http://wiki.kommunistische.org/api.php?action=feedcontributions&user=Dio&feedformat=atomBolscheWiki - Benutzerbeiträge [de]2024-03-29T07:42:26ZBenutzerbeiträgeMediaWiki 1.31.1http://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Der_Klassencharakter_des_b%C3%BCrgerlichen_Staats&diff=6980Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats2020-01-09T10:51:42Z<p>Dio: /* "Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas) */</p>
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<div>Zurück zur [[AG Formen bürgerlicher Herrschaft]]<br />
==Überblick==<br />
Dieser Artikel soll einen ersten groben Überblick über die verschiedenen Auffassungen zum Klassencharakter des bürgerlichen Staats innerhalb des kommunistischen und im weiteren Sinne "linken" Spektrums geben. Ist der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" die organisierte politische Macht der gesamten Bourgeosie und damit das Instrument ihrer Klassenherrschaft? Oder ist der Staat an sich ein klassenneutraler Apparat, der sowohl für die Zwecke der Kapitalistenklasse, als auch im Interesse der Arbeiter in Bewegung gesetzt werden kann? Ist der Staat im Stadium des Imperialismus nur noch das Herrschaftsinstrument eines kleinen Teils der Kapitalisten, der Monopolbourgeoisie, die ihre Macht mit Hilfe des Staats auch gegen die "kleine und mittlere Bourgeoisie" durchsetzt? Oder ist der bürgerliche Staat nach 1945 gar zu einer "echten Demokratie" geworden, in der die politische Macht nicht mehr von den besitzenden Klassen ausgeht, sondern von der demokratischen Mehrheit?<br />
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Die Unterschiede in der Analyse und die Einschätzung des Klassencharakters des bürgerlichen Staats haben weitreichende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung. Die sich daraus ergebenden Dissense werden an anderer Stelle unter dem Stichwort "'''[[Staat und Revolution]]'''" dargestellt.<br />
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===Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise"===<br />
Die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus (Marx, Engels, Lenin) bestimmten den bürgerlichen Staat als "ideellen Gesamtkapitalisten" und als Instrument der "Diktatur der Bourgeosie". <br />
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Schon im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 schrieben Marx und Engels: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. […] Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." <ref> Marx, K., Engels, F.: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, Berlin/DDR 1977, S. 464/482. </ref> Diese Definition des Staates als „Ausschuss“ zur Regelung der „gemeinschaftlichen Geschäfte“ der Bourgeoisie deckt sich mit der späteren Formulierung von Engels, in der er den bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnete: "Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten […] nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. <ref> Engels,F.: Zur Wohnungsfrage, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 18, Berlin/DDR 1973, S.257-258.</ref> Der Staat schützt die kapitalistische Produktionsweise sowohl gegen den Widerstand der Arbeiter als auch gegen die sich widersprechenden Einzelinteressen individueller Kapitalisten. Laut Engels setzt der „ideelle Gesamtkapitalist“ also das Interesse der gesamten herrschenden Klasse nicht nur gegenüber dem Proletariat, sondern auch gegenüber ihrer einzelnen Klassenindividuen durch: "Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." <ref> Engels,F.: Anti-Dühring (1877), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 20, S. 260.</ref> <br />
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Der Staat ist also einerseits Instrument zur Unterdrückung der Arbeiter und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse, gleichzeitig ist er notwendig, um die Bourgeoisie über die kapitalistische Konkurrenz hinweg zu Kompromissen zu zwingen und sie so erst als herrschende Klasse zu organisieren.<br />
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Lenin führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine scharfe Polemik gegen die Revisionisten und Reformisten in der deutschen und russichen Sozialdemokratie. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fasste er die Staatsauffassung von Marx und Engels in seiner Schrift ''Staat und Revolution'' (1917) zusammen: "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen 'Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. <ref> Lenin, W.I.: Staat und Revolution, in: in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Lenin Werke Bd. 25, Berlin/DDR 1974, S. 399. </ref> Der Staat ist demnach eine Macht, "die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben. Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt ‚nicht mehr unmittelbar zusammenfällt‘ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer ‚selbsttätigen bewaffneten Organisation‘. [...] Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?" <ref> ebd., S. 401.</ref><br />
Abschließend fasste Lenin seine Studien zur marxschen Staatsauffasung in der Bestimmung des bürgerlichen Staats als „Diktatur der Bourgeoisie“ zusammen: "Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist […]. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie." <ref> ebd., S. 425.</ref><br />
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Von dieser Analyse ausgehend formulierten die Klassiker die strategische Orientierung auf die "Zerschlagung des bürgerlichen Staats" und die Errichtung der "Diktatur des Proletariats". Siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]].<br />
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Für eine ausführlichere Darstellungen der Annahmen der Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus zum Staat, siehe: [[Grundannahmen Staat]]<br />
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===Der Staat als klassenneutrales Instrument===<br />
Vertreter dieser Auffassung gehen davon aus, dass der bürgerliche Staat und seine Organisationsapparate an sich klassenneutrale Instrumente seien. Das heißt sie werden unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen zwar von der Bourgeoisie benutzt, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen, die Arbeiterklasse niederzuhalten und die Bedingungen der Kapitalakkumulation möglichst günstig zu gestalten, könnten unter anderen Bedingungen (z.B. nach dem Wahlsieg einer Arbeiterpartei) jedoch genausogut im Interese des Proletariats in Bewegung gesetzt werden (z.B. um den Kapitalismus durch Sozialreformen allmählich in den Sozialismus zu überführen). Die Instrumente selbst, also die Staatsorganisationen vom Parlament über die Verwaltungs- bis hin zu den Repressionsorganen, verhalten sich dieser Auffassung nach also neutral zu den Zwecken ihrer Anwendung. Weder ihre konkrete Organisationsform noch das Personal, aus dem sie bestehen, tragen demnach Klassencharakter. Diese Auffassung steht im Widerspruch zu der Position, der bürgerliche Staat sei seiner Form und seinem Klasseninhalt nach "ideeller Gesamtkapitalist" und Ausdruck der "Diktatur der Bourgeoisie" (s.o.).<br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):'''<br />
Die klassischen Vertreter einer solchen Staatsauffassung waren die „Revisionisten“ in der deutschen Sozialdemokratie, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen und zentrale Annahmen des wissenschaftlichen Sozialismus zu "revidieren" begannen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Eduard Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. <br />
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Bernstein bestritt in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899) die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Aufhebung des bürgerlichen Staates und schlug stattdessen einen friedlichen und demokratischen Reformweg zum Sozialismus vor. Bernstein argumentiert, die bisherige Ausrichtung der Sozialdemokratie auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus sei durch die Realität überholt. Das kapitalistische System habe sich als weitgehend krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, ein „Zusammenbruch“ des Kapitalismus bzw. eine revolutionäre Situation sei nicht mehr zu erwarten. Die Aufgabe der SPD sei es nun, im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch „Sozialreformen“ Verbesserungen für die Arbeiterklasse und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards zwischen den Klassen durchzusetzen. Den Weg, um diese Ziele zu erreichen, sah Bernstein in der schrittweisen Ausdehnung des parlamentarischen Einflusses der Sozialdemokratie bis hin zur Übernahme der Regierung. Diese würde dann weitreichende Reformen im Sinne der Arbeiterklasse und des Sozialismus durchsetzen. Das entsprechende Credo des Reformismus lautete: „Der Weg ist alles, das Ziel ist nichts“.<br />
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Der klassische Reformismus setzt notwendig eine bestimmte Auffassung über den bürgerlichen Staat voraus. Wenn es möglich sein soll, den Kapitalismus allmählich durch Sozialreformen zu überwinden, so muss es auch möglich sein, dass die Arbeiterklasse diese Reformen im Staatsapparat gegen den Willen der Bourgeoisie durchsetzt oder diese zumindest zu Kompromissen zwingt – und zwar so weit, dass die Gesellschaft immer mehr sozialistische Züge annimmt und der Staat letztlich aufhört, bürgerlicher Staat zu sein und allmählich zu einem Instrument in den Händen der Arbeiterklasse wird. Dieses Instrument an sich muss also „klassenneutral“ sein und je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse sich entwickeln, kann es sowohl von der einen, als auch von der anderen Klasse kontrolliert und im eigenen Interesse eingesetzt werden. Der Staat steht in dieser rein instrumentalistischen Sichtweise der ihm zugrunde liegenden Produktionsweise also äußerlich gegenüber, er besitzt keine innere Verbindung zu ihr. Der Überbau scheint unabhängig von seiner ökonomischen Basis agieren zu können. Der bürgerliche Staat wird aus dieser Sichtweise nicht als spezifisches, den Klasseninteressen der Bourgeoisie entsprechend geformtes Werkzeug verstanden. Ergo kann das Proletariat dieses Werkzeug unverändert übernehmen, anstatt sich einen eigenen Apparat zu schaffen, der den spezifischen Erfordernissen und Klasseninteressen der Arbeitermacht entspricht.<br />
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'''Eurokommunismus:'''<br />
Ab den 1970er Jahren knüpften die sogenannten "Eurokommunisten" mit vielen ihrer Positionen an die theoretische Tradition des klassischen Revisionismus an, begründeten ihre Haltung aber damit, dass die Kräfteverhältnisse und somit auch der Charakter des bürgerlichen Staates sich nach 1945 grundlegend geändert hätten. Daher seien der „sowjetische Weg zum Sozialismus“ und die "Diktatur des Proletariats" als historischer Sonderfall überholt und Europa mittlerweile in eine Epoche der demokratischen Übergänge eingetreten. Sie vertraten die Einschätzung, die bürgerliche Demokratie sei nach dem Sieg über den Faschismus im Westen zu sehr gefestigt, als dass die Herrschenden gewaltsam gegen einen demokratischen Übergang zum Sozialismus vorgehen könnten. Die Hauptvertreter des Eurokommunismus waren die kommunistischen Parteien Frankreichs (PCF), Italiens (PCI) und Spaniens (PCE).<br />
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Die eurokommunistische Strategie des friedlichen, parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus ging mehr oder weniger offen davon aus, dass der Staat als ein „Feld im Klassenkampf" aufzufassen sei, auf dem sich zwar die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen widerspiegeln, das an sich aber klassenneutral sei. Durch Veränderungen der politischen Mehrheiten sollten der Staat und seine Institutionen durch die Kommunisten kontrolliert und im Sinne der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden. Die Regierung sollte ein Reformprogramm umsetzen, das die Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung Sozialismus entwickeln würde. Auch im Sozialismus sollte der bürgerlich-liberale Parlamentarismus als politische Herrschaftsform bruchlos beibehalten werden: „Die repräsentative Demokratie, kombiniert mit Formen der direkten Demokratie, kann ohne weiteres auch die Form des sozialistischen Systems sein.“<ref> Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen, Rom 1977, URL: https://www.zeit.de/1977/29/der-haeretiker-aus-asturien (letzter Zugriff: 21.12.2019).</ref> In Teilen der eurokommunistischen Strömung wurde sogar die Notwendigkeit der Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Länder in imperialistischen Staatenbündnissen wie der EG und der NATO offen verteidigt. Ausführlich dargelegt ist das Staatsverständnis der Eurokommunisten in Santiago Carrillos ''Eurokommunismus und Staat''<ref>Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.</ref>. <br />
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Ausführlicherer Artikel: [[Eurokommunistische Staatsauffassung]]<br />
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'''Andere Vertreter:'''<br />
Auch heute gibt es zahlreiche "linke" Vertreter dieser Auffassung. Die Annahme, der bürgerliche Staat sei ein grundsätzlich klassenneutrales Instrument, bildet die Voraussetzung jeder Strategie, die auf den Eintritt in die bürgerliche Regierung zum Zweck der Umsetzung von Reformen abzielt. Das gilt eindeutig für die deutsche ''Linkspartei'' und ihre europäischen Geschwisterorganisationen, allen voran die einflussreiche griechische ''SYRIZA''. Auch die "antimonopolistische Strategie" der DKP unterstellt letztlich eine Klassenneutralität des Staates der Monopole (s.u.). In unterschiedlichen Abstufungen wird diese Auffassung auch von den "bolivarischen Bewegungen" bzw. den Vertretern eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien etc. vertreten.<br />
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===Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole===<br />
Eine seit 1945 weit verbreitete Position geht davon aus, dass der bürgerliche Staat im Monopolkapitalismus nicht mehr das Interesse der gesamten herrschenden Klasse vertritt, sondern sich zum alleinigen Herrschaftsinstrument der Monopole entwickelt. Diese Vorstellung beruft sich häufig auf die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (s.o.) und ist eng verbunden mit den verschiedenen Varianten der [[Strategie der Übergänge]]. <br />
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'''Deutsche Kommunistische Partei (DKP):'''<br />
Die DKP vertritt seit ihrer Gründung eine Strategie der "antimonopolistischen Demokratie" (im folgenden: AMD). Diese wurde erstmals im Programm von 1978 explizit ausformuliert und beschlossen. Auch im Programm von 2006 bildet die AMD, von einigen kleineren Relativierungen abgesehen, noch immer den Kern der strategischen Vorstellungen der DKP. <br />
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Zu den wichtigsten Grundannahmen der AMD gehört, dass der bürgerliche Staat zu einem Instrument in den Händen der Monopole, also einer Handvoll Finanzoligarchen innerhalb der Bourgeoisie, geworden ist. Der Staat, so die These, setze deren Profitinteressen rigoros gegen alle „nicht-monopolistischen Schichten“, also nicht nur gegen die Arbeiterklasse und alle anderen Werktätigen, sondern auch gegen die „kleine und mittlere Bourgeoisie“ durch. Der bürgerliche Staat vernachlässigt aus dieser Sicht also gewissermaßen seine Aufgabe als „ideeller Gesamtkapitalist“ und verkörpert gegenüber der gesamten Gesellschaft (und einem Großteil der Bourgeoisie) nicht mehr das langfristige Gesamtinteresse aller Kapitalisten, sondern einseitig das Partikularinteresse des Monopolkapitals. <br />
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Im DKP-Programm von 2006 heißt es dazu: "Als Machtinstrument der Monopolbourgeoisie setzt er [der Staat] immer unverblümter eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durch. An die Stelle der sozialen Integration tritt die Konfrontation. Der bürgerliche Staat verliert tendenziell seine Fähigkeit zur sozialen und politischen Vermittlung, weil die Basis für die Organisierung stabilerer sozialer Kompromisse, die größere Teile der Gesellschaft einbeziehen, verloren geht. So wird die bürgerliche Demokratie ausgehöhlt und verliert ihren Inhalt. Bei Beibehaltung formaler Demokratie vollzieht sich der Übergang vom 'Sozialstaat' zum autoritären 'Sicherheitsstaat'." <ref> Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Duisburg 2006, S. 12. </ref> <br />
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Damit wird zwar der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht geleugnet, aber eine neue strategische Bruchlinie zwischen den Monopolen und allen „nicht-monopolistischen“ Schichten aufgemacht, die aus dieser Sicht nun in Opposition zum "Staat der Monopole" geraten. Entlang dieser Linie soll sich ein „antimonopolistisches Bündnis“ formieren, das neben der Arbeiterklasse nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch bedeutende Teile der „nicht-monopolistischen“ Bourgeoisie umfassen soll <ref> Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Duisburg 2006, S. 33. </ref> . Dieses Bündnis hat zwar nicht den Sozialismus zum Ziel, wohl aber eine Zwischenetappe der „antimonopolistischen Übergänge“, in deren Rahmen die Kommunisten sich an der Regierungsmacht beteiligen und zunächst im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise eine politische „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ durchsetzen sollen.<br />
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Diese Vorstellung eines weitgehend bruchlosen Übergangs des Staatsapparats aus den Händen der einen in die Hände der anderen Klasse unterstellt eine instrumentalistische Sicht auf den Staat und behandelt diesen in letzter Konsequenz als ''klassenneutrales Werkzeug'' (s.o.). Zugespitzt formuliert: Der Klassencharakter des Staates scheint sich aus Sicht der Vertreter der antimonopolistischen Strategie nicht aus seiner Funktionsweise und seinem Wesen, sondern aus den politischen Kräfteverhältnissen zu ergeben. Ändert die Regierung ihren Klassencharakter von „monopolistisch“ zu „nicht-monopolistisch“, so ändert sich demzufolge auch der Klassencharakter des Staates. <br />
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Hier geht es zu einer längeren Version dieses Artikels: [[„Antimonopolistische_Demokratie“_(DKP)|„Antimonopolistische Demokratie“ (DKP)]]<br />
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'''Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD):'''<br />
Zu den wichtigsten Alleinstellungsmerkmalen der Theorie und Programmatik der MLPD gehört der Begriff der „Übermonopole“ (siehe dazu den entsprechenden Artikel [[Imperialismus_als_Weltsystem|"Imperialismus als Weltsystem"]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus), der auch ihre Analyse des bürgerlichen Staats der Gegenwart wesentlich prägt. In ihrem Parteiprogramm schreibt die MLPD: "Die hier ansässigen internationalen Übermonopole, die zum allein herrschenden internationalen Finanzkapital gehören, haben sich den Staat vollkommen untergeordnet, und die Organe des Monopolkapitals sind mit den Organen des Staatsapparats verschmolzen. Sie haben ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft, auch über andere Monopole und die nicht monopolisierten Kapitalisten, errichtet. Über die Organe der EU nehmen sie Einfluss auf andere europäische Staaten." <ref>Programm der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (2016), S. 31, URL: https://www.mlpd.de/parteiprogramm (letzter Zugriff: 09.01.2019)</ref> <br />
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Die MLPD geht also davon aus, dass sich diese „Übermonopole“ den bürgerlichen Staat „vollkommen untergeordnet“ haben – aus dieser Formulierung kann geschlussfolgert werden, dass der Staat nicht mehr als „ideeller Gesamtkapitalist“ das Gesamtinteresse des Kapitals vertritt, sondern von der Fraktion der „Übermonopole“ bzw. des „allein herrschenden Finanzkapitals“ allen anderen Teilen der Bourgeoisie gegenüber als Herrschaftsinstrument benutzt wird. Zudem geht die MLPD davon aus, dass die „Organe des Monopolkapitals“, die im vorangegangenen Stadium des Kapitalismus scheinbar noch unabhängig vom und außerhalb des Staatsapparates existierten, heute vollständig mit diesem „verschmolzen“ sind. <br />
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Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Programmatik der MLPD findet sich hier: [https://kommunistische.org/diskussion/einschaetzung-der-programmatik-der-mlpd/ Philipp Kissel, Einschätzung der Programmatik der MLPD].<br />
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===Staatsmonopolistischer Kapitalismus===<br />
Hier soll kurz dargestellt werden, wie die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus den Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt. In welchem Verhältnis stehen Staat und Monopole zueinander? Ist der Staat alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole oder auch "ideeller Gesamtkapitalist", also Ausdruck der Herrschaft der gesamten Bourgeoisie?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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Siehe hierzu auch den Dissens [[Monopole und Staat]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus.<br />
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===Der Staat als "echte Demokratie"===<br />
Die Position, der bürgerliche Parlamentarismus auf der ökonomischen Basis der kapitalistischen Produktionsweise sei eine "echte Demokratie" läuft letztlich auf die Position hinaus, die gesellschaftlichen Verhältnisse würden nicht von der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie, sondern von der politischen Mehrheit bestimmt. Die Frage des Klassencharakters der Staats wird also reduziert auf eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Je nach dem, ob die Bourgeoisie oder die Arbeiterklasse im demokratischen Prozess mehr Kontrolle über den Staatsapparat ausübt, verschiebt sich auch dessen Klassencharakter. Diese Auffassung setzt zugleich ein Verständnis des Staates als ''klassenneutrales Instrument'' voraus (s. o.). <br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):''' <br />
Die Vorstellung einer fortschreitenden Demokratisierung des bürgerlichen Staats und einer damit einhergehenden Verwandlung seines Klassencharakters spielten eine zentrale Rolle im Denken des klassischen Revisionismus. Rosa Luxemburg polemisierte schon 1899 gegen Eduard Bernstein: „die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie [sei] eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie.“ <ref> Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), Zweiter Teil </ref> Bürgerliche Demokratie und Parlamentarismus waren für Bernstein nicht taktische Mittel im Klassenkampf, sondern tatsächlicher Ausdruck der Herrschaft durch das Volk bzw. die Mehrheit, also der Arbeiterklasse: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. […] Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“<ref>Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.154-156.</ref> Für die Strategie der Arbeiterbewegung heißt das: „die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.“<ref>Ebd., S. 154-156.</ref> Die Arbeiterbewegung soll sich also darauf beschränken, im legalen Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus für Reformen und schrittweise Verbesserungen zu kämpfen. Der bürgerliche Staat ist dabei nicht ihr Gegner, sondern ihr Werkzeug. Die taktische Herausforderung besteht demnach einzig darin, auf demokratischem Weg in die Position zu gelangen, dieses Werkzeug für die eigenen Zwecke nutzen zu können.<br />
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'''Position von SYRIZA:''' <br />
Die griechische "Linkspartei" SYRIZA argumentiert in ihrem Regierungsprogramm, „der Staat [sei] keine Festung, sondern ein Netzwerk, ein Verhältnis und eine strategische Arena für den politischen Kampf. Er verändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, im Gegenteil, seine notwendige Transformation hat konstante und kontinuierliche Kämpfe zur Voraussetzung, die Einbeziehung des Volkes, ständige Demokratisierung.“ (Quelle: S''YRIZAs Regierungsprogramm''<ref>Zitiert nach einem auf Englisch erschienenen Artikel der KKE, ins Deutsche Übersetzt. URL: https://inter.kke.gr/en/articles/Criticism-of-certain-contemporary-opportunist-views-on-the-state/ (9.01.2019)</ref>) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der bürgerliche Staat von SYRIZA nicht seinem Wesen nach als ein Organ der bürgerlichen Klassenherrschaft angesehen, sondern als eine Ansammlung von Institutionen, die im Interesse des Volkes „transformiert“ werden können. Auf Grundlage dieser Sichtweise wird argumentiert, dass der Charakter des bürgerlichen Staats durch die richtigen politischen Kräfteverhältnisse geformt oder gar "transformiert" werden kann, solange sich nur „linke Regierungen“ durchsetzen können. <br />
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'''Position der DKP:''' <br />
Die DKP bleibt in ihrer Einschätzung der bürgerlichen Demokratie widersprüchlich. Einerseits ist in ihrem Programm von 2006 zwar die Rede davon, dass sich durch die "Globalisierung" die "Tendenz zur Reaktion" verschärft, dass die Demokratie untergraben wird (S. 12) und dass letztlich eine "revolutionäre Überwindung" (S. 28) des Kapitalismus nötig sei. Andererseits gehört es jedoch zu den Kernthesen ihrer "antimonopolistischen Startegie", dass noch auf dem Boden der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und innerhalb des institutionellen Rahmens des bürgerlichen Staats umfassende Reformen und sogar eine "antimonopolistisch-demokratische Umgestaltung" (S. 32) möglich seien: "Je mehr es dabei gelingt, Veränderungen im Sinne von Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, von demokratischer Kontrolle, von Entmilitarisierung und Demokratisierung in Staat und Gesellschaft zu erreichen, je größer der Einfluss der demokratischen und sozialistischen Kräfte überall dort ist, wo Meinungsbildung stattfindet, desto besser sind die Chancen im Kampf um die Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und für die Öffnung des Weges zum Sozialismus. [...] Es geht um die [...] demokratische Einflussnahme auf den staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus im nationalen Rahmen wie im Rahmen der Europäischen Union und anderer internationaler staatsmonopolistischer Institutionen". (S. 30) Diese Vorstellung läuft letztlich also darauf hinaus, die Kommunisten und „Demokraten“ könnten den ideellen Gesamtkapitalisten dem Einfluss der Klasseninteressen der Bourgeoisie entreißen und ihrem eigenen politischen Willen unterwerfen.<br />
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'''Andere Vertreter:''' Ebenfalls weit verbreitet sind Vorstellungen über den demokratischen Charakter des bürgerlichen Staats in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dort gehört der Begriff der „Mitbestimmung“ nicht umsonst zum ideologischen Kernrepertoire. Die Vorstellung, im Betrieb ließe sich zwischen Kapital und Arbeit auf Augenhöhe eine demokratische Mitbestimmung und dadurch ein Interessenausgleich verwirklichen, bildet das Herzstück der Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Ähnliche Sichtweisen werden heute außerdem in einer Reihe lateinamerikanischer Länder gepflegt. Verschiedene „fortschrittliche“ und „linke“ Regierungen versuchen unter dem Banner des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bzw. der „bolivarischen Revolution“ das bürgerliche Staatssystem durch Gesetzesreformen und Volksabstimmungen grundlegend zu veränden.<br />
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==="Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci)===<br />
Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, verfasste in den 1920er und 30er Jahren in faschistischer Gefangenschaft seine „Gefängnishefte“, ein umfangreiches theoretisches Werk, dessen einzelne Bestandteile Gramsci unter den Bedingungen seiner Haft leider nicht mehr zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen konnte. Zu den wichtigsten Aspekten dieses Werks gehören Gramscis Überlegungen zur besonderen Form der Herrschaft der Bourgeoisie in den entwickelten imperialistischen Ländern und die daraus abgeleiteten Weiterentwicklungen der marxistischen Staatstheorie.<br />
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In den Gefängnisheften bringt Gramsci den Staat und die Herrschaft der Bourgeoisie auf die kurze Formel: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang" (H. 6, §88., S. 783)<ref>Antonio Gramsci, Gefängnisgefte. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1991. Im Folgenden wird aus den Gefängnisheften nur noch in Klammern nach Heft Nr., Paragraph und Seitenzahl zitiert.</ref><br />
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Gramsci weitet den Staatsbegriff damit aus und entwickelt sein Konzept des "integralen Staates". Dieser umfasst einerseits die "politische Gesellschaft", womit alle explizit staatlichen Strukturen und Institutionen gemeint sind, also das Parlament, die Beamtenapparate, die Repressionsorgane, die staatlichen Bildungseinrichtungen etc. Andererseits betrachtet Gramsci aber auch die "Zivilgesellschaft" als Teil der bürgerlichen Staatlichkeit. Gemeint sind damit alle Strukturen außerhalb der Staatsapparate, über die die Bourgeoisie ihre Herrschaft absichert, also private Medien, Bildungsstätten, Institute, Stiftungen, Clubs, Thinktanks etc. Mit Blick auf den Sieg der Oktoberrevolution in Russland und die darauffolgenden Niederlagen der Revolutionsversuche in Westeuropa schrieb Gramsci: "Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand;" (H. 7, §16., S. 873-874) An anderer Stelle heißt es: "zumindest was die fortgeschrittenen Staaten angeht, wo die 'Zivilgesellschaft' eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften 'Durchbrüchen' des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg." (H. 13, §14, S. 1553-1554) Die Stabilität der bürgerlichen Herrschaft hängt demnach also wesentlich davon ab, inwieweit die Zivilgesellschaft herausgebildet und die "Hegemonie" der Bourgeoisie enwickelt ist. <br />
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Mit dem Begriff der Hegemonie versucht Gramsci der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass sich die Macht der Bourgeoisie nicht nur auf das Staatliche Gewaltmonopol und die Repressionsapparate stützt, sondern wesentlich über ideologische Integration und die Erzeugung von "Konsens" abgesichert wird. Hegemonie bezeichnet also die politisch-ideologische Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über eine andere. "Die 'normale' Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne daß der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt, sondern im Gegenteil sogar versucht wird, zu erreichen, daß der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint […]" (H. 13, §37, S. 1607-1613). Konsens bezeichnet hier einen Zustand, in dem die Beherrschten die Herrschaft zumindest passiv ertragen oder sogar aktiv die Sichtweise übernehmen, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse entsprächen auch ihren Interessen und seien die bestmöglichen. Gramsci schreibt, dass "eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. […] Die politische Führung wird zu einem Aspekt der Herrschaft, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Klassen zur Enthauptung derselben und zu ihrer Machtlosigkeit führt. Es kann und muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben." (H. 1, §44, S. 101-113) <br />
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Heute wird der Begriff der Hegemonie fast ausschließlich Gramsci zugeschrieben, dabei war er zu dessen Lebzeiten unter den Theoretikern der Kommunistischen Internationale weit verbreitet und wurde breit diskutiert. Wie Buci-Glucksmann bemerkt, war er "im gesamten Marxismus der Dritten Internationale überaus geläufig. Man findet ihn vor allem unter der Feder Lenins vor 1917, aber auch später. Man finet ihn ebenso oft bei Bela Kun, Varga, Stalin, und vor allem Bucharin, der ihn in einer Weise benutzte, die der Gramscis nahezustehen scheinen könnte". <ref>Buci-Glucksmann, Gramsci und der Staat, S. 17.</ref> <br />
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Die "führende Klasse" oder Klassenfraktion ist laut Gramsci in ihrem Ringen um Hegemonie also in der Regel darum bemührt, alle anderen Fraktionen ihrer Klasse und ihrer "verbündeten Klassen" in ihren "Block an der Macht" zu integrieren. Das gelingt nur, indem sie mit diesen anderen Fraktionen ein Komprimissprogramm aushandelt, das bestmöglich das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse zusammenfasst und deren innere Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Der Ort, an dem diese Kompromisse ausgehandelt und schließlich in politische Praxis übersetzt werden, ist der bürgerliche Staat selbst. Gegenüber den "feindlichen Klassen" (also dem Proletariat und den anderen Werktätigen) tritt die Bourgeoisie als "herrschend" auf, sie übt ihre Hegemonie einerseits durch Integration ihrer ideologischen Führer und andererseits durch materielle Zugeständnisse aus: "Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, daß sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, daß also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, daß solche Opfer und ein solcher Kompromiß nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt." (H. 13, §18, S. 1565-1573) Gramsci beschreibt in dieser Formulierung den grundsätzlichen Klassencharakter des Staates. Die Kompromisse können nie "das Wesentliche" betreffen - also die kapitalistische Produktionsweise - sondern sich nur in deren Rahmen bewegen. <br />
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Gramscis Staatstheorie knüpft eindeutig an die Auffassung des Staats als "ideeller Gesamtkapitalist" (s.o.) an, indem sie einerseits die Integration der gesamten herrschenden Klasse in einem "historischen Block" betont und andererseits die zumindest passive Einbindung der Beherrschten im Rahmen der Hegemonie betont. Mit einer Staatsauffassung, die den bürgerlichen Staat im Monopolkapitalismus als "alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole" (s.o.) versteht, ist Gramscis Ansatz kaum zu vereinbaren. <br />
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Mit Blick auf den Staat schreibt Gramsci außerdem, dieser sei "das Instrument zur Anpassung der Zivilgesellschaft an die ökonomische Struktur". (H. 10.II, §15, S. 1267) Dabei spielen Medien und andere ideologische Apparate eine entscheidende Rolle: "Was 'öffentliche Meinung' genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der 'Zivilgesellschaft' und der 'politischen Gesellschaft', zwischen dem Konsens und der Gewalt. Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft. […] die öffentliche Meinung, wie sie heute Verstanden wird, ist am Vorabend des Untergangs der absolutistischen Staaten entstanden, das heißt in der Zeit des Kampfes der neuen bürgerlichen Klasse um die politische Hegemonie und die Erlangung der Macht. […] [Es entbrennt ein] Kampf ums Monopol der Organe der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, Parlament". (H. 7, §83, S. 916-917)<br />
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Verliert die herrschende Klasse ihre Hegemonie, so kommt es zur "Hegemonie-" bzw. "Autoritätskrise": "Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr 'führend', sondern einzig 'herrschend' ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die große Masse sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann". (H. 3, §34, S. 354-355) Der Verlust der Hegemonie darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem automatischen Verlust der Macht, schließlich verfügt die herrschende Klasse auch bei schwindendem Konsens noch immer über die Mittel des Zwangs. <br />
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Zu den strategischen Schlussfolgerungen, die Gramsci aus seiner Staatstheorie ableitete, siehe den Dissens-Artikel zu [[Staat und Revolution]] und dort den Abschnitt "Bewegungs- und Stellungskrieg". <br />
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Einige offene Fragen zu Gramsci und seiner Staatstheorie werden von unserer AG tiefergehend behandelt werden: Handelt es sich dabei um einen wegweisenden Beitrag zur marxistischen Staatstheorie im Zeitalter des Imperialismus und des entwickelten bürgerlichen Staats, an den die Kommunisten anknüpfen und den sie weiterentwickeln müssen? Oder enthält Gramscis Theorie bereits wesentliche revisionistische Abweichungen, die es den verschiedenen opportunistischen Strömungen, die sich heute auf ihn berufen, leicht machen, seine Theorie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?<br />
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==="Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas)===<br />
Nicos Poulantzas war ein griechischer Theoretiker, der in den 1960er und 70er Jahren eine Reihe an marxistischen Studien verfasste. Er sympathisierte nach 1968 mit der eurokommunistischen griechischen kommunistischen Partei des Inlands (KKE-Inland) und stand – in Frankreich lebend - in kritischer Distanz zur Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). In seinen klassen- und staatstheoretischen Schriften ist der Einfluss u.a. von Louis Althussers Strukturalismus sowie [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #"Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci) | Antonio Gramscis Hegemonietheorie]] sichtbar. In der marxistischen Debatte um den Staat hat Poulantzas tiefe Spuren hinterlassen, was primär zurückgeführt werden kann auf seine Konzeption des Staates als „Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“. Historisch bedeutsam war dabei zunächst die Auseinandersetzung mit Ralph Miliband; im deutschsprachigen Raum wurde seine Theorie u.a. über Joachim Hirsch und Alex Demirovic wieder in die Diskussion eingebracht.<br />
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Poulantzas formuliert in der Einleitung zur ''Staatstheorie'' den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Es ist nicht der Klassencharakter des Staates, der zur Debatte steht: „Jeder Staat ist ein Klassenstaat; jede politische Herrschaft ist Klassendiktatur; der kapitalistische Staat ist ein Staat der Bourgeoisie; der kapitalistische Staat im Allgemeinen und jeder kapitalistische Staat im Besonderen sind Diktaturen der Bourgeoisie“ <ref> Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Sozialistische Demokratie, Hamburg 1978, S. 155.</ref>, all dies sind für ihn „Banalitäten“ - zwar richtig, aber nicht weiter ausführenswert. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, vielmehr stellt es sich hier neu: „[W]arum greift die Bourgeoisie in ihrer Herrschaft auf diesen nationalen Volksstaat zurück, diesen modernen Repräsentativ-Staat mit seinen spezifischen Institutionen, und nicht auf einen anderen? Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich genau diesen Staat aussuchen würden, wenn sie den Staat komplett selbst und nach ihrem Geschmack aufbauen würden.“ <ref> ebd. S.40.</ref> Eine verwandte Frage hatte bereits der sowjetische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis knapp 50 Jahre, vorher gestellt: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“ Poulantzas gibt in der Einleitung auch eine vorläufige, knappe Antwort auf die von ihm formulierte Frage: „Der Staat stellt ein materielles Gerüst dar, das in keiner Weise auf die politische Herrschaft reduziert werden kann. Der Staatsapparat, dieses besondere und furchterregende Etwas, erschöpft sich nicht in der Staatsmacht. [...] Wenn der Staat nicht einfach ein vollständiges Produkt der herrschenden Klassen ist, so haben sie sich seiner auch nicht einfach bemächtigt: Die Macht des Staates (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) hat in dieser Materialität ihre Spuren hinterlassen. Die Handlungen des Staates reduzieren sich nicht auf die politische Herrschaft, sie sind jedoch konstitutiv von ihr gezeichnet.“ <ref> ebd. S.42.</ref> <br />
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Eine wichtige Aufgabe des Staates sieht Poulantzas in der Repräsentation und Organisation der herrschenden und der Desorganisation der beherrschten Klassen. Die Bourgeoisie ist keine widerspruchsfreie Einheit. Sie verfolgt zwar zwangsläufig als Klasse einheitlich das Ziel der Kapitalverwertung, dieses Ziel bringt sie aber auch in direkte Konkurrenz untereinander, weshalb, wie Engels sagt, der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert. Poulantzas zufolge ist die Kapitalistenklasse in Klassenfraktionen gespalten, die unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Interessen verfolgen. Diese Klassenfraktionen formieren sich unter der Hegemonie einer Fraktion zu einem „Block an der Macht“, in welchen auch andere herrschende Klassen miteinbezogen werden. Die Hegemonie einer Fraktion bedeutet dabei, dass diese die äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Sinne optimieren kann; und diese Hegemonie erst ermöglicht die Einheit dieses Blocks gegenüber den beherrschten Klassen. Poulantzas betont, dass nicht nur Teile der Bourgeoisie (etwa das Monopolkapital) den Machtblock stemmen: „Diese bürgerlichen Fraktionen sind in ihrer Gesamtheit, obwohl in unterschiedlichem Maße, auf dem Terrain der politischen Herrschaft angesiedelt, und gehören somit immer zum Block an der Macht“.<ref> ebd. S.159.</ref> Dieser Machtblock ist aber konfliktdurchzogen, er stellt ein umkämpftes, instabiles Kompromissgleichgewicht dar: „Der Machtblock stellt eine von inneren Widersprüchen gekennzeichnete Einheit von politisch herrschenden Klassen und Fraktionen unter dem Schutz der hegemonialen Fraktion dar. Der Klassenkampf, die Interessenrivalitäten zwischen den gesellschaftlichen Kräften sind darin ständig gegenwärtig, wobei diese Interessen ihren spezifischen Antagonismus bewahren“ <ref> Poulantzas, Nicos: Politische Macht und gesellschaftliche Klassen, Frankfurt am Main 1980, S. 239.</ref>. In diesem Sinne ist die konkrete Politik des Staates und die Hegemonie im Machtblock immer umkämpft, und dieser Kampf wird im Staat, in seinen ideologischen (Medien, Think Tanks, …) aber auch repressiven Apparaten (Polizei, Armee, …) ausgetragen.<br />
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Um die „Rolle der Vereinheitlichung und Organisierung der Bourgeoisie und des Blocks an der Macht“ <ref>Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Sozialistische Demokratie, Hamburg 1978, S. 158.</ref> zu erfüllen, muss der Staat laut Poulantzas eine „relative Autonomie“ gegenüber den einzelnen Bestandteilen des Blocks bewahren: „Unter relativer Autonomie dieses Staatstyps verstehe ich […] das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Feld des Klassenkampfes, insbesondere seine relative Autonomie gegenüber den Klassen oder Fraktionen des Machtblocks und in erweiterter Form auch gegenüber seinen Verbündeten oder Stützen […] Ich hoffe, damit klar genug die Distanz auszudrücken, die diese Auffassung des Staats von einer simplifizierten und vulgarisierten Auffassung des Staats trennt, die in ihm das Werkzeug oder Instrument der herrschenden Klasse sieht“ <ref> Poulantzas, Nicos: Politische Macht und gesellschaftliche Klassen, Frankfurt am Main 1980, S. 256.</ref>.<br />
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Der Staat als Instrument (siehe auch die Abschnitte zum Staat als [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als klassenneutrales Instrument | klassenneutrales Instrument]] und als [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole | alleiniges Instrument der Monopole]]) und der [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt) | Staat als Subjekt]]: dies beides sind aus Poulantzas‘ Sicht falsche Staatsverständnisse, die er umschiffen will mit dem Verständnis des Staates als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses. Der Staat als Instrument/Werkzeug/Sache unterstellt eine Passivität oder Neutralität des Staates. Dieser wird als ein Apparat verstanden, der zur Ausübung der politischen Macht von der herrschenden Klasse oder auch einer Klassenfraktion verwendet wird, der aber eben auch so wie er ist übernommen werden kann, um gegen die herrschende Klasse gewendet zu werden. Eine Autonomie des Staates ist ausgeschlossen. Eine solche instrumentalistische Konzeption des Staates sieht Poulantzas in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der eurokommunistischen PCF in den 1970ern: „An dieser Konzeption kritisierte ich vor allem, dass sie zu der Vorstellung des mit dem Monopolkapital »fusionierten« Staates führt, einem Staat der im Dienste der Monopole steht und keinerlei Autonomie besitzt“ Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Sozialistische Demokratie, Hamburg 1978, S. 160.</ref> . Der Staat als Subjekt wiederum lässt ihn vollständig autonom werden, er steht als Akteur außerhalb der Klassen. Er agiert, koordiniert, verwaltet, reguliert selbstständig. Seine Autonomie bezieht sich „auf die angebliche Macht des Staates und auf die Träger dieser Macht und der staatlichen Rationalität: auf die Bürokratie und speziell auf die politische Elite“ <ref>Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Sozialistische Demokratie, Hamburg 1978, S. 160.</ref>. <br />
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Poulantzas schlägt vor, die „Sackgassen des ewigen Pseudodilemmas der Diskussion zwischen der Konzeption des Staates als einer Sache bzw. einem Instrument und der Konzeption des Staates als einem Subjekt“ <ref> ebd. S.159f.</ref> zu vermeiden, indem der Staat über den Klassenkampf selbst verstanden wird, genauer: „ … indem ich sage, dass der Staat […] nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden darf, sondern, wie auch das »Kapital«, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ Der Staat spiegelt also nicht einfach ein gesellschaftliches Verhältnis wider, er selber konstituiert dieses Verhältnis. In der Vielzahl seiner Institutionen findet die ständige Austarierung zwischen Klassen und Klassenfraktionen statt. Diese Austarierung entspricht aber nicht direkt dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, beispielsweise sind die beherrschten Klassen nicht in den Staatsapparaten anwesend: „Sie organisieren und vereinheitlichen den Block an der Macht, indem sie die beherrschten Klassen ständig desorganisieren und spalten. Sie polarisieren sie gegenüber dem Block an der Macht und schließen ihre politischen Organisationen aus.“ <ref> ebd. S.171.</ref><br />
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Bei Poulantzas bleibt unklar, wie der Begriff der Verdichtung genau zu verstehen ist, wohingegen er ausführt, was es mit der Materialität hier auf sich hat. Mit Blick auf die Staatstheorie in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der PCF wendet er ein, dass diese „die eigenständige Materialität des Staates übersieht. Diese Materialität eines Staates, der als Werkzeug oder Instrument angesehen wird, hat keine eigene politische Bedeutung. Diese Bedeutung wird auf die Staatsmacht beschränkt, d.h. auf die Klasse, die dieses Instrument manipuliert. Das würde im Extremfall implizieren, dass das gleiche Instrument (das verschiedenen, allerdings zweitrangigen Modifikationen unterliegt) durch eine Veränderung der Staatsmacht, also durch die Macht der Arbeiterklasse, für den Übergang zum Sozialismus anders eingesetzt werden könnte“ <ref> ebd. S.160.</ref>. Dieses Defizit meint er zu beheben: „Das materielle Gerüst seiner [des Staates] Institutionen wird durch die Beziehung des Staates zu den Produktionsverhältnissen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung konstituiert, die sich in der kapitalistischen Trennung des Staates von diesen Verhältnissen konzentriert. […] Der Staat hat eine eigene Dichte und Widerstandskraft und reduziert sich nicht auf ein Kräfteverhältnis. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Klassen hat sicherlich immer Auswirkungen innerhalb des Staates, sie überträgt sich jedoch nicht direkt und unmittelbar. Sie passt sich der Materialität der verschiedenen Apparate an und kristallisiert sich im Staat nur in gebrochener und differenzierter, den Apparaten entsprechender Form. Eine Veränderung der Staatsmacht allein transformiert die Materialität des Staates nicht“ <ref> ebd. S.161f.</ref>. Als Beispiele für die Materialität führt Poulantzas u.a. die Organisierung kapitalistischen Wissens an: „Die geistige Arbeit (Wissen/Macht) ist in den Apparaten konzentriert und steht im Gegensatz zur tendenziell in den Volksmassen konzentrierten manuellen Arbeit, die von den organisatorischen Funktionen ausgeschlossen und getrennt sind“ <ref> ebd. S.83.</ref>.<br />
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==="Akkumulationsregime" (Regulationsschule)===<br />
Hier sollen die offenen Fragen und Aufgaben ausformuliert werden, die sich aus der Staatstheorie der "Regulationsschule" und deren Theorie der "Akkumulationsregime" ergeben. Handelt es sich bei dieser Theorie um einen wesentlichen Beitrag zur marxistischen Staatstheorie, die eine vertiefende Analyse der verschiedenen Formen der bürgerlichen Herrschaft seit der Entstehung des Kapitalismus erlaubt (z.B. durch die Unterscheidung eines "keynesianischen" und eines "neoliberalen Akkumulationsregimes")? Wie wird aus Perspektive der Regulationsschule der Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt? Enthält diese Theorietradition wesentliche Abweichungen von den Grundannahmen der marxistischen Staatstheorie? Welche Verbinndung gibt es zu den Theorien von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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'''Vertreter:''' Zu den prominentesten Vertretern der Regulationsschule gehören heute die Staatstheoretiker Joachim Hirsch und Bob Jessop.<br />
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===Staat = Repressionsapparate / "neue Demokratie" (Maoismus)===<br />
Innerhalb des maoistischen Spektrums lässt sich als tendenzielle Gemeinsamkeit in der Staatsfrage ein besonderer Fokus auf die „bewaffneten Apparate“ des bürgerlichen Staats und eine weitgehende Vernachlässigung der Analyse anderer, nicht unmittelbar gewaltförmiger Herrschaftstechniken der Bourgeoisie (Integrationsideologien, ökonomischer Zwang, etc.) feststellen. Dies steht im engen Zusammenhang mit der Strategie des "Volkskriegs". Dieser Strategie liegt eine Perspektive auf den Staat zugrunde, die den Kampf um die politische Macht weitgehend auf den unmittelbaren militärischen Kampf und die Zerschlagung der bewaffneten Staatsapparate zuspitzt. Die maoistische Theorie der "neuen Demokratie" enthält außerdem die These einer möglichen dritten Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats.<br />
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Von einer einheitlichen und systematisch ausgearbeiteten "maoistischen Staatstheorie" kann genauso wenig die Rede sein, wie von einer homogenen maoistischen Strömung innerhalb des Marxismus. In den klassischen Texten von Mao Tse-Tung findet sich vor allem keine eigene, systematisch ausgearbeitete Analyse des bürgerlichen Staats im Imperialismus. Die chinesischen Revolutionäre kämpften nicht gegen einen entwickelten bürgerlichen Staat, wie er sich in den imperialistischen Zentren herausgebildet hatte, sondern gegen einen agrarischen Feudalstaat mit kolonialen Elementen. Der Großteil von Maos Äußerungen über den Staat sind in diesem Kontext zu sehen, so zum Beispiel die oft zitierte Losung: "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 74.</ref> An anderer Stelle führt Mao diese Zuspitzung auf die Frage der militärischen Macht und der bewaffneten Apparate weiter aus und verallgemeinert sie als die aus seiner Sicht wichtigste Kernaussage der marxistischen Lehre vom Staat: "Vom Standpunkt der marxistischen Lehre vom Staat ist die Armee die Hauptkomponente der Staatsmacht. Wer die Staatsmacht ergreifen und behalten will, der muß eine starke Armee haben. Manche Leute bezeichnen uns höhnisch als Anhänger der ‚Theorie von der Allmacht des Krieges‘; jawohl, wir sind Anhänger der Theorie von der Allmacht des revolutionären Krieges, und das ist nicht schlecht, sondern gut, das ist marxistisch. [...] Die Erfahrungen des Klassenkampfes im Zeitalter des Imperialismus lehren uns: Die Arbeiterklasse und die übrigen Werktätigen Massen können nur mit der Macht der Gewehre die bewaffneten Bourgeois und Grundherren besiegen; in diesem Sinne können wir sagen, daß die ganze Welt nur mit Hilfe der Gewehre umgestaltet werden kann."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 75-76.</ref><br />
<br />
In genau diesem Sinne wird die Staatsfrage auch in Teilen der zeitgenössischen maoistischen Strömungen behandelt. Viele zeitgenössische Mao-Gruppen beziehen sich dabei auf die Traditionslinie der peruanischen Guerillabewegung „Leuchtender Pfad“ bzw. der KP Perus (Vollständiger Name: ''Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui'') und ihres politischen und ideologischen Anführers „Presidente Gonzalo“ (Abiamel Guzmán). (''Anmerkung: Alle Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen sich auf die Broschüre „Einheitsbasis der Kommunistischen Partei Perus – angenommen auf dem I. Parteitag 1988“<ref>http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/gonzalo/1439-die-einheitsbasis-der-kommunistischen-partei-perus-auf-deutsch</ref>, die leider zahlreiche Übersetzungsfehler enthält.'')<br />
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Der Staat erscheint auch hier vor allem als bewaffneter Apparat, der militärisch bekämpft und zerschlagen werden muss:<br />
"die revolutionäre Gewalt ist ausnahmslos ein universelles Gesetz; die Revolution ist die gewaltsame Ersetzung einer Klasse durch eine andere. Er [Mao Tse-Tung] legte seine große These fest: ‚Die Macht kommt aus den Gewehrläufen!‘" (Über den Marxismus-Leninismus-Maoismus, S. 7) "[der] Volkskrieg, der durch eine revolutionäre Armee neuen Typs, unter der absoluten Führung der Partei, Stück für Stück die alte Macht zerstört, hauptsächlich seine bewaffneten und repressiven Kräfte." (Programm und Statuten der KP Perus, S. 16-17.)<br />
<br />
Unter dem Begriff der „neue demokratische Revolution“ vertreten die Maoisten der KP Perus ein spezifisches Etappenmodell, das die Stufen der Revolution festlegt, die die unterdrückten Länder auf dem Weg zum Sozialismus durchlaufen müssen. Der Klasseninhalt der Revolution und der jeweiligen Staatsformen, die diese hervorbringen, ändert sich jedoch je nach Entwicklungsstand des jeweiligen Landes: "Um unser Endziel, den Kommunismus, zu erreichen, müssen wir Marxisten-Leninisten-Maoisten in Perspektive drei Typen von Revolutionen durchführen: 1) Die demokratische Revolution, das ist die bürgerliche Revolution neuen Typs in den rückständigen Ländern, unter der Führung des Proletariats, in deren Verlauf eine gemeinsame Diktatur des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und unter bestimmten Bedingungen der Mittelbourgeoisie unter der Führung des Proletariats errichtet wird; 2) Die sozialistische Revolution in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern, die die Diktatur des Proletariats errichtet; 3) Kulturrevolutionen, sie werden gemacht um die Revolution unter der Diktatur des Proletariats fortzusetzen, um jede Generierung des Kapitalismus zu unterwerfen und zu eliminieren und auch mit den Waffen gegen jedes streben nach Restauration des Kapitalismus zu kämpfen" (Allgemeine politische Linie, S. 19)<br />
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Mit der Theorie der „neuen demokratischen Revolution“ sind spezifische staatstheoretische Grundannahmen verbunden. Die „Neuen Demokratie“ gilt aus maoistischer Sicht als dritte Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats - ihr Klassencharakter ist wesentlich durch einen Klassenkompromiss bzw. ein Klassenbündnis bestimmt: "Die Neue Demokratie. In erster Stelle ist es eine Entwicklung der marxistischen Staatstheorie mit der Festlegung der drei Typen der Diktatur: 1. die Diktatur der Bourgeoisie, in den alten bürgerlichen Demokratien wie in den Vereinigten Staaten, dazu zählen auch die Diktaturen, die in unterdrückten Nationen, wie den lateinamerikanischen existieren, 2. die Diktatur des Proletariats wie in der Sowjetunion oder in China vor der Usurpation der Macht durch die Revisionisten und 3. die Neue Demokratie als gemeinsame Diktatur, die auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern basiert, geführt vom Proletariat mit der Kommunistischen Partei an der Spitze […]." (Über den Marxismus-Leninismus, S. 8) Im Anschluss an Mao und Gonzalo geht die KP Perus davon aus, dass die "Staatssysteme der Welt" auf „drei Grundtypen reduziert werden können, laut ihres Klassencharakters: Republik unter der Diktatur der Bourgeoisie, die auch die Staaten der alten Demokratie ausmachen und die Republik der gemeinsamen Diktatur der Grundbesitzer und Großbourgeoisie; Republiken unter der Diktatur des Proletariats; und Republik unter der gemeinsamen Diktatur der revolutionären Klassen […]." (Allgemeine politische Linie, S. 33.)<br />
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Andere Grundsätzlichere Fragen zum Thema Maoismus, wie die Strategie des „langfristigen Volkskriegs“, die Etappe der "neuen demokratischen Revolution" oder die Theorie des „Zweilinienkampfs“ werden perspektivisch durch die [[AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei]] bearbeitet. Fragen zur Polemik zwischen der Sowjetunion und China über die „friedliche Koexistenz“, die „Kulturrevolution“ und die maoistische Position, die Sowjetunion sei „sozialimperialistisch“ gewesen, gehören zum Arbeitsbereich der [[AG Sozialismus]].<br />
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Eine längere Version dieses Artikels (befindet sich noch in Bearbeitung) findet ihr hier: '''[[Die Staatsfrage im Maoismus]]'''<br />
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Vertreten werden solche oder ähnliche Positionen in Deutschland zum Beispiel von der Sozialistischen Linken (SoL) oder dem mittlerweile aufgelösten Jugendwiderstand (JW).<br />
===Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt)===<br />
Der ''Gegenstandpunkt'' (GSP, früher ''Marxistische Gruppe'') vertritt eine eigene Staatstheorie, die davon ausgeht, der bürgerliche Staat könne aus den abstrakten Kategorien der politischen Ökonomie "abgeleitet" werden. Den Ausgangspunkt dieser Ableitung bildet die einfache Warenzirkulation, in welcher die Warenbesitzer sich wechselseitig als "freie" und "gleiche" Privateigentümer anerkennen. Die Autoren des GSP sehen drei gemeinsame Interessen bei allen Privateigentümern: Die Erhaltung der Revenue, eine möglichst hohe Revenue und den kontinuierliche Fluss der Revenue. Daraus schlussfolgern sie, dass Schutz und Sicherung des Privateigentums, die Sicherung des Wirtschaftswachstums und ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft dem Gesamtinteresse aller Privateigentümer entsprechen, wozu als viertes das Interesse an gleichen Konkurrenzvoraussetzungen hinzutritt. Weil die Privateigentümer aber in der Verfolgung ihrer besonderen Interessen nicht die allgemeinen Interessen durchsetzen können, bedarf es des Staates: "Das besondere Dasein des Staates neben und außer der Gesellschaft der konkurrierenden Privaten – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit – ist das Resultat dieses Widerspruchs zwischen besonderem und allgemeinem Interesse in seinen verschiedenen Existenzweisen. Der Staat verkörpert die Loslösung der allgemeinen Interessen aus der Sphäre der Privaten und ihre Verwaltung in der Sphäre des Staates. Mit der Besonderung des Staates werden die allgemeinen Interessen zu seinen besonderen, deren Verwaltung allein ihm obliegt. <ref> von Flatow, Sybille / Huisken, Freerk: Zum Problem der Ableitung des bürgerlichen Staates, in: Prokla, 7 (1973), S. 121 </ref><br />
<br />
Fertig ausformuliert und in den Reihen des GSP kanonisiert wurde diese "Staatsableitung" von Karl Held in ''Der bürgerliche Staat''. In Helds Analyse wird aus der „Besonderung des Staates“ letztendlich der „Staat als Subjekt“: "Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit und Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert.<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
<br />
Der Staat hält hier nicht nur die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Reproduktion aufrecht, er wird zum eigenständigen Subjekt mit eigenen Interessen: "Der souveräne Staat ist eine von den Bürgern getrennte, selbständige Instanz, die mit keinem besonderen Interesse identisch ist und gerade und nur deswegen von allen anerkannte Gewalt ist, weil er sein Interesse, das Allgemeinwohl, gegen die Privatsubjekte durchsetzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref> "In der Unterordnung aller Aufgaben, um deren Erfüllung willen er sich als politisches Subjekt der Ökonomie betätigt, unter das Kriterium des wirtschaftlichen Wachstums, in der Relativierung aller Funktionen entsprechend dieser Zielsetzung der Wirtschaftspolitik fällt der Grund des bürgerlichen Staates – die freie Konkurrenz – unmittelbar zusammen mit seinem Zweck: er ist bewußter Agent des Inhalts der Konkurrenz, die bekanntlich nicht die Individuen, sondern das Kapital in Freiheit setzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
