Freiheit) und der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen (Kollektivität und Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Heute wird häufig das Adjektiv libertär (deutsch: freiheitlich) als Synonym für „anarchistisch“ benutzt.

Friedrich Engels fasste die Kritik an den Positionen Michael Bakunins und der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen:

„ Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. Da also der Staat das Hauptübel sei, so müsse man vor allem den Staat abschaffen, dann gehe das Kapital von selbst zum Teufel; während wir umgekehrt sagen: schafft das Kapital, die Aneignung der gesamten Produktionsmittel in den Händen weniger, ab, so fällt der Staat von selbst. Der Unterschied ist wesentlich: die Abschaffung des Staats ist ohne vorherige soziale Umwälzung ein Unsinn – die Abschaffung des Kapitals ist eben die soziale Umwälzung und schließt eine Verändrung der gesamten Produktionsweise in sich. Nun aber, da für Bak[unin] der Staat das Grundübel ist, darf man nichts tun, das den Staat, d.h. irgendwelchen Staat, Republik, Monarchie oder wie immer, am Leben erhalten kann. Daher also vollständige Abstention von aller Politik. Einen politischen Akt begehn, besonders aber an einer Wahl teilnehmen, wäre Verrat am Prinzip. Man soll Propaganda machen, auf den Staat schimpfen, sich organisieren, und wenn man alle Arbeiter auf seiner Seite hat, also die Mehrzahl, so setzt man alle Behörden ab, schafft den Staat ab und setzt an seine Stelle die Organisation der Internationalen. Dieser große Akt, womit das Tausendjährige Reich anfängt, heißt die soziale Liquidation. [...]

Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll, sondern damit sie bei der sozialen Liquidation sofort an die Stelle der alten Staatsorganisation treten kann, so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität = Staat = absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!“
Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33;Dietz-Verlag; S. 388-389.


Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der Zweck der Revolution besteht für die Anarchisten darin, den Staat zu zerschlagen und unmittelbar in einen Zustand der Herrschaftsfreiheit überzugehen. Je nach Strömung innerhalb des Anarchismus unterscheiden sich dabei die Haltungen zur Eigentumsfrage (es gibt z.B. auch „libertäre“ Vertreter des Kapitalismus) und die Haltung zur Organisationsfrage. Manche Anarchisten fordern totale Organisationslosigkeit und „Hierarchiefreiheit“, andere erkennen im unmittelbaren Kampf gegen den Staat die Notwendigkeit von Mehrheitsprinzip und hierarchischen Organisations- und Beschlussstrukturen an.

Der Marxismus ist dagegen immer davon ausgegangen, dass in der Revolution zwar der bürgerliche Staat zerschlagen, an dessen Stelle aber ein revolutionärer Staat, die „Diktatur des Proletariats“, errichtet werden müsse. Diese Aufgabe macht eine gut organisierte, hierarchische und zentralisierte Kaderpartei notwendig, die diszipliniert und einheitlich handelt. Der Staat der Arbeiterklasse hat die Aufgabe, der Bourgeoisie die Produktionsmittel zu entreißen, den Sozialismus aufzubauen und die Unterdrücker niederzuhalten. Er verteidigt die Revolution gegen ihre Feinde, während er für die Unterdrückten Massen zugleich die breiteste Demokratie bedeutet. Nicht schon die Revolution, sondern erst die Aufhebung der Klassen und der Aufbau des Sozialismus schafft aus Sicht der Kommunisten die Voraussetzung für das allmähliche „Absterben“ des Klassenstaates. Während die Anarchisten also die „Aufhebung“ des bürgerlichen Staats und das „Absterben“ aller Staatlichkeit überhaupt in einem einzigen revolutionären Akt fordern, treten die Marxisten für die Staatsmacht der Arbeiterklasse als Voraussetzung für die Aufhebung der Klassen und Absterben des Staates ein.

Wer vertritt die Thesen heute?[Bearbeiten]

Der Anarchismus in seiner klassischen Form, also als philosophische Lehre und politische Strategie mit realer Verankerung in der Arbeiterbewegung (wie ihn Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder die spanischen Anarchosyndikalisten vertraten) ist heute kaum mehr präsent. Vulgarisierte Formen des Anarchismus sind dagegen in der "autonomen" Szene und linken Subkulturen nach wie vor sehr weit verbreitet.

Neben zahlreichen Splittergruppen, die in der BRD heute ein gemeinsames, hauptsächlich kleinbürgerlich geprägtes Milieu bilden und von der Arbeiterbewegung meist isoliert sind, bildet die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) eine gewisse Ausnahme. Diese Organisation versucht im Rahmen einer kleinen anarchistischen Richtungsgewerkschaft außerhalb der DGB-Gewerkschaften Klassenkämpfe und Streiks zu organisieren.

