„Demokratisierung“ als Schritt zum Sozialismus

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Worum geht es? [Bearbeiten]

Zahlreiche „linke“ Gruppen und Parteien vertreten die Position, eine „Demokratisierung“ des bürgerlichen Staats im Imperialismus sei nicht nur möglich, sondern bedeute auch einen ersten wichtigen Schritt in Richtung sozialistische „Transformation“ der Gesellschaft. Diese Position ist sowohl bei Vertretern eines „friedlichen Übergangs“ und einer „demokratischen Zwischenetappe“ (siehe Abschnitte Eurokommunismus und „antimonopolistische Demokratie“) auf dem Weg zum Sozialismus anzutreffen, als auch bei solchen Linken, die von Sozialismus nichts mehr wissen wollen und sich schon mit einem „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“ oder einfach ein bisschen mehr Keynesianismus zufrieden geben würden. Besonders prominent ist diese Vorstellung gegenwärtig unter den verschiedenen Vertretern des "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Lateinamerika.

Geschichte[Bearbeiten]

Wie bereits in den Abschnitten über den „klassischen Revisionismus“ (Bernstein, Kautsky) und die „Verstaatlichung als Schritt zum Sozialismus“ (Owen, Lasalle) ausgeführt, spielt die Vorstellung einer fortschreitenden Demokratisierung des bürgerlichen Staats und einer angeblich damit einhergehenden Verwandlung seines Klassencharakters eine zentrale Rolle für fast alle Spielarten des Opportunismus und Revisionismus. Rosa Luxemburg schreibt schon 1899 in ihrer Polemik gegen Eduard Bernstein: „die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie [sei] eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie.“ [1]

Positionen, die an diese revisionistische Traditionslinie anknüpften, begannen sich in der kommunistischen Weltbewegung besonders nach dem 20. Parteitag der KPdSU von 1956 verstärkt durchzusetzen. Dort hatte die KPdSU erstmals offen von einem „parlamentarischen Übergang“ zum Sozialismus gesprochen. In den 1970er Jahren gewannen im Westen schließlich die Positionen des Eurokommunismus stark an Einfluss, die die Auffassung vertraten, dass die Kommunisten den Staat auf parlamentarischem Weg und durch den Ausbau der bürgerlichen Demokratie in eine volksfreundliche Richtung transformieren können.

Thesen und Positionen[Bearbeiten]

Diese historisch nur grob skizzierte Tradition ist bis heute sehr lebendig. So argumentiert zum Beispiel SYRIZA in ihrem Regierungsprogramm, „der Staat [sei] keine Festung, sondern ein Netzwerk, ein Verhältnis und eine strategische Arena für den politischen Kampf. Er verändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, im Gegenteil, seine notwendige Transformation hat konstante und kontinuierliche Kämpfe zur Voraussetzung, die Einbeziehung des Volkes, ständige Demokratisierung.“ (Quelle: SYRIZAs Regierungsprogramm[2]) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der bürgerliche Staat von SYRIZA nicht seinem Wesen nach als ein Organ der bürgerlichen Klassenherrschaft angesehen, sondern als eine Ansammlung von Institutionen, die im Interesse des Volkes „transformiert“ werden können. Auf Grundlage dieser Sichtweise wird argumentiert, dass der Charakter der Institutionen des bürgerlichen Staats, der bürgerliche Staat als ganzer, entsprechend geformt werden kann, solange sich nur „linke Regierungen“ durchsetzen können.

Ähnliche Vorstellungen finden sich auch in der deutschen Linken, und zwar auch in jenen Teilen, die sich selbst als kommunistisch definieren. Obwohl die Mehrheit der DKP-Mitglieder (mit einigen nicht unbedeutenden Ausnahmen) sich vermutlich empört vom Eurokommunismus und der SYRIZA-Regierung distanzieren würde, enthält ihr Programm von 2006 doch sehr ähnliche strategische Vorstellungen:

„Je mehr es dabei gelingt, Veränderungen im Sinne von Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, von demokratischer Kontrolle, von Entmilitarisierung und Demokratisierung in Staat und Gesellschaft zu erreichen, je größer der Einfluss der demokratischen und sozialistischen Kräfte überall dort ist, wo Meinungsbildung stattfindet, desto besser sind die Chancen im Kampf um die Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und für die Öffnung des Weges zum Sozialismus. […] Es geht um die demokratische Einflussnahme auf den staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus im nationalen Rahmen wie im Rahmen der Europäischen Union und anderer internationaler staatsmonopolistischer Institutionen. [3]

Diese Vorstellung läuft also darauf hinaus, die Kommunisten und „Demokraten“ könnten wesentlichen Einfluss auf den „staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus“ nehmen, letztlich also den ideellen Gesamtkapitalisten dem Einfluss der Klasseninteressen der Bourgeoisie entreißen und ihrem politischen Willen unterwerfen. Ebenfalls weit verbreitet sind solche Ansichten über die Demokratisierbarkeit des bürgerlichen Staats in den deutschen Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dort gehört der Begriff der „Mitbestimmung“ nicht umsonst zum ideologischen Kernrepertoire. Die Vorstellung, im Betrieb ließe sich zwischen Kapital und Arbeit sozusagen auf Augenhöhe eine demokratische Mitbestimmung und dadurch ein Interessenausgleich verwirklichen, bildet das Herzstück der Ideologie der „Sozialpartnerschaft“.