<br />
Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates besteht daher beim GSP auch zuallererst darin, dass er nicht im Interesse der einen Klasse eine andere, sondern alle Individuen gleichermaßen unterwirft: "Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, daß er Klassenstaat ist: Durch die gleiche Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der Nutzen aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben." <ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat, URL: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat (29.12.2018) </ref><br />
<br />
Der Staat wird dadurch also wesentlich (und nicht nur oberflächlich) zu einem (klassen)neutralen Subjekt erklärt, welches die äußeren Bedingungen der Konkurrenz organisiert und diese Bedingungen den Warenbesitzern unterschiedslos aufzwingt. <br />
<br />
'''Vertreter:''' Neben dem ''Gegenstandpunkt'', dessen Aktivitäten sich fast auschließlich auf das akademische Milieu konzentrieren, werden diese Positionen auch von vielen studentischen Jugendgruppen in der "linksradikalen" und Antifa-Szene vertreten. Dies hat häufig damit zu tun, dass Leute aus der Szene ihre eigene theoretische Bildung über Lesekreise und Seminare des Gegenstandpunkt erwerben. Besonders in Teilen der ''Sozialistischen Jugend - Die Falken'' lässt sich ein starker ideologischer Einfluss des GSP feststellen, das gleiche Phänomen taucht aber auch immer wieder in Gewerkschaftsjugenden oder ''solid SDS''-Gruppen auf. Besonders stark ist zudem die Überschneidung zu "antinationalen" Gruppen, wie etwa bei der Dortmunder ''Gruppe K''.<br />
<br />
Einen Text zur ausführlicheren Einbettung in den Kontext der "Staatsableitungsdebatte" findet ihr hier: [[Der Staat als Subjekt (Staatsableitungsdebatte)]]<br />
<br />
Einen Hintergrundartikel zum Gegenstandpunkt hier: [https://kommunistische.org/diskussion/standpunkt-gegen-den-marxismus/ Standpunkt gegen den Marxismus (Thanasis Spanidis)]<br />
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===Anarchistische Staatskritik===<br />
Der "Anarchismus" (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) umfasst ein sehr diffuses und heterogenes Spektrum, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Dennoch lassen sich grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Anarchisten vertreten eine politische Haltung, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbstbestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammenschließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. Im Mittelpunkt stehen die Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Selbstverwirklichung der Individuen im Rahmen der kollektiven Selbstverwaltung („Autonomie“) möglichst kleiner Organisationseinheiten. Im Anarchismus fließen die Traditionen des bürgerlichen Liberalismus (individuelle Freiheit) und der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen (Kollektivität und Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Heute wird häufig das Adjektiv "libertär" (deutsch: freiheitlich) als Synonym für „anarchistisch“ benutzt.<br />
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An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich aus Sicht der Anarchisten auch schon die Bewegung selbst messen lassen, die für die „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Position so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren, geschweige denn nach der siegreichen Revolution einen eigenen Staat zur Niederhaltung der Unterdrücker und zum Aufbau und zur Verteidigung der Revolution schaffen darf. In Abgrenzung zu solchen individual-anarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen.<br />
<br />
Die anarchistische Staatskritik richtet sich nicht hauptsächlich gegen den bürgerlichen Staat als Klassenstaat der Bourgeoise, sondern lehnt jede Form der Macht, der Autorität und der Staatlichkeit überhaupt als Grundübel der Gesellschaft ab. Der Anarchismus vertritt also in letzter Konsequenz einen klassenneutralen Machtbegriff – er lehnt die Macht nicht als Klassenmacht der Ausbeuter ab, sondern als abstraktes Ding an sich, das aus der Welt geschafft werden soll. <br />
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'''Marx und Engels vs. Bakunin:''' Die erste ausführliche theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. <br />
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Engels fasste die Kritik an der Staatsauffassung Michael Bakunins und der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen: "Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. [...]<br />
Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll,[...] so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität <nowiki>=</nowiki> Staat <nowiki>=</nowiki> absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!" <ref>Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33; Dietz-Verlag; S. 388-389.</ref><br />
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Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der politische Ausdruck dieser Widersprüche ist nicht die Klassenherrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter und alle anderen Werktätigen, sondern die Macht und Autorität des Staates überhaupt. Diese Auffassung hat weitreichende taktische und strategische Konsequenzen (siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]]).<br />
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'''Heutige Vertreter:''' Der Anarchismus in seiner klassischen Form, also als politische Ideologie und Bewegung mit realer Verankerung in der Arbeiterbewegung (wie ihn Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder die spanischen Anarchosyndikalisten vertraten) ist heute kaum mehr präsent. Vulgarisierte Formen des Anarchismus sind dagegen in der "autonomen" Szene und linken Subkulturen nach wie vor sehr weit verbreitet. Neben zahlreichen Splittergruppen, die in der BRD heute ein gemeinsames, hauptsächlich kleinbürgerlich geprägtes Milieu bilden und von der Arbeiterbewegung meist isoliert sind, bildet die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) eine gewisse Ausnahme. Diese Organisation versucht im Rahmen einer kleinen anarchistischen Richtungsgewerkschaft außerhalb der DGB-Gewerkschaften Klassenkämpfe und Streiks zu organisieren.<br />
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Verschiedene "anarchokommunistische" Gruppen und Zusammenschlüsse in Deutschland versuchen Aspekte des Marxismus (gewerkschaftliche Organisation, Klassenkampf, Vergesellschaftung der Produktionsmittel) mit Standpunkten des Anarchismus (Ablehnung von Hierarchien, zentralistischer Organisationsformen und der Diktatur des Proletariats) zu vereinen. Seit Dezember 2018 existiert mit der Initiative [https://www.dieplattform.org/wir/ "die Plattform"] z.B. ein Versuch, einen bundesweiten "plattformistischen" anarchakommunistischen Organisationszusammenhang aufzubauen und im Rahmen einer eigenen Schriftenreihe eine theoretische Debatte anzustoßen.<br />
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Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxistismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff. Die Rojava-Solidarität vereint heute ein politisches Spektrum, dass von der MLPD über die verschiedenen roten Gruppen, die iL, die Linkspartei und bis zu den antinationalen und antideutschen Zusammenhängen reicht.<br />
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==Bezug zu unseren Grundannahmen==<br />
==Wie wollen wir den Dissens klären?==<br />
==Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?==</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Der_Klassencharakter_des_b%C3%BCrgerlichen_Staats&diff=6979Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats2020-01-09T10:49:53Z<p>Dio: /* "Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas) */</p>
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<div>Zurück zur [[AG Formen bürgerlicher Herrschaft]]<br />
==Überblick==<br />
Dieser Artikel soll einen ersten groben Überblick über die verschiedenen Auffassungen zum Klassencharakter des bürgerlichen Staats innerhalb des kommunistischen und im weiteren Sinne "linken" Spektrums geben. Ist der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" die organisierte politische Macht der gesamten Bourgeosie und damit das Instrument ihrer Klassenherrschaft? Oder ist der Staat an sich ein klassenneutraler Apparat, der sowohl für die Zwecke der Kapitalistenklasse, als auch im Interesse der Arbeiter in Bewegung gesetzt werden kann? Ist der Staat im Stadium des Imperialismus nur noch das Herrschaftsinstrument eines kleinen Teils der Kapitalisten, der Monopolbourgeoisie, die ihre Macht mit Hilfe des Staats auch gegen die "kleine und mittlere Bourgeoisie" durchsetzt? Oder ist der bürgerliche Staat nach 1945 gar zu einer "echten Demokratie" geworden, in der die politische Macht nicht mehr von den besitzenden Klassen ausgeht, sondern von der demokratischen Mehrheit?<br />
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Die Unterschiede in der Analyse und die Einschätzung des Klassencharakters des bürgerlichen Staats haben weitreichende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung. Die sich daraus ergebenden Dissense werden an anderer Stelle unter dem Stichwort "'''[[Staat und Revolution]]'''" dargestellt.<br />
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===Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise"===<br />
Die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus (Marx, Engels, Lenin) bestimmten den bürgerlichen Staat als "ideellen Gesamtkapitalisten" und als Instrument der "Diktatur der Bourgeosie". <br />
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Schon im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 schrieben Marx und Engels: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. […] Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." <ref> Marx, K., Engels, F.: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, Berlin/DDR 1977, S. 464/482. </ref> Diese Definition des Staates als „Ausschuss“ zur Regelung der „gemeinschaftlichen Geschäfte“ der Bourgeoisie deckt sich mit der späteren Formulierung von Engels, in der er den bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnete: "Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten […] nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. <ref> Engels,F.: Zur Wohnungsfrage, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 18, Berlin/DDR 1973, S.257-258.</ref> Der Staat schützt die kapitalistische Produktionsweise sowohl gegen den Widerstand der Arbeiter als auch gegen die sich widersprechenden Einzelinteressen individueller Kapitalisten. Laut Engels setzt der „ideelle Gesamtkapitalist“ also das Interesse der gesamten herrschenden Klasse nicht nur gegenüber dem Proletariat, sondern auch gegenüber ihrer einzelnen Klassenindividuen durch: "Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." <ref> Engels,F.: Anti-Dühring (1877), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 20, S. 260.</ref> <br />
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Der Staat ist also einerseits Instrument zur Unterdrückung der Arbeiter und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse, gleichzeitig ist er notwendig, um die Bourgeoisie über die kapitalistische Konkurrenz hinweg zu Kompromissen zu zwingen und sie so erst als herrschende Klasse zu organisieren.<br />
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Lenin führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine scharfe Polemik gegen die Revisionisten und Reformisten in der deutschen und russichen Sozialdemokratie. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fasste er die Staatsauffassung von Marx und Engels in seiner Schrift ''Staat und Revolution'' (1917) zusammen: "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen 'Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. <ref> Lenin, W.I.: Staat und Revolution, in: in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Lenin Werke Bd. 25, Berlin/DDR 1974, S. 399. </ref> Der Staat ist demnach eine Macht, "die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben. Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt ‚nicht mehr unmittelbar zusammenfällt‘ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer ‚selbsttätigen bewaffneten Organisation‘. [...] Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?" <ref> ebd., S. 401.</ref><br />
Abschließend fasste Lenin seine Studien zur marxschen Staatsauffasung in der Bestimmung des bürgerlichen Staats als „Diktatur der Bourgeoisie“ zusammen: "Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist […]. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie." <ref> ebd., S. 425.</ref><br />
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Von dieser Analyse ausgehend formulierten die Klassiker die strategische Orientierung auf die "Zerschlagung des bürgerlichen Staats" und die Errichtung der "Diktatur des Proletariats". Siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]].<br />
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Für eine ausführlichere Darstellungen der Annahmen der Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus zum Staat, siehe: [[Grundannahmen Staat]]<br />
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===Der Staat als klassenneutrales Instrument===<br />
Vertreter dieser Auffassung gehen davon aus, dass der bürgerliche Staat und seine Organisationsapparate an sich klassenneutrale Instrumente seien. Das heißt sie werden unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen zwar von der Bourgeoisie benutzt, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen, die Arbeiterklasse niederzuhalten und die Bedingungen der Kapitalakkumulation möglichst günstig zu gestalten, könnten unter anderen Bedingungen (z.B. nach dem Wahlsieg einer Arbeiterpartei) jedoch genausogut im Interese des Proletariats in Bewegung gesetzt werden (z.B. um den Kapitalismus durch Sozialreformen allmählich in den Sozialismus zu überführen). Die Instrumente selbst, also die Staatsorganisationen vom Parlament über die Verwaltungs- bis hin zu den Repressionsorganen, verhalten sich dieser Auffassung nach also neutral zu den Zwecken ihrer Anwendung. Weder ihre konkrete Organisationsform noch das Personal, aus dem sie bestehen, tragen demnach Klassencharakter. Diese Auffassung steht im Widerspruch zu der Position, der bürgerliche Staat sei seiner Form und seinem Klasseninhalt nach "ideeller Gesamtkapitalist" und Ausdruck der "Diktatur der Bourgeoisie" (s.o.).<br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):'''<br />
Die klassischen Vertreter einer solchen Staatsauffassung waren die „Revisionisten“ in der deutschen Sozialdemokratie, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen und zentrale Annahmen des wissenschaftlichen Sozialismus zu "revidieren" begannen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Eduard Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. <br />
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Bernstein bestritt in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899) die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Aufhebung des bürgerlichen Staates und schlug stattdessen einen friedlichen und demokratischen Reformweg zum Sozialismus vor. Bernstein argumentiert, die bisherige Ausrichtung der Sozialdemokratie auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus sei durch die Realität überholt. Das kapitalistische System habe sich als weitgehend krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, ein „Zusammenbruch“ des Kapitalismus bzw. eine revolutionäre Situation sei nicht mehr zu erwarten. Die Aufgabe der SPD sei es nun, im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch „Sozialreformen“ Verbesserungen für die Arbeiterklasse und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards zwischen den Klassen durchzusetzen. Den Weg, um diese Ziele zu erreichen, sah Bernstein in der schrittweisen Ausdehnung des parlamentarischen Einflusses der Sozialdemokratie bis hin zur Übernahme der Regierung. Diese würde dann weitreichende Reformen im Sinne der Arbeiterklasse und des Sozialismus durchsetzen. Das entsprechende Credo des Reformismus lautete: „Der Weg ist alles, das Ziel ist nichts“.<br />
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Der klassische Reformismus setzt notwendig eine bestimmte Auffassung über den bürgerlichen Staat voraus. Wenn es möglich sein soll, den Kapitalismus allmählich durch Sozialreformen zu überwinden, so muss es auch möglich sein, dass die Arbeiterklasse diese Reformen im Staatsapparat gegen den Willen der Bourgeoisie durchsetzt oder diese zumindest zu Kompromissen zwingt – und zwar so weit, dass die Gesellschaft immer mehr sozialistische Züge annimmt und der Staat letztlich aufhört, bürgerlicher Staat zu sein und allmählich zu einem Instrument in den Händen der Arbeiterklasse wird. Dieses Instrument an sich muss also „klassenneutral“ sein und je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse sich entwickeln, kann es sowohl von der einen, als auch von der anderen Klasse kontrolliert und im eigenen Interesse eingesetzt werden. Der Staat steht in dieser rein instrumentalistischen Sichtweise der ihm zugrunde liegenden Produktionsweise also äußerlich gegenüber, er besitzt keine innere Verbindung zu ihr. Der Überbau scheint unabhängig von seiner ökonomischen Basis agieren zu können. Der bürgerliche Staat wird aus dieser Sichtweise nicht als spezifisches, den Klasseninteressen der Bourgeoisie entsprechend geformtes Werkzeug verstanden. Ergo kann das Proletariat dieses Werkzeug unverändert übernehmen, anstatt sich einen eigenen Apparat zu schaffen, der den spezifischen Erfordernissen und Klasseninteressen der Arbeitermacht entspricht.<br />
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'''Eurokommunismus:'''<br />
Ab den 1970er Jahren knüpften die sogenannten "Eurokommunisten" mit vielen ihrer Positionen an die theoretische Tradition des klassischen Revisionismus an, begründeten ihre Haltung aber damit, dass die Kräfteverhältnisse und somit auch der Charakter des bürgerlichen Staates sich nach 1945 grundlegend geändert hätten. Daher seien der „sowjetische Weg zum Sozialismus“ und die "Diktatur des Proletariats" als historischer Sonderfall überholt und Europa mittlerweile in eine Epoche der demokratischen Übergänge eingetreten. Sie vertraten die Einschätzung, die bürgerliche Demokratie sei nach dem Sieg über den Faschismus im Westen zu sehr gefestigt, als dass die Herrschenden gewaltsam gegen einen demokratischen Übergang zum Sozialismus vorgehen könnten. Die Hauptvertreter des Eurokommunismus waren die kommunistischen Parteien Frankreichs (PCF), Italiens (PCI) und Spaniens (PCE).<br />
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Die eurokommunistische Strategie des friedlichen, parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus ging mehr oder weniger offen davon aus, dass der Staat als ein „Feld im Klassenkampf" aufzufassen sei, auf dem sich zwar die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen widerspiegeln, das an sich aber klassenneutral sei. Durch Veränderungen der politischen Mehrheiten sollten der Staat und seine Institutionen durch die Kommunisten kontrolliert und im Sinne der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden. Die Regierung sollte ein Reformprogramm umsetzen, das die Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung Sozialismus entwickeln würde. Auch im Sozialismus sollte der bürgerlich-liberale Parlamentarismus als politische Herrschaftsform bruchlos beibehalten werden: „Die repräsentative Demokratie, kombiniert mit Formen der direkten Demokratie, kann ohne weiteres auch die Form des sozialistischen Systems sein.“<ref> Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen, Rom 1977, URL: https://www.zeit.de/1977/29/der-haeretiker-aus-asturien (letzter Zugriff: 21.12.2019).</ref> In Teilen der eurokommunistischen Strömung wurde sogar die Notwendigkeit der Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Länder in imperialistischen Staatenbündnissen wie der EG und der NATO offen verteidigt. Ausführlich dargelegt ist das Staatsverständnis der Eurokommunisten in Santiago Carrillos ''Eurokommunismus und Staat''<ref>Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.</ref>. <br />
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Ausführlicherer Artikel: [[Eurokommunistische Staatsauffassung]]<br />
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'''Andere Vertreter:'''<br />
Auch heute gibt es zahlreiche "linke" Vertreter dieser Auffassung. Die Annahme, der bürgerliche Staat sei ein grundsätzlich klassenneutrales Instrument, bildet die Voraussetzung jeder Strategie, die auf den Eintritt in die bürgerliche Regierung zum Zweck der Umsetzung von Reformen abzielt. Das gilt eindeutig für die deutsche ''Linkspartei'' und ihre europäischen Geschwisterorganisationen, allen voran die einflussreiche griechische ''SYRIZA''. Auch die "antimonopolistische Strategie" der DKP unterstellt letztlich eine Klassenneutralität des Staates der Monopole (s.u.). In unterschiedlichen Abstufungen wird diese Auffassung auch von den "bolivarischen Bewegungen" bzw. den Vertretern eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien etc. vertreten.<br />
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===Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole===<br />
Eine seit 1945 weit verbreitete Position geht davon aus, dass der bürgerliche Staat im Monopolkapitalismus nicht mehr das Interesse der gesamten herrschenden Klasse vertritt, sondern sich zum alleinigen Herrschaftsinstrument der Monopole entwickelt. Diese Vorstellung beruft sich häufig auf die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (s.o.) und ist eng verbunden mit den verschiedenen Varianten der [[Strategie der Übergänge]]. <br />
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'''Deutsche Kommunistische Partei (DKP):'''<br />
Die DKP vertritt seit ihrer Gründung eine Strategie der "antimonopolistischen Demokratie" (im folgenden: AMD). Diese wurde erstmals im Programm von 1978 explizit ausformuliert und beschlossen. Auch im Programm von 2006 bildet die AMD, von einigen kleineren Relativierungen abgesehen, noch immer den Kern der strategischen Vorstellungen der DKP. <br />
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Zu den wichtigsten Grundannahmen der AMD gehört, dass der bürgerliche Staat zu einem Instrument in den Händen der Monopole, also einer Handvoll Finanzoligarchen innerhalb der Bourgeoisie, geworden ist. Der Staat, so die These, setze deren Profitinteressen rigoros gegen alle „nicht-monopolistischen Schichten“, also nicht nur gegen die Arbeiterklasse und alle anderen Werktätigen, sondern auch gegen die „kleine und mittlere Bourgeoisie“ durch. Der bürgerliche Staat vernachlässigt aus dieser Sicht also gewissermaßen seine Aufgabe als „ideeller Gesamtkapitalist“ und verkörpert gegenüber der gesamten Gesellschaft (und einem Großteil der Bourgeoisie) nicht mehr das langfristige Gesamtinteresse aller Kapitalisten, sondern einseitig das Partikularinteresse des Monopolkapitals. <br />
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Im DKP-Programm von 2006 heißt es dazu: "Als Machtinstrument der Monopolbourgeoisie setzt er [der Staat] immer unverblümter eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durch. An die Stelle der sozialen Integration tritt die Konfrontation. Der bürgerliche Staat verliert tendenziell seine Fähigkeit zur sozialen und politischen Vermittlung, weil die Basis für die Organisierung stabilerer sozialer Kompromisse, die größere Teile der Gesellschaft einbeziehen, verloren geht. So wird die bürgerliche Demokratie ausgehöhlt und verliert ihren Inhalt. Bei Beibehaltung formaler Demokratie vollzieht sich der Übergang vom 'Sozialstaat' zum autoritären 'Sicherheitsstaat'." <ref> Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Duisburg 2006, S. 12. </ref> <br />
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Damit wird zwar der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht geleugnet, aber eine neue strategische Bruchlinie zwischen den Monopolen und allen „nicht-monopolistischen“ Schichten aufgemacht, die aus dieser Sicht nun in Opposition zum "Staat der Monopole" geraten. Entlang dieser Linie soll sich ein „antimonopolistisches Bündnis“ formieren, das neben der Arbeiterklasse nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch bedeutende Teile der „nicht-monopolistischen“ Bourgeoisie umfassen soll <ref> Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Duisburg 2006, S. 33. </ref> . Dieses Bündnis hat zwar nicht den Sozialismus zum Ziel, wohl aber eine Zwischenetappe der „antimonopolistischen Übergänge“, in deren Rahmen die Kommunisten sich an der Regierungsmacht beteiligen und zunächst im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise eine politische „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ durchsetzen sollen.<br />
<br />
Diese Vorstellung eines weitgehend bruchlosen Übergangs des Staatsapparats aus den Händen der einen in die Hände der anderen Klasse unterstellt eine instrumentalistische Sicht auf den Staat und behandelt diesen in letzter Konsequenz als ''klassenneutrales Werkzeug'' (s.o.). Zugespitzt formuliert: Der Klassencharakter des Staates scheint sich aus Sicht der Vertreter der antimonopolistischen Strategie nicht aus seiner Funktionsweise und seinem Wesen, sondern aus den politischen Kräfteverhältnissen zu ergeben. Ändert die Regierung ihren Klassencharakter von „monopolistisch“ zu „nicht-monopolistisch“, so ändert sich demzufolge auch der Klassencharakter des Staates. <br />
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Hier geht es zu einer längeren Version dieses Artikels: [[„Antimonopolistische_Demokratie“_(DKP)|„Antimonopolistische Demokratie“ (DKP)]]<br />
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'''Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD):'''<br />
Zu den wichtigsten Alleinstellungsmerkmalen der Theorie und Programmatik der MLPD gehört der Begriff der „Übermonopole“ (siehe dazu den entsprechenden Artikel [[Imperialismus_als_Weltsystem|"Imperialismus als Weltsystem"]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus), der auch ihre Analyse des bürgerlichen Staats der Gegenwart wesentlich prägt. In ihrem Parteiprogramm schreibt die MLPD: "Die hier ansässigen internationalen Übermonopole, die zum allein herrschenden internationalen Finanzkapital gehören, haben sich den Staat vollkommen untergeordnet, und die Organe des Monopolkapitals sind mit den Organen des Staatsapparats verschmolzen. Sie haben ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft, auch über andere Monopole und die nicht monopolisierten Kapitalisten, errichtet. Über die Organe der EU nehmen sie Einfluss auf andere europäische Staaten." <ref>Programm der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (2016), S. 31, URL: https://www.mlpd.de/parteiprogramm (letzter Zugriff: 09.01.2019)</ref> <br />
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Die MLPD geht also davon aus, dass sich diese „Übermonopole“ den bürgerlichen Staat „vollkommen untergeordnet“ haben – aus dieser Formulierung kann geschlussfolgert werden, dass der Staat nicht mehr als „ideeller Gesamtkapitalist“ das Gesamtinteresse des Kapitals vertritt, sondern von der Fraktion der „Übermonopole“ bzw. des „allein herrschenden Finanzkapitals“ allen anderen Teilen der Bourgeoisie gegenüber als Herrschaftsinstrument benutzt wird. Zudem geht die MLPD davon aus, dass die „Organe des Monopolkapitals“, die im vorangegangenen Stadium des Kapitalismus scheinbar noch unabhängig vom und außerhalb des Staatsapparates existierten, heute vollständig mit diesem „verschmolzen“ sind. <br />
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Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Programmatik der MLPD findet sich hier: [https://kommunistische.org/diskussion/einschaetzung-der-programmatik-der-mlpd/ Philipp Kissel, Einschätzung der Programmatik der MLPD].<br />
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===Staatsmonopolistischer Kapitalismus===<br />
Hier soll kurz dargestellt werden, wie die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus den Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt. In welchem Verhältnis stehen Staat und Monopole zueinander? Ist der Staat alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole oder auch "ideeller Gesamtkapitalist", also Ausdruck der Herrschaft der gesamten Bourgeoisie?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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Siehe hierzu auch den Dissens [[Monopole und Staat]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus.<br />
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===Der Staat als "echte Demokratie"===<br />
Die Position, der bürgerliche Parlamentarismus auf der ökonomischen Basis der kapitalistischen Produktionsweise sei eine "echte Demokratie" läuft letztlich auf die Position hinaus, die gesellschaftlichen Verhältnisse würden nicht von der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie, sondern von der politischen Mehrheit bestimmt. Die Frage des Klassencharakters der Staats wird also reduziert auf eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Je nach dem, ob die Bourgeoisie oder die Arbeiterklasse im demokratischen Prozess mehr Kontrolle über den Staatsapparat ausübt, verschiebt sich auch dessen Klassencharakter. Diese Auffassung setzt zugleich ein Verständnis des Staates als ''klassenneutrales Instrument'' voraus (s. o.). <br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):''' <br />
Die Vorstellung einer fortschreitenden Demokratisierung des bürgerlichen Staats und einer damit einhergehenden Verwandlung seines Klassencharakters spielten eine zentrale Rolle im Denken des klassischen Revisionismus. Rosa Luxemburg polemisierte schon 1899 gegen Eduard Bernstein: „die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie [sei] eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie.“ <ref> Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), Zweiter Teil </ref> Bürgerliche Demokratie und Parlamentarismus waren für Bernstein nicht taktische Mittel im Klassenkampf, sondern tatsächlicher Ausdruck der Herrschaft durch das Volk bzw. die Mehrheit, also der Arbeiterklasse: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. […] Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“<ref>Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.154-156.</ref> Für die Strategie der Arbeiterbewegung heißt das: „die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.“<ref>Ebd., S. 154-156.</ref> Die Arbeiterbewegung soll sich also darauf beschränken, im legalen Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus für Reformen und schrittweise Verbesserungen zu kämpfen. Der bürgerliche Staat ist dabei nicht ihr Gegner, sondern ihr Werkzeug. Die taktische Herausforderung besteht demnach einzig darin, auf demokratischem Weg in die Position zu gelangen, dieses Werkzeug für die eigenen Zwecke nutzen zu können.<br />
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'''Position von SYRIZA:''' <br />
Die griechische "Linkspartei" SYRIZA argumentiert in ihrem Regierungsprogramm, „der Staat [sei] keine Festung, sondern ein Netzwerk, ein Verhältnis und eine strategische Arena für den politischen Kampf. Er verändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, im Gegenteil, seine notwendige Transformation hat konstante und kontinuierliche Kämpfe zur Voraussetzung, die Einbeziehung des Volkes, ständige Demokratisierung.“ (Quelle: S''YRIZAs Regierungsprogramm''<ref>Zitiert nach einem auf Englisch erschienenen Artikel der KKE, ins Deutsche Übersetzt. URL: https://inter.kke.gr/en/articles/Criticism-of-certain-contemporary-opportunist-views-on-the-state/ (9.01.2019)</ref>) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der bürgerliche Staat von SYRIZA nicht seinem Wesen nach als ein Organ der bürgerlichen Klassenherrschaft angesehen, sondern als eine Ansammlung von Institutionen, die im Interesse des Volkes „transformiert“ werden können. Auf Grundlage dieser Sichtweise wird argumentiert, dass der Charakter des bürgerlichen Staats durch die richtigen politischen Kräfteverhältnisse geformt oder gar "transformiert" werden kann, solange sich nur „linke Regierungen“ durchsetzen können. <br />
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'''Position der DKP:''' <br />
Die DKP bleibt in ihrer Einschätzung der bürgerlichen Demokratie widersprüchlich. Einerseits ist in ihrem Programm von 2006 zwar die Rede davon, dass sich durch die "Globalisierung" die "Tendenz zur Reaktion" verschärft, dass die Demokratie untergraben wird (S. 12) und dass letztlich eine "revolutionäre Überwindung" (S. 28) des Kapitalismus nötig sei. Andererseits gehört es jedoch zu den Kernthesen ihrer "antimonopolistischen Startegie", dass noch auf dem Boden der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und innerhalb des institutionellen Rahmens des bürgerlichen Staats umfassende Reformen und sogar eine "antimonopolistisch-demokratische Umgestaltung" (S. 32) möglich seien: "Je mehr es dabei gelingt, Veränderungen im Sinne von Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, von demokratischer Kontrolle, von Entmilitarisierung und Demokratisierung in Staat und Gesellschaft zu erreichen, je größer der Einfluss der demokratischen und sozialistischen Kräfte überall dort ist, wo Meinungsbildung stattfindet, desto besser sind die Chancen im Kampf um die Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und für die Öffnung des Weges zum Sozialismus. [...] Es geht um die [...] demokratische Einflussnahme auf den staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus im nationalen Rahmen wie im Rahmen der Europäischen Union und anderer internationaler staatsmonopolistischer Institutionen". (S. 30) Diese Vorstellung läuft letztlich also darauf hinaus, die Kommunisten und „Demokraten“ könnten den ideellen Gesamtkapitalisten dem Einfluss der Klasseninteressen der Bourgeoisie entreißen und ihrem eigenen politischen Willen unterwerfen.<br />
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'''Andere Vertreter:''' Ebenfalls weit verbreitet sind Vorstellungen über den demokratischen Charakter des bürgerlichen Staats in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dort gehört der Begriff der „Mitbestimmung“ nicht umsonst zum ideologischen Kernrepertoire. Die Vorstellung, im Betrieb ließe sich zwischen Kapital und Arbeit auf Augenhöhe eine demokratische Mitbestimmung und dadurch ein Interessenausgleich verwirklichen, bildet das Herzstück der Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Ähnliche Sichtweisen werden heute außerdem in einer Reihe lateinamerikanischer Länder gepflegt. Verschiedene „fortschrittliche“ und „linke“ Regierungen versuchen unter dem Banner des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bzw. der „bolivarischen Revolution“ das bürgerliche Staatssystem durch Gesetzesreformen und Volksabstimmungen grundlegend zu veränden.<br />
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==="Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci)===<br />
Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, verfasste in den 1920er und 30er Jahren in faschistischer Gefangenschaft seine „Gefängnishefte“, ein umfangreiches theoretisches Werk, dessen einzelne Bestandteile Gramsci unter den Bedingungen seiner Haft leider nicht mehr zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen konnte. Zu den wichtigsten Aspekten dieses Werks gehören Gramscis Überlegungen zur besonderen Form der Herrschaft der Bourgeoisie in den entwickelten imperialistischen Ländern und die daraus abgeleiteten Weiterentwicklungen der marxistischen Staatstheorie.<br />
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In den Gefängnisheften bringt Gramsci den Staat und die Herrschaft der Bourgeoisie auf die kurze Formel: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang" (H. 6, §88., S. 783)<ref>Antonio Gramsci, Gefängnisgefte. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1991. Im Folgenden wird aus den Gefängnisheften nur noch in Klammern nach Heft Nr., Paragraph und Seitenzahl zitiert.</ref><br />
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Gramsci weitet den Staatsbegriff damit aus und entwickelt sein Konzept des "integralen Staates". Dieser umfasst einerseits die "politische Gesellschaft", womit alle explizit staatlichen Strukturen und Institutionen gemeint sind, also das Parlament, die Beamtenapparate, die Repressionsorgane, die staatlichen Bildungseinrichtungen etc. Andererseits betrachtet Gramsci aber auch die "Zivilgesellschaft" als Teil der bürgerlichen Staatlichkeit. Gemeint sind damit alle Strukturen außerhalb der Staatsapparate, über die die Bourgeoisie ihre Herrschaft absichert, also private Medien, Bildungsstätten, Institute, Stiftungen, Clubs, Thinktanks etc. Mit Blick auf den Sieg der Oktoberrevolution in Russland und die darauffolgenden Niederlagen der Revolutionsversuche in Westeuropa schrieb Gramsci: "Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand;" (H. 7, §16., S. 873-874) An anderer Stelle heißt es: "zumindest was die fortgeschrittenen Staaten angeht, wo die 'Zivilgesellschaft' eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften 'Durchbrüchen' des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg." (H. 13, §14, S. 1553-1554) Die Stabilität der bürgerlichen Herrschaft hängt demnach also wesentlich davon ab, inwieweit die Zivilgesellschaft herausgebildet und die "Hegemonie" der Bourgeoisie enwickelt ist. <br />
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Mit dem Begriff der Hegemonie versucht Gramsci der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass sich die Macht der Bourgeoisie nicht nur auf das Staatliche Gewaltmonopol und die Repressionsapparate stützt, sondern wesentlich über ideologische Integration und die Erzeugung von "Konsens" abgesichert wird. Hegemonie bezeichnet also die politisch-ideologische Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über eine andere. "Die 'normale' Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne daß der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt, sondern im Gegenteil sogar versucht wird, zu erreichen, daß der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint […]" (H. 13, §37, S. 1607-1613). Konsens bezeichnet hier einen Zustand, in dem die Beherrschten die Herrschaft zumindest passiv ertragen oder sogar aktiv die Sichtweise übernehmen, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse entsprächen auch ihren Interessen und seien die bestmöglichen. Gramsci schreibt, dass "eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. […] Die politische Führung wird zu einem Aspekt der Herrschaft, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Klassen zur Enthauptung derselben und zu ihrer Machtlosigkeit führt. Es kann und muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben." (H. 1, §44, S. 101-113) <br />
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Heute wird der Begriff der Hegemonie fast ausschließlich Gramsci zugeschrieben, dabei war er zu dessen Lebzeiten unter den Theoretikern der Kommunistischen Internationale weit verbreitet und wurde breit diskutiert. Wie Buci-Glucksmann bemerkt, war er "im gesamten Marxismus der Dritten Internationale überaus geläufig. Man findet ihn vor allem unter der Feder Lenins vor 1917, aber auch später. Man finet ihn ebenso oft bei Bela Kun, Varga, Stalin, und vor allem Bucharin, der ihn in einer Weise benutzte, die der Gramscis nahezustehen scheinen könnte". <ref>Buci-Glucksmann, Gramsci und der Staat, S. 17.</ref> <br />
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Die "führende Klasse" oder Klassenfraktion ist laut Gramsci in ihrem Ringen um Hegemonie also in der Regel darum bemührt, alle anderen Fraktionen ihrer Klasse und ihrer "verbündeten Klassen" in ihren "Block an der Macht" zu integrieren. Das gelingt nur, indem sie mit diesen anderen Fraktionen ein Komprimissprogramm aushandelt, das bestmöglich das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse zusammenfasst und deren innere Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Der Ort, an dem diese Kompromisse ausgehandelt und schließlich in politische Praxis übersetzt werden, ist der bürgerliche Staat selbst. Gegenüber den "feindlichen Klassen" (also dem Proletariat und den anderen Werktätigen) tritt die Bourgeoisie als "herrschend" auf, sie übt ihre Hegemonie einerseits durch Integration ihrer ideologischen Führer und andererseits durch materielle Zugeständnisse aus: "Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, daß sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, daß also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, daß solche Opfer und ein solcher Kompromiß nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt." (H. 13, §18, S. 1565-1573) Gramsci beschreibt in dieser Formulierung den grundsätzlichen Klassencharakter des Staates. Die Kompromisse können nie "das Wesentliche" betreffen - also die kapitalistische Produktionsweise - sondern sich nur in deren Rahmen bewegen. <br />
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Gramscis Staatstheorie knüpft eindeutig an die Auffassung des Staats als "ideeller Gesamtkapitalist" (s.o.) an, indem sie einerseits die Integration der gesamten herrschenden Klasse in einem "historischen Block" betont und andererseits die zumindest passive Einbindung der Beherrschten im Rahmen der Hegemonie betont. Mit einer Staatsauffassung, die den bürgerlichen Staat im Monopolkapitalismus als "alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole" (s.o.) versteht, ist Gramscis Ansatz kaum zu vereinbaren. <br />
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Mit Blick auf den Staat schreibt Gramsci außerdem, dieser sei "das Instrument zur Anpassung der Zivilgesellschaft an die ökonomische Struktur". (H. 10.II, §15, S. 1267) Dabei spielen Medien und andere ideologische Apparate eine entscheidende Rolle: "Was 'öffentliche Meinung' genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der 'Zivilgesellschaft' und der 'politischen Gesellschaft', zwischen dem Konsens und der Gewalt. Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft. […] die öffentliche Meinung, wie sie heute Verstanden wird, ist am Vorabend des Untergangs der absolutistischen Staaten entstanden, das heißt in der Zeit des Kampfes der neuen bürgerlichen Klasse um die politische Hegemonie und die Erlangung der Macht. […] [Es entbrennt ein] Kampf ums Monopol der Organe der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, Parlament". (H. 7, §83, S. 916-917)<br />
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Verliert die herrschende Klasse ihre Hegemonie, so kommt es zur "Hegemonie-" bzw. "Autoritätskrise": "Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr 'führend', sondern einzig 'herrschend' ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die große Masse sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann". (H. 3, §34, S. 354-355) Der Verlust der Hegemonie darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem automatischen Verlust der Macht, schließlich verfügt die herrschende Klasse auch bei schwindendem Konsens noch immer über die Mittel des Zwangs. <br />
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Zu den strategischen Schlussfolgerungen, die Gramsci aus seiner Staatstheorie ableitete, siehe den Dissens-Artikel zu [[Staat und Revolution]] und dort den Abschnitt "Bewegungs- und Stellungskrieg". <br />
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Einige offene Fragen zu Gramsci und seiner Staatstheorie werden von unserer AG tiefergehend behandelt werden: Handelt es sich dabei um einen wegweisenden Beitrag zur marxistischen Staatstheorie im Zeitalter des Imperialismus und des entwickelten bürgerlichen Staats, an den die Kommunisten anknüpfen und den sie weiterentwickeln müssen? Oder enthält Gramscis Theorie bereits wesentliche revisionistische Abweichungen, die es den verschiedenen opportunistischen Strömungen, die sich heute auf ihn berufen, leicht machen, seine Theorie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?<br />
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==="Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas)===<br />
Nicos Poulantzas war ein griechischer Theoretiker, der in den 1960er und 70er Jahren eine Reihe an marxistischen Studien verfasste. Er sympathisierte nach 1968 mit der eurokommunistischen griechischen kommunistischen Partei des Inlands (KKE-Inland) und stand – in Frankreich lebend - in kritischer Distanz zur Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). In seinen klassen- und staatstheoretischen Schriften ist der Einfluss u.a. von Louis Althussers Strukturalismus sowie [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #"Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci) | Antonio Gramscis Hegemonietheorie]] sichtbar. In der marxistischen Debatte um den Staat hat Poulantzas tiefe Spuren hinterlassen, was primär zurückgeführt werden kann auf seine Konzeption des Staates als „Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“. Historisch bedeutsam war dabei zunächst die Auseinandersetzung mit Ralph Miliband; im deutschsprachigen Raum wurde seine Theorie u.a. über Joachim Hirsch und Alex Demirovic wieder in die Diskussion eingebracht.<br />
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Poulantzas formuliert in der Einleitung zur ''Staatstheorie'' den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Es ist nicht der Klassencharakter des Staates, der zur Debatte steht: „Jeder Staat ist ein Klassenstaat; jede politische Herrschaft ist Klassendiktatur; der kapitalistische Staat ist ein Staat der Bourgeoisie; der kapitalistische Staat im Allgemeinen und jeder kapitalistische Staat im Besonderen sind Diktaturen der Bourgeoisie“ <ref> Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Sozialistische Demokratie, Hamburg 1978, S. 155.</ref>, all dies sind für ihn „Banalitäten“ - zwar richtig, aber nicht weiter ausführenswert. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, vielmehr stellt es sich hier neu: „[W]arum greift die Bourgeoisie in ihrer Herrschaft auf diesen nationalen Volksstaat zurück, diesen modernen Repräsentativ-Staat mit seinen spezifischen Institutionen, und nicht auf einen anderen? Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich genau diesen Staat aussuchen würden, wenn sie den Staat komplett selbst und nach ihrem Geschmack aufbauen würden.“ <ref> ebd. S.40.</ref> Eine verwandte Frage hatte bereits der sowjetische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis knapp 50 Jahre, vorher gestellt: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“ Poulantzas gibt in der Einleitung auch eine vorläufige, knappe Antwort auf die von ihm formulierte Frage: „Der Staat stellt ein materielles Gerüst dar, das in keiner Weise auf die politische Herrschaft reduziert werden kann. Der Staatsapparat, dieses besondere und furchterregende Etwas, erschöpft sich nicht in der Staatsmacht. [...] Wenn der Staat nicht einfach ein vollständiges Produkt der herrschenden Klassen ist, so haben sie sich seiner auch nicht einfach bemächtigt: Die Macht des Staates (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) hat in dieser Materialität ihre Spuren hinterlassen. Die Handlungen des Staates reduzieren sich nicht auf die politische Herrschaft, sie sind jedoch konstitutiv von ihr gezeichnet.“ <ref> ebd. S.42.</ref> <br />
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Eine wichtige Aufgabe des Staates sieht Poulantzas in der Repräsentation und Organisation der herrschenden und der Desorganisation der beherrschten Klassen. Die Bourgeoisie ist keine widerspruchsfreie Einheit. Sie verfolgt zwar zwangsläufig als Klasse einheitlich das Ziel der Kapitalverwertung, dieses Ziel bringt sie aber auch in direkte Konkurrenz untereinander, weshalb, wie Engels sagt, der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert. Poulantzas zufolge ist die Kapitalistenklasse in Klassenfraktionen gespalten, die unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Interessen verfolgen. Diese Klassenfraktionen formieren sich unter der Hegemonie einer Fraktion zu einem „Block an der Macht“, in welchen auch andere herrschende Klassen miteinbezogen werden. Die Hegemonie einer Fraktion bedeutet dabei, dass diese die äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Sinne optimieren kann; und diese Hegemonie erst ermöglicht die Einheit dieses Blocks gegenüber den beherrschten Klassen. Poulantzas betont, dass nicht nur Teile der Bourgeoisie (etwa das Monopolkapital) den Machtblock stemmen: „Diese bürgerlichen Fraktionen sind in ihrer Gesamtheit, obwohl in unterschiedlichem Maße, auf dem Terrain der politischen Herrschaft angesiedelt, und gehören somit immer zum Block an der Macht“.<ref> ebd. S.159.</ref> Dieser Machtblock ist aber konfliktdurchzogen, er stellt ein umkämpftes, instabiles Kompromissgleichgewicht dar: „Der Machtblock stellt eine von inneren Widersprüchen gekennzeichnete Einheit von politisch herrschenden Klassen und Fraktionen unter dem Schutz der hegemonialen Fraktion dar. Der Klassenkampf, die Interessenrivalitäten zwischen den gesellschaftlichen Kräften sind darin ständig gegenwärtig, wobei diese Interessen ihren spezifischen Antagonismus bewahren“ <ref> Poulantzas, Nicos: Politische Macht und gesellschaftliche Klassen, Frankfurt am Main 1980, S. 239.</ref>. In diesem Sinne ist die konkrete Politik des Staates und die Hegemonie im Machtblock immer umkämpft, und dieser Kampf wird im Staat, in seinen ideologischen (Medien, Think Tanks, …) aber auch repressiven Apparaten (Polizei, Armee, …) ausgetragen.<br />
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Um die „Rolle der Vereinheitlichung und Organisierung der Bourgeoisie und des Blocks an der Macht“ <ref>Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Sozialistische Demokratie, Hamburg 1978, S. 158.</ref> zu erfüllen, muss der Staat laut Poulantzas eine „relative Autonomie“ gegenüber den einzelnen Bestandteilen des Blocks bewahren: „Unter relativer Autonomie dieses Staatstyps verstehe ich […] das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Feld des Klassenkampfes, insbesondere seine relative Autonomie gegenüber den Klassen oder Fraktionen des Machtblocks und in erweiterter Form auch gegenüber seinen Verbündeten oder Stützen […] Ich hoffe, damit klar genug die Distanz auszudrücken, die diese Auffassung des Staats von einer simplifizierten und vulgarisierten Auffassung des Staats trennt, die in ihm das Werkzeug oder Instrument der herrschenden Klasse sieht“ <ref> Poulantzas, Nicos: Politische Macht und gesellschaftliche Klassen, Frankfurt am Main 1980, S. 256.</ref>.<br />
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Der Staat als Instrument (siehe auch die Abschnitte zum Staat als [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als klassenneutrales Instrument | klassenneutrales Instrument]] und als [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole | alleiniges Instrument der Monopole]]) und der [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt) | Staat als Subjekt]]: dies beides sind aus Poulantzas‘ Sicht falsche Staatsverständnisse, die er umschiffen will mit dem Verständnis des Staates als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses. Der Staat als Instrument/Werkzeug/Sache unterstellt eine Passivität oder Neutralität des Staates. Dieser wird als ein Apparat verstanden, der zur Ausübung der politischen Macht von der herrschenden Klasse oder auch einer Klassenfraktion verwendet wird, der aber eben auch so wie er ist übernommen werden kann, um gegen die herrschende Klasse gewendet zu werden. Eine Autonomie des Staates ist ausgeschlossen. Eine solche instrumentalistische Konzeption des Staates sieht Poulantzas in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der eurokommunistischen PCF in den 1970ern: „An dieser Konzeption kritisierte ich vor allem, dass sie zu der Vorstellung des mit dem Monopolkapital »fusionierten« Staates führt, einem Staat der im Dienste der Monopole steht und keinerlei Autonomie besitzt“ Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Sozialistische Demokratie, Hamburg 1978, S. 160.</ref> . Der Staat als Subjekt wiederum lässt ihn vollständig autonom werden, er steht als Akteur außerhalb der Klassen. Er agiert, koordiniert, verwaltet, reguliert selbstständig. Seine Autonomie bezieht sich „auf die angebliche Macht des Staates und auf die Träger dieser Macht und der staatlichen Rationalität: auf die Bürokratie und speziell auf die politische Elite“ <ref> ebd. S.160.</ref>. <br />
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Poulantzas schlägt vor, die „Sackgassen des ewigen Pseudodilemmas der Diskussion zwischen der Konzeption des Staates als einer Sache bzw. einem Instrument und der Konzeption des Staates als einem Subjekt“ <ref> ebd. S.159f.</ref> zu vermeiden, indem der Staat über den Klassenkampf selbst verstanden wird, genauer: „ … indem ich sage, dass der Staat […] nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden darf, sondern, wie auch das »Kapital«, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ Der Staat spiegelt also nicht einfach ein gesellschaftliches Verhältnis wider, er selber konstituiert dieses Verhältnis. In der Vielzahl seiner Institutionen findet die ständige Austarierung zwischen Klassen und Klassenfraktionen statt. Diese Austarierung entspricht aber nicht direkt dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, beispielsweise sind die beherrschten Klassen nicht in den Staatsapparaten anwesend: „Sie organisieren und vereinheitlichen den Block an der Macht, indem sie die beherrschten Klassen ständig desorganisieren und spalten. Sie polarisieren sie gegenüber dem Block an der Macht und schließen ihre politischen Organisationen aus.“ <ref> ebd. S.171.</ref><br />
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Bei Poulantzas bleibt unklar, wie der Begriff der Verdichtung genau zu verstehen ist, wohingegen er ausführt, was es mit der Materialität hier auf sich hat. Mit Blick auf die Staatstheorie in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der PCF wendet er ein, dass diese „die eigenständige Materialität des Staates übersieht. Diese Materialität eines Staates, der als Werkzeug oder Instrument angesehen wird, hat keine eigene politische Bedeutung. Diese Bedeutung wird auf die Staatsmacht beschränkt, d.h. auf die Klasse, die dieses Instrument manipuliert. Das würde im Extremfall implizieren, dass das gleiche Instrument (das verschiedenen, allerdings zweitrangigen Modifikationen unterliegt) durch eine Veränderung der Staatsmacht, also durch die Macht der Arbeiterklasse, für den Übergang zum Sozialismus anders eingesetzt werden könnte“ <ref> ebd. S.160.</ref>. Dieses Defizit meint er zu beheben: „Das materielle Gerüst seiner [des Staates] Institutionen wird durch die Beziehung des Staates zu den Produktionsverhältnissen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung konstituiert, die sich in der kapitalistischen Trennung des Staates von diesen Verhältnissen konzentriert. […] Der Staat hat eine eigene Dichte und Widerstandskraft und reduziert sich nicht auf ein Kräfteverhältnis. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Klassen hat sicherlich immer Auswirkungen innerhalb des Staates, sie überträgt sich jedoch nicht direkt und unmittelbar. Sie passt sich der Materialität der verschiedenen Apparate an und kristallisiert sich im Staat nur in gebrochener und differenzierter, den Apparaten entsprechender Form. Eine Veränderung der Staatsmacht allein transformiert die Materialität des Staates nicht“ <ref> ebd. S.161f.</ref>. Als Beispiele für die Materialität führt Poulantzas u.a. die Organisierung kapitalistischen Wissens an: „Die geistige Arbeit (Wissen/Macht) ist in den Apparaten konzentriert und steht im Gegensatz zur tendenziell in den Volksmassen konzentrierten manuellen Arbeit, die von den organisatorischen Funktionen ausgeschlossen und getrennt sind“ <ref> ebd. S.83.</ref>.<br />
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==="Akkumulationsregime" (Regulationsschule)===<br />
Hier sollen die offenen Fragen und Aufgaben ausformuliert werden, die sich aus der Staatstheorie der "Regulationsschule" und deren Theorie der "Akkumulationsregime" ergeben. Handelt es sich bei dieser Theorie um einen wesentlichen Beitrag zur marxistischen Staatstheorie, die eine vertiefende Analyse der verschiedenen Formen der bürgerlichen Herrschaft seit der Entstehung des Kapitalismus erlaubt (z.B. durch die Unterscheidung eines "keynesianischen" und eines "neoliberalen Akkumulationsregimes")? Wie wird aus Perspektive der Regulationsschule der Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt? Enthält diese Theorietradition wesentliche Abweichungen von den Grundannahmen der marxistischen Staatstheorie? Welche Verbinndung gibt es zu den Theorien von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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'''Vertreter:''' Zu den prominentesten Vertretern der Regulationsschule gehören heute die Staatstheoretiker Joachim Hirsch und Bob Jessop.<br />
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===Staat = Repressionsapparate / "neue Demokratie" (Maoismus)===<br />
Innerhalb des maoistischen Spektrums lässt sich als tendenzielle Gemeinsamkeit in der Staatsfrage ein besonderer Fokus auf die „bewaffneten Apparate“ des bürgerlichen Staats und eine weitgehende Vernachlässigung der Analyse anderer, nicht unmittelbar gewaltförmiger Herrschaftstechniken der Bourgeoisie (Integrationsideologien, ökonomischer Zwang, etc.) feststellen. Dies steht im engen Zusammenhang mit der Strategie des "Volkskriegs". Dieser Strategie liegt eine Perspektive auf den Staat zugrunde, die den Kampf um die politische Macht weitgehend auf den unmittelbaren militärischen Kampf und die Zerschlagung der bewaffneten Staatsapparate zuspitzt. Die maoistische Theorie der "neuen Demokratie" enthält außerdem die These einer möglichen dritten Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats.<br />
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Von einer einheitlichen und systematisch ausgearbeiteten "maoistischen Staatstheorie" kann genauso wenig die Rede sein, wie von einer homogenen maoistischen Strömung innerhalb des Marxismus. In den klassischen Texten von Mao Tse-Tung findet sich vor allem keine eigene, systematisch ausgearbeitete Analyse des bürgerlichen Staats im Imperialismus. Die chinesischen Revolutionäre kämpften nicht gegen einen entwickelten bürgerlichen Staat, wie er sich in den imperialistischen Zentren herausgebildet hatte, sondern gegen einen agrarischen Feudalstaat mit kolonialen Elementen. Der Großteil von Maos Äußerungen über den Staat sind in diesem Kontext zu sehen, so zum Beispiel die oft zitierte Losung: "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 74.</ref> An anderer Stelle führt Mao diese Zuspitzung auf die Frage der militärischen Macht und der bewaffneten Apparate weiter aus und verallgemeinert sie als die aus seiner Sicht wichtigste Kernaussage der marxistischen Lehre vom Staat: "Vom Standpunkt der marxistischen Lehre vom Staat ist die Armee die Hauptkomponente der Staatsmacht. Wer die Staatsmacht ergreifen und behalten will, der muß eine starke Armee haben. Manche Leute bezeichnen uns höhnisch als Anhänger der ‚Theorie von der Allmacht des Krieges‘; jawohl, wir sind Anhänger der Theorie von der Allmacht des revolutionären Krieges, und das ist nicht schlecht, sondern gut, das ist marxistisch. [...] Die Erfahrungen des Klassenkampfes im Zeitalter des Imperialismus lehren uns: Die Arbeiterklasse und die übrigen Werktätigen Massen können nur mit der Macht der Gewehre die bewaffneten Bourgeois und Grundherren besiegen; in diesem Sinne können wir sagen, daß die ganze Welt nur mit Hilfe der Gewehre umgestaltet werden kann."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 75-76.</ref><br />
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In genau diesem Sinne wird die Staatsfrage auch in Teilen der zeitgenössischen maoistischen Strömungen behandelt. Viele zeitgenössische Mao-Gruppen beziehen sich dabei auf die Traditionslinie der peruanischen Guerillabewegung „Leuchtender Pfad“ bzw. der KP Perus (Vollständiger Name: ''Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui'') und ihres politischen und ideologischen Anführers „Presidente Gonzalo“ (Abiamel Guzmán). (''Anmerkung: Alle Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen sich auf die Broschüre „Einheitsbasis der Kommunistischen Partei Perus – angenommen auf dem I. Parteitag 1988“<ref>http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/gonzalo/1439-die-einheitsbasis-der-kommunistischen-partei-perus-auf-deutsch</ref>, die leider zahlreiche Übersetzungsfehler enthält.'')<br />
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Der Staat erscheint auch hier vor allem als bewaffneter Apparat, der militärisch bekämpft und zerschlagen werden muss:<br />