Verschiedene "anarcho-kommunistische" oder "libertär-kommunistische" Gruppen und Zusammenschlüsse versuchen Aspekte des Marxismus (Klassenkampf, Vergesellschaftung der Produktionsmittel) mit Standpunkten des Anarchismus (Ablehnung von Hierarchien und zentralistischer Organisationsformen) zu vereinen.

Einen gewissen Aufschwung erlebte die anarchistische Strömung in Folge des Aufstands der mexikanischen Zapatisten (EZLN) 1994 und während der Hochzeit der globalisierungskritischen Bewegungen, in denen neben einer sozialdemokratisch-keynesianistisch orientierten Mehrheit auch zahlreiche anarchistische Gruppen und Tendenzen aktiv waren. Über die Zapatisten wurde die anarchistische Parole "Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen" popularisiert. Dies markierte den endgültigen Abschied eines Teils der nationalen Befreiungsbewegungen und der "Dritte-Welt"-Solidaritätsbewegungen vom Leninismus.

Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxistismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff.

Bezug zu den Grundannahmen[Bearbeiten]

Die Kernfragen des hier dargelegten Dissenses tauchen in den Grundannahmen von Marx, Engels und Lenin zur „Notwendigkeit der Zerschlagung“ des bürgerlichen Staats auf.

Klärung / Arbeit mit dem Dissens [Bearbeiten]

Welche theoretischen Fragen müssen beantwortet werden?[Bearbeiten]

Was ist falsch am anarchistischen Staats- und Organisationsverständnis? Warum kann der bürgerliche Staat nicht ohne eine starke und gut organisierte Bewegung mit einer kommunistischen Kaderpartei an ihrer Spitze gestürzt werden? Warum kann die Staatsmacht nicht unmittelbar nach der Revolution absterben? Welche Rolle spielt der Einfluss des bürgerlichen Liberalismus auf den historischen und gegenwärtigen Anarchismus?

Welche empirischen Untersuchungen sind notwendig? [Bearbeiten]

In welchen Teilen der Arbeiterklasse und der kommunistischen Bewegung gibt es eine Affinität zu anarchistischen Ideen?

Gibt es Überschneidungen mit anderen AGen?[Bearbeiten]

AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei

Bezug zu den Programmatischen Thesen[Bearbeiten]

Siehe zu den hier diskutierten Fragen die Abschnitte zum Staat, zum Sozialismus und Kommunismus und zur revolutionären Strategie.

In den Programmatischen Thesen halten wir fest:

„Die proletarische Revolution bedeutet aber auch nicht die sofortige Abschaffung des Staates. Sie ist die Zerschlagung des bürgerlichen Staates und die Errichtung eines neuen Staates der Arbeiterklasse, der Diktatur des Proletariats.“
Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.8.


Weiterhin schreiben wir:

„Unser Ziel ist eine Gesellschaft ohne Ausbeutung, ohne Klassen und ohne Staat, ohne Unterdrückung und ohne Kriege – der Kommunismus. Wir kämpfen für eine Gesellschaft freier und gleicher Menschen. […]

Aber es ist nicht möglich, aus der kapitalistischen Gegenwart übergangslos in die kommunistische Zukunft zu springen. Zwischen der gegenwärtigen Diktatur der Bourgeoisie und der klassenlosen Gesellschaft liegt deshalb eine erste, noch unreife Stufe des Kommunismus, die sozialistische Gesellschaft. Auch der Sozialismus kann nur unter Führung der Arbeiterklasse und mit ihren Verbündeten aufgebaut werden, unter der Diktatur des Proletariats. Diktatur des Proletariats bedeutet, dass die Arbeiterklasse sich gemeinsam mit den ihr verbündeten Schichten, z.B. Kleinbauern und kleine Selbstständige, Organe der politischen Herrschaft, der Verwaltung der Produktion und des gesellschaftlichen Lebens und schließlich auch Organe der politischen und militärischen Verteidigung der Revolution schafft. Während sie eine Diktatur gegen die Feinde der neuen Ordnung ist und alle Versuche zur Wiedererrichtung der Ausbeuterordnung konsequent bekämpft und unterdrückt, stellt sie für die breiten Volksmassen die umfassendste Demokratie dar. Denn auch wenn die kommunistische Partei auch im Sozialismus noch ihre ideologisch und politisch führende Rolle wahrnehmen und erkämpfen muss, liegt die Machtausübung in den Händen der Massen.“
Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.19.


Die unreife Stufe des Kommunismus, der Sozialismus, schafft die Grundlagen für den Kommunismus:

„Durch gesellschaftliche Planung der Produktion und Verteilung und unter gesellschaftlicher Kontrolle werden so die materiellen und kulturellen Grundlagen für die klassenlose Gesellschaft, den Kommunismus geschaffen.“
Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.20.


„Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus ist die sozialistische Revolution: die Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse, die Zerstörung der bürgerlichen Machtstrukturen und die Errichtung der Diktatur des Proletariats.“
Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.22.