Ähnliche Sichtweisen werden heute außerdem in einer Reihe lateinamerikanischer Länder gepflegt. Verschiedene „fortschrittliche“ und „linke“ Regierungen versuchen unter dem Banner des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bzw. der „bolivarischen Revolution“, nachdem sie die Wahlen gewonnen haben, im Volk die Illusion zu streuen, dass das System durch Gesetzesreformen und Volksabstimmungen grundlegend verändert werden kann.

All diese Sichtweisen, so lässt sich vom Standpunkt der klassischen marxistischen Staatstheorie kritisieren, haben gemeinsam, dass sie den bürgerlichen Staat in letzter Konsequenz losgelöst von seiner ökonomischen Basis betrachten und dadurch die Illusion schüren, dass die Rolle dieses Staats und seiner Institutionen (z.B. das Parlament, die Regierung, Armee und Polizei) anstatt von den Klasseninteressen der Bourgeoisie und den ökonomischen Bewegungsgesetzten des Kapitalismus nur davon abhängig sei, welche politische Kraft („links“ oder „rechts“) gerade in ihnen dominiert und wie viel „Demokratie“ zugelassen wird. In der Praxis verschieben diese Sichtweisen den Kampf für den Sturz der kapitalistischen Ausbeutung auf eine ferne Zukunft, legen den Fokus auf parlamentarische Reformkämpfe und arbeiten damit aktiv gegen eine Radikalisierung der Arbeiterbewegung.

Ein deutliches Symptom für die Illusionen in eine erhoffte „Demokratisierung“ des bürgerlichen Staats im Monopolkapitalismus war die Euphorie, mit der die deutsche Linke fast geschlossen die Regierungsübernahme von SYRIZA und das unter ihrer Regierung durchgeführte Referendum bejubelte (siehe unseren Artikel Griechenland, Syriza und die deutsche Linke).

Bezug zu den Grundannahmen[Bearbeiten]

Die These, der Klassencharakter des bürgerlichen Staates ließe sich allmählich durch dessen Demokratisierung verändern, steht im Widerspruch zu den Grundannahmen, dass der Klassencharakter dieses Staats sich nicht aus politischen Kräfteverhältnissen im Überbau, sondern aus dessen ökonomischer Basis ergibt (Grundannahmen Staat - Basis und Überbau). Der bürgerliche Staat ist „Diktatur der Bourgeoisie“ und „ideeller Gesamtkapitalist“. Die Grundannahmen zum Staat im Imperialismus gehen in diesem Stadium des Kapitalismus zudem von einem zunehmenden Demokratieabbau und einem immer stärker autoritären Herrschaftsstil der Bourgeoisie aus.

Außerdem steht diese These im Widerspruch zu der Grundannahme, dass der bürgerliche Staat nicht allmählich transformiert oder von der Arbeiterklasse als fertiger Apparat einfach übernommen, sondern in der Revolution aufgehoben und durch die organisierte Macht der Arbeiterklasse ersetzt werden muss (Grundannahmen Staat).

Klärung / Arbeit mit dem Dissens [Bearbeiten]

Welche theoretischen Fragen müssen beantwortet werden?[Bearbeiten]

Auf theoretischem Gebiet müssen wir uns stärker mit dem Funktionieren der „demokratischen“ Institutionen des bürgerlichen Staats und deren Integrationsmechanismen auseinandersetzten. 

Welche empirischen Untersuchungen sind notwendig?[Bearbeiten]

Empirisch müssen wir uns zu diesem Zweck einerseits die konkreten historischen Erfahrungen von kommunistischen Parteien anschauen, die vor allem eine parlamentarische Strategie verfolgt haben oder in bürgerliche Regierungen eingetreten sind. Andererseits müssen wir empirisch untersuchen, inwieweit Illusionen in die bürgerliche Demokratie heute in der Arbeiterklasse verbreitet sind, was der konkrete Inhalt dieser Vorstellungen ist und über welche Wege sie vor allem in der Klasse verbreitet werden (Rolle des Bildungssystems, der Gewerkschaften, der Linkspartei etc.)

Bezug zu den Programmatischen Thesen[Bearbeiten]

In den Programmatischen Thesen gibt es bisher keine Stelle, die explizit auf die These der „Demokratisierung“ des bürgerlichen Staats als Schritt in Richtung Sozialismus eingeht. Wir halten über die Herrschaftsformen des Staates jedoch grundsätzlich fest: „Er wendet letztlich alle Formen von Gewalt an, verbreitet aber auch die bürgerliche Ideologie und betreibt die Einbindung von Teilen der Arbeiterklasse durch Zugeständnisse, um die ausgebeutete Klasse niederzuhalten.“ [4]

In den Programmatischen Thesen wenden wir uns explizit gegen Vorstellungen der Reformierbarkeit des bürgerlichen Staats.

Literatur und Quellen[Bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), Zweiter Teil
  2. Zitiert nach einem auf Englisch erschienenen Artikel der KKE, ins Deutsche Übersetzt. URL: https://inter.kke.gr/en/articles/Criticism-of-certain-contemporary-opportunist-views-on-the-state/ (9.1.2019)
  3. Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), IV. Unser Weg zum Sozialismus
  4. Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.8.