"die revolutionäre Gewalt ist ausnahmslos ein universelles Gesetz; die Revolution ist die gewaltsame Ersetzung einer Klasse durch eine andere. Er [Mao Tse-Tung] legte seine große These fest: ‚Die Macht kommt aus den Gewehrläufen!‘" (Über den Marxismus-Leninismus-Maoismus, S. 7) "[der] Volkskrieg, der durch eine revolutionäre Armee neuen Typs, unter der absoluten Führung der Partei, Stück für Stück die alte Macht zerstört, hauptsächlich seine bewaffneten und repressiven Kräfte." (Programm und Statuten der KP Perus, S. 16-17.)<br />
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Unter dem Begriff der „neue demokratische Revolution“ vertreten die Maoisten der KP Perus ein spezifisches Etappenmodell, das die Stufen der Revolution festlegt, die die unterdrückten Länder auf dem Weg zum Sozialismus durchlaufen müssen. Der Klasseninhalt der Revolution und der jeweiligen Staatsformen, die diese hervorbringen, ändert sich jedoch je nach Entwicklungsstand des jeweiligen Landes: "Um unser Endziel, den Kommunismus, zu erreichen, müssen wir Marxisten-Leninisten-Maoisten in Perspektive drei Typen von Revolutionen durchführen: 1) Die demokratische Revolution, das ist die bürgerliche Revolution neuen Typs in den rückständigen Ländern, unter der Führung des Proletariats, in deren Verlauf eine gemeinsame Diktatur des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und unter bestimmten Bedingungen der Mittelbourgeoisie unter der Führung des Proletariats errichtet wird; 2) Die sozialistische Revolution in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern, die die Diktatur des Proletariats errichtet; 3) Kulturrevolutionen, sie werden gemacht um die Revolution unter der Diktatur des Proletariats fortzusetzen, um jede Generierung des Kapitalismus zu unterwerfen und zu eliminieren und auch mit den Waffen gegen jedes streben nach Restauration des Kapitalismus zu kämpfen" (Allgemeine politische Linie, S. 19)<br />
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Mit der Theorie der „neuen demokratischen Revolution“ sind spezifische staatstheoretische Grundannahmen verbunden. Die „Neuen Demokratie“ gilt aus maoistischer Sicht als dritte Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats - ihr Klassencharakter ist wesentlich durch einen Klassenkompromiss bzw. ein Klassenbündnis bestimmt: "Die Neue Demokratie. In erster Stelle ist es eine Entwicklung der marxistischen Staatstheorie mit der Festlegung der drei Typen der Diktatur: 1. die Diktatur der Bourgeoisie, in den alten bürgerlichen Demokratien wie in den Vereinigten Staaten, dazu zählen auch die Diktaturen, die in unterdrückten Nationen, wie den lateinamerikanischen existieren, 2. die Diktatur des Proletariats wie in der Sowjetunion oder in China vor der Usurpation der Macht durch die Revisionisten und 3. die Neue Demokratie als gemeinsame Diktatur, die auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern basiert, geführt vom Proletariat mit der Kommunistischen Partei an der Spitze […]." (Über den Marxismus-Leninismus, S. 8) Im Anschluss an Mao und Gonzalo geht die KP Perus davon aus, dass die "Staatssysteme der Welt" auf „drei Grundtypen reduziert werden können, laut ihres Klassencharakters: Republik unter der Diktatur der Bourgeoisie, die auch die Staaten der alten Demokratie ausmachen und die Republik der gemeinsamen Diktatur der Grundbesitzer und Großbourgeoisie; Republiken unter der Diktatur des Proletariats; und Republik unter der gemeinsamen Diktatur der revolutionären Klassen […]." (Allgemeine politische Linie, S. 33.)<br />
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Andere Grundsätzlichere Fragen zum Thema Maoismus, wie die Strategie des „langfristigen Volkskriegs“, die Etappe der "neuen demokratischen Revolution" oder die Theorie des „Zweilinienkampfs“ werden perspektivisch durch die [[AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei]] bearbeitet. Fragen zur Polemik zwischen der Sowjetunion und China über die „friedliche Koexistenz“, die „Kulturrevolution“ und die maoistische Position, die Sowjetunion sei „sozialimperialistisch“ gewesen, gehören zum Arbeitsbereich der [[AG Sozialismus]].<br />
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Eine längere Version dieses Artikels (befindet sich noch in Bearbeitung) findet ihr hier: '''[[Die Staatsfrage im Maoismus]]'''<br />
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Vertreten werden solche oder ähnliche Positionen in Deutschland zum Beispiel von der Sozialistischen Linken (SoL) oder dem mittlerweile aufgelösten Jugendwiderstand (JW).<br />
===Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt)===<br />
Der ''Gegenstandpunkt'' (GSP, früher ''Marxistische Gruppe'') vertritt eine eigene Staatstheorie, die davon ausgeht, der bürgerliche Staat könne aus den abstrakten Kategorien der politischen Ökonomie "abgeleitet" werden. Den Ausgangspunkt dieser Ableitung bildet die einfache Warenzirkulation, in welcher die Warenbesitzer sich wechselseitig als "freie" und "gleiche" Privateigentümer anerkennen. Die Autoren des GSP sehen drei gemeinsame Interessen bei allen Privateigentümern: Die Erhaltung der Revenue, eine möglichst hohe Revenue und den kontinuierliche Fluss der Revenue. Daraus schlussfolgern sie, dass Schutz und Sicherung des Privateigentums, die Sicherung des Wirtschaftswachstums und ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft dem Gesamtinteresse aller Privateigentümer entsprechen, wozu als viertes das Interesse an gleichen Konkurrenzvoraussetzungen hinzutritt. Weil die Privateigentümer aber in der Verfolgung ihrer besonderen Interessen nicht die allgemeinen Interessen durchsetzen können, bedarf es des Staates: "Das besondere Dasein des Staates neben und außer der Gesellschaft der konkurrierenden Privaten – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit – ist das Resultat dieses Widerspruchs zwischen besonderem und allgemeinem Interesse in seinen verschiedenen Existenzweisen. Der Staat verkörpert die Loslösung der allgemeinen Interessen aus der Sphäre der Privaten und ihre Verwaltung in der Sphäre des Staates. Mit der Besonderung des Staates werden die allgemeinen Interessen zu seinen besonderen, deren Verwaltung allein ihm obliegt. <ref> von Flatow, Sybille / Huisken, Freerk: Zum Problem der Ableitung des bürgerlichen Staates, in: Prokla, 7 (1973), S. 121 </ref><br />
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Fertig ausformuliert und in den Reihen des GSP kanonisiert wurde diese "Staatsableitung" von Karl Held in ''Der bürgerliche Staat''. In Helds Analyse wird aus der „Besonderung des Staates“ letztendlich der „Staat als Subjekt“: "Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit und Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert.<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Staat hält hier nicht nur die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Reproduktion aufrecht, er wird zum eigenständigen Subjekt mit eigenen Interessen: "Der souveräne Staat ist eine von den Bürgern getrennte, selbständige Instanz, die mit keinem besonderen Interesse identisch ist und gerade und nur deswegen von allen anerkannte Gewalt ist, weil er sein Interesse, das Allgemeinwohl, gegen die Privatsubjekte durchsetzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref> "In der Unterordnung aller Aufgaben, um deren Erfüllung willen er sich als politisches Subjekt der Ökonomie betätigt, unter das Kriterium des wirtschaftlichen Wachstums, in der Relativierung aller Funktionen entsprechend dieser Zielsetzung der Wirtschaftspolitik fällt der Grund des bürgerlichen Staates – die freie Konkurrenz – unmittelbar zusammen mit seinem Zweck: er ist bewußter Agent des Inhalts der Konkurrenz, die bekanntlich nicht die Individuen, sondern das Kapital in Freiheit setzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates besteht daher beim GSP auch zuallererst darin, dass er nicht im Interesse der einen Klasse eine andere, sondern alle Individuen gleichermaßen unterwirft: "Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, daß er Klassenstaat ist: Durch die gleiche Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der Nutzen aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben." <ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat, URL: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat (29.12.2018) </ref><br />
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Der Staat wird dadurch also wesentlich (und nicht nur oberflächlich) zu einem (klassen)neutralen Subjekt erklärt, welches die äußeren Bedingungen der Konkurrenz organisiert und diese Bedingungen den Warenbesitzern unterschiedslos aufzwingt. <br />
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'''Vertreter:''' Neben dem ''Gegenstandpunkt'', dessen Aktivitäten sich fast auschließlich auf das akademische Milieu konzentrieren, werden diese Positionen auch von vielen studentischen Jugendgruppen in der "linksradikalen" und Antifa-Szene vertreten. Dies hat häufig damit zu tun, dass Leute aus der Szene ihre eigene theoretische Bildung über Lesekreise und Seminare des Gegenstandpunkt erwerben. Besonders in Teilen der ''Sozialistischen Jugend - Die Falken'' lässt sich ein starker ideologischer Einfluss des GSP feststellen, das gleiche Phänomen taucht aber auch immer wieder in Gewerkschaftsjugenden oder ''solid SDS''-Gruppen auf. Besonders stark ist zudem die Überschneidung zu "antinationalen" Gruppen, wie etwa bei der Dortmunder ''Gruppe K''.<br />
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Einen Text zur ausführlicheren Einbettung in den Kontext der "Staatsableitungsdebatte" findet ihr hier: [[Der Staat als Subjekt (Staatsableitungsdebatte)]]<br />
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Einen Hintergrundartikel zum Gegenstandpunkt hier: [https://kommunistische.org/diskussion/standpunkt-gegen-den-marxismus/ Standpunkt gegen den Marxismus (Thanasis Spanidis)]<br />
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===Anarchistische Staatskritik===<br />
Der "Anarchismus" (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) umfasst ein sehr diffuses und heterogenes Spektrum, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Dennoch lassen sich grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Anarchisten vertreten eine politische Haltung, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbstbestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammenschließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. Im Mittelpunkt stehen die Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Selbstverwirklichung der Individuen im Rahmen der kollektiven Selbstverwaltung („Autonomie“) möglichst kleiner Organisationseinheiten. Im Anarchismus fließen die Traditionen des bürgerlichen Liberalismus (individuelle Freiheit) und der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen (Kollektivität und Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Heute wird häufig das Adjektiv "libertär" (deutsch: freiheitlich) als Synonym für „anarchistisch“ benutzt.<br />
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An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich aus Sicht der Anarchisten auch schon die Bewegung selbst messen lassen, die für die „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Position so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren, geschweige denn nach der siegreichen Revolution einen eigenen Staat zur Niederhaltung der Unterdrücker und zum Aufbau und zur Verteidigung der Revolution schaffen darf. In Abgrenzung zu solchen individual-anarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen.<br />
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Die anarchistische Staatskritik richtet sich nicht hauptsächlich gegen den bürgerlichen Staat als Klassenstaat der Bourgeoise, sondern lehnt jede Form der Macht, der Autorität und der Staatlichkeit überhaupt als Grundübel der Gesellschaft ab. Der Anarchismus vertritt also in letzter Konsequenz einen klassenneutralen Machtbegriff – er lehnt die Macht nicht als Klassenmacht der Ausbeuter ab, sondern als abstraktes Ding an sich, das aus der Welt geschafft werden soll. <br />
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'''Marx und Engels vs. Bakunin:''' Die erste ausführliche theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. <br />
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Engels fasste die Kritik an der Staatsauffassung Michael Bakunins und der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen: "Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. [...]<br />
Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll,[...] so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität <nowiki>=</nowiki> Staat <nowiki>=</nowiki> absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!" <ref>Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33; Dietz-Verlag; S. 388-389.</ref><br />
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Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der politische Ausdruck dieser Widersprüche ist nicht die Klassenherrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter und alle anderen Werktätigen, sondern die Macht und Autorität des Staates überhaupt. Diese Auffassung hat weitreichende taktische und strategische Konsequenzen (siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]]).<br />
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'''Heutige Vertreter:''' Der Anarchismus in seiner klassischen Form, also als politische Ideologie und Bewegung mit realer Verankerung in der Arbeiterbewegung (wie ihn Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder die spanischen Anarchosyndikalisten vertraten) ist heute kaum mehr präsent. Vulgarisierte Formen des Anarchismus sind dagegen in der "autonomen" Szene und linken Subkulturen nach wie vor sehr weit verbreitet. Neben zahlreichen Splittergruppen, die in der BRD heute ein gemeinsames, hauptsächlich kleinbürgerlich geprägtes Milieu bilden und von der Arbeiterbewegung meist isoliert sind, bildet die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) eine gewisse Ausnahme. Diese Organisation versucht im Rahmen einer kleinen anarchistischen Richtungsgewerkschaft außerhalb der DGB-Gewerkschaften Klassenkämpfe und Streiks zu organisieren.<br />
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Verschiedene "anarchokommunistische" Gruppen und Zusammenschlüsse in Deutschland versuchen Aspekte des Marxismus (gewerkschaftliche Organisation, Klassenkampf, Vergesellschaftung der Produktionsmittel) mit Standpunkten des Anarchismus (Ablehnung von Hierarchien, zentralistischer Organisationsformen und der Diktatur des Proletariats) zu vereinen. Seit Dezember 2018 existiert mit der Initiative [https://www.dieplattform.org/wir/ "die Plattform"] z.B. ein Versuch, einen bundesweiten "plattformistischen" anarchakommunistischen Organisationszusammenhang aufzubauen und im Rahmen einer eigenen Schriftenreihe eine theoretische Debatte anzustoßen.<br />
<br />
Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxistismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff. Die Rojava-Solidarität vereint heute ein politisches Spektrum, dass von der MLPD über die verschiedenen roten Gruppen, die iL, die Linkspartei und bis zu den antinationalen und antideutschen Zusammenhängen reicht.<br />
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==Bezug zu unseren Grundannahmen==<br />
==Wie wollen wir den Dissens klären?==<br />
==Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?==</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Der_Klassencharakter_des_b%C3%BCrgerlichen_Staats&diff=6978Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats2020-01-09T10:42:27Z<p>Dio: /* "Akkumulationsregime" (Regulationsschule) */</p>
<hr />
<div>Zurück zur [[AG Formen bürgerlicher Herrschaft]]<br />
==Überblick==<br />
Dieser Artikel soll einen ersten groben Überblick über die verschiedenen Auffassungen zum Klassencharakter des bürgerlichen Staats innerhalb des kommunistischen und im weiteren Sinne "linken" Spektrums geben. Ist der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" die organisierte politische Macht der gesamten Bourgeosie und damit das Instrument ihrer Klassenherrschaft? Oder ist der Staat an sich ein klassenneutraler Apparat, der sowohl für die Zwecke der Kapitalistenklasse, als auch im Interesse der Arbeiter in Bewegung gesetzt werden kann? Ist der Staat im Stadium des Imperialismus nur noch das Herrschaftsinstrument eines kleinen Teils der Kapitalisten, der Monopolbourgeoisie, die ihre Macht mit Hilfe des Staats auch gegen die "kleine und mittlere Bourgeoisie" durchsetzt? Oder ist der bürgerliche Staat nach 1945 gar zu einer "echten Demokratie" geworden, in der die politische Macht nicht mehr von den besitzenden Klassen ausgeht, sondern von der demokratischen Mehrheit?<br />
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Die Unterschiede in der Analyse und die Einschätzung des Klassencharakters des bürgerlichen Staats haben weitreichende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung. Die sich daraus ergebenden Dissense werden an anderer Stelle unter dem Stichwort "'''[[Staat und Revolution]]'''" dargestellt.<br />
<br />
===Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise"===<br />
Die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus (Marx, Engels, Lenin) bestimmten den bürgerlichen Staat als "ideellen Gesamtkapitalisten" und als Instrument der "Diktatur der Bourgeosie". <br />
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Schon im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 schrieben Marx und Engels: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. […] Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." <ref> Marx, K., Engels, F.: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, Berlin/DDR 1977, S. 464/482. </ref> Diese Definition des Staates als „Ausschuss“ zur Regelung der „gemeinschaftlichen Geschäfte“ der Bourgeoisie deckt sich mit der späteren Formulierung von Engels, in der er den bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnete: "Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten […] nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. <ref> Engels,F.: Zur Wohnungsfrage, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 18, Berlin/DDR 1973, S.257-258.</ref> Der Staat schützt die kapitalistische Produktionsweise sowohl gegen den Widerstand der Arbeiter als auch gegen die sich widersprechenden Einzelinteressen individueller Kapitalisten. Laut Engels setzt der „ideelle Gesamtkapitalist“ also das Interesse der gesamten herrschenden Klasse nicht nur gegenüber dem Proletariat, sondern auch gegenüber ihrer einzelnen Klassenindividuen durch: "Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." <ref> Engels,F.: Anti-Dühring (1877), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 20, S. 260.</ref> <br />
<br />
Der Staat ist also einerseits Instrument zur Unterdrückung der Arbeiter und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse, gleichzeitig ist er notwendig, um die Bourgeoisie über die kapitalistische Konkurrenz hinweg zu Kompromissen zu zwingen und sie so erst als herrschende Klasse zu organisieren.<br />
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Lenin führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine scharfe Polemik gegen die Revisionisten und Reformisten in der deutschen und russichen Sozialdemokratie. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fasste er die Staatsauffassung von Marx und Engels in seiner Schrift ''Staat und Revolution'' (1917) zusammen: "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen 'Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. <ref> Lenin, W.I.: Staat und Revolution, in: in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Lenin Werke Bd. 25, Berlin/DDR 1974, S. 399. </ref> Der Staat ist demnach eine Macht, "die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben. Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt ‚nicht mehr unmittelbar zusammenfällt‘ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer ‚selbsttätigen bewaffneten Organisation‘. [...] Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?" <ref> ebd., S. 401.</ref><br />
Abschließend fasste Lenin seine Studien zur marxschen Staatsauffasung in der Bestimmung des bürgerlichen Staats als „Diktatur der Bourgeoisie“ zusammen: "Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist […]. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie." <ref> ebd., S. 425.</ref><br />
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Von dieser Analyse ausgehend formulierten die Klassiker die strategische Orientierung auf die "Zerschlagung des bürgerlichen Staats" und die Errichtung der "Diktatur des Proletariats". Siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]].<br />
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Für eine ausführlichere Darstellungen der Annahmen der Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus zum Staat, siehe: [[Grundannahmen Staat]]<br />
<br />
===Der Staat als klassenneutrales Instrument===<br />
Vertreter dieser Auffassung gehen davon aus, dass der bürgerliche Staat und seine Organisationsapparate an sich klassenneutrale Instrumente seien. Das heißt sie werden unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen zwar von der Bourgeoisie benutzt, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen, die Arbeiterklasse niederzuhalten und die Bedingungen der Kapitalakkumulation möglichst günstig zu gestalten, könnten unter anderen Bedingungen (z.B. nach dem Wahlsieg einer Arbeiterpartei) jedoch genausogut im Interese des Proletariats in Bewegung gesetzt werden (z.B. um den Kapitalismus durch Sozialreformen allmählich in den Sozialismus zu überführen). Die Instrumente selbst, also die Staatsorganisationen vom Parlament über die Verwaltungs- bis hin zu den Repressionsorganen, verhalten sich dieser Auffassung nach also neutral zu den Zwecken ihrer Anwendung. Weder ihre konkrete Organisationsform noch das Personal, aus dem sie bestehen, tragen demnach Klassencharakter. Diese Auffassung steht im Widerspruch zu der Position, der bürgerliche Staat sei seiner Form und seinem Klasseninhalt nach "ideeller Gesamtkapitalist" und Ausdruck der "Diktatur der Bourgeoisie" (s.o.).<br />
<br />
'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):'''<br />
Die klassischen Vertreter einer solchen Staatsauffassung waren die „Revisionisten“ in der deutschen Sozialdemokratie, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen und zentrale Annahmen des wissenschaftlichen Sozialismus zu "revidieren" begannen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Eduard Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. <br />
<br />
Bernstein bestritt in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899) die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Aufhebung des bürgerlichen Staates und schlug stattdessen einen friedlichen und demokratischen Reformweg zum Sozialismus vor. Bernstein argumentiert, die bisherige Ausrichtung der Sozialdemokratie auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus sei durch die Realität überholt. Das kapitalistische System habe sich als weitgehend krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, ein „Zusammenbruch“ des Kapitalismus bzw. eine revolutionäre Situation sei nicht mehr zu erwarten. Die Aufgabe der SPD sei es nun, im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch „Sozialreformen“ Verbesserungen für die Arbeiterklasse und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards zwischen den Klassen durchzusetzen. Den Weg, um diese Ziele zu erreichen, sah Bernstein in der schrittweisen Ausdehnung des parlamentarischen Einflusses der Sozialdemokratie bis hin zur Übernahme der Regierung. Diese würde dann weitreichende Reformen im Sinne der Arbeiterklasse und des Sozialismus durchsetzen. Das entsprechende Credo des Reformismus lautete: „Der Weg ist alles, das Ziel ist nichts“.<br />
<br />
Der klassische Reformismus setzt notwendig eine bestimmte Auffassung über den bürgerlichen Staat voraus. Wenn es möglich sein soll, den Kapitalismus allmählich durch Sozialreformen zu überwinden, so muss es auch möglich sein, dass die Arbeiterklasse diese Reformen im Staatsapparat gegen den Willen der Bourgeoisie durchsetzt oder diese zumindest zu Kompromissen zwingt – und zwar so weit, dass die Gesellschaft immer mehr sozialistische Züge annimmt und der Staat letztlich aufhört, bürgerlicher Staat zu sein und allmählich zu einem Instrument in den Händen der Arbeiterklasse wird. Dieses Instrument an sich muss also „klassenneutral“ sein und je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse sich entwickeln, kann es sowohl von der einen, als auch von der anderen Klasse kontrolliert und im eigenen Interesse eingesetzt werden. Der Staat steht in dieser rein instrumentalistischen Sichtweise der ihm zugrunde liegenden Produktionsweise also äußerlich gegenüber, er besitzt keine innere Verbindung zu ihr. Der Überbau scheint unabhängig von seiner ökonomischen Basis agieren zu können. Der bürgerliche Staat wird aus dieser Sichtweise nicht als spezifisches, den Klasseninteressen der Bourgeoisie entsprechend geformtes Werkzeug verstanden. Ergo kann das Proletariat dieses Werkzeug unverändert übernehmen, anstatt sich einen eigenen Apparat zu schaffen, der den spezifischen Erfordernissen und Klasseninteressen der Arbeitermacht entspricht.<br />
<br />
'''Eurokommunismus:'''<br />
Ab den 1970er Jahren knüpften die sogenannten "Eurokommunisten" mit vielen ihrer Positionen an die theoretische Tradition des klassischen Revisionismus an, begründeten ihre Haltung aber damit, dass die Kräfteverhältnisse und somit auch der Charakter des bürgerlichen Staates sich nach 1945 grundlegend geändert hätten. Daher seien der „sowjetische Weg zum Sozialismus“ und die "Diktatur des Proletariats" als historischer Sonderfall überholt und Europa mittlerweile in eine Epoche der demokratischen Übergänge eingetreten. Sie vertraten die Einschätzung, die bürgerliche Demokratie sei nach dem Sieg über den Faschismus im Westen zu sehr gefestigt, als dass die Herrschenden gewaltsam gegen einen demokratischen Übergang zum Sozialismus vorgehen könnten. Die Hauptvertreter des Eurokommunismus waren die kommunistischen Parteien Frankreichs (PCF), Italiens (PCI) und Spaniens (PCE).<br />
<br />
Die eurokommunistische Strategie des friedlichen, parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus ging mehr oder weniger offen davon aus, dass der Staat als ein „Feld im Klassenkampf" aufzufassen sei, auf dem sich zwar die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen widerspiegeln, das an sich aber klassenneutral sei. Durch Veränderungen der politischen Mehrheiten sollten der Staat und seine Institutionen durch die Kommunisten kontrolliert und im Sinne der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden. Die Regierung sollte ein Reformprogramm umsetzen, das die Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung Sozialismus entwickeln würde. Auch im Sozialismus sollte der bürgerlich-liberale Parlamentarismus als politische Herrschaftsform bruchlos beibehalten werden: „Die repräsentative Demokratie, kombiniert mit Formen der direkten Demokratie, kann ohne weiteres auch die Form des sozialistischen Systems sein.“<ref> Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen, Rom 1977, URL: https://www.zeit.de/1977/29/der-haeretiker-aus-asturien (letzter Zugriff: 21.12.2019).</ref> In Teilen der eurokommunistischen Strömung wurde sogar die Notwendigkeit der Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Länder in imperialistischen Staatenbündnissen wie der EG und der NATO offen verteidigt. Ausführlich dargelegt ist das Staatsverständnis der Eurokommunisten in Santiago Carrillos ''Eurokommunismus und Staat''<ref>Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.</ref>. <br />
<br />
Ausführlicherer Artikel: [[Eurokommunistische Staatsauffassung]]<br />
<br />
'''Andere Vertreter:'''<br />
Auch heute gibt es zahlreiche "linke" Vertreter dieser Auffassung. Die Annahme, der bürgerliche Staat sei ein grundsätzlich klassenneutrales Instrument, bildet die Voraussetzung jeder Strategie, die auf den Eintritt in die bürgerliche Regierung zum Zweck der Umsetzung von Reformen abzielt. Das gilt eindeutig für die deutsche ''Linkspartei'' und ihre europäischen Geschwisterorganisationen, allen voran die einflussreiche griechische ''SYRIZA''. Auch die "antimonopolistische Strategie" der DKP unterstellt letztlich eine Klassenneutralität des Staates der Monopole (s.u.). In unterschiedlichen Abstufungen wird diese Auffassung auch von den "bolivarischen Bewegungen" bzw. den Vertretern eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien etc. vertreten.<br />
<br />
===Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole===<br />
Eine seit 1945 weit verbreitete Position geht davon aus, dass der bürgerliche Staat im Monopolkapitalismus nicht mehr das Interesse der gesamten herrschenden Klasse vertritt, sondern sich zum alleinigen Herrschaftsinstrument der Monopole entwickelt. Diese Vorstellung beruft sich häufig auf die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (s.o.) und ist eng verbunden mit den verschiedenen Varianten der [[Strategie der Übergänge]]. <br />
<br />
'''Deutsche Kommunistische Partei (DKP):'''<br />
Die DKP vertritt seit ihrer Gründung eine Strategie der "antimonopolistischen Demokratie" (im folgenden: AMD). Diese wurde erstmals im Programm von 1978 explizit ausformuliert und beschlossen. Auch im Programm von 2006 bildet die AMD, von einigen kleineren Relativierungen abgesehen, noch immer den Kern der strategischen Vorstellungen der DKP. <br />
<br />
Zu den wichtigsten Grundannahmen der AMD gehört, dass der bürgerliche Staat zu einem Instrument in den Händen der Monopole, also einer Handvoll Finanzoligarchen innerhalb der Bourgeoisie, geworden ist. Der Staat, so die These, setze deren Profitinteressen rigoros gegen alle „nicht-monopolistischen Schichten“, also nicht nur gegen die Arbeiterklasse und alle anderen Werktätigen, sondern auch gegen die „kleine und mittlere Bourgeoisie“ durch. Der bürgerliche Staat vernachlässigt aus dieser Sicht also gewissermaßen seine Aufgabe als „ideeller Gesamtkapitalist“ und verkörpert gegenüber der gesamten Gesellschaft (und einem Großteil der Bourgeoisie) nicht mehr das langfristige Gesamtinteresse aller Kapitalisten, sondern einseitig das Partikularinteresse des Monopolkapitals. <br />
<br />
Im DKP-Programm von 2006 heißt es dazu: "Als Machtinstrument der Monopolbourgeoisie setzt er [der Staat] immer unverblümter eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durch. An die Stelle der sozialen Integration tritt die Konfrontation. Der bürgerliche Staat verliert tendenziell seine Fähigkeit zur sozialen und politischen Vermittlung, weil die Basis für die Organisierung stabilerer sozialer Kompromisse, die größere Teile der Gesellschaft einbeziehen, verloren geht. So wird die bürgerliche Demokratie ausgehöhlt und verliert ihren Inhalt. Bei Beibehaltung formaler Demokratie vollzieht sich der Übergang vom 'Sozialstaat' zum autoritären 'Sicherheitsstaat'." <ref> Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Duisburg 2006, S. 12. </ref> <br />
<br />
Damit wird zwar der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht geleugnet, aber eine neue strategische Bruchlinie zwischen den Monopolen und allen „nicht-monopolistischen“ Schichten aufgemacht, die aus dieser Sicht nun in Opposition zum "Staat der Monopole" geraten. Entlang dieser Linie soll sich ein „antimonopolistisches Bündnis“ formieren, das neben der Arbeiterklasse nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch bedeutende Teile der „nicht-monopolistischen“ Bourgeoisie umfassen soll <ref> Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Duisburg 2006, S. 33. </ref> . Dieses Bündnis hat zwar nicht den Sozialismus zum Ziel, wohl aber eine Zwischenetappe der „antimonopolistischen Übergänge“, in deren Rahmen die Kommunisten sich an der Regierungsmacht beteiligen und zunächst im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise eine politische „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ durchsetzen sollen.<br />
<br />
Diese Vorstellung eines weitgehend bruchlosen Übergangs des Staatsapparats aus den Händen der einen in die Hände der anderen Klasse unterstellt eine instrumentalistische Sicht auf den Staat und behandelt diesen in letzter Konsequenz als ''klassenneutrales Werkzeug'' (s.o.). Zugespitzt formuliert: Der Klassencharakter des Staates scheint sich aus Sicht der Vertreter der antimonopolistischen Strategie nicht aus seiner Funktionsweise und seinem Wesen, sondern aus den politischen Kräfteverhältnissen zu ergeben. Ändert die Regierung ihren Klassencharakter von „monopolistisch“ zu „nicht-monopolistisch“, so ändert sich demzufolge auch der Klassencharakter des Staates. <br />
<br />
Hier geht es zu einer längeren Version dieses Artikels: [[„Antimonopolistische_Demokratie“_(DKP)|„Antimonopolistische Demokratie“ (DKP)]]<br />
<br />
'''Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD):'''<br />
Zu den wichtigsten Alleinstellungsmerkmalen der Theorie und Programmatik der MLPD gehört der Begriff der „Übermonopole“ (siehe dazu den entsprechenden Artikel [[Imperialismus_als_Weltsystem|"Imperialismus als Weltsystem"]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus), der auch ihre Analyse des bürgerlichen Staats der Gegenwart wesentlich prägt. In ihrem Parteiprogramm schreibt die MLPD: "Die hier ansässigen internationalen Übermonopole, die zum allein herrschenden internationalen Finanzkapital gehören, haben sich den Staat vollkommen untergeordnet, und die Organe des Monopolkapitals sind mit den Organen des Staatsapparats verschmolzen. Sie haben ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft, auch über andere Monopole und die nicht monopolisierten Kapitalisten, errichtet. Über die Organe der EU nehmen sie Einfluss auf andere europäische Staaten." <ref>Programm der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (2016), S. 31, URL: https://www.mlpd.de/parteiprogramm (letzter Zugriff: 09.01.2019)</ref> <br />
<br />
Die MLPD geht also davon aus, dass sich diese „Übermonopole“ den bürgerlichen Staat „vollkommen untergeordnet“ haben – aus dieser Formulierung kann geschlussfolgert werden, dass der Staat nicht mehr als „ideeller Gesamtkapitalist“ das Gesamtinteresse des Kapitals vertritt, sondern von der Fraktion der „Übermonopole“ bzw. des „allein herrschenden Finanzkapitals“ allen anderen Teilen der Bourgeoisie gegenüber als Herrschaftsinstrument benutzt wird. Zudem geht die MLPD davon aus, dass die „Organe des Monopolkapitals“, die im vorangegangenen Stadium des Kapitalismus scheinbar noch unabhängig vom und außerhalb des Staatsapparates existierten, heute vollständig mit diesem „verschmolzen“ sind. <br />
<br />
Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Programmatik der MLPD findet sich hier: [https://kommunistische.org/diskussion/einschaetzung-der-programmatik-der-mlpd/ Philipp Kissel, Einschätzung der Programmatik der MLPD].<br />
<br />
===Staatsmonopolistischer Kapitalismus===<br />
Hier soll kurz dargestellt werden, wie die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus den Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt. In welchem Verhältnis stehen Staat und Monopole zueinander? Ist der Staat alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole oder auch "ideeller Gesamtkapitalist", also Ausdruck der Herrschaft der gesamten Bourgeoisie?<br />
<br />
'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
<br />
Siehe hierzu auch den Dissens [[Monopole und Staat]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus.<br />
<br />
===Der Staat als "echte Demokratie"===<br />
Die Position, der bürgerliche Parlamentarismus auf der ökonomischen Basis der kapitalistischen Produktionsweise sei eine "echte Demokratie" läuft letztlich auf die Position hinaus, die gesellschaftlichen Verhältnisse würden nicht von der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie, sondern von der politischen Mehrheit bestimmt. Die Frage des Klassencharakters der Staats wird also reduziert auf eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Je nach dem, ob die Bourgeoisie oder die Arbeiterklasse im demokratischen Prozess mehr Kontrolle über den Staatsapparat ausübt, verschiebt sich auch dessen Klassencharakter. Diese Auffassung setzt zugleich ein Verständnis des Staates als ''klassenneutrales Instrument'' voraus (s. o.). <br />
<br />
'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):''' <br />
Die Vorstellung einer fortschreitenden Demokratisierung des bürgerlichen Staats und einer damit einhergehenden Verwandlung seines Klassencharakters spielten eine zentrale Rolle im Denken des klassischen Revisionismus. Rosa Luxemburg polemisierte schon 1899 gegen Eduard Bernstein: „die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie [sei] eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie.“ <ref> Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), Zweiter Teil </ref> Bürgerliche Demokratie und Parlamentarismus waren für Bernstein nicht taktische Mittel im Klassenkampf, sondern tatsächlicher Ausdruck der Herrschaft durch das Volk bzw. die Mehrheit, also der Arbeiterklasse: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. […] Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“<ref>Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.154-156.</ref> Für die Strategie der Arbeiterbewegung heißt das: „die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.“<ref>Ebd., S. 154-156.</ref> Die Arbeiterbewegung soll sich also darauf beschränken, im legalen Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus für Reformen und schrittweise Verbesserungen zu kämpfen. Der bürgerliche Staat ist dabei nicht ihr Gegner, sondern ihr Werkzeug. Die taktische Herausforderung besteht demnach einzig darin, auf demokratischem Weg in die Position zu gelangen, dieses Werkzeug für die eigenen Zwecke nutzen zu können.<br />
<br />
'''Position von SYRIZA:''' <br />
Die griechische "Linkspartei" SYRIZA argumentiert in ihrem Regierungsprogramm, „der Staat [sei] keine Festung, sondern ein Netzwerk, ein Verhältnis und eine strategische Arena für den politischen Kampf. Er verändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, im Gegenteil, seine notwendige Transformation hat konstante und kontinuierliche Kämpfe zur Voraussetzung, die Einbeziehung des Volkes, ständige Demokratisierung.“ (Quelle: S''YRIZAs Regierungsprogramm''<ref>Zitiert nach einem auf Englisch erschienenen Artikel der KKE, ins Deutsche Übersetzt. URL: https://inter.kke.gr/en/articles/Criticism-of-certain-contemporary-opportunist-views-on-the-state/ (9.01.2019)</ref>) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der bürgerliche Staat von SYRIZA nicht seinem Wesen nach als ein Organ der bürgerlichen Klassenherrschaft angesehen, sondern als eine Ansammlung von Institutionen, die im Interesse des Volkes „transformiert“ werden können. Auf Grundlage dieser Sichtweise wird argumentiert, dass der Charakter des bürgerlichen Staats durch die richtigen politischen Kräfteverhältnisse geformt oder gar "transformiert" werden kann, solange sich nur „linke Regierungen“ durchsetzen können. <br />
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'''Position der DKP:''' <br />
Die DKP bleibt in ihrer Einschätzung der bürgerlichen Demokratie widersprüchlich. Einerseits ist in ihrem Programm von 2006 zwar die Rede davon, dass sich durch die "Globalisierung" die "Tendenz zur Reaktion" verschärft, dass die Demokratie untergraben wird (S. 12) und dass letztlich eine "revolutionäre Überwindung" (S. 28) des Kapitalismus nötig sei. Andererseits gehört es jedoch zu den Kernthesen ihrer "antimonopolistischen Startegie", dass noch auf dem Boden der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und innerhalb des institutionellen Rahmens des bürgerlichen Staats umfassende Reformen und sogar eine "antimonopolistisch-demokratische Umgestaltung" (S. 32) möglich seien: "Je mehr es dabei gelingt, Veränderungen im Sinne von Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, von demokratischer Kontrolle, von Entmilitarisierung und Demokratisierung in Staat und Gesellschaft zu erreichen, je größer der Einfluss der demokratischen und sozialistischen Kräfte überall dort ist, wo Meinungsbildung stattfindet, desto besser sind die Chancen im Kampf um die Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und für die Öffnung des Weges zum Sozialismus. [...] Es geht um die [...] demokratische Einflussnahme auf den staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus im nationalen Rahmen wie im Rahmen der Europäischen Union und anderer internationaler staatsmonopolistischer Institutionen". (S. 30) Diese Vorstellung läuft letztlich also darauf hinaus, die Kommunisten und „Demokraten“ könnten den ideellen Gesamtkapitalisten dem Einfluss der Klasseninteressen der Bourgeoisie entreißen und ihrem eigenen politischen Willen unterwerfen.<br />
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'''Andere Vertreter:''' Ebenfalls weit verbreitet sind Vorstellungen über den demokratischen Charakter des bürgerlichen Staats in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dort gehört der Begriff der „Mitbestimmung“ nicht umsonst zum ideologischen Kernrepertoire. Die Vorstellung, im Betrieb ließe sich zwischen Kapital und Arbeit auf Augenhöhe eine demokratische Mitbestimmung und dadurch ein Interessenausgleich verwirklichen, bildet das Herzstück der Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Ähnliche Sichtweisen werden heute außerdem in einer Reihe lateinamerikanischer Länder gepflegt. Verschiedene „fortschrittliche“ und „linke“ Regierungen versuchen unter dem Banner des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bzw. der „bolivarischen Revolution“ das bürgerliche Staatssystem durch Gesetzesreformen und Volksabstimmungen grundlegend zu veränden.<br />
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==="Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci)===<br />
Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, verfasste in den 1920er und 30er Jahren in faschistischer Gefangenschaft seine „Gefängnishefte“, ein umfangreiches theoretisches Werk, dessen einzelne Bestandteile Gramsci unter den Bedingungen seiner Haft leider nicht mehr zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen konnte. Zu den wichtigsten Aspekten dieses Werks gehören Gramscis Überlegungen zur besonderen Form der Herrschaft der Bourgeoisie in den entwickelten imperialistischen Ländern und die daraus abgeleiteten Weiterentwicklungen der marxistischen Staatstheorie.<br />
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In den Gefängnisheften bringt Gramsci den Staat und die Herrschaft der Bourgeoisie auf die kurze Formel: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang" (H. 6, §88., S. 783)<ref>Antonio Gramsci, Gefängnisgefte. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1991. Im Folgenden wird aus den Gefängnisheften nur noch in Klammern nach Heft Nr., Paragraph und Seitenzahl zitiert.</ref><br />
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Gramsci weitet den Staatsbegriff damit aus und entwickelt sein Konzept des "integralen Staates". Dieser umfasst einerseits die "politische Gesellschaft", womit alle explizit staatlichen Strukturen und Institutionen gemeint sind, also das Parlament, die Beamtenapparate, die Repressionsorgane, die staatlichen Bildungseinrichtungen etc. Andererseits betrachtet Gramsci aber auch die "Zivilgesellschaft" als Teil der bürgerlichen Staatlichkeit. Gemeint sind damit alle Strukturen außerhalb der Staatsapparate, über die die Bourgeoisie ihre Herrschaft absichert, also private Medien, Bildungsstätten, Institute, Stiftungen, Clubs, Thinktanks etc. Mit Blick auf den Sieg der Oktoberrevolution in Russland und die darauffolgenden Niederlagen der Revolutionsversuche in Westeuropa schrieb Gramsci: "Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand;" (H. 7, §16., S. 873-874) An anderer Stelle heißt es: "zumindest was die fortgeschrittenen Staaten angeht, wo die 'Zivilgesellschaft' eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften 'Durchbrüchen' des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg." (H. 13, §14, S. 1553-1554) Die Stabilität der bürgerlichen Herrschaft hängt demnach also wesentlich davon ab, inwieweit die Zivilgesellschaft herausgebildet und die "Hegemonie" der Bourgeoisie enwickelt ist. <br />
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Mit dem Begriff der Hegemonie versucht Gramsci der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass sich die Macht der Bourgeoisie nicht nur auf das Staatliche Gewaltmonopol und die Repressionsapparate stützt, sondern wesentlich über ideologische Integration und die Erzeugung von "Konsens" abgesichert wird. Hegemonie bezeichnet also die politisch-ideologische Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über eine andere. "Die 'normale' Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne daß der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt, sondern im Gegenteil sogar versucht wird, zu erreichen, daß der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint […]" (H. 13, §37, S. 1607-1613). Konsens bezeichnet hier einen Zustand, in dem die Beherrschten die Herrschaft zumindest passiv ertragen oder sogar aktiv die Sichtweise übernehmen, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse entsprächen auch ihren Interessen und seien die bestmöglichen. Gramsci schreibt, dass "eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. […] Die politische Führung wird zu einem Aspekt der Herrschaft, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Klassen zur Enthauptung derselben und zu ihrer Machtlosigkeit führt. Es kann und muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben." (H. 1, §44, S. 101-113) <br />
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Heute wird der Begriff der Hegemonie fast ausschließlich Gramsci zugeschrieben, dabei war er zu dessen Lebzeiten unter den Theoretikern der Kommunistischen Internationale weit verbreitet und wurde breit diskutiert. Wie Buci-Glucksmann bemerkt, war er "im gesamten Marxismus der Dritten Internationale überaus geläufig. Man findet ihn vor allem unter der Feder Lenins vor 1917, aber auch später. Man finet ihn ebenso oft bei Bela Kun, Varga, Stalin, und vor allem Bucharin, der ihn in einer Weise benutzte, die der Gramscis nahezustehen scheinen könnte". <ref>Buci-Glucksmann, Gramsci und der Staat, S. 17.</ref> <br />
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Die "führende Klasse" oder Klassenfraktion ist laut Gramsci in ihrem Ringen um Hegemonie also in der Regel darum bemührt, alle anderen Fraktionen ihrer Klasse und ihrer "verbündeten Klassen" in ihren "Block an der Macht" zu integrieren. Das gelingt nur, indem sie mit diesen anderen Fraktionen ein Komprimissprogramm aushandelt, das bestmöglich das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse zusammenfasst und deren innere Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Der Ort, an dem diese Kompromisse ausgehandelt und schließlich in politische Praxis übersetzt werden, ist der bürgerliche Staat selbst. Gegenüber den "feindlichen Klassen" (also dem Proletariat und den anderen Werktätigen) tritt die Bourgeoisie als "herrschend" auf, sie übt ihre Hegemonie einerseits durch Integration ihrer ideologischen Führer und andererseits durch materielle Zugeständnisse aus: "Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, daß sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, daß also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, daß solche Opfer und ein solcher Kompromiß nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt." (H. 13, §18, S. 1565-1573) Gramsci beschreibt in dieser Formulierung den grundsätzlichen Klassencharakter des Staates. Die Kompromisse können nie "das Wesentliche" betreffen - also die kapitalistische Produktionsweise - sondern sich nur in deren Rahmen bewegen. <br />
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Gramscis Staatstheorie knüpft eindeutig an die Auffassung des Staats als "ideeller Gesamtkapitalist" (s.o.) an, indem sie einerseits die Integration der gesamten herrschenden Klasse in einem "historischen Block" betont und andererseits die zumindest passive Einbindung der Beherrschten im Rahmen der Hegemonie betont. Mit einer Staatsauffassung, die den bürgerlichen Staat im Monopolkapitalismus als "alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole" (s.o.) versteht, ist Gramscis Ansatz kaum zu vereinbaren. <br />
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Mit Blick auf den Staat schreibt Gramsci außerdem, dieser sei "das Instrument zur Anpassung der Zivilgesellschaft an die ökonomische Struktur". (H. 10.II, §15, S. 1267) Dabei spielen Medien und andere ideologische Apparate eine entscheidende Rolle: "Was 'öffentliche Meinung' genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der 'Zivilgesellschaft' und der 'politischen Gesellschaft', zwischen dem Konsens und der Gewalt. Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft. […] die öffentliche Meinung, wie sie heute Verstanden wird, ist am Vorabend des Untergangs der absolutistischen Staaten entstanden, das heißt in der Zeit des Kampfes der neuen bürgerlichen Klasse um die politische Hegemonie und die Erlangung der Macht. […] [Es entbrennt ein] Kampf ums Monopol der Organe der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, Parlament". (H. 7, §83, S. 916-917)<br />
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Verliert die herrschende Klasse ihre Hegemonie, so kommt es zur "Hegemonie-" bzw. "Autoritätskrise": "Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr 'führend', sondern einzig 'herrschend' ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die große Masse sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann". (H. 3, §34, S. 354-355) Der Verlust der Hegemonie darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem automatischen Verlust der Macht, schließlich verfügt die herrschende Klasse auch bei schwindendem Konsens noch immer über die Mittel des Zwangs. <br />
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Zu den strategischen Schlussfolgerungen, die Gramsci aus seiner Staatstheorie ableitete, siehe den Dissens-Artikel zu [[Staat und Revolution]] und dort den Abschnitt "Bewegungs- und Stellungskrieg". <br />
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Einige offene Fragen zu Gramsci und seiner Staatstheorie werden von unserer AG tiefergehend behandelt werden: Handelt es sich dabei um einen wegweisenden Beitrag zur marxistischen Staatstheorie im Zeitalter des Imperialismus und des entwickelten bürgerlichen Staats, an den die Kommunisten anknüpfen und den sie weiterentwickeln müssen? Oder enthält Gramscis Theorie bereits wesentliche revisionistische Abweichungen, die es den verschiedenen opportunistischen Strömungen, die sich heute auf ihn berufen, leicht machen, seine Theorie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?<br />
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==="Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas)===<br />
Nicos Poulantzas war ein griechischer Theoretiker, der in den 1960er und 70er Jahren eine Reihe an marxistischen Studien verfasste. Er sympathisierte nach 1968 mit der eurokommunistischen griechischen kommunistischen Partei des Inlands (KKE-Inland) und stand – in Frankreich lebend - in kritischer Distanz zur Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). In seinen klassen- und staatstheoretischen Schriften ist der Einfluss u.a. von Louis Althussers Strukturalismus sowie [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #"Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci) | Antonio Gramscis Hegemonietheorie]] sichtbar. In der marxistischen Debatte um den Staat hat Poulantzas tiefe Spuren hinterlassen, was primär zurückgeführt werden kann auf seine Konzeption des Staates als „Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“. Historisch bedeutsam war dabei zunächst die Auseinandersetzung mit Ralph Miliband; im deutschsprachigen Raum wurde seine Theorie u.a. über Joachim Hirsch und Alex Demirovic wieder in die Diskussion eingebracht.<br />
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Poulantzas formuliert in der Einleitung zur ''Staatstheorie'' den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Es ist nicht der Klassencharakter des Staates, der zur Debatte steht: „Jeder Staat ist ein Klassenstaat; jede politische Herrschaft ist Klassendiktatur; der kapitalistische Staat ist ein Staat der Bourgeoisie; der kapitalistische Staat im Allgemeinen und jeder kapitalistische Staat im Besonderen sind Diktaturen der Bourgeoisie“ <ref> Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Sozialistische Demokratie, Hamburg 1978, S. 155.</ref>, all dies sind für ihn „Banalitäten“ - zwar richtig, aber nicht weiter ausführenswert. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, vielmehr stellt es sich hier neu: „[W]arum greift die Bourgeoisie in ihrer Herrschaft auf diesen nationalen Volksstaat zurück, diesen modernen Repräsentativ-Staat mit seinen spezifischen Institutionen, und nicht auf einen anderen? Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich genau diesen Staat aussuchen würden, wenn sie den Staat komplett selbst und nach ihrem Geschmack aufbauen würden.“ <ref> ebd. S.40.</ref> Eine verwandte Frage hatte bereits der sowjetische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis knapp 50 Jahre, vorher gestellt: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“ Poulantzas gibt in der Einleitung auch eine vorläufige, knappe Antwort auf die von ihm formulierte Frage: „Der Staat stellt ein materielles Gerüst dar, das in keiner Weise auf die politische Herrschaft reduziert werden kann. Der Staatsapparat, dieses besondere und furchterregende Etwas, erschöpft sich nicht in der Staatsmacht. [...] Wenn der Staat nicht einfach ein vollständiges Produkt der herrschenden Klassen ist, so haben sie sich seiner auch nicht einfach bemächtigt: Die Macht des Staates (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) hat in dieser Materialität ihre Spuren hinterlassen. Die Handlungen des Staates reduzieren sich nicht auf die politische Herrschaft, sie sind jedoch konstitutiv von ihr gezeichnet.“ <ref> ebd. S.42.</ref> <br />
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Eine wichtige Aufgabe des Staates sieht Poulantzas in der Repräsentation und Organisation der herrschenden und der Desorganisation der beherrschten Klassen. Die Bourgeoisie ist keine widerspruchsfreie Einheit. Sie verfolgt zwar zwangsläufig als Klasse einheitlich das Ziel der Kapitalverwertung, dieses Ziel bringt sie aber auch in direkte Konkurrenz untereinander, weshalb, wie Engels sagt, der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert. Poulantzas zufolge ist die Kapitalistenklasse in Klassenfraktionen gespalten, die unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Interessen verfolgen. Diese Klassenfraktionen formieren sich unter der Hegemonie einer Fraktion zu einem „Block an der Macht“, in welchen auch andere herrschende Klassen miteinbezogen werden. Die Hegemonie einer Fraktion bedeutet dabei, dass diese die äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Sinne optimieren kann; und diese Hegemonie erst ermöglicht die Einheit dieses Blocks gegenüber den beherrschten Klassen. Poulantzas betont, dass nicht nur Teile der Bourgeoisie (etwa das Monopolkapital) den Machtblock stemmen: „Diese bürgerlichen Fraktionen sind in ihrer Gesamtheit, obwohl in unterschiedlichem Maße, auf dem Terrain der politischen Herrschaft angesiedelt, und gehören somit immer zum Block an der Macht“.<ref> ebd. S.159.</ref> Dieser Machtblock ist aber konfliktdurchzogen, er stellt ein umkämpftes, instabiles Kompromissgleichgewicht dar: „Der Machtblock stellt eine von inneren Widersprüchen gekennzeichnete Einheit von politisch herrschenden Klassen und Fraktionen unter dem Schutz der hegemonialen Fraktion dar. Der Klassenkampf, die Interessenrivalitäten zwischen den gesellschaftlichen Kräften sind darin ständig gegenwärtig, wobei diese Interessen ihren spezifischen Antagonismus bewahren“ (PMGK, S. 239). In diesem Sinne ist die konkrete Politik des Staates und die Hegemonie im Machtblock immer umkämpft, und dieser Kampf wird im Staat, in seinen ideologischen (Medien, Think Tanks, …) aber auch repressiven Apparaten (Polizei, Armee, …) ausgetragen.<br />
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Um die „Rolle der Vereinheitlichung und Organisierung der Bourgeoisie und des Blocks an der Macht“ <ref> ebd. S.158.</ref> zu erfüllen, muss der Staat laut Poulantzas eine „relative Autonomie“ gegenüber den einzelnen Bestandteilen des Blocks bewahren: „Unter relativer Autonomie dieses Staatstyps verstehe ich […] das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Feld des Klassenkampfes, insbesondere seine relative Autonomie gegenüber den Klassen oder Fraktionen des Machtblocks und in erweiterter Form auch gegenüber seinen Verbündeten oder Stützen […] Ich hoffe, damit klar genug die Distanz auszudrücken, die diese Auffassung des Staats von einer simplifizierten und vulgarisierten Auffassung des Staats trennt, die in ihm das Werkzeug oder Instrument der herrschenden Klasse sieht“ (PMGK S. 256).<br />
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Der Staat als Instrument (siehe auch die Abschnitte zum Staat als [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als klassenneutrales Instrument | klassenneutrales Instrument]] und als [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole | alleiniges Instrument der Monopole]]) und der [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt) | Staat als Subjekt]]: dies beides sind aus Poulantzas‘ Sicht falsche Staatsverständnisse, die er umschiffen will mit dem Verständnis des Staates als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses. Der Staat als Instrument/Werkzeug/Sache unterstellt eine Passivität oder Neutralität des Staates. Dieser wird als ein Apparat verstanden, der zur Ausübung der politischen Macht von der herrschenden Klasse oder auch einer Klassenfraktion verwendet wird, der aber eben auch so wie er ist übernommen werden kann, um gegen die herrschende Klasse gewendet zu werden. Eine Autonomie des Staates ist ausgeschlossen. Eine solche instrumentalistische Konzeption des Staates sieht Poulantzas in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der eurokommunistischen PCF in den 1970ern: „An dieser Konzeption kritisierte ich vor allem, dass sie zu der Vorstellung des mit dem Monopolkapital »fusionierten« Staates führt, einem Staat der im Dienste der Monopole steht und keinerlei Autonomie besitzt“ <ref> ebd. S.160.</ref>. Der Staat als Subjekt wiederum lässt ihn vollständig autonom werden, er steht als Akteur außerhalb der Klassen. Er agiert, koordiniert, verwaltet, reguliert selbstständig. Seine Autonomie bezieht sich „auf die angebliche Macht des Staates und auf die Träger dieser Macht und der staatlichen Rationalität: auf die Bürokratie und speziell auf die politische Elite“ <ref> ebd. S.160.</ref>. <br />
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Poulantzas schlägt vor, die „Sackgassen des ewigen Pseudodilemmas der Diskussion zwischen der Konzeption des Staates als einer Sache bzw. einem Instrument und der Konzeption des Staates als einem Subjekt“ <ref> ebd. S.159f.</ref> zu vermeiden, indem der Staat über den Klassenkampf selbst verstanden wird, genauer: „ … indem ich sage, dass der Staat […] nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden darf, sondern, wie auch das »Kapital«, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ Der Staat spiegelt also nicht einfach ein gesellschaftliches Verhältnis wider, er selber konstituiert dieses Verhältnis. In der Vielzahl seiner Institutionen findet die ständige Austarierung zwischen Klassen und Klassenfraktionen statt. Diese Austarierung entspricht aber nicht direkt dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, beispielsweise sind die beherrschten Klassen nicht in den Staatsapparaten anwesend: „Sie organisieren und vereinheitlichen den Block an der Macht, indem sie die beherrschten Klassen ständig desorganisieren und spalten. Sie polarisieren sie gegenüber dem Block an der Macht und schließen ihre politischen Organisationen aus.“ <ref> ebd. S.171.</ref><br />
<br />
Bei Poulantzas bleibt unklar, wie der Begriff der Verdichtung genau zu verstehen ist, wohingegen er ausführt, was es mit der Materialität hier auf sich hat. Mit Blick auf die Staatstheorie in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der PCF wendet er ein, dass diese „die eigenständige Materialität des Staates übersieht. Diese Materialität eines Staates, der als Werkzeug oder Instrument angesehen wird, hat keine eigene politische Bedeutung. Diese Bedeutung wird auf die Staatsmacht beschränkt, d.h. auf die Klasse, die dieses Instrument manipuliert. Das würde im Extremfall implizieren, dass das gleiche Instrument (das verschiedenen, allerdings zweitrangigen Modifikationen unterliegt) durch eine Veränderung der Staatsmacht, also durch die Macht der Arbeiterklasse, für den Übergang zum Sozialismus anders eingesetzt werden könnte“ <ref> ebd. S.160.</ref>. Dieses Defizit meint er zu beheben: „Das materielle Gerüst seiner [des Staates] Institutionen wird durch die Beziehung des Staates zu den Produktionsverhältnissen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung konstituiert, die sich in der kapitalistischen Trennung des Staates von diesen Verhältnissen konzentriert. […] Der Staat hat eine eigene Dichte und Widerstandskraft und reduziert sich nicht auf ein Kräfteverhältnis. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Klassen hat sicherlich immer Auswirkungen innerhalb des Staates, sie überträgt sich jedoch nicht direkt und unmittelbar. Sie passt sich der Materialität der verschiedenen Apparate an und kristallisiert sich im Staat nur in gebrochener und differenzierter, den Apparaten entsprechender Form. Eine Veränderung der Staatsmacht allein transformiert die Materialität des Staates nicht“ <ref> ebd. S.161f.</ref>. Als Beispiele für die Materialität führt Poulantzas u.a. die Organisierung kapitalistischen Wissens an: „Die geistige Arbeit (Wissen/Macht) ist in den Apparaten konzentriert und steht im Gegensatz zur tendenziell in den Volksmassen konzentrierten manuellen Arbeit, die von den organisatorischen Funktionen ausgeschlossen und getrennt sind“ <ref> ebd. S.83.</ref>.<br />
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==="Akkumulationsregime" (Regulationsschule)===<br />
Hier sollen die offenen Fragen und Aufgaben ausformuliert werden, die sich aus der Staatstheorie der "Regulationsschule" und deren Theorie der "Akkumulationsregime" ergeben. Handelt es sich bei dieser Theorie um einen wesentlichen Beitrag zur marxistischen Staatstheorie, die eine vertiefende Analyse der verschiedenen Formen der bürgerlichen Herrschaft seit der Entstehung des Kapitalismus erlaubt (z.B. durch die Unterscheidung eines "keynesianischen" und eines "neoliberalen Akkumulationsregimes")? Wie wird aus Perspektive der Regulationsschule der Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt? Enthält diese Theorietradition wesentliche Abweichungen von den Grundannahmen der marxistischen Staatstheorie? Welche Verbinndung gibt es zu den Theorien von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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'''Vertreter:''' Zu den prominentesten Vertretern der Regulationsschule gehören heute die Staatstheoretiker Joachim Hirsch und Bob Jessop.<br />
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===Staat = Repressionsapparate / "neue Demokratie" (Maoismus)===<br />
Innerhalb des maoistischen Spektrums lässt sich als tendenzielle Gemeinsamkeit in der Staatsfrage ein besonderer Fokus auf die „bewaffneten Apparate“ des bürgerlichen Staats und eine weitgehende Vernachlässigung der Analyse anderer, nicht unmittelbar gewaltförmiger Herrschaftstechniken der Bourgeoisie (Integrationsideologien, ökonomischer Zwang, etc.) feststellen. Dies steht im engen Zusammenhang mit der Strategie des "Volkskriegs". Dieser Strategie liegt eine Perspektive auf den Staat zugrunde, die den Kampf um die politische Macht weitgehend auf den unmittelbaren militärischen Kampf und die Zerschlagung der bewaffneten Staatsapparate zuspitzt. Die maoistische Theorie der "neuen Demokratie" enthält außerdem die These einer möglichen dritten Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats.<br />
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Von einer einheitlichen und systematisch ausgearbeiteten "maoistischen Staatstheorie" kann genauso wenig die Rede sein, wie von einer homogenen maoistischen Strömung innerhalb des Marxismus. In den klassischen Texten von Mao Tse-Tung findet sich vor allem keine eigene, systematisch ausgearbeitete Analyse des bürgerlichen Staats im Imperialismus. Die chinesischen Revolutionäre kämpften nicht gegen einen entwickelten bürgerlichen Staat, wie er sich in den imperialistischen Zentren herausgebildet hatte, sondern gegen einen agrarischen Feudalstaat mit kolonialen Elementen. Der Großteil von Maos Äußerungen über den Staat sind in diesem Kontext zu sehen, so zum Beispiel die oft zitierte Losung: "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 74.</ref> An anderer Stelle führt Mao diese Zuspitzung auf die Frage der militärischen Macht und der bewaffneten Apparate weiter aus und verallgemeinert sie als die aus seiner Sicht wichtigste Kernaussage der marxistischen Lehre vom Staat: "Vom Standpunkt der marxistischen Lehre vom Staat ist die Armee die Hauptkomponente der Staatsmacht. Wer die Staatsmacht ergreifen und behalten will, der muß eine starke Armee haben. Manche Leute bezeichnen uns höhnisch als Anhänger der ‚Theorie von der Allmacht des Krieges‘; jawohl, wir sind Anhänger der Theorie von der Allmacht des revolutionären Krieges, und das ist nicht schlecht, sondern gut, das ist marxistisch. [...] Die Erfahrungen des Klassenkampfes im Zeitalter des Imperialismus lehren uns: Die Arbeiterklasse und die übrigen Werktätigen Massen können nur mit der Macht der Gewehre die bewaffneten Bourgeois und Grundherren besiegen; in diesem Sinne können wir sagen, daß die ganze Welt nur mit Hilfe der Gewehre umgestaltet werden kann."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 75-76.</ref><br />
<br />
In genau diesem Sinne wird die Staatsfrage auch in Teilen der zeitgenössischen maoistischen Strömungen behandelt. Viele zeitgenössische Mao-Gruppen beziehen sich dabei auf die Traditionslinie der peruanischen Guerillabewegung „Leuchtender Pfad“ bzw. der KP Perus (Vollständiger Name: ''Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui'') und ihres politischen und ideologischen Anführers „Presidente Gonzalo“ (Abiamel Guzmán). (''Anmerkung: Alle Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen sich auf die Broschüre „Einheitsbasis der Kommunistischen Partei Perus – angenommen auf dem I. Parteitag 1988“<ref>http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/gonzalo/1439-die-einheitsbasis-der-kommunistischen-partei-perus-auf-deutsch</ref>, die leider zahlreiche Übersetzungsfehler enthält.'')<br />
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Der Staat erscheint auch hier vor allem als bewaffneter Apparat, der militärisch bekämpft und zerschlagen werden muss:<br />
"die revolutionäre Gewalt ist ausnahmslos ein universelles Gesetz; die Revolution ist die gewaltsame Ersetzung einer Klasse durch eine andere. Er [Mao Tse-Tung] legte seine große These fest: ‚Die Macht kommt aus den Gewehrläufen!‘" (Über den Marxismus-Leninismus-Maoismus, S. 7) "[der] Volkskrieg, der durch eine revolutionäre Armee neuen Typs, unter der absoluten Führung der Partei, Stück für Stück die alte Macht zerstört, hauptsächlich seine bewaffneten und repressiven Kräfte." (Programm und Statuten der KP Perus, S. 16-17.)<br />
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Unter dem Begriff der „neue demokratische Revolution“ vertreten die Maoisten der KP Perus ein spezifisches Etappenmodell, das die Stufen der Revolution festlegt, die die unterdrückten Länder auf dem Weg zum Sozialismus durchlaufen müssen. Der Klasseninhalt der Revolution und der jeweiligen Staatsformen, die diese hervorbringen, ändert sich jedoch je nach Entwicklungsstand des jeweiligen Landes: "Um unser Endziel, den Kommunismus, zu erreichen, müssen wir Marxisten-Leninisten-Maoisten in Perspektive drei Typen von Revolutionen durchführen: 1) Die demokratische Revolution, das ist die bürgerliche Revolution neuen Typs in den rückständigen Ländern, unter der Führung des Proletariats, in deren Verlauf eine gemeinsame Diktatur des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und unter bestimmten Bedingungen der Mittelbourgeoisie unter der Führung des Proletariats errichtet wird; 2) Die sozialistische Revolution in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern, die die Diktatur des Proletariats errichtet; 3) Kulturrevolutionen, sie werden gemacht um die Revolution unter der Diktatur des Proletariats fortzusetzen, um jede Generierung des Kapitalismus zu unterwerfen und zu eliminieren und auch mit den Waffen gegen jedes streben nach Restauration des Kapitalismus zu kämpfen" (Allgemeine politische Linie, S. 19)<br />
<br />
Mit der Theorie der „neuen demokratischen Revolution“ sind spezifische staatstheoretische Grundannahmen verbunden. Die „Neuen Demokratie“ gilt aus maoistischer Sicht als dritte Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats - ihr Klassencharakter ist wesentlich durch einen Klassenkompromiss bzw. ein Klassenbündnis bestimmt: "Die Neue Demokratie. In erster Stelle ist es eine Entwicklung der marxistischen Staatstheorie mit der Festlegung der drei Typen der Diktatur: 1. die Diktatur der Bourgeoisie, in den alten bürgerlichen Demokratien wie in den Vereinigten Staaten, dazu zählen auch die Diktaturen, die in unterdrückten Nationen, wie den lateinamerikanischen existieren, 2. die Diktatur des Proletariats wie in der Sowjetunion oder in China vor der Usurpation der Macht durch die Revisionisten und 3. die Neue Demokratie als gemeinsame Diktatur, die auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern basiert, geführt vom Proletariat mit der Kommunistischen Partei an der Spitze […]." (Über den Marxismus-Leninismus, S. 8) Im Anschluss an Mao und Gonzalo geht die KP Perus davon aus, dass die "Staatssysteme der Welt" auf „drei Grundtypen reduziert werden können, laut ihres Klassencharakters: Republik unter der Diktatur der Bourgeoisie, die auch die Staaten der alten Demokratie ausmachen und die Republik der gemeinsamen Diktatur der Grundbesitzer und Großbourgeoisie; Republiken unter der Diktatur des Proletariats; und Republik unter der gemeinsamen Diktatur der revolutionären Klassen […]." (Allgemeine politische Linie, S. 33.)<br />
<br />
Andere Grundsätzlichere Fragen zum Thema Maoismus, wie die Strategie des „langfristigen Volkskriegs“, die Etappe der "neuen demokratischen Revolution" oder die Theorie des „Zweilinienkampfs“ werden perspektivisch durch die [[AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei]] bearbeitet. Fragen zur Polemik zwischen der Sowjetunion und China über die „friedliche Koexistenz“, die „Kulturrevolution“ und die maoistische Position, die Sowjetunion sei „sozialimperialistisch“ gewesen, gehören zum Arbeitsbereich der [[AG Sozialismus]].<br />
<br />
Eine längere Version dieses Artikels (befindet sich noch in Bearbeitung) findet ihr hier: '''[[Die Staatsfrage im Maoismus]]'''<br />
<br />
Vertreten werden solche oder ähnliche Positionen in Deutschland zum Beispiel von der Sozialistischen Linken (SoL) oder dem mittlerweile aufgelösten Jugendwiderstand (JW).<br />
===Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt)===<br />
Der ''Gegenstandpunkt'' (GSP, früher ''Marxistische Gruppe'') vertritt eine eigene Staatstheorie, die davon ausgeht, der bürgerliche Staat könne aus den abstrakten Kategorien der politischen Ökonomie "abgeleitet" werden. Den Ausgangspunkt dieser Ableitung bildet die einfache Warenzirkulation, in welcher die Warenbesitzer sich wechselseitig als "freie" und "gleiche" Privateigentümer anerkennen. Die Autoren des GSP sehen drei gemeinsame Interessen bei allen Privateigentümern: Die Erhaltung der Revenue, eine möglichst hohe Revenue und den kontinuierliche Fluss der Revenue. Daraus schlussfolgern sie, dass Schutz und Sicherung des Privateigentums, die Sicherung des Wirtschaftswachstums und ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft dem Gesamtinteresse aller Privateigentümer entsprechen, wozu als viertes das Interesse an gleichen Konkurrenzvoraussetzungen hinzutritt. Weil die Privateigentümer aber in der Verfolgung ihrer besonderen Interessen nicht die allgemeinen Interessen durchsetzen können, bedarf es des Staates: "Das besondere Dasein des Staates neben und außer der Gesellschaft der konkurrierenden Privaten – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit – ist das Resultat dieses Widerspruchs zwischen besonderem und allgemeinem Interesse in seinen verschiedenen Existenzweisen. Der Staat verkörpert die Loslösung der allgemeinen Interessen aus der Sphäre der Privaten und ihre Verwaltung in der Sphäre des Staates. Mit der Besonderung des Staates werden die allgemeinen Interessen zu seinen besonderen, deren Verwaltung allein ihm obliegt. <ref> von Flatow, Sybille / Huisken, Freerk: Zum Problem der Ableitung des bürgerlichen Staates, in: Prokla, 7 (1973), S. 121 </ref><br />
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Fertig ausformuliert und in den Reihen des GSP kanonisiert wurde diese "Staatsableitung" von Karl Held in ''Der bürgerliche Staat''. In Helds Analyse wird aus der „Besonderung des Staates“ letztendlich der „Staat als Subjekt“: "Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit und Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert.<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Staat hält hier nicht nur die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Reproduktion aufrecht, er wird zum eigenständigen Subjekt mit eigenen Interessen: "Der souveräne Staat ist eine von den Bürgern getrennte, selbständige Instanz, die mit keinem besonderen Interesse identisch ist und gerade und nur deswegen von allen anerkannte Gewalt ist, weil er sein Interesse, das Allgemeinwohl, gegen die Privatsubjekte durchsetzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref> "In der Unterordnung aller Aufgaben, um deren Erfüllung willen er sich als politisches Subjekt der Ökonomie betätigt, unter das Kriterium des wirtschaftlichen Wachstums, in der Relativierung aller Funktionen entsprechend dieser Zielsetzung der Wirtschaftspolitik fällt der Grund des bürgerlichen Staates – die freie Konkurrenz – unmittelbar zusammen mit seinem Zweck: er ist bewußter Agent des Inhalts der Konkurrenz, die bekanntlich nicht die Individuen, sondern das Kapital in Freiheit setzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates besteht daher beim GSP auch zuallererst darin, dass er nicht im Interesse der einen Klasse eine andere, sondern alle Individuen gleichermaßen unterwirft: "Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, daß er Klassenstaat ist: Durch die gleiche Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der Nutzen aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben." <ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat, URL: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat (29.12.2018) </ref><br />
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Der Staat wird dadurch also wesentlich (und nicht nur oberflächlich) zu einem (klassen)neutralen Subjekt erklärt, welches die äußeren Bedingungen der Konkurrenz organisiert und diese Bedingungen den Warenbesitzern unterschiedslos aufzwingt. <br />
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'''Vertreter:''' Neben dem ''Gegenstandpunkt'', dessen Aktivitäten sich fast auschließlich auf das akademische Milieu konzentrieren, werden diese Positionen auch von vielen studentischen Jugendgruppen in der "linksradikalen" und Antifa-Szene vertreten. Dies hat häufig damit zu tun, dass Leute aus der Szene ihre eigene theoretische Bildung über Lesekreise und Seminare des Gegenstandpunkt erwerben. Besonders in Teilen der ''Sozialistischen Jugend - Die Falken'' lässt sich ein starker ideologischer Einfluss des GSP feststellen, das gleiche Phänomen taucht aber auch immer wieder in Gewerkschaftsjugenden oder ''solid SDS''-Gruppen auf. Besonders stark ist zudem die Überschneidung zu "antinationalen" Gruppen, wie etwa bei der Dortmunder ''Gruppe K''.<br />
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Einen Text zur ausführlicheren Einbettung in den Kontext der "Staatsableitungsdebatte" findet ihr hier: [[Der Staat als Subjekt (Staatsableitungsdebatte)]]<br />
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Einen Hintergrundartikel zum Gegenstandpunkt hier: [https://kommunistische.org/diskussion/standpunkt-gegen-den-marxismus/ Standpunkt gegen den Marxismus (Thanasis Spanidis)]<br />
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===Anarchistische Staatskritik===<br />
Der "Anarchismus" (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) umfasst ein sehr diffuses und heterogenes Spektrum, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Dennoch lassen sich grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Anarchisten vertreten eine politische Haltung, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbstbestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammenschließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. Im Mittelpunkt stehen die Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Selbstverwirklichung der Individuen im Rahmen der kollektiven Selbstverwaltung („Autonomie“) möglichst kleiner Organisationseinheiten. Im Anarchismus fließen die Traditionen des bürgerlichen Liberalismus (individuelle Freiheit) und der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen (Kollektivität und Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Heute wird häufig das Adjektiv "libertär" (deutsch: freiheitlich) als Synonym für „anarchistisch“ benutzt.<br />
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An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich aus Sicht der Anarchisten auch schon die Bewegung selbst messen lassen, die für die „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Position so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren, geschweige denn nach der siegreichen Revolution einen eigenen Staat zur Niederhaltung der Unterdrücker und zum Aufbau und zur Verteidigung der Revolution schaffen darf. In Abgrenzung zu solchen individual-anarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen.<br />
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Die anarchistische Staatskritik richtet sich nicht hauptsächlich gegen den bürgerlichen Staat als Klassenstaat der Bourgeoise, sondern lehnt jede Form der Macht, der Autorität und der Staatlichkeit überhaupt als Grundübel der Gesellschaft ab. Der Anarchismus vertritt also in letzter Konsequenz einen klassenneutralen Machtbegriff – er lehnt die Macht nicht als Klassenmacht der Ausbeuter ab, sondern als abstraktes Ding an sich, das aus der Welt geschafft werden soll. <br />
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'''Marx und Engels vs. Bakunin:''' Die erste ausführliche theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. <br />
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Engels fasste die Kritik an der Staatsauffassung Michael Bakunins und der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen: "Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. [...]<br />
Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll,[...] so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität <nowiki>=</nowiki> Staat <nowiki>=</nowiki> absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!" <ref>Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33; Dietz-Verlag; S. 388-389.</ref><br />
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Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der politische Ausdruck dieser Widersprüche ist nicht die Klassenherrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter und alle anderen Werktätigen, sondern die Macht und Autorität des Staates überhaupt. Diese Auffassung hat weitreichende taktische und strategische Konsequenzen (siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]]).<br />
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'''Heutige Vertreter:''' Der Anarchismus in seiner klassischen Form, also als politische Ideologie und Bewegung mit realer Verankerung in der Arbeiterbewegung (wie ihn Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder die spanischen Anarchosyndikalisten vertraten) ist heute kaum mehr präsent. Vulgarisierte Formen des Anarchismus sind dagegen in der "autonomen" Szene und linken Subkulturen nach wie vor sehr weit verbreitet. Neben zahlreichen Splittergruppen, die in der BRD heute ein gemeinsames, hauptsächlich kleinbürgerlich geprägtes Milieu bilden und von der Arbeiterbewegung meist isoliert sind, bildet die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) eine gewisse Ausnahme. Diese Organisation versucht im Rahmen einer kleinen anarchistischen Richtungsgewerkschaft außerhalb der DGB-Gewerkschaften Klassenkämpfe und Streiks zu organisieren.<br />
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Verschiedene "anarchokommunistische" Gruppen und Zusammenschlüsse in Deutschland versuchen Aspekte des Marxismus (gewerkschaftliche Organisation, Klassenkampf, Vergesellschaftung der Produktionsmittel) mit Standpunkten des Anarchismus (Ablehnung von Hierarchien, zentralistischer Organisationsformen und der Diktatur des Proletariats) zu vereinen. Seit Dezember 2018 existiert mit der Initiative [https://www.dieplattform.org/wir/ "die Plattform"] z.B. ein Versuch, einen bundesweiten "plattformistischen" anarchakommunistischen Organisationszusammenhang aufzubauen und im Rahmen einer eigenen Schriftenreihe eine theoretische Debatte anzustoßen.<br />
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Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxistismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff. Die Rojava-Solidarität vereint heute ein politisches Spektrum, dass von der MLPD über die verschiedenen roten Gruppen, die iL, die Linkspartei und bis zu den antinationalen und antideutschen Zusammenhängen reicht.<br />
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==Bezug zu unseren Grundannahmen==<br />
==Wie wollen wir den Dissens klären?==<br />
==Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?==</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Der_Klassencharakter_des_b%C3%BCrgerlichen_Staats&diff=6977Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats2020-01-09T10:41:20Z<p>Dio: /* "Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas) */</p>
<hr />
<div>Zurück zur [[AG Formen bürgerlicher Herrschaft]]<br />
==Überblick==<br />
Dieser Artikel soll einen ersten groben Überblick über die verschiedenen Auffassungen zum Klassencharakter des bürgerlichen Staats innerhalb des kommunistischen und im weiteren Sinne "linken" Spektrums geben. Ist der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" die organisierte politische Macht der gesamten Bourgeosie und damit das Instrument ihrer Klassenherrschaft? Oder ist der Staat an sich ein klassenneutraler Apparat, der sowohl für die Zwecke der Kapitalistenklasse, als auch im Interesse der Arbeiter in Bewegung gesetzt werden kann? Ist der Staat im Stadium des Imperialismus nur noch das Herrschaftsinstrument eines kleinen Teils der Kapitalisten, der Monopolbourgeoisie, die ihre Macht mit Hilfe des Staats auch gegen die "kleine und mittlere Bourgeoisie" durchsetzt? Oder ist der bürgerliche Staat nach 1945 gar zu einer "echten Demokratie" geworden, in der die politische Macht nicht mehr von den besitzenden Klassen ausgeht, sondern von der demokratischen Mehrheit?<br />
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Die Unterschiede in der Analyse und die Einschätzung des Klassencharakters des bürgerlichen Staats haben weitreichende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung. Die sich daraus ergebenden Dissense werden an anderer Stelle unter dem Stichwort "'''[[Staat und Revolution]]'''" dargestellt.<br />
<br />
===Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise"===<br />
Die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus (Marx, Engels, Lenin) bestimmten den bürgerlichen Staat als "ideellen Gesamtkapitalisten" und als Instrument der "Diktatur der Bourgeosie". <br />
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Schon im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 schrieben Marx und Engels: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. […] Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." <ref> Marx, K., Engels, F.: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, Berlin/DDR 1977, S. 464/482. </ref> Diese Definition des Staates als „Ausschuss“ zur Regelung der „gemeinschaftlichen Geschäfte“ der Bourgeoisie deckt sich mit der späteren Formulierung von Engels, in der er den bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnete: "Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten […] nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. <ref> Engels,F.: Zur Wohnungsfrage, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 18, Berlin/DDR 1973, S.257-258.</ref> Der Staat schützt die kapitalistische Produktionsweise sowohl gegen den Widerstand der Arbeiter als auch gegen die sich widersprechenden Einzelinteressen individueller Kapitalisten. Laut Engels setzt der „ideelle Gesamtkapitalist“ also das Interesse der gesamten herrschenden Klasse nicht nur gegenüber dem Proletariat, sondern auch gegenüber ihrer einzelnen Klassenindividuen durch: "Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." <ref> Engels,F.: Anti-Dühring (1877), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 20, S. 260.</ref> <br />
<br />
Der Staat ist also einerseits Instrument zur Unterdrückung der Arbeiter und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse, gleichzeitig ist er notwendig, um die Bourgeoisie über die kapitalistische Konkurrenz hinweg zu Kompromissen zu zwingen und sie so erst als herrschende Klasse zu organisieren.<br />
<br />
Lenin führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine scharfe Polemik gegen die Revisionisten und Reformisten in der deutschen und russichen Sozialdemokratie. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fasste er die Staatsauffassung von Marx und Engels in seiner Schrift ''Staat und Revolution'' (1917) zusammen: "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen 'Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. <ref> Lenin, W.I.: Staat und Revolution, in: in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Lenin Werke Bd. 25, Berlin/DDR 1974, S. 399. </ref> Der Staat ist demnach eine Macht, "die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben. Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt ‚nicht mehr unmittelbar zusammenfällt‘ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer ‚selbsttätigen bewaffneten Organisation‘. [...] Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?" <ref> ebd., S. 401.</ref><br />
Abschließend fasste Lenin seine Studien zur marxschen Staatsauffasung in der Bestimmung des bürgerlichen Staats als „Diktatur der Bourgeoisie“ zusammen: "Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist […]. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie." <ref> ebd., S. 425.</ref><br />
<br />
Von dieser Analyse ausgehend formulierten die Klassiker die strategische Orientierung auf die "Zerschlagung des bürgerlichen Staats" und die Errichtung der "Diktatur des Proletariats". Siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]].<br />
<br />
Für eine ausführlichere Darstellungen der Annahmen der Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus zum Staat, siehe: [[Grundannahmen Staat]]<br />
<br />
===Der Staat als klassenneutrales Instrument===<br />
Vertreter dieser Auffassung gehen davon aus, dass der bürgerliche Staat und seine Organisationsapparate an sich klassenneutrale Instrumente seien. Das heißt sie werden unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen zwar von der Bourgeoisie benutzt, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen, die Arbeiterklasse niederzuhalten und die Bedingungen der Kapitalakkumulation möglichst günstig zu gestalten, könnten unter anderen Bedingungen (z.B. nach dem Wahlsieg einer Arbeiterpartei) jedoch genausogut im Interese des Proletariats in Bewegung gesetzt werden (z.B. um den Kapitalismus durch Sozialreformen allmählich in den Sozialismus zu überführen). Die Instrumente selbst, also die Staatsorganisationen vom Parlament über die Verwaltungs- bis hin zu den Repressionsorganen, verhalten sich dieser Auffassung nach also neutral zu den Zwecken ihrer Anwendung. Weder ihre konkrete Organisationsform noch das Personal, aus dem sie bestehen, tragen demnach Klassencharakter. Diese Auffassung steht im Widerspruch zu der Position, der bürgerliche Staat sei seiner Form und seinem Klasseninhalt nach "ideeller Gesamtkapitalist" und Ausdruck der "Diktatur der Bourgeoisie" (s.o.).<br />
<br />
'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):'''<br />
Die klassischen Vertreter einer solchen Staatsauffassung waren die „Revisionisten“ in der deutschen Sozialdemokratie, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen und zentrale Annahmen des wissenschaftlichen Sozialismus zu "revidieren" begannen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Eduard Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. <br />
<br />
Bernstein bestritt in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899) die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Aufhebung des bürgerlichen Staates und schlug stattdessen einen friedlichen und demokratischen Reformweg zum Sozialismus vor. Bernstein argumentiert, die bisherige Ausrichtung der Sozialdemokratie auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus sei durch die Realität überholt. Das kapitalistische System habe sich als weitgehend krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, ein „Zusammenbruch“ des Kapitalismus bzw. eine revolutionäre Situation sei nicht mehr zu erwarten. Die Aufgabe der SPD sei es nun, im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch „Sozialreformen“ Verbesserungen für die Arbeiterklasse und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards zwischen den Klassen durchzusetzen. Den Weg, um diese Ziele zu erreichen, sah Bernstein in der schrittweisen Ausdehnung des parlamentarischen Einflusses der Sozialdemokratie bis hin zur Übernahme der Regierung. Diese würde dann weitreichende Reformen im Sinne der Arbeiterklasse und des Sozialismus durchsetzen. Das entsprechende Credo des Reformismus lautete: „Der Weg ist alles, das Ziel ist nichts“.<br />
<br />
Der klassische Reformismus setzt notwendig eine bestimmte Auffassung über den bürgerlichen Staat voraus. Wenn es möglich sein soll, den Kapitalismus allmählich durch Sozialreformen zu überwinden, so muss es auch möglich sein, dass die Arbeiterklasse diese Reformen im Staatsapparat gegen den Willen der Bourgeoisie durchsetzt oder diese zumindest zu Kompromissen zwingt – und zwar so weit, dass die Gesellschaft immer mehr sozialistische Züge annimmt und der Staat letztlich aufhört, bürgerlicher Staat zu sein und allmählich zu einem Instrument in den Händen der Arbeiterklasse wird. Dieses Instrument an sich muss also „klassenneutral“ sein und je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse sich entwickeln, kann es sowohl von der einen, als auch von der anderen Klasse kontrolliert und im eigenen Interesse eingesetzt werden. Der Staat steht in dieser rein instrumentalistischen Sichtweise der ihm zugrunde liegenden Produktionsweise also äußerlich gegenüber, er besitzt keine innere Verbindung zu ihr. Der Überbau scheint unabhängig von seiner ökonomischen Basis agieren zu können. Der bürgerliche Staat wird aus dieser Sichtweise nicht als spezifisches, den Klasseninteressen der Bourgeoisie entsprechend geformtes Werkzeug verstanden. Ergo kann das Proletariat dieses Werkzeug unverändert übernehmen, anstatt sich einen eigenen Apparat zu schaffen, der den spezifischen Erfordernissen und Klasseninteressen der Arbeitermacht entspricht.<br />
<br />
'''Eurokommunismus:'''<br />
Ab den 1970er Jahren knüpften die sogenannten "Eurokommunisten" mit vielen ihrer Positionen an die theoretische Tradition des klassischen Revisionismus an, begründeten ihre Haltung aber damit, dass die Kräfteverhältnisse und somit auch der Charakter des bürgerlichen Staates sich nach 1945 grundlegend geändert hätten. Daher seien der „sowjetische Weg zum Sozialismus“ und die "Diktatur des Proletariats" als historischer Sonderfall überholt und Europa mittlerweile in eine Epoche der demokratischen Übergänge eingetreten. Sie vertraten die Einschätzung, die bürgerliche Demokratie sei nach dem Sieg über den Faschismus im Westen zu sehr gefestigt, als dass die Herrschenden gewaltsam gegen einen demokratischen Übergang zum Sozialismus vorgehen könnten. Die Hauptvertreter des Eurokommunismus waren die kommunistischen Parteien Frankreichs (PCF), Italiens (PCI) und Spaniens (PCE).<br />
<br />
Die eurokommunistische Strategie des friedlichen, parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus ging mehr oder weniger offen davon aus, dass der Staat als ein „Feld im Klassenkampf" aufzufassen sei, auf dem sich zwar die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen widerspiegeln, das an sich aber klassenneutral sei. Durch Veränderungen der politischen Mehrheiten sollten der Staat und seine Institutionen durch die Kommunisten kontrolliert und im Sinne der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden. Die Regierung sollte ein Reformprogramm umsetzen, das die Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung Sozialismus entwickeln würde. Auch im Sozialismus sollte der bürgerlich-liberale Parlamentarismus als politische Herrschaftsform bruchlos beibehalten werden: „Die repräsentative Demokratie, kombiniert mit Formen der direkten Demokratie, kann ohne weiteres auch die Form des sozialistischen Systems sein.“<ref> Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen, Rom 1977, URL: https://www.zeit.de/1977/29/der-haeretiker-aus-asturien (letzter Zugriff: 21.12.2019).</ref> In Teilen der eurokommunistischen Strömung wurde sogar die Notwendigkeit der Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Länder in imperialistischen Staatenbündnissen wie der EG und der NATO offen verteidigt. Ausführlich dargelegt ist das Staatsverständnis der Eurokommunisten in Santiago Carrillos ''Eurokommunismus und Staat''<ref>Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.</ref>. <br />
<br />
Ausführlicherer Artikel: [[Eurokommunistische Staatsauffassung]]<br />
<br />
'''Andere Vertreter:'''<br />
Auch heute gibt es zahlreiche "linke" Vertreter dieser Auffassung. Die Annahme, der bürgerliche Staat sei ein grundsätzlich klassenneutrales Instrument, bildet die Voraussetzung jeder Strategie, die auf den Eintritt in die bürgerliche Regierung zum Zweck der Umsetzung von Reformen abzielt. Das gilt eindeutig für die deutsche ''Linkspartei'' und ihre europäischen Geschwisterorganisationen, allen voran die einflussreiche griechische ''SYRIZA''. Auch die "antimonopolistische Strategie" der DKP unterstellt letztlich eine Klassenneutralität des Staates der Monopole (s.u.). In unterschiedlichen Abstufungen wird diese Auffassung auch von den "bolivarischen Bewegungen" bzw. den Vertretern eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien etc. vertreten.<br />
<br />
===Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole===<br />
Eine seit 1945 weit verbreitete Position geht davon aus, dass der bürgerliche Staat im Monopolkapitalismus nicht mehr das Interesse der gesamten herrschenden Klasse vertritt, sondern sich zum alleinigen Herrschaftsinstrument der Monopole entwickelt. Diese Vorstellung beruft sich häufig auf die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (s.o.) und ist eng verbunden mit den verschiedenen Varianten der [[Strategie der Übergänge]]. <br />
<br />
'''Deutsche Kommunistische Partei (DKP):'''<br />
Die DKP vertritt seit ihrer Gründung eine Strategie der "antimonopolistischen Demokratie" (im folgenden: AMD). Diese wurde erstmals im Programm von 1978 explizit ausformuliert und beschlossen. Auch im Programm von 2006 bildet die AMD, von einigen kleineren Relativierungen abgesehen, noch immer den Kern der strategischen Vorstellungen der DKP. <br />
<br />
Zu den wichtigsten Grundannahmen der AMD gehört, dass der bürgerliche Staat zu einem Instrument in den Händen der Monopole, also einer Handvoll Finanzoligarchen innerhalb der Bourgeoisie, geworden ist. Der Staat, so die These, setze deren Profitinteressen rigoros gegen alle „nicht-monopolistischen Schichten“, also nicht nur gegen die Arbeiterklasse und alle anderen Werktätigen, sondern auch gegen die „kleine und mittlere Bourgeoisie“ durch. Der bürgerliche Staat vernachlässigt aus dieser Sicht also gewissermaßen seine Aufgabe als „ideeller Gesamtkapitalist“ und verkörpert gegenüber der gesamten Gesellschaft (und einem Großteil der Bourgeoisie) nicht mehr das langfristige Gesamtinteresse aller Kapitalisten, sondern einseitig das Partikularinteresse des Monopolkapitals. <br />
<br />
Im DKP-Programm von 2006 heißt es dazu: "Als Machtinstrument der Monopolbourgeoisie setzt er [der Staat] immer unverblümter eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durch. An die Stelle der sozialen Integration tritt die Konfrontation. Der bürgerliche Staat verliert tendenziell seine Fähigkeit zur sozialen und politischen Vermittlung, weil die Basis für die Organisierung stabilerer sozialer Kompromisse, die größere Teile der Gesellschaft einbeziehen, verloren geht. So wird die bürgerliche Demokratie ausgehöhlt und verliert ihren Inhalt. Bei Beibehaltung formaler Demokratie vollzieht sich der Übergang vom 'Sozialstaat' zum autoritären 'Sicherheitsstaat'." <ref> Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Duisburg 2006, S. 12. </ref> <br />
<br />
Damit wird zwar der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht geleugnet, aber eine neue strategische Bruchlinie zwischen den Monopolen und allen „nicht-monopolistischen“ Schichten aufgemacht, die aus dieser Sicht nun in Opposition zum "Staat der Monopole" geraten. Entlang dieser Linie soll sich ein „antimonopolistisches Bündnis“ formieren, das neben der Arbeiterklasse nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch bedeutende Teile der „nicht-monopolistischen“ Bourgeoisie umfassen soll <ref> Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Duisburg 2006, S. 33. </ref> . Dieses Bündnis hat zwar nicht den Sozialismus zum Ziel, wohl aber eine Zwischenetappe der „antimonopolistischen Übergänge“, in deren Rahmen die Kommunisten sich an der Regierungsmacht beteiligen und zunächst im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise eine politische „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ durchsetzen sollen.<br />
<br />
Diese Vorstellung eines weitgehend bruchlosen Übergangs des Staatsapparats aus den Händen der einen in die Hände der anderen Klasse unterstellt eine instrumentalistische Sicht auf den Staat und behandelt diesen in letzter Konsequenz als ''klassenneutrales Werkzeug'' (s.o.). Zugespitzt formuliert: Der Klassencharakter des Staates scheint sich aus Sicht der Vertreter der antimonopolistischen Strategie nicht aus seiner Funktionsweise und seinem Wesen, sondern aus den politischen Kräfteverhältnissen zu ergeben. Ändert die Regierung ihren Klassencharakter von „monopolistisch“ zu „nicht-monopolistisch“, so ändert sich demzufolge auch der Klassencharakter des Staates. <br />
<br />
Hier geht es zu einer längeren Version dieses Artikels: [[„Antimonopolistische_Demokratie“_(DKP)|„Antimonopolistische Demokratie“ (DKP)]]<br />
<br />
'''Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD):'''<br />
Zu den wichtigsten Alleinstellungsmerkmalen der Theorie und Programmatik der MLPD gehört der Begriff der „Übermonopole“ (siehe dazu den entsprechenden Artikel [[Imperialismus_als_Weltsystem|"Imperialismus als Weltsystem"]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus), der auch ihre Analyse des bürgerlichen Staats der Gegenwart wesentlich prägt. In ihrem Parteiprogramm schreibt die MLPD: "Die hier ansässigen internationalen Übermonopole, die zum allein herrschenden internationalen Finanzkapital gehören, haben sich den Staat vollkommen untergeordnet, und die Organe des Monopolkapitals sind mit den Organen des Staatsapparats verschmolzen. Sie haben ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft, auch über andere Monopole und die nicht monopolisierten Kapitalisten, errichtet. Über die Organe der EU nehmen sie Einfluss auf andere europäische Staaten." <ref>Programm der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (2016), S. 31, URL: https://www.mlpd.de/parteiprogramm (letzter Zugriff: 09.01.2019)</ref> <br />
<br />
Die MLPD geht also davon aus, dass sich diese „Übermonopole“ den bürgerlichen Staat „vollkommen untergeordnet“ haben – aus dieser Formulierung kann geschlussfolgert werden, dass der Staat nicht mehr als „ideeller Gesamtkapitalist“ das Gesamtinteresse des Kapitals vertritt, sondern von der Fraktion der „Übermonopole“ bzw. des „allein herrschenden Finanzkapitals“ allen anderen Teilen der Bourgeoisie gegenüber als Herrschaftsinstrument benutzt wird. Zudem geht die MLPD davon aus, dass die „Organe des Monopolkapitals“, die im vorangegangenen Stadium des Kapitalismus scheinbar noch unabhängig vom und außerhalb des Staatsapparates existierten, heute vollständig mit diesem „verschmolzen“ sind. <br />
<br />
Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Programmatik der MLPD findet sich hier: [https://kommunistische.org/diskussion/einschaetzung-der-programmatik-der-mlpd/ Philipp Kissel, Einschätzung der Programmatik der MLPD].<br />
<br />
===Staatsmonopolistischer Kapitalismus===<br />
Hier soll kurz dargestellt werden, wie die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus den Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt. In welchem Verhältnis stehen Staat und Monopole zueinander? Ist der Staat alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole oder auch "ideeller Gesamtkapitalist", also Ausdruck der Herrschaft der gesamten Bourgeoisie?<br />
<br />
'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
<br />
Siehe hierzu auch den Dissens [[Monopole und Staat]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus.<br />
<br />
===Der Staat als "echte Demokratie"===<br />
Die Position, der bürgerliche Parlamentarismus auf der ökonomischen Basis der kapitalistischen Produktionsweise sei eine "echte Demokratie" läuft letztlich auf die Position hinaus, die gesellschaftlichen Verhältnisse würden nicht von der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie, sondern von der politischen Mehrheit bestimmt. Die Frage des Klassencharakters der Staats wird also reduziert auf eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Je nach dem, ob die Bourgeoisie oder die Arbeiterklasse im demokratischen Prozess mehr Kontrolle über den Staatsapparat ausübt, verschiebt sich auch dessen Klassencharakter. Diese Auffassung setzt zugleich ein Verständnis des Staates als ''klassenneutrales Instrument'' voraus (s. o.). <br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):''' <br />
Die Vorstellung einer fortschreitenden Demokratisierung des bürgerlichen Staats und einer damit einhergehenden Verwandlung seines Klassencharakters spielten eine zentrale Rolle im Denken des klassischen Revisionismus. Rosa Luxemburg polemisierte schon 1899 gegen Eduard Bernstein: „die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie [sei] eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie.“ <ref> Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), Zweiter Teil </ref> Bürgerliche Demokratie und Parlamentarismus waren für Bernstein nicht taktische Mittel im Klassenkampf, sondern tatsächlicher Ausdruck der Herrschaft durch das Volk bzw. die Mehrheit, also der Arbeiterklasse: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. […] Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“<ref>Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.154-156.</ref> Für die Strategie der Arbeiterbewegung heißt das: „die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.“<ref>Ebd., S. 154-156.</ref> Die Arbeiterbewegung soll sich also darauf beschränken, im legalen Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus für Reformen und schrittweise Verbesserungen zu kämpfen. Der bürgerliche Staat ist dabei nicht ihr Gegner, sondern ihr Werkzeug. Die taktische Herausforderung besteht demnach einzig darin, auf demokratischem Weg in die Position zu gelangen, dieses Werkzeug für die eigenen Zwecke nutzen zu können.<br />
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'''Position von SYRIZA:''' <br />
Die griechische "Linkspartei" SYRIZA argumentiert in ihrem Regierungsprogramm, „der Staat [sei] keine Festung, sondern ein Netzwerk, ein Verhältnis und eine strategische Arena für den politischen Kampf. Er verändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, im Gegenteil, seine notwendige Transformation hat konstante und kontinuierliche Kämpfe zur Voraussetzung, die Einbeziehung des Volkes, ständige Demokratisierung.“ (Quelle: S''YRIZAs Regierungsprogramm''<ref>Zitiert nach einem auf Englisch erschienenen Artikel der KKE, ins Deutsche Übersetzt. URL: https://inter.kke.gr/en/articles/Criticism-of-certain-contemporary-opportunist-views-on-the-state/ (9.01.2019)</ref>) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der bürgerliche Staat von SYRIZA nicht seinem Wesen nach als ein Organ der bürgerlichen Klassenherrschaft angesehen, sondern als eine Ansammlung von Institutionen, die im Interesse des Volkes „transformiert“ werden können. Auf Grundlage dieser Sichtweise wird argumentiert, dass der Charakter des bürgerlichen Staats durch die richtigen politischen Kräfteverhältnisse geformt oder gar "transformiert" werden kann, solange sich nur „linke Regierungen“ durchsetzen können. <br />
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'''Position der DKP:''' <br />
Die DKP bleibt in ihrer Einschätzung der bürgerlichen Demokratie widersprüchlich. Einerseits ist in ihrem Programm von 2006 zwar die Rede davon, dass sich durch die "Globalisierung" die "Tendenz zur Reaktion" verschärft, dass die Demokratie untergraben wird (S. 12) und dass letztlich eine "revolutionäre Überwindung" (S. 28) des Kapitalismus nötig sei. Andererseits gehört es jedoch zu den Kernthesen ihrer "antimonopolistischen Startegie", dass noch auf dem Boden der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und innerhalb des institutionellen Rahmens des bürgerlichen Staats umfassende Reformen und sogar eine "antimonopolistisch-demokratische Umgestaltung" (S. 32) möglich seien: "Je mehr es dabei gelingt, Veränderungen im Sinne von Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, von demokratischer Kontrolle, von Entmilitarisierung und Demokratisierung in Staat und Gesellschaft zu erreichen, je größer der Einfluss der demokratischen und sozialistischen Kräfte überall dort ist, wo Meinungsbildung stattfindet, desto besser sind die Chancen im Kampf um die Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und für die Öffnung des Weges zum Sozialismus. [...] Es geht um die [...] demokratische Einflussnahme auf den staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus im nationalen Rahmen wie im Rahmen der Europäischen Union und anderer internationaler staatsmonopolistischer Institutionen". (S. 30) Diese Vorstellung läuft letztlich also darauf hinaus, die Kommunisten und „Demokraten“ könnten den ideellen Gesamtkapitalisten dem Einfluss der Klasseninteressen der Bourgeoisie entreißen und ihrem eigenen politischen Willen unterwerfen.<br />
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'''Andere Vertreter:''' Ebenfalls weit verbreitet sind Vorstellungen über den demokratischen Charakter des bürgerlichen Staats in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dort gehört der Begriff der „Mitbestimmung“ nicht umsonst zum ideologischen Kernrepertoire. Die Vorstellung, im Betrieb ließe sich zwischen Kapital und Arbeit auf Augenhöhe eine demokratische Mitbestimmung und dadurch ein Interessenausgleich verwirklichen, bildet das Herzstück der Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Ähnliche Sichtweisen werden heute außerdem in einer Reihe lateinamerikanischer Länder gepflegt. Verschiedene „fortschrittliche“ und „linke“ Regierungen versuchen unter dem Banner des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bzw. der „bolivarischen Revolution“ das bürgerliche Staatssystem durch Gesetzesreformen und Volksabstimmungen grundlegend zu veränden.<br />
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==="Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci)===<br />
Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, verfasste in den 1920er und 30er Jahren in faschistischer Gefangenschaft seine „Gefängnishefte“, ein umfangreiches theoretisches Werk, dessen einzelne Bestandteile Gramsci unter den Bedingungen seiner Haft leider nicht mehr zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen konnte. Zu den wichtigsten Aspekten dieses Werks gehören Gramscis Überlegungen zur besonderen Form der Herrschaft der Bourgeoisie in den entwickelten imperialistischen Ländern und die daraus abgeleiteten Weiterentwicklungen der marxistischen Staatstheorie.<br />
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In den Gefängnisheften bringt Gramsci den Staat und die Herrschaft der Bourgeoisie auf die kurze Formel: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang" (H. 6, §88., S. 783)<ref>Antonio Gramsci, Gefängnisgefte. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1991. Im Folgenden wird aus den Gefängnisheften nur noch in Klammern nach Heft Nr., Paragraph und Seitenzahl zitiert.</ref><br />
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Gramsci weitet den Staatsbegriff damit aus und entwickelt sein Konzept des "integralen Staates". Dieser umfasst einerseits die "politische Gesellschaft", womit alle explizit staatlichen Strukturen und Institutionen gemeint sind, also das Parlament, die Beamtenapparate, die Repressionsorgane, die staatlichen Bildungseinrichtungen etc. Andererseits betrachtet Gramsci aber auch die "Zivilgesellschaft" als Teil der bürgerlichen Staatlichkeit. Gemeint sind damit alle Strukturen außerhalb der Staatsapparate, über die die Bourgeoisie ihre Herrschaft absichert, also private Medien, Bildungsstätten, Institute, Stiftungen, Clubs, Thinktanks etc. Mit Blick auf den Sieg der Oktoberrevolution in Russland und die darauffolgenden Niederlagen der Revolutionsversuche in Westeuropa schrieb Gramsci: "Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand;" (H. 7, §16., S. 873-874) An anderer Stelle heißt es: "zumindest was die fortgeschrittenen Staaten angeht, wo die 'Zivilgesellschaft' eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften 'Durchbrüchen' des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg." (H. 13, §14, S. 1553-1554) Die Stabilität der bürgerlichen Herrschaft hängt demnach also wesentlich davon ab, inwieweit die Zivilgesellschaft herausgebildet und die "Hegemonie" der Bourgeoisie enwickelt ist. <br />
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Mit dem Begriff der Hegemonie versucht Gramsci der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass sich die Macht der Bourgeoisie nicht nur auf das Staatliche Gewaltmonopol und die Repressionsapparate stützt, sondern wesentlich über ideologische Integration und die Erzeugung von "Konsens" abgesichert wird. Hegemonie bezeichnet also die politisch-ideologische Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über eine andere. "Die 'normale' Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne daß der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt, sondern im Gegenteil sogar versucht wird, zu erreichen, daß der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint […]" (H. 13, §37, S. 1607-1613). Konsens bezeichnet hier einen Zustand, in dem die Beherrschten die Herrschaft zumindest passiv ertragen oder sogar aktiv die Sichtweise übernehmen, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse entsprächen auch ihren Interessen und seien die bestmöglichen. Gramsci schreibt, dass "eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. […] Die politische Führung wird zu einem Aspekt der Herrschaft, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Klassen zur Enthauptung derselben und zu ihrer Machtlosigkeit führt. Es kann und muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben." (H. 1, §44, S. 101-113) <br />
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Heute wird der Begriff der Hegemonie fast ausschließlich Gramsci zugeschrieben, dabei war er zu dessen Lebzeiten unter den Theoretikern der Kommunistischen Internationale weit verbreitet und wurde breit diskutiert. Wie Buci-Glucksmann bemerkt, war er "im gesamten Marxismus der Dritten Internationale überaus geläufig. Man findet ihn vor allem unter der Feder Lenins vor 1917, aber auch später. Man finet ihn ebenso oft bei Bela Kun, Varga, Stalin, und vor allem Bucharin, der ihn in einer Weise benutzte, die der Gramscis nahezustehen scheinen könnte". <ref>Buci-Glucksmann, Gramsci und der Staat, S. 17.</ref> <br />
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Die "führende Klasse" oder Klassenfraktion ist laut Gramsci in ihrem Ringen um Hegemonie also in der Regel darum bemührt, alle anderen Fraktionen ihrer Klasse und ihrer "verbündeten Klassen" in ihren "Block an der Macht" zu integrieren. Das gelingt nur, indem sie mit diesen anderen Fraktionen ein Komprimissprogramm aushandelt, das bestmöglich das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse zusammenfasst und deren innere Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Der Ort, an dem diese Kompromisse ausgehandelt und schließlich in politische Praxis übersetzt werden, ist der bürgerliche Staat selbst. Gegenüber den "feindlichen Klassen" (also dem Proletariat und den anderen Werktätigen) tritt die Bourgeoisie als "herrschend" auf, sie übt ihre Hegemonie einerseits durch Integration ihrer ideologischen Führer und andererseits durch materielle Zugeständnisse aus: "Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, daß sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, daß also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, daß solche Opfer und ein solcher Kompromiß nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt." (H. 13, §18, S. 1565-1573) Gramsci beschreibt in dieser Formulierung den grundsätzlichen Klassencharakter des Staates. Die Kompromisse können nie "das Wesentliche" betreffen - also die kapitalistische Produktionsweise - sondern sich nur in deren Rahmen bewegen. <br />
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Gramscis Staatstheorie knüpft eindeutig an die Auffassung des Staats als "ideeller Gesamtkapitalist" (s.o.) an, indem sie einerseits die Integration der gesamten herrschenden Klasse in einem "historischen Block" betont und andererseits die zumindest passive Einbindung der Beherrschten im Rahmen der Hegemonie betont. Mit einer Staatsauffassung, die den bürgerlichen Staat im Monopolkapitalismus als "alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole" (s.o.) versteht, ist Gramscis Ansatz kaum zu vereinbaren. <br />
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Mit Blick auf den Staat schreibt Gramsci außerdem, dieser sei "das Instrument zur Anpassung der Zivilgesellschaft an die ökonomische Struktur". (H. 10.II, §15, S. 1267) Dabei spielen Medien und andere ideologische Apparate eine entscheidende Rolle: "Was 'öffentliche Meinung' genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der 'Zivilgesellschaft' und der 'politischen Gesellschaft', zwischen dem Konsens und der Gewalt. Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft. […] die öffentliche Meinung, wie sie heute Verstanden wird, ist am Vorabend des Untergangs der absolutistischen Staaten entstanden, das heißt in der Zeit des Kampfes der neuen bürgerlichen Klasse um die politische Hegemonie und die Erlangung der Macht. […] [Es entbrennt ein] Kampf ums Monopol der Organe der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, Parlament". (H. 7, §83, S. 916-917)<br />
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Verliert die herrschende Klasse ihre Hegemonie, so kommt es zur "Hegemonie-" bzw. "Autoritätskrise": "Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr 'führend', sondern einzig 'herrschend' ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die große Masse sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann". (H. 3, §34, S. 354-355) Der Verlust der Hegemonie darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem automatischen Verlust der Macht, schließlich verfügt die herrschende Klasse auch bei schwindendem Konsens noch immer über die Mittel des Zwangs. <br />
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Zu den strategischen Schlussfolgerungen, die Gramsci aus seiner Staatstheorie ableitete, siehe den Dissens-Artikel zu [[Staat und Revolution]] und dort den Abschnitt "Bewegungs- und Stellungskrieg". <br />
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Einige offene Fragen zu Gramsci und seiner Staatstheorie werden von unserer AG tiefergehend behandelt werden: Handelt es sich dabei um einen wegweisenden Beitrag zur marxistischen Staatstheorie im Zeitalter des Imperialismus und des entwickelten bürgerlichen Staats, an den die Kommunisten anknüpfen und den sie weiterentwickeln müssen? Oder enthält Gramscis Theorie bereits wesentliche revisionistische Abweichungen, die es den verschiedenen opportunistischen Strömungen, die sich heute auf ihn berufen, leicht machen, seine Theorie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?<br />
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==="Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas)===<br />
Nicos Poulantzas war ein griechischer Theoretiker, der in den 1960er und 70er Jahren eine Reihe an marxistischen Studien verfasste. Er sympathisierte nach 1968 mit der eurokommunistischen griechischen kommunistischen Partei des Inlands (KKE-Inland) und stand – in Frankreich lebend - in kritischer Distanz zur Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). In seinen klassen- und staatstheoretischen Schriften ist der Einfluss u.a. von Louis Althussers Strukturalismus sowie [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #"Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci) | Antonio Gramscis Hegemonietheorie]] sichtbar. In der marxistischen Debatte um den Staat hat Poulantzas tiefe Spuren hinterlassen, was primär zurückgeführt werden kann auf seine Konzeption des Staates als „Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“. Historisch bedeutsam war dabei zunächst die Auseinandersetzung mit Ralph Miliband; im deutschsprachigen Raum wurde seine Theorie u.a. über Joachim Hirsch und Alex Demirovic wieder in die Diskussion eingebracht.<br />
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Poulantzas formuliert in der Einleitung zur ''Staatstheorie'' den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Es ist nicht der Klassencharakter des Staates, der zur Debatte steht: „Jeder Staat ist ein Klassenstaat; jede politische Herrschaft ist Klassendiktatur; der kapitalistische Staat ist ein Staat der Bourgeoisie; der kapitalistische Staat im Allgemeinen und jeder kapitalistische Staat im Besonderen sind Diktaturen der Bourgeoisie“ <ref> Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Sozialistische Demokratie, Hamburg 1978, S. 155.</ref>, all dies sind für ihn „Banalitäten“ - zwar richtig, aber nicht weiter ausführenswert. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, vielmehr stellt es sich hier neu: „[W]arum greift die Bourgeoisie in ihrer Herrschaft auf diesen nationalen Volksstaat zurück, diesen modernen Repräsentativ-Staat mit seinen spezifischen Institutionen, und nicht auf einen anderen? Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich genau diesen Staat aussuchen würden, wenn sie den Staat komplett selbst und nach ihrem Geschmack aufbauen würden.“ <ref> ebd. S.40.</ref> Eine verwandte Frage hatte bereits der sowjetische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis knapp 50 Jahre, vorher gestellt: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“ Poulantzas gibt in der Einleitung auch eine vorläufige, knappe Antwort auf die von ihm formulierte Frage: „Der Staat stellt ein materielles Gerüst dar, das in keiner Weise auf die politische Herrschaft reduziert werden kann. Der Staatsapparat, dieses besondere und furchterregende Etwas, erschöpft sich nicht in der Staatsmacht. [...] Wenn der Staat nicht einfach ein vollständiges Produkt der herrschenden Klassen ist, so haben sie sich seiner auch nicht einfach bemächtigt: Die Macht des Staates (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) hat in dieser Materialität ihre Spuren hinterlassen. Die Handlungen des Staates reduzieren sich nicht auf die politische Herrschaft, sie sind jedoch konstitutiv von ihr gezeichnet.“ <ref> ebd. S.42.</ref> <br />
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Eine wichtige Aufgabe des Staates sieht Poulantzas in der Repräsentation und Organisation der herrschenden und der Desorganisation der beherrschten Klassen. Die Bourgeoisie ist keine widerspruchsfreie Einheit. Sie verfolgt zwar zwangsläufig als Klasse einheitlich das Ziel der Kapitalverwertung, dieses Ziel bringt sie aber auch in direkte Konkurrenz untereinander, weshalb, wie Engels sagt, der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert. Poulantzas zufolge ist die Kapitalistenklasse in Klassenfraktionen gespalten, die unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Interessen verfolgen. Diese Klassenfraktionen formieren sich unter der Hegemonie einer Fraktion zu einem „Block an der Macht“, in welchen auch andere herrschende Klassen miteinbezogen werden. Die Hegemonie einer Fraktion bedeutet dabei, dass diese die äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Sinne optimieren kann; und diese Hegemonie erst ermöglicht die Einheit dieses Blocks gegenüber den beherrschten Klassen. Poulantzas betont, dass nicht nur Teile der Bourgeoisie (etwa das Monopolkapital) den Machtblock stemmen: „Diese bürgerlichen Fraktionen sind in ihrer Gesamtheit, obwohl in unterschiedlichem Maße, auf dem Terrain der politischen Herrschaft angesiedelt, und gehören somit immer zum Block an der Macht“.<ref> ebd. S.159.</ref> Dieser Machtblock ist aber konfliktdurchzogen, er stellt ein umkämpftes, instabiles Kompromissgleichgewicht dar: „Der Machtblock stellt eine von inneren Widersprüchen gekennzeichnete Einheit von politisch herrschenden Klassen und Fraktionen unter dem Schutz der hegemonialen Fraktion dar. Der Klassenkampf, die Interessenrivalitäten zwischen den gesellschaftlichen Kräften sind darin ständig gegenwärtig, wobei diese Interessen ihren spezifischen Antagonismus bewahren“ (PMGK, S. 239). In diesem Sinne ist die konkrete Politik des Staates und die Hegemonie im Machtblock immer umkämpft, und dieser Kampf wird im Staat, in seinen ideologischen (Medien, Think Tanks, …) aber auch repressiven Apparaten (Polizei, Armee, …) ausgetragen.<br />
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Um die „Rolle der Vereinheitlichung und Organisierung der Bourgeoisie und des Blocks an der Macht“ <ref> ebd. S.158.</ref> zu erfüllen, muss der Staat laut Poulantzas eine „relative Autonomie“ gegenüber den einzelnen Bestandteilen des Blocks bewahren: „Unter relativer Autonomie dieses Staatstyps verstehe ich […] das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Feld des Klassenkampfes, insbesondere seine relative Autonomie gegenüber den Klassen oder Fraktionen des Machtblocks und in erweiterter Form auch gegenüber seinen Verbündeten oder Stützen […] Ich hoffe, damit klar genug die Distanz auszudrücken, die diese Auffassung des Staats von einer simplifizierten und vulgarisierten Auffassung des Staats trennt, die in ihm das Werkzeug oder Instrument der herrschenden Klasse sieht“ (PMGK S. 256).<br />
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Der Staat als Instrument (siehe auch die Abschnitte zum Staat als [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als klassenneutrales Instrument | klassenneutrales Instrument]] und als [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole | alleiniges Instrument der Monopole]]) und der [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt) | Staat als Subjekt]]: dies beides sind aus Poulantzas‘ Sicht falsche Staatsverständnisse, die er umschiffen will mit dem Verständnis des Staates als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses. Der Staat als Instrument/Werkzeug/Sache unterstellt eine Passivität oder Neutralität des Staates. Dieser wird als ein Apparat verstanden, der zur Ausübung der politischen Macht von der herrschenden Klasse oder auch einer Klassenfraktion verwendet wird, der aber eben auch so wie er ist übernommen werden kann, um gegen die herrschende Klasse gewendet zu werden. Eine Autonomie des Staates ist ausgeschlossen. Eine solche instrumentalistische Konzeption des Staates sieht Poulantzas in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der eurokommunistischen PCF in den 1970ern: „An dieser Konzeption kritisierte ich vor allem, dass sie zu der Vorstellung des mit dem Monopolkapital »fusionierten« Staates führt, einem Staat der im Dienste der Monopole steht und keinerlei Autonomie besitzt“ <ref> ebd. S.160.</ref>. Der Staat als Subjekt wiederum lässt ihn vollständig autonom werden, er steht als Akteur außerhalb der Klassen. Er agiert, koordiniert, verwaltet, reguliert selbstständig. Seine Autonomie bezieht sich „auf die angebliche Macht des Staates und auf die Träger dieser Macht und der staatlichen Rationalität: auf die Bürokratie und speziell auf die politische Elite“ <ref> ebd. S.160.</ref>. <br />
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Poulantzas schlägt vor, die „Sackgassen des ewigen Pseudodilemmas der Diskussion zwischen der Konzeption des Staates als einer Sache bzw. einem Instrument und der Konzeption des Staates als einem Subjekt“ <ref> ebd. S.159f.</ref> zu vermeiden, indem der Staat über den Klassenkampf selbst verstanden wird, genauer: „ … indem ich sage, dass der Staat […] nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden darf, sondern, wie auch das »Kapital«, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ Der Staat spiegelt also nicht einfach ein gesellschaftliches Verhältnis wider, er selber konstituiert dieses Verhältnis. In der Vielzahl seiner Institutionen findet die ständige Austarierung zwischen Klassen und Klassenfraktionen statt. Diese Austarierung entspricht aber nicht direkt dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, beispielsweise sind die beherrschten Klassen nicht in den Staatsapparaten anwesend: „Sie organisieren und vereinheitlichen den Block an der Macht, indem sie die beherrschten Klassen ständig desorganisieren und spalten. Sie polarisieren sie gegenüber dem Block an der Macht und schließen ihre politischen Organisationen aus.“ <ref> ebd. S.171.</ref><br />
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Bei Poulantzas bleibt unklar, wie der Begriff der Verdichtung genau zu verstehen ist, wohingegen er ausführt, was es mit der Materialität hier auf sich hat. Mit Blick auf die Staatstheorie in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der PCF wendet er ein, dass diese „die eigenständige Materialität des Staates übersieht. Diese Materialität eines Staates, der als Werkzeug oder Instrument angesehen wird, hat keine eigene politische Bedeutung. Diese Bedeutung wird auf die Staatsmacht beschränkt, d.h. auf die Klasse, die dieses Instrument manipuliert. Das würde im Extremfall implizieren, dass das gleiche Instrument (das verschiedenen, allerdings zweitrangigen Modifikationen unterliegt) durch eine Veränderung der Staatsmacht, also durch die Macht der Arbeiterklasse, für den Übergang zum Sozialismus anders eingesetzt werden könnte“ <ref> ebd. S.160.</ref>. Dieses Defizit meint er zu beheben: „Das materielle Gerüst seiner [des Staates] Institutionen wird durch die Beziehung des Staates zu den Produktionsverhältnissen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung konstituiert, die sich in der kapitalistischen Trennung des Staates von diesen Verhältnissen konzentriert. […] Der Staat hat eine eigene Dichte und Widerstandskraft und reduziert sich nicht auf ein Kräfteverhältnis. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Klassen hat sicherlich immer Auswirkungen innerhalb des Staates, sie überträgt sich jedoch nicht direkt und unmittelbar. Sie passt sich der Materialität der verschiedenen Apparate an und kristallisiert sich im Staat nur in gebrochener und differenzierter, den Apparaten entsprechender Form. Eine Veränderung der Staatsmacht allein transformiert die Materialität des Staates nicht“ <ref> ebd. S.161f.</ref>. Als Beispiele für die Materialität führt Poulantzas u.a. die Organisierung kapitalistischen Wissens an: „Die geistige Arbeit (Wissen/Macht) ist in den Apparaten konzentriert und steht im Gegensatz zur tendenziell in den Volksmassen konzentrierten manuellen Arbeit, die von den organisatorischen Funktionen ausgeschlossen und getrennt sind“ <ref> ebd. S.83.</ref>.<br />
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==="Akkumulationsregime" (Regulationsschule)===<br />
Hier sollen die offenen Fragen und Aufgaben ausformuliert werden, die sich aus der Staatstheorie der "Regulationsschule" und deren Theorie der "Akkumulationsregime" ergeben. Handelt es sich bei dieser Theorie um einen wesentlichen Beitrag zur marxistischen Staatstheorie, die eine vertiefende Analyse der verschiedenen Formen der bürgerlichen Herrschaft seit der Entstehung des Kapitalismus erlaubt (z.B. durch die Unterscheidung eines "keynesianischen" und eines "neoliberalen Akkumulationsregimes")? Wie wird aus Perspektive der der Regulationsschule der Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt? Enthält diese Theorietradition wesentliche Abweichungen von den Grundannahmen der marxistischen Staatstheorie? Welche Verbinndung gibt es zu den Theorien von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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'''Vertreter:''' Zu den prominentesten Vertretern der Regulationsschule gehören heute die Staatstheoretiker Joachim Hirsch und Bob Jessop.<br />
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===Staat = Repressionsapparate / "neue Demokratie" (Maoismus)===<br />
Innerhalb des maoistischen Spektrums lässt sich als tendenzielle Gemeinsamkeit in der Staatsfrage ein besonderer Fokus auf die „bewaffneten Apparate“ des bürgerlichen Staats und eine weitgehende Vernachlässigung der Analyse anderer, nicht unmittelbar gewaltförmiger Herrschaftstechniken der Bourgeoisie (Integrationsideologien, ökonomischer Zwang, etc.) feststellen. Dies steht im engen Zusammenhang mit der Strategie des "Volkskriegs". Dieser Strategie liegt eine Perspektive auf den Staat zugrunde, die den Kampf um die politische Macht weitgehend auf den unmittelbaren militärischen Kampf und die Zerschlagung der bewaffneten Staatsapparate zuspitzt. Die maoistische Theorie der "neuen Demokratie" enthält außerdem die These einer möglichen dritten Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats.<br />
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Von einer einheitlichen und systematisch ausgearbeiteten "maoistischen Staatstheorie" kann genauso wenig die Rede sein, wie von einer homogenen maoistischen Strömung innerhalb des Marxismus. In den klassischen Texten von Mao Tse-Tung findet sich vor allem keine eigene, systematisch ausgearbeitete Analyse des bürgerlichen Staats im Imperialismus. Die chinesischen Revolutionäre kämpften nicht gegen einen entwickelten bürgerlichen Staat, wie er sich in den imperialistischen Zentren herausgebildet hatte, sondern gegen einen agrarischen Feudalstaat mit kolonialen Elementen. Der Großteil von Maos Äußerungen über den Staat sind in diesem Kontext zu sehen, so zum Beispiel die oft zitierte Losung: "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 74.</ref> An anderer Stelle führt Mao diese Zuspitzung auf die Frage der militärischen Macht und der bewaffneten Apparate weiter aus und verallgemeinert sie als die aus seiner Sicht wichtigste Kernaussage der marxistischen Lehre vom Staat: "Vom Standpunkt der marxistischen Lehre vom Staat ist die Armee die Hauptkomponente der Staatsmacht. Wer die Staatsmacht ergreifen und behalten will, der muß eine starke Armee haben. Manche Leute bezeichnen uns höhnisch als Anhänger der ‚Theorie von der Allmacht des Krieges‘; jawohl, wir sind Anhänger der Theorie von der Allmacht des revolutionären Krieges, und das ist nicht schlecht, sondern gut, das ist marxistisch. [...] Die Erfahrungen des Klassenkampfes im Zeitalter des Imperialismus lehren uns: Die Arbeiterklasse und die übrigen Werktätigen Massen können nur mit der Macht der Gewehre die bewaffneten Bourgeois und Grundherren besiegen; in diesem Sinne können wir sagen, daß die ganze Welt nur mit Hilfe der Gewehre umgestaltet werden kann."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 75-76.</ref><br />
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In genau diesem Sinne wird die Staatsfrage auch in Teilen der zeitgenössischen maoistischen Strömungen behandelt. Viele zeitgenössische Mao-Gruppen beziehen sich dabei auf die Traditionslinie der peruanischen Guerillabewegung „Leuchtender Pfad“ bzw. der KP Perus (Vollständiger Name: ''Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui'') und ihres politischen und ideologischen Anführers „Presidente Gonzalo“ (Abiamel Guzmán). (''Anmerkung: Alle Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen sich auf die Broschüre „Einheitsbasis der Kommunistischen Partei Perus – angenommen auf dem I. Parteitag 1988“<ref>http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/gonzalo/1439-die-einheitsbasis-der-kommunistischen-partei-perus-auf-deutsch</ref>, die leider zahlreiche Übersetzungsfehler enthält.'')<br />
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Der Staat erscheint auch hier vor allem als bewaffneter Apparat, der militärisch bekämpft und zerschlagen werden muss:<br />
"die revolutionäre Gewalt ist ausnahmslos ein universelles Gesetz; die Revolution ist die gewaltsame Ersetzung einer Klasse durch eine andere. Er [Mao Tse-Tung] legte seine große These fest: ‚Die Macht kommt aus den Gewehrläufen!‘" (Über den Marxismus-Leninismus-Maoismus, S. 7) "[der] Volkskrieg, der durch eine revolutionäre Armee neuen Typs, unter der absoluten Führung der Partei, Stück für Stück die alte Macht zerstört, hauptsächlich seine bewaffneten und repressiven Kräfte." (Programm und Statuten der KP Perus, S. 16-17.)<br />
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Unter dem Begriff der „neue demokratische Revolution“ vertreten die Maoisten der KP Perus ein spezifisches Etappenmodell, das die Stufen der Revolution festlegt, die die unterdrückten Länder auf dem Weg zum Sozialismus durchlaufen müssen. Der Klasseninhalt der Revolution und der jeweiligen Staatsformen, die diese hervorbringen, ändert sich jedoch je nach Entwicklungsstand des jeweiligen Landes: "Um unser Endziel, den Kommunismus, zu erreichen, müssen wir Marxisten-Leninisten-Maoisten in Perspektive drei Typen von Revolutionen durchführen: 1) Die demokratische Revolution, das ist die bürgerliche Revolution neuen Typs in den rückständigen Ländern, unter der Führung des Proletariats, in deren Verlauf eine gemeinsame Diktatur des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und unter bestimmten Bedingungen der Mittelbourgeoisie unter der Führung des Proletariats errichtet wird; 2) Die sozialistische Revolution in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern, die die Diktatur des Proletariats errichtet; 3) Kulturrevolutionen, sie werden gemacht um die Revolution unter der Diktatur des Proletariats fortzusetzen, um jede Generierung des Kapitalismus zu unterwerfen und zu eliminieren und auch mit den Waffen gegen jedes streben nach Restauration des Kapitalismus zu kämpfen" (Allgemeine politische Linie, S. 19)<br />
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Mit der Theorie der „neuen demokratischen Revolution“ sind spezifische staatstheoretische Grundannahmen verbunden. Die „Neuen Demokratie“ gilt aus maoistischer Sicht als dritte Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats - ihr Klassencharakter ist wesentlich durch einen Klassenkompromiss bzw. ein Klassenbündnis bestimmt: "Die Neue Demokratie. In erster Stelle ist es eine Entwicklung der marxistischen Staatstheorie mit der Festlegung der drei Typen der Diktatur: 1. die Diktatur der Bourgeoisie, in den alten bürgerlichen Demokratien wie in den Vereinigten Staaten, dazu zählen auch die Diktaturen, die in unterdrückten Nationen, wie den lateinamerikanischen existieren, 2. die Diktatur des Proletariats wie in der Sowjetunion oder in China vor der Usurpation der Macht durch die Revisionisten und 3. die Neue Demokratie als gemeinsame Diktatur, die auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern basiert, geführt vom Proletariat mit der Kommunistischen Partei an der Spitze […]." (Über den Marxismus-Leninismus, S. 8) Im Anschluss an Mao und Gonzalo geht die KP Perus davon aus, dass die "Staatssysteme der Welt" auf „drei Grundtypen reduziert werden können, laut ihres Klassencharakters: Republik unter der Diktatur der Bourgeoisie, die auch die Staaten der alten Demokratie ausmachen und die Republik der gemeinsamen Diktatur der Grundbesitzer und Großbourgeoisie; Republiken unter der Diktatur des Proletariats; und Republik unter der gemeinsamen Diktatur der revolutionären Klassen […]." (Allgemeine politische Linie, S. 33.)<br />
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Andere Grundsätzlichere Fragen zum Thema Maoismus, wie die Strategie des „langfristigen Volkskriegs“, die Etappe der "neuen demokratischen Revolution" oder die Theorie des „Zweilinienkampfs“ werden perspektivisch durch die [[AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei]] bearbeitet. Fragen zur Polemik zwischen der Sowjetunion und China über die „friedliche Koexistenz“, die „Kulturrevolution“ und die maoistische Position, die Sowjetunion sei „sozialimperialistisch“ gewesen, gehören zum Arbeitsbereich der [[AG Sozialismus]].<br />
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Eine längere Version dieses Artikels (befindet sich noch in Bearbeitung) findet ihr hier: '''[[Die Staatsfrage im Maoismus]]'''<br />
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Vertreten werden solche oder ähnliche Positionen in Deutschland zum Beispiel von der Sozialistischen Linken (SoL) oder dem mittlerweile aufgelösten Jugendwiderstand (JW).<br />
===Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt)===<br />
Der ''Gegenstandpunkt'' (GSP, früher ''Marxistische Gruppe'') vertritt eine eigene Staatstheorie, die davon ausgeht, der bürgerliche Staat könne aus den abstrakten Kategorien der politischen Ökonomie "abgeleitet" werden. Den Ausgangspunkt dieser Ableitung bildet die einfache Warenzirkulation, in welcher die Warenbesitzer sich wechselseitig als "freie" und "gleiche" Privateigentümer anerkennen. Die Autoren des GSP sehen drei gemeinsame Interessen bei allen Privateigentümern: Die Erhaltung der Revenue, eine möglichst hohe Revenue und den kontinuierliche Fluss der Revenue. Daraus schlussfolgern sie, dass Schutz und Sicherung des Privateigentums, die Sicherung des Wirtschaftswachstums und ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft dem Gesamtinteresse aller Privateigentümer entsprechen, wozu als viertes das Interesse an gleichen Konkurrenzvoraussetzungen hinzutritt. Weil die Privateigentümer aber in der Verfolgung ihrer besonderen Interessen nicht die allgemeinen Interessen durchsetzen können, bedarf es des Staates: "Das besondere Dasein des Staates neben und außer der Gesellschaft der konkurrierenden Privaten – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit – ist das Resultat dieses Widerspruchs zwischen besonderem und allgemeinem Interesse in seinen verschiedenen Existenzweisen. Der Staat verkörpert die Loslösung der allgemeinen Interessen aus der Sphäre der Privaten und ihre Verwaltung in der Sphäre des Staates. Mit der Besonderung des Staates werden die allgemeinen Interessen zu seinen besonderen, deren Verwaltung allein ihm obliegt. <ref> von Flatow, Sybille / Huisken, Freerk: Zum Problem der Ableitung des bürgerlichen Staates, in: Prokla, 7 (1973), S. 121 </ref><br />
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Fertig ausformuliert und in den Reihen des GSP kanonisiert wurde diese "Staatsableitung" von Karl Held in ''Der bürgerliche Staat''. In Helds Analyse wird aus der „Besonderung des Staates“ letztendlich der „Staat als Subjekt“: "Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit und Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert.<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Staat hält hier nicht nur die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Reproduktion aufrecht, er wird zum eigenständigen Subjekt mit eigenen Interessen: "Der souveräne Staat ist eine von den Bürgern getrennte, selbständige Instanz, die mit keinem besonderen Interesse identisch ist und gerade und nur deswegen von allen anerkannte Gewalt ist, weil er sein Interesse, das Allgemeinwohl, gegen die Privatsubjekte durchsetzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref> "In der Unterordnung aller Aufgaben, um deren Erfüllung willen er sich als politisches Subjekt der Ökonomie betätigt, unter das Kriterium des wirtschaftlichen Wachstums, in der Relativierung aller Funktionen entsprechend dieser Zielsetzung der Wirtschaftspolitik fällt der Grund des bürgerlichen Staates – die freie Konkurrenz – unmittelbar zusammen mit seinem Zweck: er ist bewußter Agent des Inhalts der Konkurrenz, die bekanntlich nicht die Individuen, sondern das Kapital in Freiheit setzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates besteht daher beim GSP auch zuallererst darin, dass er nicht im Interesse der einen Klasse eine andere, sondern alle Individuen gleichermaßen unterwirft: "Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, daß er Klassenstaat ist: Durch die gleiche Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der Nutzen aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben." <ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat, URL: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat (29.12.2018) </ref><br />
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Der Staat wird dadurch also wesentlich (und nicht nur oberflächlich) zu einem (klassen)neutralen Subjekt erklärt, welches die äußeren Bedingungen der Konkurrenz organisiert und diese Bedingungen den Warenbesitzern unterschiedslos aufzwingt. <br />
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'''Vertreter:''' Neben dem ''Gegenstandpunkt'', dessen Aktivitäten sich fast auschließlich auf das akademische Milieu konzentrieren, werden diese Positionen auch von vielen studentischen Jugendgruppen in der "linksradikalen" und Antifa-Szene vertreten. Dies hat häufig damit zu tun, dass Leute aus der Szene ihre eigene theoretische Bildung über Lesekreise und Seminare des Gegenstandpunkt erwerben. Besonders in Teilen der ''Sozialistischen Jugend - Die Falken'' lässt sich ein starker ideologischer Einfluss des GSP feststellen, das gleiche Phänomen taucht aber auch immer wieder in Gewerkschaftsjugenden oder ''solid SDS''-Gruppen auf. Besonders stark ist zudem die Überschneidung zu "antinationalen" Gruppen, wie etwa bei der Dortmunder ''Gruppe K''.<br />
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Einen Text zur ausführlicheren Einbettung in den Kontext der "Staatsableitungsdebatte" findet ihr hier: [[Der Staat als Subjekt (Staatsableitungsdebatte)]]<br />
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Einen Hintergrundartikel zum Gegenstandpunkt hier: [https://kommunistische.org/diskussion/standpunkt-gegen-den-marxismus/ Standpunkt gegen den Marxismus (Thanasis Spanidis)]<br />
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===Anarchistische Staatskritik===<br />
Der "Anarchismus" (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) umfasst ein sehr diffuses und heterogenes Spektrum, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Dennoch lassen sich grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Anarchisten vertreten eine politische Haltung, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbstbestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammenschließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. Im Mittelpunkt stehen die Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Selbstverwirklichung der Individuen im Rahmen der kollektiven Selbstverwaltung („Autonomie“) möglichst kleiner Organisationseinheiten. Im Anarchismus fließen die Traditionen des bürgerlichen Liberalismus (individuelle Freiheit) und der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen (Kollektivität und Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Heute wird häufig das Adjektiv "libertär" (deutsch: freiheitlich) als Synonym für „anarchistisch“ benutzt.<br />
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An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich aus Sicht der Anarchisten auch schon die Bewegung selbst messen lassen, die für die „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Position so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren, geschweige denn nach der siegreichen Revolution einen eigenen Staat zur Niederhaltung der Unterdrücker und zum Aufbau und zur Verteidigung der Revolution schaffen darf. In Abgrenzung zu solchen individual-anarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen.<br />
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Die anarchistische Staatskritik richtet sich nicht hauptsächlich gegen den bürgerlichen Staat als Klassenstaat der Bourgeoise, sondern lehnt jede Form der Macht, der Autorität und der Staatlichkeit überhaupt als Grundübel der Gesellschaft ab. Der Anarchismus vertritt also in letzter Konsequenz einen klassenneutralen Machtbegriff – er lehnt die Macht nicht als Klassenmacht der Ausbeuter ab, sondern als abstraktes Ding an sich, das aus der Welt geschafft werden soll. <br />
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'''Marx und Engels vs. Bakunin:''' Die erste ausführliche theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. <br />
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Engels fasste die Kritik an der Staatsauffassung Michael Bakunins und der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen: "Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. [...]<br />
Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll,[...] so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität <nowiki>=</nowiki> Staat <nowiki>=</nowiki> absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!" <ref>Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33; Dietz-Verlag; S. 388-389.</ref><br />
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Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der politische Ausdruck dieser Widersprüche ist nicht die Klassenherrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter und alle anderen Werktätigen, sondern die Macht und Autorität des Staates überhaupt. Diese Auffassung hat weitreichende taktische und strategische Konsequenzen (siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]]).<br />
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'''Heutige Vertreter:''' Der Anarchismus in seiner klassischen Form, also als politische Ideologie und Bewegung mit realer Verankerung in der Arbeiterbewegung (wie ihn Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder die spanischen Anarchosyndikalisten vertraten) ist heute kaum mehr präsent. Vulgarisierte Formen des Anarchismus sind dagegen in der "autonomen" Szene und linken Subkulturen nach wie vor sehr weit verbreitet. Neben zahlreichen Splittergruppen, die in der BRD heute ein gemeinsames, hauptsächlich kleinbürgerlich geprägtes Milieu bilden und von der Arbeiterbewegung meist isoliert sind, bildet die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) eine gewisse Ausnahme. Diese Organisation versucht im Rahmen einer kleinen anarchistischen Richtungsgewerkschaft außerhalb der DGB-Gewerkschaften Klassenkämpfe und Streiks zu organisieren.<br />
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Verschiedene "anarchokommunistische" Gruppen und Zusammenschlüsse in Deutschland versuchen Aspekte des Marxismus (gewerkschaftliche Organisation, Klassenkampf, Vergesellschaftung der Produktionsmittel) mit Standpunkten des Anarchismus (Ablehnung von Hierarchien, zentralistischer Organisationsformen und der Diktatur des Proletariats) zu vereinen. Seit Dezember 2018 existiert mit der Initiative [https://www.dieplattform.org/wir/ "die Plattform"] z.B. ein Versuch, einen bundesweiten "plattformistischen" anarchakommunistischen Organisationszusammenhang aufzubauen und im Rahmen einer eigenen Schriftenreihe eine theoretische Debatte anzustoßen.<br />
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Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxistismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff. Die Rojava-Solidarität vereint heute ein politisches Spektrum, dass von der MLPD über die verschiedenen roten Gruppen, die iL, die Linkspartei und bis zu den antinationalen und antideutschen Zusammenhängen reicht.<br />
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==Bezug zu unseren Grundannahmen==<br />
==Wie wollen wir den Dissens klären?==<br />
==Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?==</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Der_Klassencharakter_des_b%C3%BCrgerlichen_Staats&diff=6976Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats2020-01-09T09:45:29Z<p>Dio: /* Staatsmonopolistischer Kapitalismus */</p>
<hr />
<div>Zurück zur [[AG Formen bürgerlicher Herrschaft]]<br />
==Überblick==<br />
Dieser Artikel soll einen ersten groben Überblick über die verschiedenen Auffassungen zum Klassencharakter des bürgerlichen Staats innerhalb des kommunistischen und im weiteren Sinne "linken" Spektrums geben. Ist der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" die organisierte politische Macht der gesamten Bourgeosie und damit das Instrument ihrer Klassenherrschaft? Oder ist der Staat an sich ein klassenneutraler Apparat, der sowohl für die Zwecke der Kapitalistenklasse, als auch im Interesse der Arbeiter in Bewegung gesetzt werden kann? Ist der Staat im Stadium des Imperialismus nur noch das Herrschaftsinstrument eines kleinen Teils der Kapitalisten, der Monopolbourgeoisie, die ihre Macht mit Hilfe des Staats auch gegen die "kleine und mittlere Bourgeoisie" durchsetzt? Oder ist der bürgerliche Staat nach 1945 gar zu einer "echten Demokratie" geworden, in der die politische Macht nicht mehr von den besitzenden Klassen ausgeht, sondern von der demokratischen Mehrheit?<br />
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Die Unterschiede in der Analyse und die Einschätzung des Klassencharakters des bürgerlichen Staats haben weitreichende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung. Die sich daraus ergebenden Dissense werden an anderer Stelle unter dem Stichwort "'''[[Staat und Revolution]]'''" dargestellt.<br />
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===Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise"===<br />
Die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus (Marx, Engels, Lenin) bestimmten den bürgerlichen Staat als "ideellen Gesamtkapitalisten" und als Instrument der "Diktatur der Bourgeosie". <br />
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Schon im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 schrieben Marx und Engels: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. […] Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." <ref> Marx, K., Engels, F.: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, Berlin/DDR 1977, S. 464/482. </ref> Diese Definition des Staates als „Ausschuss“ zur Regelung der „gemeinschaftlichen Geschäfte“ der Bourgeoisie deckt sich mit der späteren Formulierung von Engels, in der er den bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnete: "Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten […] nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. <ref> Engels,F.: Zur Wohnungsfrage, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 18, Berlin/DDR 1973, S.257-258.</ref> Der Staat schützt die kapitalistische Produktionsweise sowohl gegen den Widerstand der Arbeiter als auch gegen die sich widersprechenden Einzelinteressen individueller Kapitalisten. Laut Engels setzt der „ideelle Gesamtkapitalist“ also das Interesse der gesamten herrschenden Klasse nicht nur gegenüber dem Proletariat, sondern auch gegenüber ihrer einzelnen Klassenindividuen durch: "Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." <ref> Engels,F.: Anti-Dühring (1877), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 20, S. 260.</ref> <br />
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Der Staat ist also einerseits Instrument zur Unterdrückung der Arbeiter und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse, gleichzeitig ist er notwendig, um die Bourgeoisie über die kapitalistische Konkurrenz hinweg zu Kompromissen zu zwingen und sie so erst als herrschende Klasse zu organisieren.<br />
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Lenin führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine scharfe Polemik gegen die Revisionisten und Reformisten in der deutschen und russichen Sozialdemokratie. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fasste er die Staatsauffassung von Marx und Engels in seiner Schrift ''Staat und Revolution'' (1917) zusammen: "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen 'Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. <ref> Lenin, W.I.: Staat und Revolution, in: in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Lenin Werke Bd. 25, Berlin/DDR 1974, S. 399. </ref> Der Staat ist demnach eine Macht, "die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben. Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt ‚nicht mehr unmittelbar zusammenfällt‘ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer ‚selbsttätigen bewaffneten Organisation‘. [...] Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?" <ref> ebd., S. 401.</ref><br />
Abschließend fasste Lenin seine Studien zur marxschen Staatsauffasung in der Bestimmung des bürgerlichen Staats als „Diktatur der Bourgeoisie“ zusammen: "Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist […]. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie." <ref> ebd., S. 425.</ref><br />
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Von dieser Analyse ausgehend formulierten die Klassiker die strategische Orientierung auf die "Zerschlagung des bürgerlichen Staats" und die Errichtung der "Diktatur des Proletariats". Siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]].<br />
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Für eine ausführlichere Darstellungen der Annahmen der Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus zum Staat, siehe: [[Grundannahmen Staat]]<br />
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===Der Staat als klassenneutrales Instrument===<br />
Vertreter dieser Auffassung gehen davon aus, dass der bürgerliche Staat und seine Organisationsapparate an sich klassenneutrale Instrumente seien. Das heißt sie werden unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen zwar von der Bourgeoisie benutzt, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen, die Arbeiterklasse niederzuhalten und die Bedingungen der Kapitalakkumulation möglichst günstig zu gestalten, könnten unter anderen Bedingungen (z.B. nach dem Wahlsieg einer Arbeiterpartei) jedoch genausogut im Interese des Proletariats in Bewegung gesetzt werden (z.B. um den Kapitalismus durch Sozialreformen allmählich in den Sozialismus zu überführen). Die Instrumente selbst, also die Staatsorganisationen vom Parlament über die Verwaltungs- bis hin zu den Repressionsorganen, verhalten sich dieser Auffassung nach also neutral zu den Zwecken ihrer Anwendung. Weder ihre konkrete Organisationsform noch das Personal, aus dem sie bestehen, tragen demnach Klassencharakter. Diese Auffassung steht im Widerspruch zu der Position, der bürgerliche Staat sei seiner Form und seinem Klasseninhalt nach "ideeller Gesamtkapitalist" und Ausdruck der "Diktatur der Bourgeoisie" (s.o.).<br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):'''<br />
Die klassischen Vertreter einer solchen Staatsauffassung waren die „Revisionisten“ in der deutschen Sozialdemokratie, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen und zentrale Annahmen des wissenschaftlichen Sozialismus zu "revidieren" begannen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Eduard Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. <br />
<br />
Bernstein bestritt in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899) die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Aufhebung des bürgerlichen Staates und schlug stattdessen einen friedlichen und demokratischen Reformweg zum Sozialismus vor. Bernstein argumentiert, die bisherige Ausrichtung der Sozialdemokratie auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus sei durch die Realität überholt. Das kapitalistische System habe sich als weitgehend krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, ein „Zusammenbruch“ des Kapitalismus bzw. eine revolutionäre Situation sei nicht mehr zu erwarten. Die Aufgabe der SPD sei es nun, im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch „Sozialreformen“ Verbesserungen für die Arbeiterklasse und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards zwischen den Klassen durchzusetzen. Den Weg, um diese Ziele zu erreichen, sah Bernstein in der schrittweisen Ausdehnung des parlamentarischen Einflusses der Sozialdemokratie bis hin zur Übernahme der Regierung. Diese würde dann weitreichende Reformen im Sinne der Arbeiterklasse und des Sozialismus durchsetzen. Das entsprechende Credo des Reformismus lautete: „Der Weg ist alles, das Ziel ist nichts“.<br />
<br />
Der klassische Reformismus setzt notwendig eine bestimmte Auffassung über den bürgerlichen Staat voraus. Wenn es möglich sein soll, den Kapitalismus allmählich durch Sozialreformen zu überwinden, so muss es auch möglich sein, dass die Arbeiterklasse diese Reformen im Staatsapparat gegen den Willen der Bourgeoisie durchsetzt oder diese zumindest zu Kompromissen zwingt – und zwar so weit, dass die Gesellschaft immer mehr sozialistische Züge annimmt und der Staat letztlich aufhört, bürgerlicher Staat zu sein und allmählich zu einem Instrument in den Händen der Arbeiterklasse wird. Dieses Instrument an sich muss also „klassenneutral“ sein und je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse sich entwickeln, kann es sowohl von der einen, als auch von der anderen Klasse kontrolliert und im eigenen Interesse eingesetzt werden. Der Staat steht in dieser rein instrumentalistischen Sichtweise der ihm zugrunde liegenden Produktionsweise also äußerlich gegenüber, er besitzt keine innere Verbindung zu ihr. Der Überbau scheint unabhängig von seiner ökonomischen Basis agieren zu können. Der bürgerliche Staat wird aus dieser Sichtweise nicht als spezifisches, den Klasseninteressen der Bourgeoisie entsprechend geformtes Werkzeug verstanden. Ergo kann das Proletariat dieses Werkzeug unverändert übernehmen, anstatt sich einen eigenen Apparat zu schaffen, der den spezifischen Erfordernissen und Klasseninteressen der Arbeitermacht entspricht.<br />
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'''Eurokommunismus:'''<br />
Ab den 1970er Jahren knüpften die sogenannten "Eurokommunisten" mit vielen ihrer Positionen an die theoretische Tradition des klassischen Revisionismus an, begründeten ihre Haltung aber damit, dass die Kräfteverhältnisse und somit auch der Charakter des bürgerlichen Staates sich nach 1945 grundlegend geändert hätten. Daher seien der „sowjetische Weg zum Sozialismus“ und die "Diktatur des Proletariats" als historischer Sonderfall überholt und Europa mittlerweile in eine Epoche der demokratischen Übergänge eingetreten. Sie vertraten die Einschätzung, die bürgerliche Demokratie sei nach dem Sieg über den Faschismus im Westen zu sehr gefestigt, als dass die Herrschenden gewaltsam gegen einen demokratischen Übergang zum Sozialismus vorgehen könnten. Die Hauptvertreter des Eurokommunismus waren die kommunistischen Parteien Frankreichs (PCF), Italiens (PCI) und Spaniens (PCE).<br />
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Die eurokommunistische Strategie des friedlichen, parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus ging mehr oder weniger offen davon aus, dass der Staat als ein „Feld im Klassenkampf" aufzufassen sei, auf dem sich zwar die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen widerspiegeln, das an sich aber klassenneutral sei. Durch Veränderungen der politischen Mehrheiten sollten der Staat und seine Institutionen durch die Kommunisten kontrolliert und im Sinne der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden. Die Regierung sollte ein Reformprogramm umsetzen, das die Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung Sozialismus entwickeln würde. Auch im Sozialismus sollte der bürgerlich-liberale Parlamentarismus als politische Herrschaftsform bruchlos beibehalten werden: „Die repräsentative Demokratie, kombiniert mit Formen der direkten Demokratie, kann ohne weiteres auch die Form des sozialistischen Systems sein.“<ref> Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen, Rom 1977, URL: https://www.zeit.de/1977/29/der-haeretiker-aus-asturien (letzter Zugriff: 21.12.2019).</ref> In Teilen der eurokommunistischen Strömung wurde sogar die Notwendigkeit der Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Länder in imperialistischen Staatenbündnissen wie der EG und der NATO offen verteidigt. Ausführlich dargelegt ist das Staatsverständnis der Eurokommunisten in Santiago Carrillos ''Eurokommunismus und Staat''<ref>Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.</ref>. <br />
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Ausführlicherer Artikel: [[Eurokommunistische Staatsauffassung]]<br />
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'''Andere Vertreter:'''<br />
Auch heute gibt es zahlreiche "linke" Vertreter dieser Auffassung. Die Annahme, der bürgerliche Staat sei ein grundsätzlich klassenneutrales Instrument, bildet die Voraussetzung jeder Strategie, die auf den Eintritt in die bürgerliche Regierung zum Zweck der Umsetzung von Reformen abzielt. Das gilt eindeutig für die deutsche ''Linkspartei'' und ihre europäischen Geschwisterorganisationen, allen voran die einflussreiche griechische ''SYRIZA''. Auch die "antimonopolistische Strategie" der DKP unterstellt letztlich eine Klassenneutralität des Staates der Monopole (s.u.). In unterschiedlichen Abstufungen wird diese Auffassung auch von den "bolivarischen Bewegungen" bzw. den Vertretern eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien etc. vertreten.<br />
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===Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole===<br />
Eine seit 1945 weit verbreitete Position geht davon aus, dass der bürgerliche Staat im Monopolkapitalismus nicht mehr das Interesse der gesamten herrschenden Klasse vertritt, sondern sich zum alleinigen Herrschaftsinstrument der Monopole entwickelt. Diese Vorstellung beruft sich häufig auf die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (s.o.) und ist eng verbunden mit den verschiedenen Varianten der [[Strategie der Übergänge]]. <br />
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'''Deutsche Kommunistische Partei (DKP):'''<br />
Die DKP vertritt seit ihrer Gründung eine Strategie der "antimonopolistischen Demokratie" (im folgenden: AMD). Diese wurde erstmals im Programm von 1978 explizit ausformuliert und beschlossen. Auch im Programm von 2006 bildet die AMD, von einigen kleineren Relativierungen abgesehen, noch immer den Kern der strategischen Vorstellungen der DKP. <br />
<br />
Zu den wichtigsten Grundannahmen der AMD gehört, dass der bürgerliche Staat zu einem Instrument in den Händen der Monopole, also einer Handvoll Finanzoligarchen innerhalb der Bourgeoisie, geworden ist. Der Staat, so die These, setze deren Profitinteressen rigoros gegen alle „nicht-monopolistischen Schichten“, also nicht nur gegen die Arbeiterklasse und alle anderen Werktätigen, sondern auch gegen die „kleine und mittlere Bourgeoisie“ durch. Der bürgerliche Staat vernachlässigt aus dieser Sicht also gewissermaßen seine Aufgabe als „ideeller Gesamtkapitalist“ und verkörpert gegenüber der gesamten Gesellschaft (und einem Großteil der Bourgeoisie) nicht mehr das langfristige Gesamtinteresse aller Kapitalisten, sondern einseitig das Partikularinteresse des Monopolkapitals. <br />
<br />
Im DKP-Programm von 2006 heißt es dazu: "Als Machtinstrument der Monopolbourgeoisie setzt er [der Staat] immer unverblümter eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durch. An die Stelle der sozialen Integration tritt die Konfrontation. Der bürgerliche Staat verliert tendenziell seine Fähigkeit zur sozialen und politischen Vermittlung, weil die Basis für die Organisierung stabilerer sozialer Kompromisse, die größere Teile der Gesellschaft einbeziehen, verloren geht. So wird die bürgerliche Demokratie ausgehöhlt und verliert ihren Inhalt. Bei Beibehaltung formaler Demokratie vollzieht sich der Übergang vom 'Sozialstaat' zum autoritären 'Sicherheitsstaat'." <ref> Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Duisburg 2006, S. 12. </ref> <br />
<br />
Damit wird zwar der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht geleugnet, aber eine neue strategische Bruchlinie zwischen den Monopolen und allen „nicht-monopolistischen“ Schichten aufgemacht, die aus dieser Sicht nun in Opposition zum "Staat der Monopole" geraten. Entlang dieser Linie soll sich ein „antimonopolistisches Bündnis“ formieren, das neben der Arbeiterklasse nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch bedeutende Teile der „nicht-monopolistischen“ Bourgeoisie umfassen soll <ref> Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Duisburg 2006, S. 33. </ref> . Dieses Bündnis hat zwar nicht den Sozialismus zum Ziel, wohl aber eine Zwischenetappe der „antimonopolistischen Übergänge“, in deren Rahmen die Kommunisten sich an der Regierungsmacht beteiligen und zunächst im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise eine politische „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ durchsetzen sollen.<br />
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Diese Vorstellung eines weitgehend bruchlosen Übergangs des Staatsapparats aus den Händen der einen in die Hände der anderen Klasse unterstellt eine instrumentalistische Sicht auf den Staat und behandelt diesen in letzter Konsequenz als ''klassenneutrales Werkzeug'' (s.o.). Zugespitzt formuliert: Der Klassencharakter des Staates scheint sich aus Sicht der Vertreter der antimonopolistischen Strategie nicht aus seiner Funktionsweise und seinem Wesen, sondern aus den politischen Kräfteverhältnissen zu ergeben. Ändert die Regierung ihren Klassencharakter von „monopolistisch“ zu „nicht-monopolistisch“, so ändert sich demzufolge auch der Klassencharakter des Staates. <br />
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Hier geht es zu einer längeren Version dieses Artikels: [[„Antimonopolistische_Demokratie“_(DKP)|„Antimonopolistische Demokratie“ (DKP)]]<br />
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'''Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD):'''<br />
Zu den wichtigsten Alleinstellungsmerkmalen der Theorie und Programmatik der MLPD gehört der Begriff der „Übermonopole“ (siehe dazu den entsprechenden Artikel [[Imperialismus_als_Weltsystem|"Imperialismus als Weltsystem"]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus), der auch ihre Analyse des bürgerlichen Staats der Gegenwart wesentlich prägt. In ihrem Parteiprogramm schreibt die MLPD: "Die hier ansässigen internationalen Übermonopole, die zum allein herrschenden internationalen Finanzkapital gehören, haben sich den Staat vollkommen untergeordnet, und die Organe des Monopolkapitals sind mit den Organen des Staatsapparats verschmolzen. Sie haben ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft, auch über andere Monopole und die nicht monopolisierten Kapitalisten, errichtet. Über die Organe der EU nehmen sie Einfluss auf andere europäische Staaten." <ref>Programm der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (2016), S. 31, URL: https://www.mlpd.de/parteiprogramm (letzter Zugriff: 09.01.2019)</ref> <br />
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Die MLPD geht also davon aus, dass sich diese „Übermonopole“ den bürgerlichen Staat „vollkommen untergeordnet“ haben – aus dieser Formulierung kann geschlussfolgert werden, dass der Staat nicht mehr als „ideeller Gesamtkapitalist“ das Gesamtinteresse des Kapitals vertritt, sondern von der Fraktion der „Übermonopole“ bzw. des „allein herrschenden Finanzkapitals“ allen anderen Teilen der Bourgeoisie gegenüber als Herrschaftsinstrument benutzt wird. Zudem geht die MLPD davon aus, dass die „Organe des Monopolkapitals“, die im vorangegangenen Stadium des Kapitalismus scheinbar noch unabhängig vom und außerhalb des Staatsapparates existierten, heute vollständig mit diesem „verschmolzen“ sind. <br />
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Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Programmatik der MLPD findet sich hier: [https://kommunistische.org/diskussion/einschaetzung-der-programmatik-der-mlpd/ Philipp Kissel, Einschätzung der Programmatik der MLPD].<br />
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===Staatsmonopolistischer Kapitalismus===<br />
Hier soll kurz dargestellt werden, wie die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus den Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt. In welchem Verhältnis stehen Staat und Monopole zueinander? Ist der Staat alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole oder auch "ideeller Gesamtkapitalist", also Ausdruck der Herrschaft der gesamten Bourgeoisie?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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Siehe hierzu auch den Dissens [[Monopole und Staat]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus.<br />
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===Der Staat als "echte Demokratie"===<br />
Die Position, der bürgerliche Parlamentarismus auf der ökonomischen Basis der kapitalistischen Produktionsweise sei eine "echte Demokratie" läuft letztlich auf die Position hinaus, die gesellschaftlichen Verhältnisse würden nicht von der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie, sondern von der politischen Mehrheit bestimmt. Die Frage des Klassencharakters der Staats wird also reduziert auf eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Je nach dem, ob die Bourgeoisie oder die Arbeiterklasse im demokratischen Prozess mehr Kontrolle über den Staatsapparat ausübt, verschiebt sich auch dessen Klassencharakter. Diese Auffassung setzt zugleich ein Verständnis des Staates als ''klassenneutrales Instrument'' voraus (s. o.). <br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):''' <br />
Die Vorstellung einer fortschreitenden Demokratisierung des bürgerlichen Staats und einer damit einhergehenden Verwandlung seines Klassencharakters spielten eine zentrale Rolle im Denken des klassischen Revisionismus. Rosa Luxemburg polemisierte schon 1899 gegen Eduard Bernstein: „die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie [sei] eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie.“ <ref> Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), Zweiter Teil </ref> Bürgerliche Demokratie und Parlamentarismus waren für Bernstein nicht taktische Mittel im Klassenkampf, sondern tatsächlicher Ausdruck der Herrschaft durch das Volk bzw. die Mehrheit, also der Arbeiterklasse: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. […] Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“<ref>Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.154-156.</ref> Für die Strategie der Arbeiterbewegung heißt das: „die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.“<ref>Ebd., S. 154-156.</ref> Die Arbeiterbewegung soll sich also darauf beschränken, im legalen Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus für Reformen und schrittweise Verbesserungen zu kämpfen. Der bürgerliche Staat ist dabei nicht ihr Gegner, sondern ihr Werkzeug. Die taktische Herausforderung besteht demnach einzig darin, auf demokratischem Weg in die Position zu gelangen, dieses Werkzeug für die eigenen Zwecke nutzen zu können.<br />
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'''Position von SYRIZA:''' <br />
Die griechische "Linkspartei" SYRIZA argumentiert in ihrem Regierungsprogramm, „der Staat [sei] keine Festung, sondern ein Netzwerk, ein Verhältnis und eine strategische Arena für den politischen Kampf. Er verändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, im Gegenteil, seine notwendige Transformation hat konstante und kontinuierliche Kämpfe zur Voraussetzung, die Einbeziehung des Volkes, ständige Demokratisierung.“ (Quelle: S''YRIZAs Regierungsprogramm''<ref>Zitiert nach einem auf Englisch erschienenen Artikel der KKE, ins Deutsche Übersetzt. URL: https://inter.kke.gr/en/articles/Criticism-of-certain-contemporary-opportunist-views-on-the-state/ (9.01.2019)</ref>) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der bürgerliche Staat von SYRIZA nicht seinem Wesen nach als ein Organ der bürgerlichen Klassenherrschaft angesehen, sondern als eine Ansammlung von Institutionen, die im Interesse des Volkes „transformiert“ werden können. Auf Grundlage dieser Sichtweise wird argumentiert, dass der Charakter des bürgerlichen Staats durch die richtigen politischen Kräfteverhältnisse geformt oder gar "transformiert" werden kann, solange sich nur „linke Regierungen“ durchsetzen können. <br />
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'''Position der DKP:''' <br />
Die DKP bleibt in ihrer Einschätzung der bürgerlichen Demokratie widersprüchlich. Einerseits ist in ihrem Programm von 2006 zwar die Rede davon, dass sich durch die "Globalisierung" die "Tendenz zur Reaktion" verschärft, dass die Demokratie untergraben wird (S. 12) und dass letztlich eine "revolutionäre Überwindung" (S. 28) des Kapitalismus nötig sei. Andererseits gehört es jedoch zu den Kernthesen ihrer "antimonopolistischen Startegie", dass noch auf dem Boden der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und innerhalb des institutionellen Rahmens des bürgerlichen Staats umfassende Reformen und sogar eine "antimonopolistisch-demokratische Umgestaltung" (S. 32) möglich seien: "Je mehr es dabei gelingt, Veränderungen im Sinne von Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, von demokratischer Kontrolle, von Entmilitarisierung und Demokratisierung in Staat und Gesellschaft zu erreichen, je größer der Einfluss der demokratischen und sozialistischen Kräfte überall dort ist, wo Meinungsbildung stattfindet, desto besser sind die Chancen im Kampf um die Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und für die Öffnung des Weges zum Sozialismus. [...] Es geht um die [...] demokratische Einflussnahme auf den staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus im nationalen Rahmen wie im Rahmen der Europäischen Union und anderer internationaler staatsmonopolistischer Institutionen". (S. 30) Diese Vorstellung läuft letztlich also darauf hinaus, die Kommunisten und „Demokraten“ könnten den ideellen Gesamtkapitalisten dem Einfluss der Klasseninteressen der Bourgeoisie entreißen und ihrem eigenen politischen Willen unterwerfen.<br />
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'''Andere Vertreter:''' Ebenfalls weit verbreitet sind Vorstellungen über den demokratischen Charakter des bürgerlichen Staats in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dort gehört der Begriff der „Mitbestimmung“ nicht umsonst zum ideologischen Kernrepertoire. Die Vorstellung, im Betrieb ließe sich zwischen Kapital und Arbeit auf Augenhöhe eine demokratische Mitbestimmung und dadurch ein Interessenausgleich verwirklichen, bildet das Herzstück der Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Ähnliche Sichtweisen werden heute außerdem in einer Reihe lateinamerikanischer Länder gepflegt. Verschiedene „fortschrittliche“ und „linke“ Regierungen versuchen unter dem Banner des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bzw. der „bolivarischen Revolution“ das bürgerliche Staatssystem durch Gesetzesreformen und Volksabstimmungen grundlegend zu veränden.<br />
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==="Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci)===<br />
Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, verfasste in den 1920er und 30er Jahren in faschistischer Gefangenschaft seine „Gefängnishefte“, ein umfangreiches theoretisches Werk, dessen einzelne Bestandteile Gramsci unter den Bedingungen seiner Haft leider nicht mehr zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen konnte. Zu den wichtigsten Aspekten dieses Werks gehören Gramscis Überlegungen zur besonderen Form der Herrschaft der Bourgeoisie in den entwickelten imperialistischen Ländern und die daraus abgeleiteten Weiterentwicklungen der marxistischen Staatstheorie.<br />
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In den Gefängnisheften bringt Gramsci den Staat und die Herrschaft der Bourgeoisie auf die kurze Formel: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang" (H. 6, §88., S. 783)<ref>Antonio Gramsci, Gefängnisgefte. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1991. Im Folgenden wird aus den Gefängnisheften nur noch in Klammern nach Heft Nr., Paragraph und Seitenzahl zitiert.</ref><br />
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Gramsci weitet den Staatsbegriff damit aus und entwickelt sein Konzept des "integralen Staates". Dieser umfasst einerseits die "politische Gesellschaft", womit alle explizit staatlichen Strukturen und Institutionen gemeint sind, also das Parlament, die Beamtenapparate, die Repressionsorgane, die staatlichen Bildungseinrichtungen etc. Andererseits betrachtet Gramsci aber auch die "Zivilgesellschaft" als Teil der bürgerlichen Staatlichkeit. Gemeint sind damit alle Strukturen außerhalb der Staatsapparate, über die die Bourgeoisie ihre Herrschaft absichert, also private Medien, Bildungsstätten, Institute, Stiftungen, Clubs, Thinktanks etc. Mit Blick auf den Sieg der Oktoberrevolution in Russland und die darauffolgenden Niederlagen der Revolutionsversuche in Westeuropa schrieb Gramsci: "Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand;" (H. 7, §16., S. 873-874) An anderer Stelle heißt es: "zumindest was die fortgeschrittenen Staaten angeht, wo die 'Zivilgesellschaft' eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften 'Durchbrüchen' des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg." (H. 13, §14, S. 1553-1554) Die Stabilität der bürgerlichen Herrschaft hängt demnach also wesentlich davon ab, inwieweit die Zivilgesellschaft herausgebildet und die "Hegemonie" der Bourgeoisie enwickelt ist. <br />
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Mit dem Begriff der Hegemonie versucht Gramsci der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass sich die Macht der Bourgeoisie nicht nur auf das Staatliche Gewaltmonopol und die Repressionsapparate stützt, sondern wesentlich über ideologische Integration und die Erzeugung von "Konsens" abgesichert wird. Hegemonie bezeichnet also die politisch-ideologische Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über eine andere. "Die 'normale' Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne daß der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt, sondern im Gegenteil sogar versucht wird, zu erreichen, daß der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint […]" (H. 13, §37, S. 1607-1613). Konsens bezeichnet hier einen Zustand, in dem die Beherrschten die Herrschaft zumindest passiv ertragen oder sogar aktiv die Sichtweise übernehmen, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse entsprächen auch ihren Interessen und seien die bestmöglichen. Gramsci schreibt, dass "eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. […] Die politische Führung wird zu einem Aspekt der Herrschaft, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Klassen zur Enthauptung derselben und zu ihrer Machtlosigkeit führt. Es kann und muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben." (H. 1, §44, S. 101-113) <br />
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Heute wird der Begriff der Hegemonie fast ausschließlich Gramsci zugeschrieben, dabei war er zu dessen Lebzeiten unter den Theoretikern der Kommunistischen Internationale weit verbreitet und wurde breit diskutiert. Wie Buci-Glucksmann bemerkt, war er "im gesamten Marxismus der Dritten Internationale überaus geläufig. Man findet ihn vor allem unter der Feder Lenins vor 1917, aber auch später. Man finet ihn ebenso oft bei Bela Kun, Varga, Stalin, und vor allem Bucharin, der ihn in einer Weise benutzte, die der Gramscis nahezustehen scheinen könnte". <ref>Buci-Glucksmann, Gramsci und der Staat, S. 17.</ref> <br />
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Die "führende Klasse" oder Klassenfraktion ist laut Gramsci in ihrem Ringen um Hegemonie also in der Regel darum bemührt, alle anderen Fraktionen ihrer Klasse und ihrer "verbündeten Klassen" in ihren "Block an der Macht" zu integrieren. Das gelingt nur, indem sie mit diesen anderen Fraktionen ein Komprimissprogramm aushandelt, das bestmöglich das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse zusammenfasst und deren innere Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Der Ort, an dem diese Kompromisse ausgehandelt und schließlich in politische Praxis übersetzt werden, ist der bürgerliche Staat selbst. Gegenüber den "feindlichen Klassen" (also dem Proletariat und den anderen Werktätigen) tritt die Bourgeoisie als "herrschend" auf, sie übt ihre Hegemonie einerseits durch Integration ihrer ideologischen Führer und andererseits durch materielle Zugeständnisse aus: "Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, daß sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, daß also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, daß solche Opfer und ein solcher Kompromiß nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt." (H. 13, §18, S. 1565-1573) Gramsci beschreibt in dieser Formulierung den grundsätzlichen Klassencharakter des Staates. Die Kompromisse können nie "das Wesentliche" betreffen - also die kapitalistische Produktionsweise - sondern sich nur in deren Rahmen bewegen. <br />
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Gramscis Staatstheorie knüpft eindeutig an die Auffassung des Staats als "ideeller Gesamtkapitalist" (s.o.) an, indem sie einerseits die Integration der gesamten herrschenden Klasse in einem "historischen Block" betont und andererseits die zumindest passive Einbindung der Beherrschten im Rahmen der Hegemonie betont. Mit einer Staatsauffassung, die den bürgerlichen Staat im Monopolkapitalismus als "alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole" (s.o.) versteht, ist Gramscis Ansatz kaum zu vereinbaren. <br />
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Mit Blick auf den Staat schreibt Gramsci außerdem, dieser sei "das Instrument zur Anpassung der Zivilgesellschaft an die ökonomische Struktur". (H. 10.II, §15, S. 1267) Dabei spielen Medien und andere ideologische Apparate eine entscheidende Rolle: "Was 'öffentliche Meinung' genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der 'Zivilgesellschaft' und der 'politischen Gesellschaft', zwischen dem Konsens und der Gewalt. Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft. […] die öffentliche Meinung, wie sie heute Verstanden wird, ist am Vorabend des Untergangs der absolutistischen Staaten entstanden, das heißt in der Zeit des Kampfes der neuen bürgerlichen Klasse um die politische Hegemonie und die Erlangung der Macht. […] [Es entbrennt ein] Kampf ums Monopol der Organe der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, Parlament". (H. 7, §83, S. 916-917)<br />
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Verliert die herrschende Klasse ihre Hegemonie, so kommt es zur "Hegemonie-" bzw. "Autoritätskrise": "Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr 'führend', sondern einzig 'herrschend' ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die große Masse sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann". (H. 3, §34, S. 354-355) Der Verlust der Hegemonie darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem automatischen Verlust der Macht, schließlich verfügt die herrschende Klasse auch bei schwindendem Konsens noch immer über die Mittel des Zwangs. <br />
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Zu den strategischen Schlussfolgerungen, die Gramsci aus seiner Staatstheorie ableitete, siehe den Dissens-Artikel zu [[Staat und Revolution]] und dort den Abschnitt "Bewegungs- und Stellungskrieg". <br />
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Einige offene Fragen zu Gramsci und seiner Staatstheorie werden von unserer AG tiefergehend behandelt werden: Handelt es sich dabei um einen wegweisenden Beitrag zur marxistischen Staatstheorie im Zeitalter des Imperialismus und des entwickelten bürgerlichen Staats, an den die Kommunisten anknüpfen und den sie weiterentwickeln müssen? Oder enthält Gramscis Theorie bereits wesentliche revisionistische Abweichungen, die es den verschiedenen opportunistischen Strömungen, die sich heute auf ihn berufen, leicht machen, seine Theorie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?<br />
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==="Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas)===<br />
Nicos Poulantzas war ein griechischer Theoretiker, der in den 1960er und 70er Jahren eine Reihe an marxistischen Studien verfasste. Er sympathisierte nach 1968 mit der eurokommunistischen griechischen kommunistischen Partei des Inlands (KKE-Inland) und stand – in Frankreich lebend - in kritischer Distanz zur Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). In seinen klassen- und staatstheoretischen Schriften ist der Einfluss u.a. von Louis Althussers Strukturalismus sowie [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #"Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci) | Antonio Gramscis Hegemonietheorie]] sichtbar. In der marxistischen Debatte um den Staat hat Poulantzas tiefe Spuren hinterlassen, was primär zurückgeführt werden kann auf seine Konzeption des Staates als „Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“. Historisch bedeutsam war dabei zunächst die Auseinandersetzung mit Ralph Miliband; im deutschsprachigen Raum wurde seine Theorie u.a. über Joachim Hirsch und Alex Demirovic wieder in die Diskussion eingebracht.<br />
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Poulantzas formuliert in der Einleitung zur „Staatstheorie“ den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Es ist nicht der Klassencharakter des Staates, der zur Debatte steht: „Jeder Staat ist ein Klassenstaat; jede politische Herrschaft ist Klassendiktatur; der kapitalistische Staat ist ein Staat der Bourgeoisie; der kapitalistische Staat im Allgemeinen und jeder kapitalistische Staat im Besonderen sind Diktaturen der Bourgeoisie“ (Staatstheorie S. 155), all dies sind für ihn „Banalitäten“ - zwar richtig, aber nicht weiter ausführenswert. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, vielmehr stellt es sich hier neu: „[W]arum greift die Bourgeoisie in ihrer Herrschaft auf diesen nationalen Volksstaat zurück, diesen modernen Repräsentativ-Staat mit seinen spezifischen Institutionen, und nicht auf einen anderen? Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich genau diesen Staat aussuchen würden, wenn sie den Staat komplett selbst und nach ihrem Geschmack aufbauen würden.“ (Staatstheorie, S. 40). Eine verwandte Frage hatte bereits der sowjetische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis knapp 50 Jahre, vorher gestellt: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“1 Poulantzas gibt in der Einleitung auch eine vorläufige, knappe Antwort auf die von ihm formulierte Frage: „Der Staat stellt ein materielles Gerüst dar, das in keiner Weise auf die politische Herrschaft reduziert werden kann. Der Staatsapparat, dieses besondere und furchterregende Etwas, erschöpft sich nicht in der Staatsmacht. [...] Wenn der Staat nicht einfach ein vollständiges Produkt der herrschenden Klassen ist, so haben sie sich seiner auch nicht einfach bemächtigt: Die Macht des Staates (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) hat in dieser Materialität ihre Spuren hinterlassen. Die Handlungen des Staates reduzieren sich nicht auf die politische Herrschaft, sie sind jedoch konstitutiv von ihr gezeichnet.“ (Staatstheorie, S. 42)<br />
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Eine wichtige Aufgabe des Staates sieht Poulantzas in der Repräsentation und Organisation der herrschenden und der Desorganisation der beherrschten Klassen. Die Bourgeoisie ist keine widerspruchsfreie Einheit. Sie verfolgt zwar zwangsläufig als Klasse einheitlich das Ziel der Kapitalverwertung, dieses Ziel bringt sie aber auch in direkte Konkurrenz untereinander, weshalb, wie Engels sagt, der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert. Poulantzas zufolge ist die Kapitalistenklasse in Klassenfraktionen gespalten, die unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Interessen verfolgen. Diese Klassenfraktionen formieren sich unter der Hegemonie einer Fraktion zu einem „Block an der Macht“, in welchen auch andere herrschende Klassen miteinbezogen werden. Die Hegemonie einer Fraktion bedeutet dabei, dass diese die äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Sinne optimieren kann; und diese Hegemonie erst ermöglicht die Einheit dieses Blocks gegenüber den beherrschten Klassen. Poulantzas betont, dass nicht nur Teile der Bourgeoisie (etwa das Monopolkapital) den Machtblock stemmen: „Diese bürgerlichen Fraktionen sind in ihrer Gesamtheit, obwohl in unterschiedlichem Maße, auf dem Terrain der politischen Herrschaft angesiedelt, und gehören somit immer zum Block an der Macht“ (Staatstheorie S. 159). Dieser Machtblock ist aber konfliktdurchzogen, er stellt ein umkämpftes, instabiles Kompromissgleichgewicht dar: „Der Machtblock stellt eine von inneren Widersprüchen gekennzeichnete Einheit von politisch herrschenden Klassen und Fraktionen unter dem Schutz der hegemonialen Fraktion dar. Der Klassenkampf, die Interessenrivalitäten zwischen den gesellschaftlichen Kräften sind darin ständig gegenwärtig, wobei diese Interessen ihren spezifischen Antagonismus bewahren“ (PMGK, S. 239). In diesem Sinne ist die konkrete Politik des Staates und die Hegemonie im Machtblock immer umkämpft, und dieser Kampf wird im Staat, in seinen ideologischen (Medien, Think Tanks, …) aber auch repressiven Apparaten (Polizei, Armee, …) ausgetragen.<br />
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Um die „Rolle der Vereinheitlichung und Organisierung der Bourgeoisie und des Blocks an der Macht“ (Staatstheorie, S. 158) zu erfüllen, muss der Staat laut Poulantzas eine „relative Autonomie“ gegenüber den einzelnen Bestandteilen des Blocks bewahren: „Unter relativer Autonomie dieses Staatstyps verstehe ich […] das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Feld des Klassenkampfes, insbesondere seine relative Autonomie gegenüber den Klassen oder Fraktionen des Machtblocks und in erweiterter Form auch gegenüber seinen Verbündeten oder Stützen […] Ich hoffe, damit klar genug die Distanz auszudrücken, die diese Auffassung des Staats von einer simplifizierten und vulgarisierten Auffassung des Staats trennt, die in ihm das Werkzeug oder Instrument der herrschenden Klasse sieht“ (PMGK S. 256).<br />
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Der Staat als Instrument (siehe auch die Abschnitte zum Staat als [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als klassenneutrales Instrument | klassenneutrales Instrument]] und als [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole | alleiniges Instrument der Monopole]]) und der [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt) | Staat als Subjekt]]: dies beides sind aus Poulantzas‘ Sicht falsche Staatsverständnisse, die er umschiffen will mit dem Verständnis des Staates als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses. Der Staat als Instrument/Werkzeug/Sache unterstellt eine Passivität oder Neutralität des Staates. Dieser wird als ein Apparat verstanden, der zur Ausübung der politischen Macht von der herrschenden Klasse oder auch einer Klassenfraktion verwendet wird, der aber eben auch so wie er ist übernommen werden kann, um gegen die herrschende Klasse gewendet zu werden. Eine Autonomie des Staates ist ausgeschlossen. Eine solche instrumentalistische Konzeption des Staates sieht Poulantzas in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der eurokommunistischen PCF in den 1970ern: „An dieser Konzeption kritisierte ich vor allem, dass sie zu der Vorstellung des mit dem Monopolkapital »fusionierten« Staates führt, einem Staat der im Dienste der Monopole steht und keinerlei Autonomie besitzt“ (Staatstheorie S. 160). Der Staat als Subjekt wiederum lässt ihn vollständig autonom werden, er steht als Akteur außerhalb der Klassen. Er agiert, koordiniert, verwaltet, reguliert selbstständig. Seine Autonomie bezieht sich „auf die angebliche Macht des Staates und auf die Träger dieser Macht und der staatlichen Rationalität: auf die Bürokratie und speziell auf die politische Elite“ (Staatstheorie S. 160). <br />
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Poulantzas schlägt vor, die „Sackgassen des ewigen Pseudodilemmas der Diskussion zwischen der Konzeption des Staates als einer Sache bzw. einem Instrument und der Konzeption des Staates als einem Subjekt“ (Staatstheorie S. 159f) zu vermeiden, indem der Staat über den Klassenkampf selbst verstanden wird, genauer: „ … indem ich sage, dass der Staat […] nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden darf, sondern, wie auch das »Kapital«, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ Der Staat spiegelt also nicht einfach ein gesellschaftliches Verhältnis wider, er selber konstituiert dieses Verhältnis. In der Vielzahl seiner Institutionen findet die ständige Austarierung zwischen Klassen und Klassenfraktionen statt. Diese Austarierung entspricht aber nicht direkt dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, beispielsweise sind die beherrschten Klassen nicht in den Staatsapparaten anwesend: „Sie organisieren und vereinheitlichen den Block an der Macht, indem sie die beherrschten Klassen ständig desorganisieren und spalten. Sie polarisieren sie gegenüber dem Block an der Macht und schließen ihre politischen Organisationen aus.“ (Staatstheorie S. 171)<br />
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Bei Poulantzas bleibt unklar, wie der Begriff der Verdichtung genau zu verstehen ist, wohingegen er ausführt, was es mit der Materialität hier auf sich hat. Mit Blick auf die Staatstheorie in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der PCF wendet er ein, dass diese „die eigenständige Materialität des Staates übersieht. Diese Materialität eines Staates, der als Werkzeug oder Instrument angesehen wird, hat keine eigene politische Bedeutung. Diese Bedeutung wird auf die Staatsmacht beschränkt, d.h. auf die Klasse, die dieses Instrument manipuliert. Das würde im Extremfall implizieren, dass das gleiche Instrument (das verschiedenen, allerdings zweitrangigen Modifikationen unterliegt) durch eine Veränderung der Staatsmacht, also durch die Macht der Arbeiterklasse, für den Übergang zum Sozialismus anders eingesetzt werden könnte“ (Staatstheorie S. 160). Dieses Defizit meint er zu beheben: „Das materielle Gerüst seiner [des Staates] Institutionen wird durch die Beziehung des Staates zu den Produktionsverhältnissen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung konstituiert, die sich in der kapitalistischen Trennung des Staates von diesen Verhältnissen konzentriert. […] Der Staat hat eine eigene Dichte und Widerstandskraft und reduziert sich nicht auf ein Kräfteverhältnis. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Klassen hat sicherlich immer Auswirkungen innerhalb des Staates, sie überträgt sich jedoch nicht direkt und unmittelbar. Sie passt sich der Materialität der verschiedenen Apparate an und kristallisiert sich im Staat nur in gebrochener und differenzierter, den Apparaten entsprechender Form. Eine Veränderung der Staatsmacht allein transformiert die Materialität des Staates nicht“ (Staatstheorie S. 161f). Als Beispiele für die Materialität führt Poulantzas u.a. die Organisierung kapitalistischen Wissens an: „Die geistige Arbeit (Wissen/Macht) ist in den Apparaten konzentriert und steht im Gegensatz zur tendenziell in den Volksmassen konzentrierten manuellen Arbeit, die von den organisatorischen Funktionen ausgeschlossen und getrennt sind“ (Staatstheorie S. 83).<br />
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==="Akkumulationsregime" (Regulationsschule)===<br />
Hier sollen die offenen Fragen und Aufgaben ausformuliert werden, die sich aus der Staatstheorie der "Regulationsschule" und deren Theorie der "Akkumulationsregime" ergeben. Handelt es sich bei dieser Theorie um einen wesentlichen Beitrag zur marxistischen Staatstheorie, die eine vertiefende Analyse der verschiedenen Formen der bürgerlichen Herrschaft seit der Entstehung des Kapitalismus erlaubt (z.B. durch die Unterscheidung eines "keynesianischen" und eines "neoliberalen Akkumulationsregimes")? Wie wird aus Perspektive der der Regulationsschule der Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt? Enthält diese Theorietradition wesentliche Abweichungen von den Grundannahmen der marxistischen Staatstheorie? Welche Verbinndung gibt es zu den Theorien von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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'''Vertreter:''' Zu den prominentesten Vertretern der Regulationsschule gehören heute die Staatstheoretiker Joachim Hirsch und Bob Jessop.<br />
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===Staat = Repressionsapparate / "neue Demokratie" (Maoismus)===<br />
Innerhalb des maoistischen Spektrums lässt sich als tendenzielle Gemeinsamkeit in der Staatsfrage ein besonderer Fokus auf die „bewaffneten Apparate“ des bürgerlichen Staats und eine weitgehende Vernachlässigung der Analyse anderer, nicht unmittelbar gewaltförmiger Herrschaftstechniken der Bourgeoisie (Integrationsideologien, ökonomischer Zwang, etc.) feststellen. Dies steht im engen Zusammenhang mit der Strategie des "Volkskriegs". Dieser Strategie liegt eine Perspektive auf den Staat zugrunde, die den Kampf um die politische Macht weitgehend auf den unmittelbaren militärischen Kampf und die Zerschlagung der bewaffneten Staatsapparate zuspitzt. Die maoistische Theorie der "neuen Demokratie" enthält außerdem die These einer möglichen dritten Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats.<br />
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Von einer einheitlichen und systematisch ausgearbeiteten "maoistischen Staatstheorie" kann genauso wenig die Rede sein, wie von einer homogenen maoistischen Strömung innerhalb des Marxismus. In den klassischen Texten von Mao Tse-Tung findet sich vor allem keine eigene, systematisch ausgearbeitete Analyse des bürgerlichen Staats im Imperialismus. Die chinesischen Revolutionäre kämpften nicht gegen einen entwickelten bürgerlichen Staat, wie er sich in den imperialistischen Zentren herausgebildet hatte, sondern gegen einen agrarischen Feudalstaat mit kolonialen Elementen. Der Großteil von Maos Äußerungen über den Staat sind in diesem Kontext zu sehen, so zum Beispiel die oft zitierte Losung: "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 74.</ref> An anderer Stelle führt Mao diese Zuspitzung auf die Frage der militärischen Macht und der bewaffneten Apparate weiter aus und verallgemeinert sie als die aus seiner Sicht wichtigste Kernaussage der marxistischen Lehre vom Staat: "Vom Standpunkt der marxistischen Lehre vom Staat ist die Armee die Hauptkomponente der Staatsmacht. Wer die Staatsmacht ergreifen und behalten will, der muß eine starke Armee haben. Manche Leute bezeichnen uns höhnisch als Anhänger der ‚Theorie von der Allmacht des Krieges‘; jawohl, wir sind Anhänger der Theorie von der Allmacht des revolutionären Krieges, und das ist nicht schlecht, sondern gut, das ist marxistisch. [...] Die Erfahrungen des Klassenkampfes im Zeitalter des Imperialismus lehren uns: Die Arbeiterklasse und die übrigen Werktätigen Massen können nur mit der Macht der Gewehre die bewaffneten Bourgeois und Grundherren besiegen; in diesem Sinne können wir sagen, daß die ganze Welt nur mit Hilfe der Gewehre umgestaltet werden kann."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 75-76.</ref><br />
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In genau diesem Sinne wird die Staatsfrage auch in Teilen der zeitgenössischen maoistischen Strömungen behandelt. Viele zeitgenössische Mao-Gruppen beziehen sich dabei auf die Traditionslinie der peruanischen Guerillabewegung „Leuchtender Pfad“ bzw. der KP Perus (Vollständiger Name: ''Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui'') und ihres politischen und ideologischen Anführers „Presidente Gonzalo“ (Abiamel Guzmán). (''Anmerkung: Alle Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen sich auf die Broschüre „Einheitsbasis der Kommunistischen Partei Perus – angenommen auf dem I. Parteitag 1988“<ref>http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/gonzalo/1439-die-einheitsbasis-der-kommunistischen-partei-perus-auf-deutsch</ref>, die leider zahlreiche Übersetzungsfehler enthält.'')<br />
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Der Staat erscheint auch hier vor allem als bewaffneter Apparat, der militärisch bekämpft und zerschlagen werden muss:<br />
"die revolutionäre Gewalt ist ausnahmslos ein universelles Gesetz; die Revolution ist die gewaltsame Ersetzung einer Klasse durch eine andere. Er [Mao Tse-Tung] legte seine große These fest: ‚Die Macht kommt aus den Gewehrläufen!‘" (Über den Marxismus-Leninismus-Maoismus, S. 7) "[der] Volkskrieg, der durch eine revolutionäre Armee neuen Typs, unter der absoluten Führung der Partei, Stück für Stück die alte Macht zerstört, hauptsächlich seine bewaffneten und repressiven Kräfte." (Programm und Statuten der KP Perus, S. 16-17.)<br />
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Unter dem Begriff der „neue demokratische Revolution“ vertreten die Maoisten der KP Perus ein spezifisches Etappenmodell, das die Stufen der Revolution festlegt, die die unterdrückten Länder auf dem Weg zum Sozialismus durchlaufen müssen. Der Klasseninhalt der Revolution und der jeweiligen Staatsformen, die diese hervorbringen, ändert sich jedoch je nach Entwicklungsstand des jeweiligen Landes: "Um unser Endziel, den Kommunismus, zu erreichen, müssen wir Marxisten-Leninisten-Maoisten in Perspektive drei Typen von Revolutionen durchführen: 1) Die demokratische Revolution, das ist die bürgerliche Revolution neuen Typs in den rückständigen Ländern, unter der Führung des Proletariats, in deren Verlauf eine gemeinsame Diktatur des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und unter bestimmten Bedingungen der Mittelbourgeoisie unter der Führung des Proletariats errichtet wird; 2) Die sozialistische Revolution in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern, die die Diktatur des Proletariats errichtet; 3) Kulturrevolutionen, sie werden gemacht um die Revolution unter der Diktatur des Proletariats fortzusetzen, um jede Generierung des Kapitalismus zu unterwerfen und zu eliminieren und auch mit den Waffen gegen jedes streben nach Restauration des Kapitalismus zu kämpfen" (Allgemeine politische Linie, S. 19)<br />
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Mit der Theorie der „neuen demokratischen Revolution“ sind spezifische staatstheoretische Grundannahmen verbunden. Die „Neuen Demokratie“ gilt aus maoistischer Sicht als dritte Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats - ihr Klassencharakter ist wesentlich durch einen Klassenkompromiss bzw. ein Klassenbündnis bestimmt: "Die Neue Demokratie. In erster Stelle ist es eine Entwicklung der marxistischen Staatstheorie mit der Festlegung der drei Typen der Diktatur: 1. die Diktatur der Bourgeoisie, in den alten bürgerlichen Demokratien wie in den Vereinigten Staaten, dazu zählen auch die Diktaturen, die in unterdrückten Nationen, wie den lateinamerikanischen existieren, 2. die Diktatur des Proletariats wie in der Sowjetunion oder in China vor der Usurpation der Macht durch die Revisionisten und 3. die Neue Demokratie als gemeinsame Diktatur, die auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern basiert, geführt vom Proletariat mit der Kommunistischen Partei an der Spitze […]." (Über den Marxismus-Leninismus, S. 8) Im Anschluss an Mao und Gonzalo geht die KP Perus davon aus, dass die "Staatssysteme der Welt" auf „drei Grundtypen reduziert werden können, laut ihres Klassencharakters: Republik unter der Diktatur der Bourgeoisie, die auch die Staaten der alten Demokratie ausmachen und die Republik der gemeinsamen Diktatur der Grundbesitzer und Großbourgeoisie; Republiken unter der Diktatur des Proletariats; und Republik unter der gemeinsamen Diktatur der revolutionären Klassen […]." (Allgemeine politische Linie, S. 33.)<br />
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Andere Grundsätzlichere Fragen zum Thema Maoismus, wie die Strategie des „langfristigen Volkskriegs“, die Etappe der "neuen demokratischen Revolution" oder die Theorie des „Zweilinienkampfs“ werden perspektivisch durch die [[AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei]] bearbeitet. Fragen zur Polemik zwischen der Sowjetunion und China über die „friedliche Koexistenz“, die „Kulturrevolution“ und die maoistische Position, die Sowjetunion sei „sozialimperialistisch“ gewesen, gehören zum Arbeitsbereich der [[AG Sozialismus]].<br />
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Eine längere Version dieses Artikels (befindet sich noch in Bearbeitung) findet ihr hier: '''[[Die Staatsfrage im Maoismus]]'''<br />
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Vertreten werden solche oder ähnliche Positionen in Deutschland zum Beispiel von der Sozialistischen Linken (SoL) oder dem mittlerweile aufgelösten Jugendwiderstand (JW).<br />
===Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt)===<br />
Der ''Gegenstandpunkt'' (GSP, früher ''Marxistische Gruppe'') vertritt eine eigene Staatstheorie, die davon ausgeht, der bürgerliche Staat könne aus den abstrakten Kategorien der politischen Ökonomie "abgeleitet" werden. Den Ausgangspunkt dieser Ableitung bildet die einfache Warenzirkulation, in welcher die Warenbesitzer sich wechselseitig als "freie" und "gleiche" Privateigentümer anerkennen. Die Autoren des GSP sehen drei gemeinsame Interessen bei allen Privateigentümern: Die Erhaltung der Revenue, eine möglichst hohe Revenue und den kontinuierliche Fluss der Revenue. Daraus schlussfolgern sie, dass Schutz und Sicherung des Privateigentums, die Sicherung des Wirtschaftswachstums und ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft dem Gesamtinteresse aller Privateigentümer entsprechen, wozu als viertes das Interesse an gleichen Konkurrenzvoraussetzungen hinzutritt. Weil die Privateigentümer aber in der Verfolgung ihrer besonderen Interessen nicht die allgemeinen Interessen durchsetzen können, bedarf es des Staates: "Das besondere Dasein des Staates neben und außer der Gesellschaft der konkurrierenden Privaten – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit – ist das Resultat dieses Widerspruchs zwischen besonderem und allgemeinem Interesse in seinen verschiedenen Existenzweisen. Der Staat verkörpert die Loslösung der allgemeinen Interessen aus der Sphäre der Privaten und ihre Verwaltung in der Sphäre des Staates. Mit der Besonderung des Staates werden die allgemeinen Interessen zu seinen besonderen, deren Verwaltung allein ihm obliegt. <ref> von Flatow, Sybille / Huisken, Freerk: Zum Problem der Ableitung des bürgerlichen Staates, in: Prokla, 7 (1973), S. 121 </ref><br />
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Fertig ausformuliert und in den Reihen des GSP kanonisiert wurde diese "Staatsableitung" von Karl Held in ''Der bürgerliche Staat''. In Helds Analyse wird aus der „Besonderung des Staates“ letztendlich der „Staat als Subjekt“: "Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit und Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert.<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
<br />
Der Staat hält hier nicht nur die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Reproduktion aufrecht, er wird zum eigenständigen Subjekt mit eigenen Interessen: "Der souveräne Staat ist eine von den Bürgern getrennte, selbständige Instanz, die mit keinem besonderen Interesse identisch ist und gerade und nur deswegen von allen anerkannte Gewalt ist, weil er sein Interesse, das Allgemeinwohl, gegen die Privatsubjekte durchsetzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref> "In der Unterordnung aller Aufgaben, um deren Erfüllung willen er sich als politisches Subjekt der Ökonomie betätigt, unter das Kriterium des wirtschaftlichen Wachstums, in der Relativierung aller Funktionen entsprechend dieser Zielsetzung der Wirtschaftspolitik fällt der Grund des bürgerlichen Staates – die freie Konkurrenz – unmittelbar zusammen mit seinem Zweck: er ist bewußter Agent des Inhalts der Konkurrenz, die bekanntlich nicht die Individuen, sondern das Kapital in Freiheit setzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
<br />
Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates besteht daher beim GSP auch zuallererst darin, dass er nicht im Interesse der einen Klasse eine andere, sondern alle Individuen gleichermaßen unterwirft: "Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, daß er Klassenstaat ist: Durch die gleiche Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der Nutzen aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben." <ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat, URL: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat (29.12.2018) </ref><br />
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Der Staat wird dadurch also wesentlich (und nicht nur oberflächlich) zu einem (klassen)neutralen Subjekt erklärt, welches die äußeren Bedingungen der Konkurrenz organisiert und diese Bedingungen den Warenbesitzern unterschiedslos aufzwingt. <br />
<br />
'''Vertreter:''' Neben dem ''Gegenstandpunkt'', dessen Aktivitäten sich fast auschließlich auf das akademische Milieu konzentrieren, werden diese Positionen auch von vielen studentischen Jugendgruppen in der "linksradikalen" und Antifa-Szene vertreten. Dies hat häufig damit zu tun, dass Leute aus der Szene ihre eigene theoretische Bildung über Lesekreise und Seminare des Gegenstandpunkt erwerben. Besonders in Teilen der ''Sozialistischen Jugend - Die Falken'' lässt sich ein starker ideologischer Einfluss des GSP feststellen, das gleiche Phänomen taucht aber auch immer wieder in Gewerkschaftsjugenden oder ''solid SDS''-Gruppen auf. Besonders stark ist zudem die Überschneidung zu "antinationalen" Gruppen, wie etwa bei der Dortmunder ''Gruppe K''.<br />
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Einen Text zur ausführlicheren Einbettung in den Kontext der "Staatsableitungsdebatte" findet ihr hier: [[Der Staat als Subjekt (Staatsableitungsdebatte)]]<br />
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Einen Hintergrundartikel zum Gegenstandpunkt hier: [https://kommunistische.org/diskussion/standpunkt-gegen-den-marxismus/ Standpunkt gegen den Marxismus (Thanasis Spanidis)]<br />
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===Anarchistische Staatskritik===<br />
Der "Anarchismus" (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) umfasst ein sehr diffuses und heterogenes Spektrum, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Dennoch lassen sich grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Anarchisten vertreten eine politische Haltung, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbstbestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammenschließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. Im Mittelpunkt stehen die Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Selbstverwirklichung der Individuen im Rahmen der kollektiven Selbstverwaltung („Autonomie“) möglichst kleiner Organisationseinheiten. Im Anarchismus fließen die Traditionen des bürgerlichen Liberalismus (individuelle Freiheit) und der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen (Kollektivität und Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Heute wird häufig das Adjektiv "libertär" (deutsch: freiheitlich) als Synonym für „anarchistisch“ benutzt.<br />
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An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich aus Sicht der Anarchisten auch schon die Bewegung selbst messen lassen, die für die „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Position so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren, geschweige denn nach der siegreichen Revolution einen eigenen Staat zur Niederhaltung der Unterdrücker und zum Aufbau und zur Verteidigung der Revolution schaffen darf. In Abgrenzung zu solchen individual-anarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen.<br />
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Die anarchistische Staatskritik richtet sich nicht hauptsächlich gegen den bürgerlichen Staat als Klassenstaat der Bourgeoise, sondern lehnt jede Form der Macht, der Autorität und der Staatlichkeit überhaupt als Grundübel der Gesellschaft ab. Der Anarchismus vertritt also in letzter Konsequenz einen klassenneutralen Machtbegriff – er lehnt die Macht nicht als Klassenmacht der Ausbeuter ab, sondern als abstraktes Ding an sich, das aus der Welt geschafft werden soll. <br />
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'''Marx und Engels vs. Bakunin:''' Die erste ausführliche theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. <br />
<br />
Engels fasste die Kritik an der Staatsauffassung Michael Bakunins und der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen: "Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. [...]<br />
Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll,[...] so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität <nowiki>=</nowiki> Staat <nowiki>=</nowiki> absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!" <ref>Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33; Dietz-Verlag; S. 388-389.</ref><br />
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Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der politische Ausdruck dieser Widersprüche ist nicht die Klassenherrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter und alle anderen Werktätigen, sondern die Macht und Autorität des Staates überhaupt. Diese Auffassung hat weitreichende taktische und strategische Konsequenzen (siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]]).<br />
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'''Heutige Vertreter:''' Der Anarchismus in seiner klassischen Form, also als politische Ideologie und Bewegung mit realer Verankerung in der Arbeiterbewegung (wie ihn Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder die spanischen Anarchosyndikalisten vertraten) ist heute kaum mehr präsent. Vulgarisierte Formen des Anarchismus sind dagegen in der "autonomen" Szene und linken Subkulturen nach wie vor sehr weit verbreitet. Neben zahlreichen Splittergruppen, die in der BRD heute ein gemeinsames, hauptsächlich kleinbürgerlich geprägtes Milieu bilden und von der Arbeiterbewegung meist isoliert sind, bildet die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) eine gewisse Ausnahme. Diese Organisation versucht im Rahmen einer kleinen anarchistischen Richtungsgewerkschaft außerhalb der DGB-Gewerkschaften Klassenkämpfe und Streiks zu organisieren.<br />
<br />
Verschiedene "anarchokommunistische" Gruppen und Zusammenschlüsse in Deutschland versuchen Aspekte des Marxismus (gewerkschaftliche Organisation, Klassenkampf, Vergesellschaftung der Produktionsmittel) mit Standpunkten des Anarchismus (Ablehnung von Hierarchien, zentralistischer Organisationsformen und der Diktatur des Proletariats) zu vereinen. Seit Dezember 2018 existiert mit der Initiative [https://www.dieplattform.org/wir/ "die Plattform"] z.B. ein Versuch, einen bundesweiten "plattformistischen" anarchakommunistischen Organisationszusammenhang aufzubauen und im Rahmen einer eigenen Schriftenreihe eine theoretische Debatte anzustoßen.<br />
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Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxistismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff. Die Rojava-Solidarität vereint heute ein politisches Spektrum, dass von der MLPD über die verschiedenen roten Gruppen, die iL, die Linkspartei und bis zu den antinationalen und antideutschen Zusammenhängen reicht.<br />
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==Bezug zu unseren Grundannahmen==<br />
==Wie wollen wir den Dissens klären?==<br />
==Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?==</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Der_Klassencharakter_des_b%C3%BCrgerlichen_Staats&diff=6975Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats2020-01-09T09:40:49Z<p>Dio: /* Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole */</p>
<hr />
<div>Zurück zur [[AG Formen bürgerlicher Herrschaft]]<br />
==Überblick==<br />
Dieser Artikel soll einen ersten groben Überblick über die verschiedenen Auffassungen zum Klassencharakter des bürgerlichen Staats innerhalb des kommunistischen und im weiteren Sinne "linken" Spektrums geben. Ist der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" die organisierte politische Macht der gesamten Bourgeosie und damit das Instrument ihrer Klassenherrschaft? Oder ist der Staat an sich ein klassenneutraler Apparat, der sowohl für die Zwecke der Kapitalistenklasse, als auch im Interesse der Arbeiter in Bewegung gesetzt werden kann? Ist der Staat im Stadium des Imperialismus nur noch das Herrschaftsinstrument eines kleinen Teils der Kapitalisten, der Monopolbourgeoisie, die ihre Macht mit Hilfe des Staats auch gegen die "kleine und mittlere Bourgeoisie" durchsetzt? Oder ist der bürgerliche Staat nach 1945 gar zu einer "echten Demokratie" geworden, in der die politische Macht nicht mehr von den besitzenden Klassen ausgeht, sondern von der demokratischen Mehrheit?<br />
<br />
Die Unterschiede in der Analyse und die Einschätzung des Klassencharakters des bürgerlichen Staats haben weitreichende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung. Die sich daraus ergebenden Dissense werden an anderer Stelle unter dem Stichwort "'''[[Staat und Revolution]]'''" dargestellt.<br />
<br />
===Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise"===<br />
Die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus (Marx, Engels, Lenin) bestimmten den bürgerlichen Staat als "ideellen Gesamtkapitalisten" und als Instrument der "Diktatur der Bourgeosie". <br />
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Schon im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 schrieben Marx und Engels: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. […] Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." <ref> Marx, K., Engels, F.: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, Berlin/DDR 1977, S. 464/482. </ref> Diese Definition des Staates als „Ausschuss“ zur Regelung der „gemeinschaftlichen Geschäfte“ der Bourgeoisie deckt sich mit der späteren Formulierung von Engels, in der er den bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnete: "Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten […] nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. <ref> Engels,F.: Zur Wohnungsfrage, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 18, Berlin/DDR 1973, S.257-258.</ref> Der Staat schützt die kapitalistische Produktionsweise sowohl gegen den Widerstand der Arbeiter als auch gegen die sich widersprechenden Einzelinteressen individueller Kapitalisten. Laut Engels setzt der „ideelle Gesamtkapitalist“ also das Interesse der gesamten herrschenden Klasse nicht nur gegenüber dem Proletariat, sondern auch gegenüber ihrer einzelnen Klassenindividuen durch: "Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." <ref> Engels,F.: Anti-Dühring (1877), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 20, S. 260.</ref> <br />
<br />
Der Staat ist also einerseits Instrument zur Unterdrückung der Arbeiter und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse, gleichzeitig ist er notwendig, um die Bourgeoisie über die kapitalistische Konkurrenz hinweg zu Kompromissen zu zwingen und sie so erst als herrschende Klasse zu organisieren.<br />
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Lenin führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine scharfe Polemik gegen die Revisionisten und Reformisten in der deutschen und russichen Sozialdemokratie. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fasste er die Staatsauffassung von Marx und Engels in seiner Schrift ''Staat und Revolution'' (1917) zusammen: "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen 'Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. <ref> Lenin, W.I.: Staat und Revolution, in: in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Lenin Werke Bd. 25, Berlin/DDR 1974, S. 399. </ref> Der Staat ist demnach eine Macht, "die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben. Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt ‚nicht mehr unmittelbar zusammenfällt‘ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer ‚selbsttätigen bewaffneten Organisation‘. [...] Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?" <ref> ebd., S. 401.</ref><br />
Abschließend fasste Lenin seine Studien zur marxschen Staatsauffasung in der Bestimmung des bürgerlichen Staats als „Diktatur der Bourgeoisie“ zusammen: "Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist […]. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie." <ref> ebd., S. 425.</ref><br />
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Von dieser Analyse ausgehend formulierten die Klassiker die strategische Orientierung auf die "Zerschlagung des bürgerlichen Staats" und die Errichtung der "Diktatur des Proletariats". Siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]].<br />
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Für eine ausführlichere Darstellungen der Annahmen der Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus zum Staat, siehe: [[Grundannahmen Staat]]<br />
<br />
===Der Staat als klassenneutrales Instrument===<br />
Vertreter dieser Auffassung gehen davon aus, dass der bürgerliche Staat und seine Organisationsapparate an sich klassenneutrale Instrumente seien. Das heißt sie werden unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen zwar von der Bourgeoisie benutzt, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen, die Arbeiterklasse niederzuhalten und die Bedingungen der Kapitalakkumulation möglichst günstig zu gestalten, könnten unter anderen Bedingungen (z.B. nach dem Wahlsieg einer Arbeiterpartei) jedoch genausogut im Interese des Proletariats in Bewegung gesetzt werden (z.B. um den Kapitalismus durch Sozialreformen allmählich in den Sozialismus zu überführen). Die Instrumente selbst, also die Staatsorganisationen vom Parlament über die Verwaltungs- bis hin zu den Repressionsorganen, verhalten sich dieser Auffassung nach also neutral zu den Zwecken ihrer Anwendung. Weder ihre konkrete Organisationsform noch das Personal, aus dem sie bestehen, tragen demnach Klassencharakter. Diese Auffassung steht im Widerspruch zu der Position, der bürgerliche Staat sei seiner Form und seinem Klasseninhalt nach "ideeller Gesamtkapitalist" und Ausdruck der "Diktatur der Bourgeoisie" (s.o.).<br />
<br />
'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):'''<br />
Die klassischen Vertreter einer solchen Staatsauffassung waren die „Revisionisten“ in der deutschen Sozialdemokratie, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen und zentrale Annahmen des wissenschaftlichen Sozialismus zu "revidieren" begannen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Eduard Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. <br />
<br />
Bernstein bestritt in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899) die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Aufhebung des bürgerlichen Staates und schlug stattdessen einen friedlichen und demokratischen Reformweg zum Sozialismus vor. Bernstein argumentiert, die bisherige Ausrichtung der Sozialdemokratie auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus sei durch die Realität überholt. Das kapitalistische System habe sich als weitgehend krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, ein „Zusammenbruch“ des Kapitalismus bzw. eine revolutionäre Situation sei nicht mehr zu erwarten. Die Aufgabe der SPD sei es nun, im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch „Sozialreformen“ Verbesserungen für die Arbeiterklasse und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards zwischen den Klassen durchzusetzen. Den Weg, um diese Ziele zu erreichen, sah Bernstein in der schrittweisen Ausdehnung des parlamentarischen Einflusses der Sozialdemokratie bis hin zur Übernahme der Regierung. Diese würde dann weitreichende Reformen im Sinne der Arbeiterklasse und des Sozialismus durchsetzen. Das entsprechende Credo des Reformismus lautete: „Der Weg ist alles, das Ziel ist nichts“.<br />
<br />
Der klassische Reformismus setzt notwendig eine bestimmte Auffassung über den bürgerlichen Staat voraus. Wenn es möglich sein soll, den Kapitalismus allmählich durch Sozialreformen zu überwinden, so muss es auch möglich sein, dass die Arbeiterklasse diese Reformen im Staatsapparat gegen den Willen der Bourgeoisie durchsetzt oder diese zumindest zu Kompromissen zwingt – und zwar so weit, dass die Gesellschaft immer mehr sozialistische Züge annimmt und der Staat letztlich aufhört, bürgerlicher Staat zu sein und allmählich zu einem Instrument in den Händen der Arbeiterklasse wird. Dieses Instrument an sich muss also „klassenneutral“ sein und je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse sich entwickeln, kann es sowohl von der einen, als auch von der anderen Klasse kontrolliert und im eigenen Interesse eingesetzt werden. Der Staat steht in dieser rein instrumentalistischen Sichtweise der ihm zugrunde liegenden Produktionsweise also äußerlich gegenüber, er besitzt keine innere Verbindung zu ihr. Der Überbau scheint unabhängig von seiner ökonomischen Basis agieren zu können. Der bürgerliche Staat wird aus dieser Sichtweise nicht als spezifisches, den Klasseninteressen der Bourgeoisie entsprechend geformtes Werkzeug verstanden. Ergo kann das Proletariat dieses Werkzeug unverändert übernehmen, anstatt sich einen eigenen Apparat zu schaffen, der den spezifischen Erfordernissen und Klasseninteressen der Arbeitermacht entspricht.<br />
<br />
'''Eurokommunismus:'''<br />
Ab den 1970er Jahren knüpften die sogenannten "Eurokommunisten" mit vielen ihrer Positionen an die theoretische Tradition des klassischen Revisionismus an, begründeten ihre Haltung aber damit, dass die Kräfteverhältnisse und somit auch der Charakter des bürgerlichen Staates sich nach 1945 grundlegend geändert hätten. Daher seien der „sowjetische Weg zum Sozialismus“ und die "Diktatur des Proletariats" als historischer Sonderfall überholt und Europa mittlerweile in eine Epoche der demokratischen Übergänge eingetreten. Sie vertraten die Einschätzung, die bürgerliche Demokratie sei nach dem Sieg über den Faschismus im Westen zu sehr gefestigt, als dass die Herrschenden gewaltsam gegen einen demokratischen Übergang zum Sozialismus vorgehen könnten. Die Hauptvertreter des Eurokommunismus waren die kommunistischen Parteien Frankreichs (PCF), Italiens (PCI) und Spaniens (PCE).<br />
<br />
Die eurokommunistische Strategie des friedlichen, parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus ging mehr oder weniger offen davon aus, dass der Staat als ein „Feld im Klassenkampf" aufzufassen sei, auf dem sich zwar die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen widerspiegeln, das an sich aber klassenneutral sei. Durch Veränderungen der politischen Mehrheiten sollten der Staat und seine Institutionen durch die Kommunisten kontrolliert und im Sinne der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden. Die Regierung sollte ein Reformprogramm umsetzen, das die Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung Sozialismus entwickeln würde. Auch im Sozialismus sollte der bürgerlich-liberale Parlamentarismus als politische Herrschaftsform bruchlos beibehalten werden: „Die repräsentative Demokratie, kombiniert mit Formen der direkten Demokratie, kann ohne weiteres auch die Form des sozialistischen Systems sein.“<ref> Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen, Rom 1977, URL: https://www.zeit.de/1977/29/der-haeretiker-aus-asturien (letzter Zugriff: 21.12.2019).</ref> In Teilen der eurokommunistischen Strömung wurde sogar die Notwendigkeit der Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Länder in imperialistischen Staatenbündnissen wie der EG und der NATO offen verteidigt. Ausführlich dargelegt ist das Staatsverständnis der Eurokommunisten in Santiago Carrillos ''Eurokommunismus und Staat''<ref>Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.</ref>. <br />
<br />
Ausführlicherer Artikel: [[Eurokommunistische Staatsauffassung]]<br />
<br />
'''Andere Vertreter:'''<br />
Auch heute gibt es zahlreiche "linke" Vertreter dieser Auffassung. Die Annahme, der bürgerliche Staat sei ein grundsätzlich klassenneutrales Instrument, bildet die Voraussetzung jeder Strategie, die auf den Eintritt in die bürgerliche Regierung zum Zweck der Umsetzung von Reformen abzielt. Das gilt eindeutig für die deutsche ''Linkspartei'' und ihre europäischen Geschwisterorganisationen, allen voran die einflussreiche griechische ''SYRIZA''. Auch die "antimonopolistische Strategie" der DKP unterstellt letztlich eine Klassenneutralität des Staates der Monopole (s.u.). In unterschiedlichen Abstufungen wird diese Auffassung auch von den "bolivarischen Bewegungen" bzw. den Vertretern eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien etc. vertreten.<br />
<br />
===Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole===<br />
Eine seit 1945 weit verbreitete Position geht davon aus, dass der bürgerliche Staat im Monopolkapitalismus nicht mehr das Interesse der gesamten herrschenden Klasse vertritt, sondern sich zum alleinigen Herrschaftsinstrument der Monopole entwickelt. Diese Vorstellung beruft sich häufig auf die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (s.o.) und ist eng verbunden mit den verschiedenen Varianten der [[Strategie der Übergänge]]. <br />
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'''Deutsche Kommunistische Partei (DKP):'''<br />
Die DKP vertritt seit ihrer Gründung eine Strategie der "antimonopolistischen Demokratie" (im folgenden: AMD). Diese wurde erstmals im Programm von 1978 explizit ausformuliert und beschlossen. Auch im Programm von 2006 bildet die AMD, von einigen kleineren Relativierungen abgesehen, noch immer den Kern der strategischen Vorstellungen der DKP. <br />
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Zu den wichtigsten Grundannahmen der AMD gehört, dass der bürgerliche Staat zu einem Instrument in den Händen der Monopole, also einer Handvoll Finanzoligarchen innerhalb der Bourgeoisie, geworden ist. Der Staat, so die These, setze deren Profitinteressen rigoros gegen alle „nicht-monopolistischen Schichten“, also nicht nur gegen die Arbeiterklasse und alle anderen Werktätigen, sondern auch gegen die „kleine und mittlere Bourgeoisie“ durch. Der bürgerliche Staat vernachlässigt aus dieser Sicht also gewissermaßen seine Aufgabe als „ideeller Gesamtkapitalist“ und verkörpert gegenüber der gesamten Gesellschaft (und einem Großteil der Bourgeoisie) nicht mehr das langfristige Gesamtinteresse aller Kapitalisten, sondern einseitig das Partikularinteresse des Monopolkapitals. <br />
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Im DKP-Programm von 2006 heißt es dazu: "Als Machtinstrument der Monopolbourgeoisie setzt er [der Staat] immer unverblümter eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durch. An die Stelle der sozialen Integration tritt die Konfrontation. Der bürgerliche Staat verliert tendenziell seine Fähigkeit zur sozialen und politischen Vermittlung, weil die Basis für die Organisierung stabilerer sozialer Kompromisse, die größere Teile der Gesellschaft einbeziehen, verloren geht. So wird die bürgerliche Demokratie ausgehöhlt und verliert ihren Inhalt. Bei Beibehaltung formaler Demokratie vollzieht sich der Übergang vom 'Sozialstaat' zum autoritären 'Sicherheitsstaat'." <ref> Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Duisburg 2006, S. 12. </ref> <br />
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Damit wird zwar der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht geleugnet, aber eine neue strategische Bruchlinie zwischen den Monopolen und allen „nicht-monopolistischen“ Schichten aufgemacht, die aus dieser Sicht nun in Opposition zum "Staat der Monopole" geraten. Entlang dieser Linie soll sich ein „antimonopolistisches Bündnis“ formieren, das neben der Arbeiterklasse nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch bedeutende Teile der „nicht-monopolistischen“ Bourgeoisie umfassen soll <ref> Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Duisburg 2006, S. 33. </ref> . Dieses Bündnis hat zwar nicht den Sozialismus zum Ziel, wohl aber eine Zwischenetappe der „antimonopolistischen Übergänge“, in deren Rahmen die Kommunisten sich an der Regierungsmacht beteiligen und zunächst im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise eine politische „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ durchsetzen sollen.<br />
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Diese Vorstellung eines weitgehend bruchlosen Übergangs des Staatsapparats aus den Händen der einen in die Hände der anderen Klasse unterstellt eine instrumentalistische Sicht auf den Staat und behandelt diesen in letzter Konsequenz als ''klassenneutrales Werkzeug'' (s.o.). Zugespitzt formuliert: Der Klassencharakter des Staates scheint sich aus Sicht der Vertreter der antimonopolistischen Strategie nicht aus seiner Funktionsweise und seinem Wesen, sondern aus den politischen Kräfteverhältnissen zu ergeben. Ändert die Regierung ihren Klassencharakter von „monopolistisch“ zu „nicht-monopolistisch“, so ändert sich demzufolge auch der Klassencharakter des Staates. <br />
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Hier geht es zu einer längeren Version dieses Artikels: [[„Antimonopolistische_Demokratie“_(DKP)|„Antimonopolistische Demokratie“ (DKP)]]<br />
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'''Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD):'''<br />
Zu den wichtigsten Alleinstellungsmerkmalen der Theorie und Programmatik der MLPD gehört der Begriff der „Übermonopole“ (siehe dazu den entsprechenden Artikel [[Imperialismus_als_Weltsystem|"Imperialismus als Weltsystem"]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus), der auch ihre Analyse des bürgerlichen Staats der Gegenwart wesentlich prägt. In ihrem Parteiprogramm schreibt die MLPD: "Die hier ansässigen internationalen Übermonopole, die zum allein herrschenden internationalen Finanzkapital gehören, haben sich den Staat vollkommen untergeordnet, und die Organe des Monopolkapitals sind mit den Organen des Staatsapparats verschmolzen. Sie haben ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft, auch über andere Monopole und die nicht monopolisierten Kapitalisten, errichtet. Über die Organe der EU nehmen sie Einfluss auf andere europäische Staaten." <ref>Programm der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (2016), S. 31, URL: https://www.mlpd.de/parteiprogramm (letzter Zugriff: 09.01.2019)</ref> <br />
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Die MLPD geht also davon aus, dass sich diese „Übermonopole“ den bürgerlichen Staat „vollkommen untergeordnet“ haben – aus dieser Formulierung kann geschlussfolgert werden, dass der Staat nicht mehr als „ideeller Gesamtkapitalist“ das Gesamtinteresse des Kapitals vertritt, sondern von der Fraktion der „Übermonopole“ bzw. des „allein herrschenden Finanzkapitals“ allen anderen Teilen der Bourgeoisie gegenüber als Herrschaftsinstrument benutzt wird. Zudem geht die MLPD davon aus, dass die „Organe des Monopolkapitals“, die im vorangegangenen Stadium des Kapitalismus scheinbar noch unabhängig vom und außerhalb des Staatsapparates existierten, heute vollständig mit diesem „verschmolzen“ sind. <br />
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Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Programmatik der MLPD findet sich hier: [https://kommunistische.org/diskussion/einschaetzung-der-programmatik-der-mlpd/ Philipp Kissel, Einschätzung der Programmatik der MLPD].<br />
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===Staatsmonopolistischer Kapitalismus===<br />
Hier soll kurz dargestellt werden, wie die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus den klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt. In welchem Verhältnis stehen Staat und Monopole? Ist der Staat alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole oder auch "ideeller Gesamtkapitalist", also Ausdruck der Herrschaft der gesamten Bourgeoisie?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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Siehe hierzu den Dissens [[Monopole und Staat]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus.<br />
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===Der Staat als "echte Demokratie"===<br />
Die Position, der bürgerliche Parlamentarismus auf der ökonomischen Basis der kapitalistischen Produktionsweise sei eine "echte Demokratie" läuft letztlich auf die Position hinaus, die gesellschaftlichen Verhältnisse würden nicht von der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie, sondern von der politischen Mehrheit bestimmt. Die Frage des Klassencharakters der Staats wird also reduziert auf eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Je nach dem, ob die Bourgeoisie oder die Arbeiterklasse im demokratischen Prozess mehr Kontrolle über den Staatsapparat ausübt, verschiebt sich auch dessen Klassencharakter. Diese Auffassung setzt zugleich ein Verständnis des Staates als ''klassenneutrales Instrument'' voraus (s. o.). <br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):''' <br />
Die Vorstellung einer fortschreitenden Demokratisierung des bürgerlichen Staats und einer damit einhergehenden Verwandlung seines Klassencharakters spielten eine zentrale Rolle im Denken des klassischen Revisionismus. Rosa Luxemburg polemisierte schon 1899 gegen Eduard Bernstein: „die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie [sei] eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie.“ <ref> Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), Zweiter Teil </ref> Bürgerliche Demokratie und Parlamentarismus waren für Bernstein nicht taktische Mittel im Klassenkampf, sondern tatsächlicher Ausdruck der Herrschaft durch das Volk bzw. die Mehrheit, also der Arbeiterklasse: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. […] Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“<ref>Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.154-156.</ref> Für die Strategie der Arbeiterbewegung heißt das: „die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.“<ref>Ebd., S. 154-156.</ref> Die Arbeiterbewegung soll sich also darauf beschränken, im legalen Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus für Reformen und schrittweise Verbesserungen zu kämpfen. Der bürgerliche Staat ist dabei nicht ihr Gegner, sondern ihr Werkzeug. Die taktische Herausforderung besteht demnach einzig darin, auf demokratischem Weg in die Position zu gelangen, dieses Werkzeug für die eigenen Zwecke nutzen zu können.<br />
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'''Position von SYRIZA:''' <br />
Die griechische "Linkspartei" SYRIZA argumentiert in ihrem Regierungsprogramm, „der Staat [sei] keine Festung, sondern ein Netzwerk, ein Verhältnis und eine strategische Arena für den politischen Kampf. Er verändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, im Gegenteil, seine notwendige Transformation hat konstante und kontinuierliche Kämpfe zur Voraussetzung, die Einbeziehung des Volkes, ständige Demokratisierung.“ (Quelle: S''YRIZAs Regierungsprogramm''<ref>Zitiert nach einem auf Englisch erschienenen Artikel der KKE, ins Deutsche Übersetzt. URL: https://inter.kke.gr/en/articles/Criticism-of-certain-contemporary-opportunist-views-on-the-state/ (9.01.2019)</ref>) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der bürgerliche Staat von SYRIZA nicht seinem Wesen nach als ein Organ der bürgerlichen Klassenherrschaft angesehen, sondern als eine Ansammlung von Institutionen, die im Interesse des Volkes „transformiert“ werden können. Auf Grundlage dieser Sichtweise wird argumentiert, dass der Charakter des bürgerlichen Staats durch die richtigen politischen Kräfteverhältnisse geformt oder gar "transformiert" werden kann, solange sich nur „linke Regierungen“ durchsetzen können. <br />
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'''Position der DKP:''' <br />
Die DKP bleibt in ihrer Einschätzung der bürgerlichen Demokratie widersprüchlich. Einerseits ist in ihrem Programm von 2006 zwar die Rede davon, dass sich durch die "Globalisierung" die "Tendenz zur Reaktion" verschärft, dass die Demokratie untergraben wird (S. 12) und dass letztlich eine "revolutionäre Überwindung" (S. 28) des Kapitalismus nötig sei. Andererseits gehört es jedoch zu den Kernthesen ihrer "antimonopolistischen Startegie", dass noch auf dem Boden der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und innerhalb des institutionellen Rahmens des bürgerlichen Staats umfassende Reformen und sogar eine "antimonopolistisch-demokratische Umgestaltung" (S. 32) möglich seien: "Je mehr es dabei gelingt, Veränderungen im Sinne von Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, von demokratischer Kontrolle, von Entmilitarisierung und Demokratisierung in Staat und Gesellschaft zu erreichen, je größer der Einfluss der demokratischen und sozialistischen Kräfte überall dort ist, wo Meinungsbildung stattfindet, desto besser sind die Chancen im Kampf um die Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und für die Öffnung des Weges zum Sozialismus. [...] Es geht um die [...] demokratische Einflussnahme auf den staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus im nationalen Rahmen wie im Rahmen der Europäischen Union und anderer internationaler staatsmonopolistischer Institutionen". (S. 30) Diese Vorstellung läuft letztlich also darauf hinaus, die Kommunisten und „Demokraten“ könnten den ideellen Gesamtkapitalisten dem Einfluss der Klasseninteressen der Bourgeoisie entreißen und ihrem eigenen politischen Willen unterwerfen.<br />
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'''Andere Vertreter:''' Ebenfalls weit verbreitet sind Vorstellungen über den demokratischen Charakter des bürgerlichen Staats in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dort gehört der Begriff der „Mitbestimmung“ nicht umsonst zum ideologischen Kernrepertoire. Die Vorstellung, im Betrieb ließe sich zwischen Kapital und Arbeit auf Augenhöhe eine demokratische Mitbestimmung und dadurch ein Interessenausgleich verwirklichen, bildet das Herzstück der Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Ähnliche Sichtweisen werden heute außerdem in einer Reihe lateinamerikanischer Länder gepflegt. Verschiedene „fortschrittliche“ und „linke“ Regierungen versuchen unter dem Banner des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bzw. der „bolivarischen Revolution“ das bürgerliche Staatssystem durch Gesetzesreformen und Volksabstimmungen grundlegend zu veränden.<br />
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==="Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci)===<br />
Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, verfasste in den 1920er und 30er Jahren in faschistischer Gefangenschaft seine „Gefängnishefte“, ein umfangreiches theoretisches Werk, dessen einzelne Bestandteile Gramsci unter den Bedingungen seiner Haft leider nicht mehr zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen konnte. Zu den wichtigsten Aspekten dieses Werks gehören Gramscis Überlegungen zur besonderen Form der Herrschaft der Bourgeoisie in den entwickelten imperialistischen Ländern und die daraus abgeleiteten Weiterentwicklungen der marxistischen Staatstheorie.<br />
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In den Gefängnisheften bringt Gramsci den Staat und die Herrschaft der Bourgeoisie auf die kurze Formel: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang" (H. 6, §88., S. 783)<ref>Antonio Gramsci, Gefängnisgefte. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1991. Im Folgenden wird aus den Gefängnisheften nur noch in Klammern nach Heft Nr., Paragraph und Seitenzahl zitiert.</ref><br />
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Gramsci weitet den Staatsbegriff damit aus und entwickelt sein Konzept des "integralen Staates". Dieser umfasst einerseits die "politische Gesellschaft", womit alle explizit staatlichen Strukturen und Institutionen gemeint sind, also das Parlament, die Beamtenapparate, die Repressionsorgane, die staatlichen Bildungseinrichtungen etc. Andererseits betrachtet Gramsci aber auch die "Zivilgesellschaft" als Teil der bürgerlichen Staatlichkeit. Gemeint sind damit alle Strukturen außerhalb der Staatsapparate, über die die Bourgeoisie ihre Herrschaft absichert, also private Medien, Bildungsstätten, Institute, Stiftungen, Clubs, Thinktanks etc. Mit Blick auf den Sieg der Oktoberrevolution in Russland und die darauffolgenden Niederlagen der Revolutionsversuche in Westeuropa schrieb Gramsci: "Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand;" (H. 7, §16., S. 873-874) An anderer Stelle heißt es: "zumindest was die fortgeschrittenen Staaten angeht, wo die 'Zivilgesellschaft' eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften 'Durchbrüchen' des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg." (H. 13, §14, S. 1553-1554) Die Stabilität der bürgerlichen Herrschaft hängt demnach also wesentlich davon ab, inwieweit die Zivilgesellschaft herausgebildet und die "Hegemonie" der Bourgeoisie enwickelt ist. <br />
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Mit dem Begriff der Hegemonie versucht Gramsci der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass sich die Macht der Bourgeoisie nicht nur auf das Staatliche Gewaltmonopol und die Repressionsapparate stützt, sondern wesentlich über ideologische Integration und die Erzeugung von "Konsens" abgesichert wird. Hegemonie bezeichnet also die politisch-ideologische Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über eine andere. "Die 'normale' Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne daß der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt, sondern im Gegenteil sogar versucht wird, zu erreichen, daß der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint […]" (H. 13, §37, S. 1607-1613). Konsens bezeichnet hier einen Zustand, in dem die Beherrschten die Herrschaft zumindest passiv ertragen oder sogar aktiv die Sichtweise übernehmen, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse entsprächen auch ihren Interessen und seien die bestmöglichen. Gramsci schreibt, dass "eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. […] Die politische Führung wird zu einem Aspekt der Herrschaft, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Klassen zur Enthauptung derselben und zu ihrer Machtlosigkeit führt. Es kann und muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben." (H. 1, §44, S. 101-113) <br />
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Heute wird der Begriff der Hegemonie fast ausschließlich Gramsci zugeschrieben, dabei war er zu dessen Lebzeiten unter den Theoretikern der Kommunistischen Internationale weit verbreitet und wurde breit diskutiert. Wie Buci-Glucksmann bemerkt, war er "im gesamten Marxismus der Dritten Internationale überaus geläufig. Man findet ihn vor allem unter der Feder Lenins vor 1917, aber auch später. Man finet ihn ebenso oft bei Bela Kun, Varga, Stalin, und vor allem Bucharin, der ihn in einer Weise benutzte, die der Gramscis nahezustehen scheinen könnte". <ref>Buci-Glucksmann, Gramsci und der Staat, S. 17.</ref> <br />
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Die "führende Klasse" oder Klassenfraktion ist laut Gramsci in ihrem Ringen um Hegemonie also in der Regel darum bemührt, alle anderen Fraktionen ihrer Klasse und ihrer "verbündeten Klassen" in ihren "Block an der Macht" zu integrieren. Das gelingt nur, indem sie mit diesen anderen Fraktionen ein Komprimissprogramm aushandelt, das bestmöglich das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse zusammenfasst und deren innere Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Der Ort, an dem diese Kompromisse ausgehandelt und schließlich in politische Praxis übersetzt werden, ist der bürgerliche Staat selbst. Gegenüber den "feindlichen Klassen" (also dem Proletariat und den anderen Werktätigen) tritt die Bourgeoisie als "herrschend" auf, sie übt ihre Hegemonie einerseits durch Integration ihrer ideologischen Führer und andererseits durch materielle Zugeständnisse aus: "Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, daß sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, daß also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, daß solche Opfer und ein solcher Kompromiß nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt." (H. 13, §18, S. 1565-1573) Gramsci beschreibt in dieser Formulierung den grundsätzlichen Klassencharakter des Staates. Die Kompromisse können nie "das Wesentliche" betreffen - also die kapitalistische Produktionsweise - sondern sich nur in deren Rahmen bewegen. <br />
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Gramscis Staatstheorie knüpft eindeutig an die Auffassung des Staats als "ideeller Gesamtkapitalist" (s.o.) an, indem sie einerseits die Integration der gesamten herrschenden Klasse in einem "historischen Block" betont und andererseits die zumindest passive Einbindung der Beherrschten im Rahmen der Hegemonie betont. Mit einer Staatsauffassung, die den bürgerlichen Staat im Monopolkapitalismus als "alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole" (s.o.) versteht, ist Gramscis Ansatz kaum zu vereinbaren. <br />
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Mit Blick auf den Staat schreibt Gramsci außerdem, dieser sei "das Instrument zur Anpassung der Zivilgesellschaft an die ökonomische Struktur". (H. 10.II, §15, S. 1267) Dabei spielen Medien und andere ideologische Apparate eine entscheidende Rolle: "Was 'öffentliche Meinung' genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der 'Zivilgesellschaft' und der 'politischen Gesellschaft', zwischen dem Konsens und der Gewalt. Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft. […] die öffentliche Meinung, wie sie heute Verstanden wird, ist am Vorabend des Untergangs der absolutistischen Staaten entstanden, das heißt in der Zeit des Kampfes der neuen bürgerlichen Klasse um die politische Hegemonie und die Erlangung der Macht. […] [Es entbrennt ein] Kampf ums Monopol der Organe der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, Parlament". (H. 7, §83, S. 916-917)<br />
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Verliert die herrschende Klasse ihre Hegemonie, so kommt es zur "Hegemonie-" bzw. "Autoritätskrise": "Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr 'führend', sondern einzig 'herrschend' ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die große Masse sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann". (H. 3, §34, S. 354-355) Der Verlust der Hegemonie darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem automatischen Verlust der Macht, schließlich verfügt die herrschende Klasse auch bei schwindendem Konsens noch immer über die Mittel des Zwangs. <br />
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Zu den strategischen Schlussfolgerungen, die Gramsci aus seiner Staatstheorie ableitete, siehe den Dissens-Artikel zu [[Staat und Revolution]] und dort den Abschnitt "Bewegungs- und Stellungskrieg". <br />
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Einige offene Fragen zu Gramsci und seiner Staatstheorie werden von unserer AG tiefergehend behandelt werden: Handelt es sich dabei um einen wegweisenden Beitrag zur marxistischen Staatstheorie im Zeitalter des Imperialismus und des entwickelten bürgerlichen Staats, an den die Kommunisten anknüpfen und den sie weiterentwickeln müssen? Oder enthält Gramscis Theorie bereits wesentliche revisionistische Abweichungen, die es den verschiedenen opportunistischen Strömungen, die sich heute auf ihn berufen, leicht machen, seine Theorie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?<br />
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==="Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas)===<br />
Nicos Poulantzas war ein griechischer Theoretiker, der in den 1960er und 70er Jahren eine Reihe an marxistischen Studien verfasste. Er sympathisierte nach 1968 mit der eurokommunistischen griechischen kommunistischen Partei des Inlands (KKE-Inland) und stand – in Frankreich lebend - in kritischer Distanz zur Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). In seinen klassen- und staatstheoretischen Schriften ist der Einfluss u.a. von Louis Althussers Strukturalismus sowie [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #"Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci) | Antonio Gramscis Hegemonietheorie]] sichtbar. In der marxistischen Debatte um den Staat hat Poulantzas tiefe Spuren hinterlassen, was primär zurückgeführt werden kann auf seine Konzeption des Staates als „Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“. Historisch bedeutsam war dabei zunächst die Auseinandersetzung mit Ralph Miliband; im deutschsprachigen Raum wurde seine Theorie u.a. über Joachim Hirsch und Alex Demirovic wieder in die Diskussion eingebracht.<br />
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Poulantzas formuliert in der Einleitung zur „Staatstheorie“ den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Es ist nicht der Klassencharakter des Staates, der zur Debatte steht: „Jeder Staat ist ein Klassenstaat; jede politische Herrschaft ist Klassendiktatur; der kapitalistische Staat ist ein Staat der Bourgeoisie; der kapitalistische Staat im Allgemeinen und jeder kapitalistische Staat im Besonderen sind Diktaturen der Bourgeoisie“ (Staatstheorie S. 155), all dies sind für ihn „Banalitäten“ - zwar richtig, aber nicht weiter ausführenswert. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, vielmehr stellt es sich hier neu: „[W]arum greift die Bourgeoisie in ihrer Herrschaft auf diesen nationalen Volksstaat zurück, diesen modernen Repräsentativ-Staat mit seinen spezifischen Institutionen, und nicht auf einen anderen? Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich genau diesen Staat aussuchen würden, wenn sie den Staat komplett selbst und nach ihrem Geschmack aufbauen würden.“ (Staatstheorie, S. 40). Eine verwandte Frage hatte bereits der sowjetische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis knapp 50 Jahre, vorher gestellt: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“1 Poulantzas gibt in der Einleitung auch eine vorläufige, knappe Antwort auf die von ihm formulierte Frage: „Der Staat stellt ein materielles Gerüst dar, das in keiner Weise auf die politische Herrschaft reduziert werden kann. Der Staatsapparat, dieses besondere und furchterregende Etwas, erschöpft sich nicht in der Staatsmacht. [...] Wenn der Staat nicht einfach ein vollständiges Produkt der herrschenden Klassen ist, so haben sie sich seiner auch nicht einfach bemächtigt: Die Macht des Staates (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) hat in dieser Materialität ihre Spuren hinterlassen. Die Handlungen des Staates reduzieren sich nicht auf die politische Herrschaft, sie sind jedoch konstitutiv von ihr gezeichnet.“ (Staatstheorie, S. 42)<br />
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Eine wichtige Aufgabe des Staates sieht Poulantzas in der Repräsentation und Organisation der herrschenden und der Desorganisation der beherrschten Klassen. Die Bourgeoisie ist keine widerspruchsfreie Einheit. Sie verfolgt zwar zwangsläufig als Klasse einheitlich das Ziel der Kapitalverwertung, dieses Ziel bringt sie aber auch in direkte Konkurrenz untereinander, weshalb, wie Engels sagt, der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert. Poulantzas zufolge ist die Kapitalistenklasse in Klassenfraktionen gespalten, die unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Interessen verfolgen. Diese Klassenfraktionen formieren sich unter der Hegemonie einer Fraktion zu einem „Block an der Macht“, in welchen auch andere herrschende Klassen miteinbezogen werden. Die Hegemonie einer Fraktion bedeutet dabei, dass diese die äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Sinne optimieren kann; und diese Hegemonie erst ermöglicht die Einheit dieses Blocks gegenüber den beherrschten Klassen. Poulantzas betont, dass nicht nur Teile der Bourgeoisie (etwa das Monopolkapital) den Machtblock stemmen: „Diese bürgerlichen Fraktionen sind in ihrer Gesamtheit, obwohl in unterschiedlichem Maße, auf dem Terrain der politischen Herrschaft angesiedelt, und gehören somit immer zum Block an der Macht“ (Staatstheorie S. 159). Dieser Machtblock ist aber konfliktdurchzogen, er stellt ein umkämpftes, instabiles Kompromissgleichgewicht dar: „Der Machtblock stellt eine von inneren Widersprüchen gekennzeichnete Einheit von politisch herrschenden Klassen und Fraktionen unter dem Schutz der hegemonialen Fraktion dar. Der Klassenkampf, die Interessenrivalitäten zwischen den gesellschaftlichen Kräften sind darin ständig gegenwärtig, wobei diese Interessen ihren spezifischen Antagonismus bewahren“ (PMGK, S. 239). In diesem Sinne ist die konkrete Politik des Staates und die Hegemonie im Machtblock immer umkämpft, und dieser Kampf wird im Staat, in seinen ideologischen (Medien, Think Tanks, …) aber auch repressiven Apparaten (Polizei, Armee, …) ausgetragen.<br />
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Um die „Rolle der Vereinheitlichung und Organisierung der Bourgeoisie und des Blocks an der Macht“ (Staatstheorie, S. 158) zu erfüllen, muss der Staat laut Poulantzas eine „relative Autonomie“ gegenüber den einzelnen Bestandteilen des Blocks bewahren: „Unter relativer Autonomie dieses Staatstyps verstehe ich […] das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Feld des Klassenkampfes, insbesondere seine relative Autonomie gegenüber den Klassen oder Fraktionen des Machtblocks und in erweiterter Form auch gegenüber seinen Verbündeten oder Stützen […] Ich hoffe, damit klar genug die Distanz auszudrücken, die diese Auffassung des Staats von einer simplifizierten und vulgarisierten Auffassung des Staats trennt, die in ihm das Werkzeug oder Instrument der herrschenden Klasse sieht“ (PMGK S. 256).<br />
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Der Staat als Instrument (siehe auch die Abschnitte zum Staat als [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als klassenneutrales Instrument | klassenneutrales Instrument]] und als [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole | alleiniges Instrument der Monopole]]) und der [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt) | Staat als Subjekt]]: dies beides sind aus Poulantzas‘ Sicht falsche Staatsverständnisse, die er umschiffen will mit dem Verständnis des Staates als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses. Der Staat als Instrument/Werkzeug/Sache unterstellt eine Passivität oder Neutralität des Staates. Dieser wird als ein Apparat verstanden, der zur Ausübung der politischen Macht von der herrschenden Klasse oder auch einer Klassenfraktion verwendet wird, der aber eben auch so wie er ist übernommen werden kann, um gegen die herrschende Klasse gewendet zu werden. Eine Autonomie des Staates ist ausgeschlossen. Eine solche instrumentalistische Konzeption des Staates sieht Poulantzas in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der eurokommunistischen PCF in den 1970ern: „An dieser Konzeption kritisierte ich vor allem, dass sie zu der Vorstellung des mit dem Monopolkapital »fusionierten« Staates führt, einem Staat der im Dienste der Monopole steht und keinerlei Autonomie besitzt“ (Staatstheorie S. 160). Der Staat als Subjekt wiederum lässt ihn vollständig autonom werden, er steht als Akteur außerhalb der Klassen. Er agiert, koordiniert, verwaltet, reguliert selbstständig. Seine Autonomie bezieht sich „auf die angebliche Macht des Staates und auf die Träger dieser Macht und der staatlichen Rationalität: auf die Bürokratie und speziell auf die politische Elite“ (Staatstheorie S. 160). <br />
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Poulantzas schlägt vor, die „Sackgassen des ewigen Pseudodilemmas der Diskussion zwischen der Konzeption des Staates als einer Sache bzw. einem Instrument und der Konzeption des Staates als einem Subjekt“ (Staatstheorie S. 159f) zu vermeiden, indem der Staat über den Klassenkampf selbst verstanden wird, genauer: „ … indem ich sage, dass der Staat […] nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden darf, sondern, wie auch das »Kapital«, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ Der Staat spiegelt also nicht einfach ein gesellschaftliches Verhältnis wider, er selber konstituiert dieses Verhältnis. In der Vielzahl seiner Institutionen findet die ständige Austarierung zwischen Klassen und Klassenfraktionen statt. Diese Austarierung entspricht aber nicht direkt dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, beispielsweise sind die beherrschten Klassen nicht in den Staatsapparaten anwesend: „Sie organisieren und vereinheitlichen den Block an der Macht, indem sie die beherrschten Klassen ständig desorganisieren und spalten. Sie polarisieren sie gegenüber dem Block an der Macht und schließen ihre politischen Organisationen aus.“ (Staatstheorie S. 171)<br />
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Bei Poulantzas bleibt unklar, wie der Begriff der Verdichtung genau zu verstehen ist, wohingegen er ausführt, was es mit der Materialität hier auf sich hat. Mit Blick auf die Staatstheorie in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der PCF wendet er ein, dass diese „die eigenständige Materialität des Staates übersieht. Diese Materialität eines Staates, der als Werkzeug oder Instrument angesehen wird, hat keine eigene politische Bedeutung. Diese Bedeutung wird auf die Staatsmacht beschränkt, d.h. auf die Klasse, die dieses Instrument manipuliert. Das würde im Extremfall implizieren, dass das gleiche Instrument (das verschiedenen, allerdings zweitrangigen Modifikationen unterliegt) durch eine Veränderung der Staatsmacht, also durch die Macht der Arbeiterklasse, für den Übergang zum Sozialismus anders eingesetzt werden könnte“ (Staatstheorie S. 160). Dieses Defizit meint er zu beheben: „Das materielle Gerüst seiner [des Staates] Institutionen wird durch die Beziehung des Staates zu den Produktionsverhältnissen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung konstituiert, die sich in der kapitalistischen Trennung des Staates von diesen Verhältnissen konzentriert. […] Der Staat hat eine eigene Dichte und Widerstandskraft und reduziert sich nicht auf ein Kräfteverhältnis. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Klassen hat sicherlich immer Auswirkungen innerhalb des Staates, sie überträgt sich jedoch nicht direkt und unmittelbar. Sie passt sich der Materialität der verschiedenen Apparate an und kristallisiert sich im Staat nur in gebrochener und differenzierter, den Apparaten entsprechender Form. Eine Veränderung der Staatsmacht allein transformiert die Materialität des Staates nicht“ (Staatstheorie S. 161f). Als Beispiele für die Materialität führt Poulantzas u.a. die Organisierung kapitalistischen Wissens an: „Die geistige Arbeit (Wissen/Macht) ist in den Apparaten konzentriert und steht im Gegensatz zur tendenziell in den Volksmassen konzentrierten manuellen Arbeit, die von den organisatorischen Funktionen ausgeschlossen und getrennt sind“ (Staatstheorie S. 83).<br />
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==="Akkumulationsregime" (Regulationsschule)===<br />
Hier sollen die offenen Fragen und Aufgaben ausformuliert werden, die sich aus der Staatstheorie der "Regulationsschule" und deren Theorie der "Akkumulationsregime" ergeben. Handelt es sich bei dieser Theorie um einen wesentlichen Beitrag zur marxistischen Staatstheorie, die eine vertiefende Analyse der verschiedenen Formen der bürgerlichen Herrschaft seit der Entstehung des Kapitalismus erlaubt (z.B. durch die Unterscheidung eines "keynesianischen" und eines "neoliberalen Akkumulationsregimes")? Wie wird aus Perspektive der der Regulationsschule der Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt? Enthält diese Theorietradition wesentliche Abweichungen von den Grundannahmen der marxistischen Staatstheorie? Welche Verbinndung gibt es zu den Theorien von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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'''Vertreter:''' Zu den prominentesten Vertretern der Regulationsschule gehören heute die Staatstheoretiker Joachim Hirsch und Bob Jessop.<br />
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===Staat = Repressionsapparate / "neue Demokratie" (Maoismus)===<br />
Innerhalb des maoistischen Spektrums lässt sich als tendenzielle Gemeinsamkeit in der Staatsfrage ein besonderer Fokus auf die „bewaffneten Apparate“ des bürgerlichen Staats und eine weitgehende Vernachlässigung der Analyse anderer, nicht unmittelbar gewaltförmiger Herrschaftstechniken der Bourgeoisie (Integrationsideologien, ökonomischer Zwang, etc.) feststellen. Dies steht im engen Zusammenhang mit der Strategie des "Volkskriegs". Dieser Strategie liegt eine Perspektive auf den Staat zugrunde, die den Kampf um die politische Macht weitgehend auf den unmittelbaren militärischen Kampf und die Zerschlagung der bewaffneten Staatsapparate zuspitzt. Die maoistische Theorie der "neuen Demokratie" enthält außerdem die These einer möglichen dritten Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats.<br />
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Von einer einheitlichen und systematisch ausgearbeiteten "maoistischen Staatstheorie" kann genauso wenig die Rede sein, wie von einer homogenen maoistischen Strömung innerhalb des Marxismus. In den klassischen Texten von Mao Tse-Tung findet sich vor allem keine eigene, systematisch ausgearbeitete Analyse des bürgerlichen Staats im Imperialismus. Die chinesischen Revolutionäre kämpften nicht gegen einen entwickelten bürgerlichen Staat, wie er sich in den imperialistischen Zentren herausgebildet hatte, sondern gegen einen agrarischen Feudalstaat mit kolonialen Elementen. Der Großteil von Maos Äußerungen über den Staat sind in diesem Kontext zu sehen, so zum Beispiel die oft zitierte Losung: "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 74.</ref> An anderer Stelle führt Mao diese Zuspitzung auf die Frage der militärischen Macht und der bewaffneten Apparate weiter aus und verallgemeinert sie als die aus seiner Sicht wichtigste Kernaussage der marxistischen Lehre vom Staat: "Vom Standpunkt der marxistischen Lehre vom Staat ist die Armee die Hauptkomponente der Staatsmacht. Wer die Staatsmacht ergreifen und behalten will, der muß eine starke Armee haben. Manche Leute bezeichnen uns höhnisch als Anhänger der ‚Theorie von der Allmacht des Krieges‘; jawohl, wir sind Anhänger der Theorie von der Allmacht des revolutionären Krieges, und das ist nicht schlecht, sondern gut, das ist marxistisch. [...] Die Erfahrungen des Klassenkampfes im Zeitalter des Imperialismus lehren uns: Die Arbeiterklasse und die übrigen Werktätigen Massen können nur mit der Macht der Gewehre die bewaffneten Bourgeois und Grundherren besiegen; in diesem Sinne können wir sagen, daß die ganze Welt nur mit Hilfe der Gewehre umgestaltet werden kann."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 75-76.</ref><br />
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In genau diesem Sinne wird die Staatsfrage auch in Teilen der zeitgenössischen maoistischen Strömungen behandelt. Viele zeitgenössische Mao-Gruppen beziehen sich dabei auf die Traditionslinie der peruanischen Guerillabewegung „Leuchtender Pfad“ bzw. der KP Perus (Vollständiger Name: ''Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui'') und ihres politischen und ideologischen Anführers „Presidente Gonzalo“ (Abiamel Guzmán). (''Anmerkung: Alle Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen sich auf die Broschüre „Einheitsbasis der Kommunistischen Partei Perus – angenommen auf dem I. Parteitag 1988“<ref>http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/gonzalo/1439-die-einheitsbasis-der-kommunistischen-partei-perus-auf-deutsch</ref>, die leider zahlreiche Übersetzungsfehler enthält.'')<br />
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Der Staat erscheint auch hier vor allem als bewaffneter Apparat, der militärisch bekämpft und zerschlagen werden muss:<br />
"die revolutionäre Gewalt ist ausnahmslos ein universelles Gesetz; die Revolution ist die gewaltsame Ersetzung einer Klasse durch eine andere. Er [Mao Tse-Tung] legte seine große These fest: ‚Die Macht kommt aus den Gewehrläufen!‘" (Über den Marxismus-Leninismus-Maoismus, S. 7) "[der] Volkskrieg, der durch eine revolutionäre Armee neuen Typs, unter der absoluten Führung der Partei, Stück für Stück die alte Macht zerstört, hauptsächlich seine bewaffneten und repressiven Kräfte." (Programm und Statuten der KP Perus, S. 16-17.)<br />
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Unter dem Begriff der „neue demokratische Revolution“ vertreten die Maoisten der KP Perus ein spezifisches Etappenmodell, das die Stufen der Revolution festlegt, die die unterdrückten Länder auf dem Weg zum Sozialismus durchlaufen müssen. Der Klasseninhalt der Revolution und der jeweiligen Staatsformen, die diese hervorbringen, ändert sich jedoch je nach Entwicklungsstand des jeweiligen Landes: "Um unser Endziel, den Kommunismus, zu erreichen, müssen wir Marxisten-Leninisten-Maoisten in Perspektive drei Typen von Revolutionen durchführen: 1) Die demokratische Revolution, das ist die bürgerliche Revolution neuen Typs in den rückständigen Ländern, unter der Führung des Proletariats, in deren Verlauf eine gemeinsame Diktatur des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und unter bestimmten Bedingungen der Mittelbourgeoisie unter der Führung des Proletariats errichtet wird; 2) Die sozialistische Revolution in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern, die die Diktatur des Proletariats errichtet; 3) Kulturrevolutionen, sie werden gemacht um die Revolution unter der Diktatur des Proletariats fortzusetzen, um jede Generierung des Kapitalismus zu unterwerfen und zu eliminieren und auch mit den Waffen gegen jedes streben nach Restauration des Kapitalismus zu kämpfen" (Allgemeine politische Linie, S. 19)<br />
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Mit der Theorie der „neuen demokratischen Revolution“ sind spezifische staatstheoretische Grundannahmen verbunden. Die „Neuen Demokratie“ gilt aus maoistischer Sicht als dritte Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats - ihr Klassencharakter ist wesentlich durch einen Klassenkompromiss bzw. ein Klassenbündnis bestimmt: "Die Neue Demokratie. In erster Stelle ist es eine Entwicklung der marxistischen Staatstheorie mit der Festlegung der drei Typen der Diktatur: 1. die Diktatur der Bourgeoisie, in den alten bürgerlichen Demokratien wie in den Vereinigten Staaten, dazu zählen auch die Diktaturen, die in unterdrückten Nationen, wie den lateinamerikanischen existieren, 2. die Diktatur des Proletariats wie in der Sowjetunion oder in China vor der Usurpation der Macht durch die Revisionisten und 3. die Neue Demokratie als gemeinsame Diktatur, die auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern basiert, geführt vom Proletariat mit der Kommunistischen Partei an der Spitze […]." (Über den Marxismus-Leninismus, S. 8) Im Anschluss an Mao und Gonzalo geht die KP Perus davon aus, dass die "Staatssysteme der Welt" auf „drei Grundtypen reduziert werden können, laut ihres Klassencharakters: Republik unter der Diktatur der Bourgeoisie, die auch die Staaten der alten Demokratie ausmachen und die Republik der gemeinsamen Diktatur der Grundbesitzer und Großbourgeoisie; Republiken unter der Diktatur des Proletariats; und Republik unter der gemeinsamen Diktatur der revolutionären Klassen […]." (Allgemeine politische Linie, S. 33.)<br />
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Andere Grundsätzlichere Fragen zum Thema Maoismus, wie die Strategie des „langfristigen Volkskriegs“, die Etappe der "neuen demokratischen Revolution" oder die Theorie des „Zweilinienkampfs“ werden perspektivisch durch die [[AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei]] bearbeitet. Fragen zur Polemik zwischen der Sowjetunion und China über die „friedliche Koexistenz“, die „Kulturrevolution“ und die maoistische Position, die Sowjetunion sei „sozialimperialistisch“ gewesen, gehören zum Arbeitsbereich der [[AG Sozialismus]].<br />
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Eine längere Version dieses Artikels (befindet sich noch in Bearbeitung) findet ihr hier: '''[[Die Staatsfrage im Maoismus]]'''<br />
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Vertreten werden solche oder ähnliche Positionen in Deutschland zum Beispiel von der Sozialistischen Linken (SoL) oder dem mittlerweile aufgelösten Jugendwiderstand (JW).<br />
===Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt)===<br />
Der ''Gegenstandpunkt'' (GSP, früher ''Marxistische Gruppe'') vertritt eine eigene Staatstheorie, die davon ausgeht, der bürgerliche Staat könne aus den abstrakten Kategorien der politischen Ökonomie "abgeleitet" werden. Den Ausgangspunkt dieser Ableitung bildet die einfache Warenzirkulation, in welcher die Warenbesitzer sich wechselseitig als "freie" und "gleiche" Privateigentümer anerkennen. Die Autoren des GSP sehen drei gemeinsame Interessen bei allen Privateigentümern: Die Erhaltung der Revenue, eine möglichst hohe Revenue und den kontinuierliche Fluss der Revenue. Daraus schlussfolgern sie, dass Schutz und Sicherung des Privateigentums, die Sicherung des Wirtschaftswachstums und ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft dem Gesamtinteresse aller Privateigentümer entsprechen, wozu als viertes das Interesse an gleichen Konkurrenzvoraussetzungen hinzutritt. Weil die Privateigentümer aber in der Verfolgung ihrer besonderen Interessen nicht die allgemeinen Interessen durchsetzen können, bedarf es des Staates: "Das besondere Dasein des Staates neben und außer der Gesellschaft der konkurrierenden Privaten – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit – ist das Resultat dieses Widerspruchs zwischen besonderem und allgemeinem Interesse in seinen verschiedenen Existenzweisen. Der Staat verkörpert die Loslösung der allgemeinen Interessen aus der Sphäre der Privaten und ihre Verwaltung in der Sphäre des Staates. Mit der Besonderung des Staates werden die allgemeinen Interessen zu seinen besonderen, deren Verwaltung allein ihm obliegt. <ref> von Flatow, Sybille / Huisken, Freerk: Zum Problem der Ableitung des bürgerlichen Staates, in: Prokla, 7 (1973), S. 121 </ref><br />
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Fertig ausformuliert und in den Reihen des GSP kanonisiert wurde diese "Staatsableitung" von Karl Held in ''Der bürgerliche Staat''. In Helds Analyse wird aus der „Besonderung des Staates“ letztendlich der „Staat als Subjekt“: "Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit und Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert.<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Staat hält hier nicht nur die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Reproduktion aufrecht, er wird zum eigenständigen Subjekt mit eigenen Interessen: "Der souveräne Staat ist eine von den Bürgern getrennte, selbständige Instanz, die mit keinem besonderen Interesse identisch ist und gerade und nur deswegen von allen anerkannte Gewalt ist, weil er sein Interesse, das Allgemeinwohl, gegen die Privatsubjekte durchsetzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref> "In der Unterordnung aller Aufgaben, um deren Erfüllung willen er sich als politisches Subjekt der Ökonomie betätigt, unter das Kriterium des wirtschaftlichen Wachstums, in der Relativierung aller Funktionen entsprechend dieser Zielsetzung der Wirtschaftspolitik fällt der Grund des bürgerlichen Staates – die freie Konkurrenz – unmittelbar zusammen mit seinem Zweck: er ist bewußter Agent des Inhalts der Konkurrenz, die bekanntlich nicht die Individuen, sondern das Kapital in Freiheit setzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates besteht daher beim GSP auch zuallererst darin, dass er nicht im Interesse der einen Klasse eine andere, sondern alle Individuen gleichermaßen unterwirft: "Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, daß er Klassenstaat ist: Durch die gleiche Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der Nutzen aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben." <ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat, URL: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat (29.12.2018) </ref><br />
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Der Staat wird dadurch also wesentlich (und nicht nur oberflächlich) zu einem (klassen)neutralen Subjekt erklärt, welches die äußeren Bedingungen der Konkurrenz organisiert und diese Bedingungen den Warenbesitzern unterschiedslos aufzwingt. <br />
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'''Vertreter:''' Neben dem ''Gegenstandpunkt'', dessen Aktivitäten sich fast auschließlich auf das akademische Milieu konzentrieren, werden diese Positionen auch von vielen studentischen Jugendgruppen in der "linksradikalen" und Antifa-Szene vertreten. Dies hat häufig damit zu tun, dass Leute aus der Szene ihre eigene theoretische Bildung über Lesekreise und Seminare des Gegenstandpunkt erwerben. Besonders in Teilen der ''Sozialistischen Jugend - Die Falken'' lässt sich ein starker ideologischer Einfluss des GSP feststellen, das gleiche Phänomen taucht aber auch immer wieder in Gewerkschaftsjugenden oder ''solid SDS''-Gruppen auf. Besonders stark ist zudem die Überschneidung zu "antinationalen" Gruppen, wie etwa bei der Dortmunder ''Gruppe K''.<br />
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Einen Text zur ausführlicheren Einbettung in den Kontext der "Staatsableitungsdebatte" findet ihr hier: [[Der Staat als Subjekt (Staatsableitungsdebatte)]]<br />
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Einen Hintergrundartikel zum Gegenstandpunkt hier: [https://kommunistische.org/diskussion/standpunkt-gegen-den-marxismus/ Standpunkt gegen den Marxismus (Thanasis Spanidis)]<br />
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===Anarchistische Staatskritik===<br />
Der "Anarchismus" (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) umfasst ein sehr diffuses und heterogenes Spektrum, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Dennoch lassen sich grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Anarchisten vertreten eine politische Haltung, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbstbestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammenschließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. Im Mittelpunkt stehen die Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Selbstverwirklichung der Individuen im Rahmen der kollektiven Selbstverwaltung („Autonomie“) möglichst kleiner Organisationseinheiten. Im Anarchismus fließen die Traditionen des bürgerlichen Liberalismus (individuelle Freiheit) und der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen (Kollektivität und Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Heute wird häufig das Adjektiv "libertär" (deutsch: freiheitlich) als Synonym für „anarchistisch“ benutzt.<br />
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An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich aus Sicht der Anarchisten auch schon die Bewegung selbst messen lassen, die für die „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Position so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren, geschweige denn nach der siegreichen Revolution einen eigenen Staat zur Niederhaltung der Unterdrücker und zum Aufbau und zur Verteidigung der Revolution schaffen darf. In Abgrenzung zu solchen individual-anarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen.<br />
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Die anarchistische Staatskritik richtet sich nicht hauptsächlich gegen den bürgerlichen Staat als Klassenstaat der Bourgeoise, sondern lehnt jede Form der Macht, der Autorität und der Staatlichkeit überhaupt als Grundübel der Gesellschaft ab. Der Anarchismus vertritt also in letzter Konsequenz einen klassenneutralen Machtbegriff – er lehnt die Macht nicht als Klassenmacht der Ausbeuter ab, sondern als abstraktes Ding an sich, das aus der Welt geschafft werden soll. <br />
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'''Marx und Engels vs. Bakunin:''' Die erste ausführliche theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. <br />
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Engels fasste die Kritik an der Staatsauffassung Michael Bakunins und der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen: "Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. [...]<br />
Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll,[...] so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität <nowiki>=</nowiki> Staat <nowiki>=</nowiki> absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!" <ref>Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33; Dietz-Verlag; S. 388-389.</ref><br />
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Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der politische Ausdruck dieser Widersprüche ist nicht die Klassenherrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter und alle anderen Werktätigen, sondern die Macht und Autorität des Staates überhaupt. Diese Auffassung hat weitreichende taktische und strategische Konsequenzen (siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]]).<br />
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'''Heutige Vertreter:''' Der Anarchismus in seiner klassischen Form, also als politische Ideologie und Bewegung mit realer Verankerung in der Arbeiterbewegung (wie ihn Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder die spanischen Anarchosyndikalisten vertraten) ist heute kaum mehr präsent. Vulgarisierte Formen des Anarchismus sind dagegen in der "autonomen" Szene und linken Subkulturen nach wie vor sehr weit verbreitet. Neben zahlreichen Splittergruppen, die in der BRD heute ein gemeinsames, hauptsächlich kleinbürgerlich geprägtes Milieu bilden und von der Arbeiterbewegung meist isoliert sind, bildet die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) eine gewisse Ausnahme. Diese Organisation versucht im Rahmen einer kleinen anarchistischen Richtungsgewerkschaft außerhalb der DGB-Gewerkschaften Klassenkämpfe und Streiks zu organisieren.<br />
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Verschiedene "anarchokommunistische" Gruppen und Zusammenschlüsse in Deutschland versuchen Aspekte des Marxismus (gewerkschaftliche Organisation, Klassenkampf, Vergesellschaftung der Produktionsmittel) mit Standpunkten des Anarchismus (Ablehnung von Hierarchien, zentralistischer Organisationsformen und der Diktatur des Proletariats) zu vereinen. Seit Dezember 2018 existiert mit der Initiative [https://www.dieplattform.org/wir/ "die Plattform"] z.B. ein Versuch, einen bundesweiten "plattformistischen" anarchakommunistischen Organisationszusammenhang aufzubauen und im Rahmen einer eigenen Schriftenreihe eine theoretische Debatte anzustoßen.<br />
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Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxistismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff. Die Rojava-Solidarität vereint heute ein politisches Spektrum, dass von der MLPD über die verschiedenen roten Gruppen, die iL, die Linkspartei und bis zu den antinationalen und antideutschen Zusammenhängen reicht.<br />
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==Bezug zu unseren Grundannahmen==<br />
==Wie wollen wir den Dissens klären?==<br />
==Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?==</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Der_Klassencharakter_des_b%C3%BCrgerlichen_Staats&diff=6974Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats2020-01-09T09:25:12Z<p>Dio: /* Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole */</p>
<hr />
<div>Zurück zur [[AG Formen bürgerlicher Herrschaft]]<br />
==Überblick==<br />
Dieser Artikel soll einen ersten groben Überblick über die verschiedenen Auffassungen zum Klassencharakter des bürgerlichen Staats innerhalb des kommunistischen und im weiteren Sinne "linken" Spektrums geben. Ist der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" die organisierte politische Macht der gesamten Bourgeosie und damit das Instrument ihrer Klassenherrschaft? Oder ist der Staat an sich ein klassenneutraler Apparat, der sowohl für die Zwecke der Kapitalistenklasse, als auch im Interesse der Arbeiter in Bewegung gesetzt werden kann? Ist der Staat im Stadium des Imperialismus nur noch das Herrschaftsinstrument eines kleinen Teils der Kapitalisten, der Monopolbourgeoisie, die ihre Macht mit Hilfe des Staats auch gegen die "kleine und mittlere Bourgeoisie" durchsetzt? Oder ist der bürgerliche Staat nach 1945 gar zu einer "echten Demokratie" geworden, in der die politische Macht nicht mehr von den besitzenden Klassen ausgeht, sondern von der demokratischen Mehrheit?<br />
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Die Unterschiede in der Analyse und die Einschätzung des Klassencharakters des bürgerlichen Staats haben weitreichende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung. Die sich daraus ergebenden Dissense werden an anderer Stelle unter dem Stichwort "'''[[Staat und Revolution]]'''" dargestellt.<br />
<br />
===Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise"===<br />
Die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus (Marx, Engels, Lenin) bestimmten den bürgerlichen Staat als "ideellen Gesamtkapitalisten" und als Instrument der "Diktatur der Bourgeosie". <br />
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Schon im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 schrieben Marx und Engels: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. […] Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." <ref> Marx, K., Engels, F.: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, Berlin/DDR 1977, S. 464/482. </ref> Diese Definition des Staates als „Ausschuss“ zur Regelung der „gemeinschaftlichen Geschäfte“ der Bourgeoisie deckt sich mit der späteren Formulierung von Engels, in der er den bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnete: "Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten […] nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. <ref> Engels,F.: Zur Wohnungsfrage, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 18, Berlin/DDR 1973, S.257-258.</ref> Der Staat schützt die kapitalistische Produktionsweise sowohl gegen den Widerstand der Arbeiter als auch gegen die sich widersprechenden Einzelinteressen individueller Kapitalisten. Laut Engels setzt der „ideelle Gesamtkapitalist“ also das Interesse der gesamten herrschenden Klasse nicht nur gegenüber dem Proletariat, sondern auch gegenüber ihrer einzelnen Klassenindividuen durch: "Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." <ref> Engels,F.: Anti-Dühring (1877), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 20, S. 260.</ref> <br />
<br />
Der Staat ist also einerseits Instrument zur Unterdrückung der Arbeiter und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse, gleichzeitig ist er notwendig, um die Bourgeoisie über die kapitalistische Konkurrenz hinweg zu Kompromissen zu zwingen und sie so erst als herrschende Klasse zu organisieren.<br />
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Lenin führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine scharfe Polemik gegen die Revisionisten und Reformisten in der deutschen und russichen Sozialdemokratie. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fasste er die Staatsauffassung von Marx und Engels in seiner Schrift ''Staat und Revolution'' (1917) zusammen: "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen 'Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. <ref> Lenin, W.I.: Staat und Revolution, in: in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Lenin Werke Bd. 25, Berlin/DDR 1974, S. 399. </ref> Der Staat ist demnach eine Macht, "die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben. Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt ‚nicht mehr unmittelbar zusammenfällt‘ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer ‚selbsttätigen bewaffneten Organisation‘. [...] Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?" <ref> ebd., S. 401.</ref><br />
Abschließend fasste Lenin seine Studien zur marxschen Staatsauffasung in der Bestimmung des bürgerlichen Staats als „Diktatur der Bourgeoisie“ zusammen: "Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist […]. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie." <ref> ebd., S. 425.</ref><br />
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Von dieser Analyse ausgehend formulierten die Klassiker die strategische Orientierung auf die "Zerschlagung des bürgerlichen Staats" und die Errichtung der "Diktatur des Proletariats". Siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]].<br />
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Für eine ausführlichere Darstellungen der Annahmen der Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus zum Staat, siehe: [[Grundannahmen Staat]]<br />
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===Der Staat als klassenneutrales Instrument===<br />
Vertreter dieser Auffassung gehen davon aus, dass der bürgerliche Staat und seine Organisationsapparate an sich klassenneutrale Instrumente seien. Das heißt sie werden unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen zwar von der Bourgeoisie benutzt, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen, die Arbeiterklasse niederzuhalten und die Bedingungen der Kapitalakkumulation möglichst günstig zu gestalten, könnten unter anderen Bedingungen (z.B. nach dem Wahlsieg einer Arbeiterpartei) jedoch genausogut im Interese des Proletariats in Bewegung gesetzt werden (z.B. um den Kapitalismus durch Sozialreformen allmählich in den Sozialismus zu überführen). Die Instrumente selbst, also die Staatsorganisationen vom Parlament über die Verwaltungs- bis hin zu den Repressionsorganen, verhalten sich dieser Auffassung nach also neutral zu den Zwecken ihrer Anwendung. Weder ihre konkrete Organisationsform noch das Personal, aus dem sie bestehen, tragen demnach Klassencharakter. Diese Auffassung steht im Widerspruch zu der Position, der bürgerliche Staat sei seiner Form und seinem Klasseninhalt nach "ideeller Gesamtkapitalist" und Ausdruck der "Diktatur der Bourgeoisie" (s.o.).<br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):'''<br />
Die klassischen Vertreter einer solchen Staatsauffassung waren die „Revisionisten“ in der deutschen Sozialdemokratie, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen und zentrale Annahmen des wissenschaftlichen Sozialismus zu "revidieren" begannen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Eduard Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. <br />
<br />
Bernstein bestritt in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899) die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Aufhebung des bürgerlichen Staates und schlug stattdessen einen friedlichen und demokratischen Reformweg zum Sozialismus vor. Bernstein argumentiert, die bisherige Ausrichtung der Sozialdemokratie auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus sei durch die Realität überholt. Das kapitalistische System habe sich als weitgehend krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, ein „Zusammenbruch“ des Kapitalismus bzw. eine revolutionäre Situation sei nicht mehr zu erwarten. Die Aufgabe der SPD sei es nun, im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch „Sozialreformen“ Verbesserungen für die Arbeiterklasse und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards zwischen den Klassen durchzusetzen. Den Weg, um diese Ziele zu erreichen, sah Bernstein in der schrittweisen Ausdehnung des parlamentarischen Einflusses der Sozialdemokratie bis hin zur Übernahme der Regierung. Diese würde dann weitreichende Reformen im Sinne der Arbeiterklasse und des Sozialismus durchsetzen. Das entsprechende Credo des Reformismus lautete: „Der Weg ist alles, das Ziel ist nichts“.<br />
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Der klassische Reformismus setzt notwendig eine bestimmte Auffassung über den bürgerlichen Staat voraus. Wenn es möglich sein soll, den Kapitalismus allmählich durch Sozialreformen zu überwinden, so muss es auch möglich sein, dass die Arbeiterklasse diese Reformen im Staatsapparat gegen den Willen der Bourgeoisie durchsetzt oder diese zumindest zu Kompromissen zwingt – und zwar so weit, dass die Gesellschaft immer mehr sozialistische Züge annimmt und der Staat letztlich aufhört, bürgerlicher Staat zu sein und allmählich zu einem Instrument in den Händen der Arbeiterklasse wird. Dieses Instrument an sich muss also „klassenneutral“ sein und je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse sich entwickeln, kann es sowohl von der einen, als auch von der anderen Klasse kontrolliert und im eigenen Interesse eingesetzt werden. Der Staat steht in dieser rein instrumentalistischen Sichtweise der ihm zugrunde liegenden Produktionsweise also äußerlich gegenüber, er besitzt keine innere Verbindung zu ihr. Der Überbau scheint unabhängig von seiner ökonomischen Basis agieren zu können. Der bürgerliche Staat wird aus dieser Sichtweise nicht als spezifisches, den Klasseninteressen der Bourgeoisie entsprechend geformtes Werkzeug verstanden. Ergo kann das Proletariat dieses Werkzeug unverändert übernehmen, anstatt sich einen eigenen Apparat zu schaffen, der den spezifischen Erfordernissen und Klasseninteressen der Arbeitermacht entspricht.<br />
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'''Eurokommunismus:'''<br />
Ab den 1970er Jahren knüpften die sogenannten "Eurokommunisten" mit vielen ihrer Positionen an die theoretische Tradition des klassischen Revisionismus an, begründeten ihre Haltung aber damit, dass die Kräfteverhältnisse und somit auch der Charakter des bürgerlichen Staates sich nach 1945 grundlegend geändert hätten. Daher seien der „sowjetische Weg zum Sozialismus“ und die "Diktatur des Proletariats" als historischer Sonderfall überholt und Europa mittlerweile in eine Epoche der demokratischen Übergänge eingetreten. Sie vertraten die Einschätzung, die bürgerliche Demokratie sei nach dem Sieg über den Faschismus im Westen zu sehr gefestigt, als dass die Herrschenden gewaltsam gegen einen demokratischen Übergang zum Sozialismus vorgehen könnten. Die Hauptvertreter des Eurokommunismus waren die kommunistischen Parteien Frankreichs (PCF), Italiens (PCI) und Spaniens (PCE).<br />
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Die eurokommunistische Strategie des friedlichen, parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus ging mehr oder weniger offen davon aus, dass der Staat als ein „Feld im Klassenkampf" aufzufassen sei, auf dem sich zwar die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen widerspiegeln, das an sich aber klassenneutral sei. Durch Veränderungen der politischen Mehrheiten sollten der Staat und seine Institutionen durch die Kommunisten kontrolliert und im Sinne der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden. Die Regierung sollte ein Reformprogramm umsetzen, das die Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung Sozialismus entwickeln würde. Auch im Sozialismus sollte der bürgerlich-liberale Parlamentarismus als politische Herrschaftsform bruchlos beibehalten werden: „Die repräsentative Demokratie, kombiniert mit Formen der direkten Demokratie, kann ohne weiteres auch die Form des sozialistischen Systems sein.“<ref> Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen, Rom 1977, URL: https://www.zeit.de/1977/29/der-haeretiker-aus-asturien (letzter Zugriff: 21.12.2019).</ref> In Teilen der eurokommunistischen Strömung wurde sogar die Notwendigkeit der Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Länder in imperialistischen Staatenbündnissen wie der EG und der NATO offen verteidigt. Ausführlich dargelegt ist das Staatsverständnis der Eurokommunisten in Santiago Carrillos ''Eurokommunismus und Staat''<ref>Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.</ref>. <br />
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Ausführlicherer Artikel: [[Eurokommunistische Staatsauffassung]]<br />
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'''Andere Vertreter:'''<br />
Auch heute gibt es zahlreiche "linke" Vertreter dieser Auffassung. Die Annahme, der bürgerliche Staat sei ein grundsätzlich klassenneutrales Instrument, bildet die Voraussetzung jeder Strategie, die auf den Eintritt in die bürgerliche Regierung zum Zweck der Umsetzung von Reformen abzielt. Das gilt eindeutig für die deutsche ''Linkspartei'' und ihre europäischen Geschwisterorganisationen, allen voran die einflussreiche griechische ''SYRIZA''. Auch die "antimonopolistische Strategie" der DKP unterstellt letztlich eine Klassenneutralität des Staates der Monopole (s.u.). In unterschiedlichen Abstufungen wird diese Auffassung auch von den "bolivarischen Bewegungen" bzw. den Vertretern eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien etc. vertreten.<br />
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===Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole===<br />
Eine seit 1945 weit verbreitete Position geht davon aus, dass der bürgerliche Staat im Monopolkapitalismus nicht mehr das Interesse der gesamten herrschenden Klasse vertritt, sondern sich zum alleinigen Herrschaftsinstrument der Monopole entwickelt. Diese Vorstellung beruft sich häufig auf die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (s.o.) und ist eng verbunden mit den verschiedenen Varianten der [[Strategie der Übergänge]]. <br />
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'''Deutsche Kommunistische Partei (DKP):'''<br />
Die DKP vertritt seit ihrer Gründung eine Strategie der "antimonopolistischen Demokratie" (im folgenden: AMD). Diese wurde erstmals im Programm von 1978 explizit ausformuliert und beschlossen. Auch im Programm von 2006 bildet die AMD, von einigen kleineren Relativierungen abgesehen, noch immer den Kern der strategischen Vorstellungen der DKP. <br />
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Zu den wichtigsten Grundannahmen der AMD gehört, dass der bürgerliche Staat zu einem Instrument in den Händen der Monopole, also einer Handvoll Finanzoligarchen innerhalb der Bourgeoisie, geworden ist. Der Staat, so die These, setze deren Profitinteressen rigoros gegen alle „nicht-monopolistischen Schichten“, also nicht nur gegen die Arbeiterklasse und alle anderen Werktätigen, sondern auch gegen die „kleine und mittlere Bourgeoisie“ durch. Der bürgerliche Staat vernachlässigt aus dieser Sicht also gewissermaßen seine Aufgabe als „ideeller Gesamtkapitalist“ und verkörpert gegenüber der gesamten Gesellschaft (und einem Großteil der Bourgeoisie) nicht mehr das langfristige Gesamtinteresse aller Kapitalisten, sondern einseitig das Partikularinteresse des Monopolkapitals. <br />
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Im DKP-Programm von 2006 heißt es dazu: "Als Machtinstrument der Monopolbourgeoisie setzt er [der Staat] immer unverblümter eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durch. An die Stelle der sozialen Integration tritt die Konfrontation. Der bürgerliche Staat verliert tendenziell seine Fähigkeit zur sozialen und politischen Vermittlung, weil die Basis für die Organisierung stabilerer sozialer Kompromisse, die größere Teile der Gesellschaft einbeziehen, verloren geht. So wird die bürgerliche Demokratie ausgehöhlt und verliert ihren Inhalt. Bei Beibehaltung formaler Demokratie vollzieht sich der Übergang vom 'Sozialstaat' zum autoritären 'Sicherheitsstaat'." <ref> Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Duisburg 2006, S. 12. </ref> <br />
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Damit wird zwar der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht geleugnet, aber eine neue strategische Bruchlinie zwischen den Monopolen und allen „nicht-monopolistischen“ Schichten aufgemacht, die aus dieser Sicht nun in Opposition zum "Staat der Monopole" geraten. Entlang dieser Linie soll sich ein „antimonopolistisches Bündnis“ formieren, das neben der Arbeiterklasse nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch bedeutende Teile der „nicht-monopolistischen“ Bourgeoisie umfassen soll <ref> Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Duisburg 2006, S. 33. </ref> . Dieses Bündnis hat zwar nicht den Sozialismus zum Ziel, wohl aber eine Zwischenetappe der „antimonopolistischen Übergänge“, in deren Rahmen die Kommunisten sich an der Regierungsmacht beteiligen und zunächst im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise eine politische „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ durchsetzen sollen.<br />
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Diese Vorstellung eines weitgehend bruchlosen Übergangs des Staatsapparats aus den Händen der einen in die Hände der anderen Klasse unterstellt eine instrumentalistische Sicht auf den Staat und behandelt diesen in letzter Konsequenz als ''klassenneutrales Werkzeug'' (s.o.). Zugespitzt formuliert: Der Klassencharakter des Staates scheint sich aus Sicht der Vertreter der antimonopolistischen Strategie nicht aus seiner Funktionsweise und seinem Wesen, sondern aus den politischen Kräfteverhältnissen zu ergeben. Ändert die Regierung ihren Klassencharakter von „monopolistisch“ zu „nicht-monopolistisch“, so ändert sich demzufolge auch der Klassencharakter des Staates. <br />
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Hier geht es zu einer längeren Version dieses Artikels: [[„Antimonopolistische_Demokratie“_(DKP)|„Antimonopolistische Demokratie“ (DKP)]]<br />
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'''Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD):'''<br />
Zu den wichtigsten Alleinstellungsmerkmalen der Theorie und Programmatik der MLPD gehört der Begriff der „Übermonopole“ (siehe dazu den entsprechendne Artikel [[Imperialismus_als_Weltsystem|"Imperialismus als Weltsystem"]] der AG Politische Ökonomie], der auch ihre Analyse des bürgerlichen Staats der Gegenwart wesentlich prägt: "Die hier ansässigen internationalen Übermonopole, die zum allein herrschenden internationalen Finanzkapital gehören, haben sich den Staat vollkommen untergeordnet, und die Organe des Monopolkapitals sind mit den Organen des Staatsapparats verschmolzen. Sie haben ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft, auch über andere Monopole und die nicht monopolisierten Kapitalisten, errichtet. Über die Organe der EU nehmen sie Einfluss auf andere europäische Staaten." (Programm der MLPD)<br />
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Die MLPD geht also davon aus, dass sich diese „Übermonopole“ den bürgerlichen Staat „vollkommen untergeordnet“ haben – aus dieser Formulierung kann geschlussfolgert werden, dass der Staat nicht mehr als „ideeller Gesamtkapitalist“ das Gesamtinteresse des Kapitals vertritt, sondern von der Fraktion der „Übermonopole“ bzw. des „allein herrschenden Finanzkapitals“ allen anderen Teilen der Bourgeoisie gegenüber als Herrschaftsinstrument benutzt wird. Zudem geht die MLPD davon aus, dass die „Organe des Monopolkapitals“, die im vorangegangenen Stadium des Kapitalismus scheinbar noch unabhängig vom und außerhalb des Staatsapparates existierten, heute vollständig mit diesem „verschmolzen“ sind. <br />
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Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Programmatik der MLPD findet sich hier: [https://kommunistische.org/diskussion/einschaetzung-der-programmatik-der-mlpd/ Philipp Kissel, Einschätzung der Programmatik der MLPD].<br />
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Die Positionen der MLPD zum bürgerlichen Staat entnehmen wir ihrem zuletzt 2016 überarbeiteten Parteiprogramm.<ref>https://www.mlpd.de/parteiprogramm</ref><br />
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===Staatsmonopolistischer Kapitalismus===<br />
Hier soll kurz dargestellt werden, wie die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus den klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt. In welchem Verhältnis stehen Staat und Monopole? Ist der Staat alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole oder auch "ideeller Gesamtkapitalist", also Ausdruck der Herrschaft der gesamten Bourgeoisie?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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Siehe hierzu den Dissens [[Monopole und Staat]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus.<br />
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===Der Staat als "echte Demokratie"===<br />
Die Position, der bürgerliche Parlamentarismus auf der ökonomischen Basis der kapitalistischen Produktionsweise sei eine "echte Demokratie" läuft letztlich auf die Position hinaus, die gesellschaftlichen Verhältnisse würden nicht von der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie, sondern von der politischen Mehrheit bestimmt. Die Frage des Klassencharakters der Staats wird also reduziert auf eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Je nach dem, ob die Bourgeoisie oder die Arbeiterklasse im demokratischen Prozess mehr Kontrolle über den Staatsapparat ausübt, verschiebt sich auch dessen Klassencharakter. Diese Auffassung setzt zugleich ein Verständnis des Staates als ''klassenneutrales Instrument'' voraus (s. o.). <br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):''' <br />
Die Vorstellung einer fortschreitenden Demokratisierung des bürgerlichen Staats und einer damit einhergehenden Verwandlung seines Klassencharakters spielten eine zentrale Rolle im Denken des klassischen Revisionismus. Rosa Luxemburg polemisierte schon 1899 gegen Eduard Bernstein: „die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie [sei] eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie.“ <ref> Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), Zweiter Teil </ref> Bürgerliche Demokratie und Parlamentarismus waren für Bernstein nicht taktische Mittel im Klassenkampf, sondern tatsächlicher Ausdruck der Herrschaft durch das Volk bzw. die Mehrheit, also der Arbeiterklasse: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. […] Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“<ref>Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.154-156.</ref> Für die Strategie der Arbeiterbewegung heißt das: „die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.“<ref>Ebd., S. 154-156.</ref> Die Arbeiterbewegung soll sich also darauf beschränken, im legalen Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus für Reformen und schrittweise Verbesserungen zu kämpfen. Der bürgerliche Staat ist dabei nicht ihr Gegner, sondern ihr Werkzeug. Die taktische Herausforderung besteht demnach einzig darin, auf demokratischem Weg in die Position zu gelangen, dieses Werkzeug für die eigenen Zwecke nutzen zu können.<br />
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'''Position von SYRIZA:''' <br />
Die griechische "Linkspartei" SYRIZA argumentiert in ihrem Regierungsprogramm, „der Staat [sei] keine Festung, sondern ein Netzwerk, ein Verhältnis und eine strategische Arena für den politischen Kampf. Er verändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, im Gegenteil, seine notwendige Transformation hat konstante und kontinuierliche Kämpfe zur Voraussetzung, die Einbeziehung des Volkes, ständige Demokratisierung.“ (Quelle: S''YRIZAs Regierungsprogramm''<ref>Zitiert nach einem auf Englisch erschienenen Artikel der KKE, ins Deutsche Übersetzt. URL: https://inter.kke.gr/en/articles/Criticism-of-certain-contemporary-opportunist-views-on-the-state/ (9.01.2019)</ref>) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der bürgerliche Staat von SYRIZA nicht seinem Wesen nach als ein Organ der bürgerlichen Klassenherrschaft angesehen, sondern als eine Ansammlung von Institutionen, die im Interesse des Volkes „transformiert“ werden können. Auf Grundlage dieser Sichtweise wird argumentiert, dass der Charakter des bürgerlichen Staats durch die richtigen politischen Kräfteverhältnisse geformt oder gar "transformiert" werden kann, solange sich nur „linke Regierungen“ durchsetzen können. <br />
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'''Position der DKP:''' <br />
Die DKP bleibt in ihrer Einschätzung der bürgerlichen Demokratie widersprüchlich. Einerseits ist in ihrem Programm von 2006 zwar die Rede davon, dass sich durch die "Globalisierung" die "Tendenz zur Reaktion" verschärft, dass die Demokratie untergraben wird (S. 12) und dass letztlich eine "revolutionäre Überwindung" (S. 28) des Kapitalismus nötig sei. Andererseits gehört es jedoch zu den Kernthesen ihrer "antimonopolistischen Startegie", dass noch auf dem Boden der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und innerhalb des institutionellen Rahmens des bürgerlichen Staats umfassende Reformen und sogar eine "antimonopolistisch-demokratische Umgestaltung" (S. 32) möglich seien: "Je mehr es dabei gelingt, Veränderungen im Sinne von Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, von demokratischer Kontrolle, von Entmilitarisierung und Demokratisierung in Staat und Gesellschaft zu erreichen, je größer der Einfluss der demokratischen und sozialistischen Kräfte überall dort ist, wo Meinungsbildung stattfindet, desto besser sind die Chancen im Kampf um die Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und für die Öffnung des Weges zum Sozialismus. [...] Es geht um die [...] demokratische Einflussnahme auf den staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus im nationalen Rahmen wie im Rahmen der Europäischen Union und anderer internationaler staatsmonopolistischer Institutionen". (S. 30) Diese Vorstellung läuft letztlich also darauf hinaus, die Kommunisten und „Demokraten“ könnten den ideellen Gesamtkapitalisten dem Einfluss der Klasseninteressen der Bourgeoisie entreißen und ihrem eigenen politischen Willen unterwerfen.<br />
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'''Andere Vertreter:''' Ebenfalls weit verbreitet sind Vorstellungen über den demokratischen Charakter des bürgerlichen Staats in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dort gehört der Begriff der „Mitbestimmung“ nicht umsonst zum ideologischen Kernrepertoire. Die Vorstellung, im Betrieb ließe sich zwischen Kapital und Arbeit auf Augenhöhe eine demokratische Mitbestimmung und dadurch ein Interessenausgleich verwirklichen, bildet das Herzstück der Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Ähnliche Sichtweisen werden heute außerdem in einer Reihe lateinamerikanischer Länder gepflegt. Verschiedene „fortschrittliche“ und „linke“ Regierungen versuchen unter dem Banner des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bzw. der „bolivarischen Revolution“ das bürgerliche Staatssystem durch Gesetzesreformen und Volksabstimmungen grundlegend zu veränden.<br />
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==="Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci)===<br />
Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, verfasste in den 1920er und 30er Jahren in faschistischer Gefangenschaft seine „Gefängnishefte“, ein umfangreiches theoretisches Werk, dessen einzelne Bestandteile Gramsci unter den Bedingungen seiner Haft leider nicht mehr zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen konnte. Zu den wichtigsten Aspekten dieses Werks gehören Gramscis Überlegungen zur besonderen Form der Herrschaft der Bourgeoisie in den entwickelten imperialistischen Ländern und die daraus abgeleiteten Weiterentwicklungen der marxistischen Staatstheorie.<br />
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In den Gefängnisheften bringt Gramsci den Staat und die Herrschaft der Bourgeoisie auf die kurze Formel: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang" (H. 6, §88., S. 783)<ref>Antonio Gramsci, Gefängnisgefte. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1991. Im Folgenden wird aus den Gefängnisheften nur noch in Klammern nach Heft Nr., Paragraph und Seitenzahl zitiert.</ref><br />
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Gramsci weitet den Staatsbegriff damit aus und entwickelt sein Konzept des "integralen Staates". Dieser umfasst einerseits die "politische Gesellschaft", womit alle explizit staatlichen Strukturen und Institutionen gemeint sind, also das Parlament, die Beamtenapparate, die Repressionsorgane, die staatlichen Bildungseinrichtungen etc. Andererseits betrachtet Gramsci aber auch die "Zivilgesellschaft" als Teil der bürgerlichen Staatlichkeit. Gemeint sind damit alle Strukturen außerhalb der Staatsapparate, über die die Bourgeoisie ihre Herrschaft absichert, also private Medien, Bildungsstätten, Institute, Stiftungen, Clubs, Thinktanks etc. Mit Blick auf den Sieg der Oktoberrevolution in Russland und die darauffolgenden Niederlagen der Revolutionsversuche in Westeuropa schrieb Gramsci: "Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand;" (H. 7, §16., S. 873-874) An anderer Stelle heißt es: "zumindest was die fortgeschrittenen Staaten angeht, wo die 'Zivilgesellschaft' eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften 'Durchbrüchen' des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg." (H. 13, §14, S. 1553-1554) Die Stabilität der bürgerlichen Herrschaft hängt demnach also wesentlich davon ab, inwieweit die Zivilgesellschaft herausgebildet und die "Hegemonie" der Bourgeoisie enwickelt ist. <br />
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Mit dem Begriff der Hegemonie versucht Gramsci der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass sich die Macht der Bourgeoisie nicht nur auf das Staatliche Gewaltmonopol und die Repressionsapparate stützt, sondern wesentlich über ideologische Integration und die Erzeugung von "Konsens" abgesichert wird. Hegemonie bezeichnet also die politisch-ideologische Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über eine andere. "Die 'normale' Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne daß der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt, sondern im Gegenteil sogar versucht wird, zu erreichen, daß der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint […]" (H. 13, §37, S. 1607-1613). Konsens bezeichnet hier einen Zustand, in dem die Beherrschten die Herrschaft zumindest passiv ertragen oder sogar aktiv die Sichtweise übernehmen, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse entsprächen auch ihren Interessen und seien die bestmöglichen. Gramsci schreibt, dass "eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. […] Die politische Führung wird zu einem Aspekt der Herrschaft, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Klassen zur Enthauptung derselben und zu ihrer Machtlosigkeit führt. Es kann und muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben." (H. 1, §44, S. 101-113) <br />
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Heute wird der Begriff der Hegemonie fast ausschließlich Gramsci zugeschrieben, dabei war er zu dessen Lebzeiten unter den Theoretikern der Kommunistischen Internationale weit verbreitet und wurde breit diskutiert. Wie Buci-Glucksmann bemerkt, war er "im gesamten Marxismus der Dritten Internationale überaus geläufig. Man findet ihn vor allem unter der Feder Lenins vor 1917, aber auch später. Man finet ihn ebenso oft bei Bela Kun, Varga, Stalin, und vor allem Bucharin, der ihn in einer Weise benutzte, die der Gramscis nahezustehen scheinen könnte". <ref>Buci-Glucksmann, Gramsci und der Staat, S. 17.</ref> <br />
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Die "führende Klasse" oder Klassenfraktion ist laut Gramsci in ihrem Ringen um Hegemonie also in der Regel darum bemührt, alle anderen Fraktionen ihrer Klasse und ihrer "verbündeten Klassen" in ihren "Block an der Macht" zu integrieren. Das gelingt nur, indem sie mit diesen anderen Fraktionen ein Komprimissprogramm aushandelt, das bestmöglich das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse zusammenfasst und deren innere Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Der Ort, an dem diese Kompromisse ausgehandelt und schließlich in politische Praxis übersetzt werden, ist der bürgerliche Staat selbst. Gegenüber den "feindlichen Klassen" (also dem Proletariat und den anderen Werktätigen) tritt die Bourgeoisie als "herrschend" auf, sie übt ihre Hegemonie einerseits durch Integration ihrer ideologischen Führer und andererseits durch materielle Zugeständnisse aus: "Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, daß sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, daß also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, daß solche Opfer und ein solcher Kompromiß nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt." (H. 13, §18, S. 1565-1573) Gramsci beschreibt in dieser Formulierung den grundsätzlichen Klassencharakter des Staates. Die Kompromisse können nie "das Wesentliche" betreffen - also die kapitalistische Produktionsweise - sondern sich nur in deren Rahmen bewegen. <br />
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Gramscis Staatstheorie knüpft eindeutig an die Auffassung des Staats als "ideeller Gesamtkapitalist" (s.o.) an, indem sie einerseits die Integration der gesamten herrschenden Klasse in einem "historischen Block" betont und andererseits die zumindest passive Einbindung der Beherrschten im Rahmen der Hegemonie betont. Mit einer Staatsauffassung, die den bürgerlichen Staat im Monopolkapitalismus als "alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole" (s.o.) versteht, ist Gramscis Ansatz kaum zu vereinbaren. <br />
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Mit Blick auf den Staat schreibt Gramsci außerdem, dieser sei "das Instrument zur Anpassung der Zivilgesellschaft an die ökonomische Struktur". (H. 10.II, §15, S. 1267) Dabei spielen Medien und andere ideologische Apparate eine entscheidende Rolle: "Was 'öffentliche Meinung' genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der 'Zivilgesellschaft' und der 'politischen Gesellschaft', zwischen dem Konsens und der Gewalt. Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft. […] die öffentliche Meinung, wie sie heute Verstanden wird, ist am Vorabend des Untergangs der absolutistischen Staaten entstanden, das heißt in der Zeit des Kampfes der neuen bürgerlichen Klasse um die politische Hegemonie und die Erlangung der Macht. […] [Es entbrennt ein] Kampf ums Monopol der Organe der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, Parlament". (H. 7, §83, S. 916-917)<br />
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Verliert die herrschende Klasse ihre Hegemonie, so kommt es zur "Hegemonie-" bzw. "Autoritätskrise": "Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr 'führend', sondern einzig 'herrschend' ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die große Masse sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann". (H. 3, §34, S. 354-355) Der Verlust der Hegemonie darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem automatischen Verlust der Macht, schließlich verfügt die herrschende Klasse auch bei schwindendem Konsens noch immer über die Mittel des Zwangs. <br />
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Zu den strategischen Schlussfolgerungen, die Gramsci aus seiner Staatstheorie ableitete, siehe den Dissens-Artikel zu [[Staat und Revolution]] und dort den Abschnitt "Bewegungs- und Stellungskrieg". <br />
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Einige offene Fragen zu Gramsci und seiner Staatstheorie werden von unserer AG tiefergehend behandelt werden: Handelt es sich dabei um einen wegweisenden Beitrag zur marxistischen Staatstheorie im Zeitalter des Imperialismus und des entwickelten bürgerlichen Staats, an den die Kommunisten anknüpfen und den sie weiterentwickeln müssen? Oder enthält Gramscis Theorie bereits wesentliche revisionistische Abweichungen, die es den verschiedenen opportunistischen Strömungen, die sich heute auf ihn berufen, leicht machen, seine Theorie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?<br />
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==="Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas)===<br />
Nicos Poulantzas war ein griechischer Theoretiker, der in den 1960er und 70er Jahren eine Reihe an marxistischen Studien verfasste. Er sympathisierte nach 1968 mit der eurokommunistischen griechischen kommunistischen Partei des Inlands (KKE-Inland) und stand – in Frankreich lebend - in kritischer Distanz zur Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). In seinen klassen- und staatstheoretischen Schriften ist der Einfluss u.a. von Louis Althussers Strukturalismus sowie [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #"Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci) | Antonio Gramscis Hegemonietheorie]] sichtbar. In der marxistischen Debatte um den Staat hat Poulantzas tiefe Spuren hinterlassen, was primär zurückgeführt werden kann auf seine Konzeption des Staates als „Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“. Historisch bedeutsam war dabei zunächst die Auseinandersetzung mit Ralph Miliband; im deutschsprachigen Raum wurde seine Theorie u.a. über Joachim Hirsch und Alex Demirovic wieder in die Diskussion eingebracht.<br />
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Poulantzas formuliert in der Einleitung zur „Staatstheorie“ den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Es ist nicht der Klassencharakter des Staates, der zur Debatte steht: „Jeder Staat ist ein Klassenstaat; jede politische Herrschaft ist Klassendiktatur; der kapitalistische Staat ist ein Staat der Bourgeoisie; der kapitalistische Staat im Allgemeinen und jeder kapitalistische Staat im Besonderen sind Diktaturen der Bourgeoisie“ (Staatstheorie S. 155), all dies sind für ihn „Banalitäten“ - zwar richtig, aber nicht weiter ausführenswert. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, vielmehr stellt es sich hier neu: „[W]arum greift die Bourgeoisie in ihrer Herrschaft auf diesen nationalen Volksstaat zurück, diesen modernen Repräsentativ-Staat mit seinen spezifischen Institutionen, und nicht auf einen anderen? Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich genau diesen Staat aussuchen würden, wenn sie den Staat komplett selbst und nach ihrem Geschmack aufbauen würden.“ (Staatstheorie, S. 40). Eine verwandte Frage hatte bereits der sowjetische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis knapp 50 Jahre, vorher gestellt: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“1 Poulantzas gibt in der Einleitung auch eine vorläufige, knappe Antwort auf die von ihm formulierte Frage: „Der Staat stellt ein materielles Gerüst dar, das in keiner Weise auf die politische Herrschaft reduziert werden kann. Der Staatsapparat, dieses besondere und furchterregende Etwas, erschöpft sich nicht in der Staatsmacht. [...] Wenn der Staat nicht einfach ein vollständiges Produkt der herrschenden Klassen ist, so haben sie sich seiner auch nicht einfach bemächtigt: Die Macht des Staates (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) hat in dieser Materialität ihre Spuren hinterlassen. Die Handlungen des Staates reduzieren sich nicht auf die politische Herrschaft, sie sind jedoch konstitutiv von ihr gezeichnet.“ (Staatstheorie, S. 42)<br />
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Eine wichtige Aufgabe des Staates sieht Poulantzas in der Repräsentation und Organisation der herrschenden und der Desorganisation der beherrschten Klassen. Die Bourgeoisie ist keine widerspruchsfreie Einheit. Sie verfolgt zwar zwangsläufig als Klasse einheitlich das Ziel der Kapitalverwertung, dieses Ziel bringt sie aber auch in direkte Konkurrenz untereinander, weshalb, wie Engels sagt, der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert. Poulantzas zufolge ist die Kapitalistenklasse in Klassenfraktionen gespalten, die unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Interessen verfolgen. Diese Klassenfraktionen formieren sich unter der Hegemonie einer Fraktion zu einem „Block an der Macht“, in welchen auch andere herrschende Klassen miteinbezogen werden. Die Hegemonie einer Fraktion bedeutet dabei, dass diese die äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Sinne optimieren kann; und diese Hegemonie erst ermöglicht die Einheit dieses Blocks gegenüber den beherrschten Klassen. Poulantzas betont, dass nicht nur Teile der Bourgeoisie (etwa das Monopolkapital) den Machtblock stemmen: „Diese bürgerlichen Fraktionen sind in ihrer Gesamtheit, obwohl in unterschiedlichem Maße, auf dem Terrain der politischen Herrschaft angesiedelt, und gehören somit immer zum Block an der Macht“ (Staatstheorie S. 159). Dieser Machtblock ist aber konfliktdurchzogen, er stellt ein umkämpftes, instabiles Kompromissgleichgewicht dar: „Der Machtblock stellt eine von inneren Widersprüchen gekennzeichnete Einheit von politisch herrschenden Klassen und Fraktionen unter dem Schutz der hegemonialen Fraktion dar. Der Klassenkampf, die Interessenrivalitäten zwischen den gesellschaftlichen Kräften sind darin ständig gegenwärtig, wobei diese Interessen ihren spezifischen Antagonismus bewahren“ (PMGK, S. 239). In diesem Sinne ist die konkrete Politik des Staates und die Hegemonie im Machtblock immer umkämpft, und dieser Kampf wird im Staat, in seinen ideologischen (Medien, Think Tanks, …) aber auch repressiven Apparaten (Polizei, Armee, …) ausgetragen.<br />
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Um die „Rolle der Vereinheitlichung und Organisierung der Bourgeoisie und des Blocks an der Macht“ (Staatstheorie, S. 158) zu erfüllen, muss der Staat laut Poulantzas eine „relative Autonomie“ gegenüber den einzelnen Bestandteilen des Blocks bewahren: „Unter relativer Autonomie dieses Staatstyps verstehe ich […] das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Feld des Klassenkampfes, insbesondere seine relative Autonomie gegenüber den Klassen oder Fraktionen des Machtblocks und in erweiterter Form auch gegenüber seinen Verbündeten oder Stützen […] Ich hoffe, damit klar genug die Distanz auszudrücken, die diese Auffassung des Staats von einer simplifizierten und vulgarisierten Auffassung des Staats trennt, die in ihm das Werkzeug oder Instrument der herrschenden Klasse sieht“ (PMGK S. 256).<br />
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Der Staat als Instrument (siehe auch die Abschnitte zum Staat als [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als klassenneutrales Instrument | klassenneutrales Instrument]] und als [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole | alleiniges Instrument der Monopole]]) und der [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt) | Staat als Subjekt]]: dies beides sind aus Poulantzas‘ Sicht falsche Staatsverständnisse, die er umschiffen will mit dem Verständnis des Staates als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses. Der Staat als Instrument/Werkzeug/Sache unterstellt eine Passivität oder Neutralität des Staates. Dieser wird als ein Apparat verstanden, der zur Ausübung der politischen Macht von der herrschenden Klasse oder auch einer Klassenfraktion verwendet wird, der aber eben auch so wie er ist übernommen werden kann, um gegen die herrschende Klasse gewendet zu werden. Eine Autonomie des Staates ist ausgeschlossen. Eine solche instrumentalistische Konzeption des Staates sieht Poulantzas in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der eurokommunistischen PCF in den 1970ern: „An dieser Konzeption kritisierte ich vor allem, dass sie zu der Vorstellung des mit dem Monopolkapital »fusionierten« Staates führt, einem Staat der im Dienste der Monopole steht und keinerlei Autonomie besitzt“ (Staatstheorie S. 160). Der Staat als Subjekt wiederum lässt ihn vollständig autonom werden, er steht als Akteur außerhalb der Klassen. Er agiert, koordiniert, verwaltet, reguliert selbstständig. Seine Autonomie bezieht sich „auf die angebliche Macht des Staates und auf die Träger dieser Macht und der staatlichen Rationalität: auf die Bürokratie und speziell auf die politische Elite“ (Staatstheorie S. 160). <br />
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Poulantzas schlägt vor, die „Sackgassen des ewigen Pseudodilemmas der Diskussion zwischen der Konzeption des Staates als einer Sache bzw. einem Instrument und der Konzeption des Staates als einem Subjekt“ (Staatstheorie S. 159f) zu vermeiden, indem der Staat über den Klassenkampf selbst verstanden wird, genauer: „ … indem ich sage, dass der Staat […] nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden darf, sondern, wie auch das »Kapital«, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ Der Staat spiegelt also nicht einfach ein gesellschaftliches Verhältnis wider, er selber konstituiert dieses Verhältnis. In der Vielzahl seiner Institutionen findet die ständige Austarierung zwischen Klassen und Klassenfraktionen statt. Diese Austarierung entspricht aber nicht direkt dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, beispielsweise sind die beherrschten Klassen nicht in den Staatsapparaten anwesend: „Sie organisieren und vereinheitlichen den Block an der Macht, indem sie die beherrschten Klassen ständig desorganisieren und spalten. Sie polarisieren sie gegenüber dem Block an der Macht und schließen ihre politischen Organisationen aus.“ (Staatstheorie S. 171)<br />
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Bei Poulantzas bleibt unklar, wie der Begriff der Verdichtung genau zu verstehen ist, wohingegen er ausführt, was es mit der Materialität hier auf sich hat. Mit Blick auf die Staatstheorie in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der PCF wendet er ein, dass diese „die eigenständige Materialität des Staates übersieht. Diese Materialität eines Staates, der als Werkzeug oder Instrument angesehen wird, hat keine eigene politische Bedeutung. Diese Bedeutung wird auf die Staatsmacht beschränkt, d.h. auf die Klasse, die dieses Instrument manipuliert. Das würde im Extremfall implizieren, dass das gleiche Instrument (das verschiedenen, allerdings zweitrangigen Modifikationen unterliegt) durch eine Veränderung der Staatsmacht, also durch die Macht der Arbeiterklasse, für den Übergang zum Sozialismus anders eingesetzt werden könnte“ (Staatstheorie S. 160). Dieses Defizit meint er zu beheben: „Das materielle Gerüst seiner [des Staates] Institutionen wird durch die Beziehung des Staates zu den Produktionsverhältnissen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung konstituiert, die sich in der kapitalistischen Trennung des Staates von diesen Verhältnissen konzentriert. […] Der Staat hat eine eigene Dichte und Widerstandskraft und reduziert sich nicht auf ein Kräfteverhältnis. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Klassen hat sicherlich immer Auswirkungen innerhalb des Staates, sie überträgt sich jedoch nicht direkt und unmittelbar. Sie passt sich der Materialität der verschiedenen Apparate an und kristallisiert sich im Staat nur in gebrochener und differenzierter, den Apparaten entsprechender Form. Eine Veränderung der Staatsmacht allein transformiert die Materialität des Staates nicht“ (Staatstheorie S. 161f). Als Beispiele für die Materialität führt Poulantzas u.a. die Organisierung kapitalistischen Wissens an: „Die geistige Arbeit (Wissen/Macht) ist in den Apparaten konzentriert und steht im Gegensatz zur tendenziell in den Volksmassen konzentrierten manuellen Arbeit, die von den organisatorischen Funktionen ausgeschlossen und getrennt sind“ (Staatstheorie S. 83).<br />
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==="Akkumulationsregime" (Regulationsschule)===<br />
Hier sollen die offenen Fragen und Aufgaben ausformuliert werden, die sich aus der Staatstheorie der "Regulationsschule" und deren Theorie der "Akkumulationsregime" ergeben. Handelt es sich bei dieser Theorie um einen wesentlichen Beitrag zur marxistischen Staatstheorie, die eine vertiefende Analyse der verschiedenen Formen der bürgerlichen Herrschaft seit der Entstehung des Kapitalismus erlaubt (z.B. durch die Unterscheidung eines "keynesianischen" und eines "neoliberalen Akkumulationsregimes")? Wie wird aus Perspektive der der Regulationsschule der Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt? Enthält diese Theorietradition wesentliche Abweichungen von den Grundannahmen der marxistischen Staatstheorie? Welche Verbinndung gibt es zu den Theorien von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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'''Vertreter:''' Zu den prominentesten Vertretern der Regulationsschule gehören heute die Staatstheoretiker Joachim Hirsch und Bob Jessop.<br />
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===Staat = Repressionsapparate / "neue Demokratie" (Maoismus)===<br />
Innerhalb des maoistischen Spektrums lässt sich als tendenzielle Gemeinsamkeit in der Staatsfrage ein besonderer Fokus auf die „bewaffneten Apparate“ des bürgerlichen Staats und eine weitgehende Vernachlässigung der Analyse anderer, nicht unmittelbar gewaltförmiger Herrschaftstechniken der Bourgeoisie (Integrationsideologien, ökonomischer Zwang, etc.) feststellen. Dies steht im engen Zusammenhang mit der Strategie des "Volkskriegs". Dieser Strategie liegt eine Perspektive auf den Staat zugrunde, die den Kampf um die politische Macht weitgehend auf den unmittelbaren militärischen Kampf und die Zerschlagung der bewaffneten Staatsapparate zuspitzt. Die maoistische Theorie der "neuen Demokratie" enthält außerdem die These einer möglichen dritten Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats.<br />
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Von einer einheitlichen und systematisch ausgearbeiteten "maoistischen Staatstheorie" kann genauso wenig die Rede sein, wie von einer homogenen maoistischen Strömung innerhalb des Marxismus. In den klassischen Texten von Mao Tse-Tung findet sich vor allem keine eigene, systematisch ausgearbeitete Analyse des bürgerlichen Staats im Imperialismus. Die chinesischen Revolutionäre kämpften nicht gegen einen entwickelten bürgerlichen Staat, wie er sich in den imperialistischen Zentren herausgebildet hatte, sondern gegen einen agrarischen Feudalstaat mit kolonialen Elementen. Der Großteil von Maos Äußerungen über den Staat sind in diesem Kontext zu sehen, so zum Beispiel die oft zitierte Losung: "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 74.</ref> An anderer Stelle führt Mao diese Zuspitzung auf die Frage der militärischen Macht und der bewaffneten Apparate weiter aus und verallgemeinert sie als die aus seiner Sicht wichtigste Kernaussage der marxistischen Lehre vom Staat: "Vom Standpunkt der marxistischen Lehre vom Staat ist die Armee die Hauptkomponente der Staatsmacht. Wer die Staatsmacht ergreifen und behalten will, der muß eine starke Armee haben. Manche Leute bezeichnen uns höhnisch als Anhänger der ‚Theorie von der Allmacht des Krieges‘; jawohl, wir sind Anhänger der Theorie von der Allmacht des revolutionären Krieges, und das ist nicht schlecht, sondern gut, das ist marxistisch. [...] Die Erfahrungen des Klassenkampfes im Zeitalter des Imperialismus lehren uns: Die Arbeiterklasse und die übrigen Werktätigen Massen können nur mit der Macht der Gewehre die bewaffneten Bourgeois und Grundherren besiegen; in diesem Sinne können wir sagen, daß die ganze Welt nur mit Hilfe der Gewehre umgestaltet werden kann."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 75-76.</ref><br />
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In genau diesem Sinne wird die Staatsfrage auch in Teilen der zeitgenössischen maoistischen Strömungen behandelt. Viele zeitgenössische Mao-Gruppen beziehen sich dabei auf die Traditionslinie der peruanischen Guerillabewegung „Leuchtender Pfad“ bzw. der KP Perus (Vollständiger Name: ''Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui'') und ihres politischen und ideologischen Anführers „Presidente Gonzalo“ (Abiamel Guzmán). (''Anmerkung: Alle Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen sich auf die Broschüre „Einheitsbasis der Kommunistischen Partei Perus – angenommen auf dem I. Parteitag 1988“<ref>http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/gonzalo/1439-die-einheitsbasis-der-kommunistischen-partei-perus-auf-deutsch</ref>, die leider zahlreiche Übersetzungsfehler enthält.'')<br />
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Der Staat erscheint auch hier vor allem als bewaffneter Apparat, der militärisch bekämpft und zerschlagen werden muss:<br />
"die revolutionäre Gewalt ist ausnahmslos ein universelles Gesetz; die Revolution ist die gewaltsame Ersetzung einer Klasse durch eine andere. Er [Mao Tse-Tung] legte seine große These fest: ‚Die Macht kommt aus den Gewehrläufen!‘" (Über den Marxismus-Leninismus-Maoismus, S. 7) "[der] Volkskrieg, der durch eine revolutionäre Armee neuen Typs, unter der absoluten Führung der Partei, Stück für Stück die alte Macht zerstört, hauptsächlich seine bewaffneten und repressiven Kräfte." (Programm und Statuten der KP Perus, S. 16-17.)<br />
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Unter dem Begriff der „neue demokratische Revolution“ vertreten die Maoisten der KP Perus ein spezifisches Etappenmodell, das die Stufen der Revolution festlegt, die die unterdrückten Länder auf dem Weg zum Sozialismus durchlaufen müssen. Der Klasseninhalt der Revolution und der jeweiligen Staatsformen, die diese hervorbringen, ändert sich jedoch je nach Entwicklungsstand des jeweiligen Landes: "Um unser Endziel, den Kommunismus, zu erreichen, müssen wir Marxisten-Leninisten-Maoisten in Perspektive drei Typen von Revolutionen durchführen: 1) Die demokratische Revolution, das ist die bürgerliche Revolution neuen Typs in den rückständigen Ländern, unter der Führung des Proletariats, in deren Verlauf eine gemeinsame Diktatur des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und unter bestimmten Bedingungen der Mittelbourgeoisie unter der Führung des Proletariats errichtet wird; 2) Die sozialistische Revolution in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern, die die Diktatur des Proletariats errichtet; 3) Kulturrevolutionen, sie werden gemacht um die Revolution unter der Diktatur des Proletariats fortzusetzen, um jede Generierung des Kapitalismus zu unterwerfen und zu eliminieren und auch mit den Waffen gegen jedes streben nach Restauration des Kapitalismus zu kämpfen" (Allgemeine politische Linie, S. 19)<br />
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Mit der Theorie der „neuen demokratischen Revolution“ sind spezifische staatstheoretische Grundannahmen verbunden. Die „Neuen Demokratie“ gilt aus maoistischer Sicht als dritte Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats - ihr Klassencharakter ist wesentlich durch einen Klassenkompromiss bzw. ein Klassenbündnis bestimmt: "Die Neue Demokratie. In erster Stelle ist es eine Entwicklung der marxistischen Staatstheorie mit der Festlegung der drei Typen der Diktatur: 1. die Diktatur der Bourgeoisie, in den alten bürgerlichen Demokratien wie in den Vereinigten Staaten, dazu zählen auch die Diktaturen, die in unterdrückten Nationen, wie den lateinamerikanischen existieren, 2. die Diktatur des Proletariats wie in der Sowjetunion oder in China vor der Usurpation der Macht durch die Revisionisten und 3. die Neue Demokratie als gemeinsame Diktatur, die auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern basiert, geführt vom Proletariat mit der Kommunistischen Partei an der Spitze […]." (Über den Marxismus-Leninismus, S. 8) Im Anschluss an Mao und Gonzalo geht die KP Perus davon aus, dass die "Staatssysteme der Welt" auf „drei Grundtypen reduziert werden können, laut ihres Klassencharakters: Republik unter der Diktatur der Bourgeoisie, die auch die Staaten der alten Demokratie ausmachen und die Republik der gemeinsamen Diktatur der Grundbesitzer und Großbourgeoisie; Republiken unter der Diktatur des Proletariats; und Republik unter der gemeinsamen Diktatur der revolutionären Klassen […]." (Allgemeine politische Linie, S. 33.)<br />
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Andere Grundsätzlichere Fragen zum Thema Maoismus, wie die Strategie des „langfristigen Volkskriegs“, die Etappe der "neuen demokratischen Revolution" oder die Theorie des „Zweilinienkampfs“ werden perspektivisch durch die [[AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei]] bearbeitet. Fragen zur Polemik zwischen der Sowjetunion und China über die „friedliche Koexistenz“, die „Kulturrevolution“ und die maoistische Position, die Sowjetunion sei „sozialimperialistisch“ gewesen, gehören zum Arbeitsbereich der [[AG Sozialismus]].<br />
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Eine längere Version dieses Artikels (befindet sich noch in Bearbeitung) findet ihr hier: '''[[Die Staatsfrage im Maoismus]]'''<br />
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Vertreten werden solche oder ähnliche Positionen in Deutschland zum Beispiel von der Sozialistischen Linken (SoL) oder dem mittlerweile aufgelösten Jugendwiderstand (JW).<br />
===Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt)===<br />
Der ''Gegenstandpunkt'' (GSP, früher ''Marxistische Gruppe'') vertritt eine eigene Staatstheorie, die davon ausgeht, der bürgerliche Staat könne aus den abstrakten Kategorien der politischen Ökonomie "abgeleitet" werden. Den Ausgangspunkt dieser Ableitung bildet die einfache Warenzirkulation, in welcher die Warenbesitzer sich wechselseitig als "freie" und "gleiche" Privateigentümer anerkennen. Die Autoren des GSP sehen drei gemeinsame Interessen bei allen Privateigentümern: Die Erhaltung der Revenue, eine möglichst hohe Revenue und den kontinuierliche Fluss der Revenue. Daraus schlussfolgern sie, dass Schutz und Sicherung des Privateigentums, die Sicherung des Wirtschaftswachstums und ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft dem Gesamtinteresse aller Privateigentümer entsprechen, wozu als viertes das Interesse an gleichen Konkurrenzvoraussetzungen hinzutritt. Weil die Privateigentümer aber in der Verfolgung ihrer besonderen Interessen nicht die allgemeinen Interessen durchsetzen können, bedarf es des Staates: "Das besondere Dasein des Staates neben und außer der Gesellschaft der konkurrierenden Privaten – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit – ist das Resultat dieses Widerspruchs zwischen besonderem und allgemeinem Interesse in seinen verschiedenen Existenzweisen. Der Staat verkörpert die Loslösung der allgemeinen Interessen aus der Sphäre der Privaten und ihre Verwaltung in der Sphäre des Staates. Mit der Besonderung des Staates werden die allgemeinen Interessen zu seinen besonderen, deren Verwaltung allein ihm obliegt. <ref> von Flatow, Sybille / Huisken, Freerk: Zum Problem der Ableitung des bürgerlichen Staates, in: Prokla, 7 (1973), S. 121 </ref><br />
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Fertig ausformuliert und in den Reihen des GSP kanonisiert wurde diese "Staatsableitung" von Karl Held in ''Der bürgerliche Staat''. In Helds Analyse wird aus der „Besonderung des Staates“ letztendlich der „Staat als Subjekt“: "Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit und Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert.<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Staat hält hier nicht nur die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Reproduktion aufrecht, er wird zum eigenständigen Subjekt mit eigenen Interessen: "Der souveräne Staat ist eine von den Bürgern getrennte, selbständige Instanz, die mit keinem besonderen Interesse identisch ist und gerade und nur deswegen von allen anerkannte Gewalt ist, weil er sein Interesse, das Allgemeinwohl, gegen die Privatsubjekte durchsetzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref> "In der Unterordnung aller Aufgaben, um deren Erfüllung willen er sich als politisches Subjekt der Ökonomie betätigt, unter das Kriterium des wirtschaftlichen Wachstums, in der Relativierung aller Funktionen entsprechend dieser Zielsetzung der Wirtschaftspolitik fällt der Grund des bürgerlichen Staates – die freie Konkurrenz – unmittelbar zusammen mit seinem Zweck: er ist bewußter Agent des Inhalts der Konkurrenz, die bekanntlich nicht die Individuen, sondern das Kapital in Freiheit setzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates besteht daher beim GSP auch zuallererst darin, dass er nicht im Interesse der einen Klasse eine andere, sondern alle Individuen gleichermaßen unterwirft: "Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, daß er Klassenstaat ist: Durch die gleiche Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der Nutzen aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben." <ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat, URL: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat (29.12.2018) </ref><br />
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Der Staat wird dadurch also wesentlich (und nicht nur oberflächlich) zu einem (klassen)neutralen Subjekt erklärt, welches die äußeren Bedingungen der Konkurrenz organisiert und diese Bedingungen den Warenbesitzern unterschiedslos aufzwingt. <br />
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'''Vertreter:''' Neben dem ''Gegenstandpunkt'', dessen Aktivitäten sich fast auschließlich auf das akademische Milieu konzentrieren, werden diese Positionen auch von vielen studentischen Jugendgruppen in der "linksradikalen" und Antifa-Szene vertreten. Dies hat häufig damit zu tun, dass Leute aus der Szene ihre eigene theoretische Bildung über Lesekreise und Seminare des Gegenstandpunkt erwerben. Besonders in Teilen der ''Sozialistischen Jugend - Die Falken'' lässt sich ein starker ideologischer Einfluss des GSP feststellen, das gleiche Phänomen taucht aber auch immer wieder in Gewerkschaftsjugenden oder ''solid SDS''-Gruppen auf. Besonders stark ist zudem die Überschneidung zu "antinationalen" Gruppen, wie etwa bei der Dortmunder ''Gruppe K''.<br />
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Einen Text zur ausführlicheren Einbettung in den Kontext der "Staatsableitungsdebatte" findet ihr hier: [[Der Staat als Subjekt (Staatsableitungsdebatte)]]<br />
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Einen Hintergrundartikel zum Gegenstandpunkt hier: [https://kommunistische.org/diskussion/standpunkt-gegen-den-marxismus/ Standpunkt gegen den Marxismus (Thanasis Spanidis)]<br />
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===Anarchistische Staatskritik===<br />
Der "Anarchismus" (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) umfasst ein sehr diffuses und heterogenes Spektrum, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Dennoch lassen sich grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Anarchisten vertreten eine politische Haltung, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbstbestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammenschließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. Im Mittelpunkt stehen die Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Selbstverwirklichung der Individuen im Rahmen der kollektiven Selbstverwaltung („Autonomie“) möglichst kleiner Organisationseinheiten. Im Anarchismus fließen die Traditionen des bürgerlichen Liberalismus (individuelle Freiheit) und der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen (Kollektivität und Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Heute wird häufig das Adjektiv "libertär" (deutsch: freiheitlich) als Synonym für „anarchistisch“ benutzt.<br />
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An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich aus Sicht der Anarchisten auch schon die Bewegung selbst messen lassen, die für die „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Position so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren, geschweige denn nach der siegreichen Revolution einen eigenen Staat zur Niederhaltung der Unterdrücker und zum Aufbau und zur Verteidigung der Revolution schaffen darf. In Abgrenzung zu solchen individual-anarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen.<br />
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Die anarchistische Staatskritik richtet sich nicht hauptsächlich gegen den bürgerlichen Staat als Klassenstaat der Bourgeoise, sondern lehnt jede Form der Macht, der Autorität und der Staatlichkeit überhaupt als Grundübel der Gesellschaft ab. Der Anarchismus vertritt also in letzter Konsequenz einen klassenneutralen Machtbegriff – er lehnt die Macht nicht als Klassenmacht der Ausbeuter ab, sondern als abstraktes Ding an sich, das aus der Welt geschafft werden soll. <br />
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'''Marx und Engels vs. Bakunin:''' Die erste ausführliche theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. <br />
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Engels fasste die Kritik an der Staatsauffassung Michael Bakunins und der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen: "Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. [...]<br />
Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll,[...] so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität <nowiki>=</nowiki> Staat <nowiki>=</nowiki> absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!" <ref>Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33; Dietz-Verlag; S. 388-389.</ref><br />
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Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der politische Ausdruck dieser Widersprüche ist nicht die Klassenherrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter und alle anderen Werktätigen, sondern die Macht und Autorität des Staates überhaupt. Diese Auffassung hat weitreichende taktische und strategische Konsequenzen (siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]]).<br />
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'''Heutige Vertreter:''' Der Anarchismus in seiner klassischen Form, also als politische Ideologie und Bewegung mit realer Verankerung in der Arbeiterbewegung (wie ihn Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder die spanischen Anarchosyndikalisten vertraten) ist heute kaum mehr präsent. Vulgarisierte Formen des Anarchismus sind dagegen in der "autonomen" Szene und linken Subkulturen nach wie vor sehr weit verbreitet. Neben zahlreichen Splittergruppen, die in der BRD heute ein gemeinsames, hauptsächlich kleinbürgerlich geprägtes Milieu bilden und von der Arbeiterbewegung meist isoliert sind, bildet die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) eine gewisse Ausnahme. Diese Organisation versucht im Rahmen einer kleinen anarchistischen Richtungsgewerkschaft außerhalb der DGB-Gewerkschaften Klassenkämpfe und Streiks zu organisieren.<br />
<br />
Verschiedene "anarchokommunistische" Gruppen und Zusammenschlüsse in Deutschland versuchen Aspekte des Marxismus (gewerkschaftliche Organisation, Klassenkampf, Vergesellschaftung der Produktionsmittel) mit Standpunkten des Anarchismus (Ablehnung von Hierarchien, zentralistischer Organisationsformen und der Diktatur des Proletariats) zu vereinen. Seit Dezember 2018 existiert mit der Initiative [https://www.dieplattform.org/wir/ "die Plattform"] z.B. ein Versuch, einen bundesweiten "plattformistischen" anarchakommunistischen Organisationszusammenhang aufzubauen und im Rahmen einer eigenen Schriftenreihe eine theoretische Debatte anzustoßen.<br />
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Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxistismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff. Die Rojava-Solidarität vereint heute ein politisches Spektrum, dass von der MLPD über die verschiedenen roten Gruppen, die iL, die Linkspartei und bis zu den antinationalen und antideutschen Zusammenhängen reicht.<br />
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==Bezug zu unseren Grundannahmen==<br />
==Wie wollen wir den Dissens klären?==<br />
==Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?==</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Der_Klassencharakter_des_b%C3%BCrgerlichen_Staats&diff=6973Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats2020-01-09T09:23:57Z<p>Dio: /* Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole */</p>
<hr />
<div>Zurück zur [[AG Formen bürgerlicher Herrschaft]]<br />
==Überblick==<br />
Dieser Artikel soll einen ersten groben Überblick über die verschiedenen Auffassungen zum Klassencharakter des bürgerlichen Staats innerhalb des kommunistischen und im weiteren Sinne "linken" Spektrums geben. Ist der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" die organisierte politische Macht der gesamten Bourgeosie und damit das Instrument ihrer Klassenherrschaft? Oder ist der Staat an sich ein klassenneutraler Apparat, der sowohl für die Zwecke der Kapitalistenklasse, als auch im Interesse der Arbeiter in Bewegung gesetzt werden kann? Ist der Staat im Stadium des Imperialismus nur noch das Herrschaftsinstrument eines kleinen Teils der Kapitalisten, der Monopolbourgeoisie, die ihre Macht mit Hilfe des Staats auch gegen die "kleine und mittlere Bourgeoisie" durchsetzt? Oder ist der bürgerliche Staat nach 1945 gar zu einer "echten Demokratie" geworden, in der die politische Macht nicht mehr von den besitzenden Klassen ausgeht, sondern von der demokratischen Mehrheit?<br />
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Die Unterschiede in der Analyse und die Einschätzung des Klassencharakters des bürgerlichen Staats haben weitreichende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung. Die sich daraus ergebenden Dissense werden an anderer Stelle unter dem Stichwort "'''[[Staat und Revolution]]'''" dargestellt.<br />
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===Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise"===<br />
Die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus (Marx, Engels, Lenin) bestimmten den bürgerlichen Staat als "ideellen Gesamtkapitalisten" und als Instrument der "Diktatur der Bourgeosie". <br />
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Schon im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 schrieben Marx und Engels: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. […] Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." <ref> Marx, K., Engels, F.: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, Berlin/DDR 1977, S. 464/482. </ref> Diese Definition des Staates als „Ausschuss“ zur Regelung der „gemeinschaftlichen Geschäfte“ der Bourgeoisie deckt sich mit der späteren Formulierung von Engels, in der er den bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnete: "Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten […] nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. <ref> Engels,F.: Zur Wohnungsfrage, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 18, Berlin/DDR 1973, S.257-258.</ref> Der Staat schützt die kapitalistische Produktionsweise sowohl gegen den Widerstand der Arbeiter als auch gegen die sich widersprechenden Einzelinteressen individueller Kapitalisten. Laut Engels setzt der „ideelle Gesamtkapitalist“ also das Interesse der gesamten herrschenden Klasse nicht nur gegenüber dem Proletariat, sondern auch gegenüber ihrer einzelnen Klassenindividuen durch: "Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." <ref> Engels,F.: Anti-Dühring (1877), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 20, S. 260.</ref> <br />
<br />
Der Staat ist also einerseits Instrument zur Unterdrückung der Arbeiter und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse, gleichzeitig ist er notwendig, um die Bourgeoisie über die kapitalistische Konkurrenz hinweg zu Kompromissen zu zwingen und sie so erst als herrschende Klasse zu organisieren.<br />
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Lenin führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine scharfe Polemik gegen die Revisionisten und Reformisten in der deutschen und russichen Sozialdemokratie. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fasste er die Staatsauffassung von Marx und Engels in seiner Schrift ''Staat und Revolution'' (1917) zusammen: "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen 'Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. <ref> Lenin, W.I.: Staat und Revolution, in: in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Lenin Werke Bd. 25, Berlin/DDR 1974, S. 399. </ref> Der Staat ist demnach eine Macht, "die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben. Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt ‚nicht mehr unmittelbar zusammenfällt‘ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer ‚selbsttätigen bewaffneten Organisation‘. [...] Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?" <ref> ebd., S. 401.</ref><br />
Abschließend fasste Lenin seine Studien zur marxschen Staatsauffasung in der Bestimmung des bürgerlichen Staats als „Diktatur der Bourgeoisie“ zusammen: "Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist […]. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie." <ref> ebd., S. 425.</ref><br />
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Von dieser Analyse ausgehend formulierten die Klassiker die strategische Orientierung auf die "Zerschlagung des bürgerlichen Staats" und die Errichtung der "Diktatur des Proletariats". Siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]].<br />
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Für eine ausführlichere Darstellungen der Annahmen der Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus zum Staat, siehe: [[Grundannahmen Staat]]<br />
<br />
===Der Staat als klassenneutrales Instrument===<br />
Vertreter dieser Auffassung gehen davon aus, dass der bürgerliche Staat und seine Organisationsapparate an sich klassenneutrale Instrumente seien. Das heißt sie werden unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen zwar von der Bourgeoisie benutzt, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen, die Arbeiterklasse niederzuhalten und die Bedingungen der Kapitalakkumulation möglichst günstig zu gestalten, könnten unter anderen Bedingungen (z.B. nach dem Wahlsieg einer Arbeiterpartei) jedoch genausogut im Interese des Proletariats in Bewegung gesetzt werden (z.B. um den Kapitalismus durch Sozialreformen allmählich in den Sozialismus zu überführen). Die Instrumente selbst, also die Staatsorganisationen vom Parlament über die Verwaltungs- bis hin zu den Repressionsorganen, verhalten sich dieser Auffassung nach also neutral zu den Zwecken ihrer Anwendung. Weder ihre konkrete Organisationsform noch das Personal, aus dem sie bestehen, tragen demnach Klassencharakter. Diese Auffassung steht im Widerspruch zu der Position, der bürgerliche Staat sei seiner Form und seinem Klasseninhalt nach "ideeller Gesamtkapitalist" und Ausdruck der "Diktatur der Bourgeoisie" (s.o.).<br />
<br />
'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):'''<br />
Die klassischen Vertreter einer solchen Staatsauffassung waren die „Revisionisten“ in der deutschen Sozialdemokratie, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen und zentrale Annahmen des wissenschaftlichen Sozialismus zu "revidieren" begannen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Eduard Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. <br />
<br />
Bernstein bestritt in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899) die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Aufhebung des bürgerlichen Staates und schlug stattdessen einen friedlichen und demokratischen Reformweg zum Sozialismus vor. Bernstein argumentiert, die bisherige Ausrichtung der Sozialdemokratie auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus sei durch die Realität überholt. Das kapitalistische System habe sich als weitgehend krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, ein „Zusammenbruch“ des Kapitalismus bzw. eine revolutionäre Situation sei nicht mehr zu erwarten. Die Aufgabe der SPD sei es nun, im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch „Sozialreformen“ Verbesserungen für die Arbeiterklasse und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards zwischen den Klassen durchzusetzen. Den Weg, um diese Ziele zu erreichen, sah Bernstein in der schrittweisen Ausdehnung des parlamentarischen Einflusses der Sozialdemokratie bis hin zur Übernahme der Regierung. Diese würde dann weitreichende Reformen im Sinne der Arbeiterklasse und des Sozialismus durchsetzen. Das entsprechende Credo des Reformismus lautete: „Der Weg ist alles, das Ziel ist nichts“.<br />
<br />
Der klassische Reformismus setzt notwendig eine bestimmte Auffassung über den bürgerlichen Staat voraus. Wenn es möglich sein soll, den Kapitalismus allmählich durch Sozialreformen zu überwinden, so muss es auch möglich sein, dass die Arbeiterklasse diese Reformen im Staatsapparat gegen den Willen der Bourgeoisie durchsetzt oder diese zumindest zu Kompromissen zwingt – und zwar so weit, dass die Gesellschaft immer mehr sozialistische Züge annimmt und der Staat letztlich aufhört, bürgerlicher Staat zu sein und allmählich zu einem Instrument in den Händen der Arbeiterklasse wird. Dieses Instrument an sich muss also „klassenneutral“ sein und je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse sich entwickeln, kann es sowohl von der einen, als auch von der anderen Klasse kontrolliert und im eigenen Interesse eingesetzt werden. Der Staat steht in dieser rein instrumentalistischen Sichtweise der ihm zugrunde liegenden Produktionsweise also äußerlich gegenüber, er besitzt keine innere Verbindung zu ihr. Der Überbau scheint unabhängig von seiner ökonomischen Basis agieren zu können. Der bürgerliche Staat wird aus dieser Sichtweise nicht als spezifisches, den Klasseninteressen der Bourgeoisie entsprechend geformtes Werkzeug verstanden. Ergo kann das Proletariat dieses Werkzeug unverändert übernehmen, anstatt sich einen eigenen Apparat zu schaffen, der den spezifischen Erfordernissen und Klasseninteressen der Arbeitermacht entspricht.<br />
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'''Eurokommunismus:'''<br />
Ab den 1970er Jahren knüpften die sogenannten "Eurokommunisten" mit vielen ihrer Positionen an die theoretische Tradition des klassischen Revisionismus an, begründeten ihre Haltung aber damit, dass die Kräfteverhältnisse und somit auch der Charakter des bürgerlichen Staates sich nach 1945 grundlegend geändert hätten. Daher seien der „sowjetische Weg zum Sozialismus“ und die "Diktatur des Proletariats" als historischer Sonderfall überholt und Europa mittlerweile in eine Epoche der demokratischen Übergänge eingetreten. Sie vertraten die Einschätzung, die bürgerliche Demokratie sei nach dem Sieg über den Faschismus im Westen zu sehr gefestigt, als dass die Herrschenden gewaltsam gegen einen demokratischen Übergang zum Sozialismus vorgehen könnten. Die Hauptvertreter des Eurokommunismus waren die kommunistischen Parteien Frankreichs (PCF), Italiens (PCI) und Spaniens (PCE).<br />
<br />
Die eurokommunistische Strategie des friedlichen, parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus ging mehr oder weniger offen davon aus, dass der Staat als ein „Feld im Klassenkampf" aufzufassen sei, auf dem sich zwar die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen widerspiegeln, das an sich aber klassenneutral sei. Durch Veränderungen der politischen Mehrheiten sollten der Staat und seine Institutionen durch die Kommunisten kontrolliert und im Sinne der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden. Die Regierung sollte ein Reformprogramm umsetzen, das die Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung Sozialismus entwickeln würde. Auch im Sozialismus sollte der bürgerlich-liberale Parlamentarismus als politische Herrschaftsform bruchlos beibehalten werden: „Die repräsentative Demokratie, kombiniert mit Formen der direkten Demokratie, kann ohne weiteres auch die Form des sozialistischen Systems sein.“<ref> Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen, Rom 1977, URL: https://www.zeit.de/1977/29/der-haeretiker-aus-asturien (letzter Zugriff: 21.12.2019).</ref> In Teilen der eurokommunistischen Strömung wurde sogar die Notwendigkeit der Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Länder in imperialistischen Staatenbündnissen wie der EG und der NATO offen verteidigt. Ausführlich dargelegt ist das Staatsverständnis der Eurokommunisten in Santiago Carrillos ''Eurokommunismus und Staat''<ref>Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.</ref>. <br />
<br />
Ausführlicherer Artikel: [[Eurokommunistische Staatsauffassung]]<br />
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'''Andere Vertreter:'''<br />
Auch heute gibt es zahlreiche "linke" Vertreter dieser Auffassung. Die Annahme, der bürgerliche Staat sei ein grundsätzlich klassenneutrales Instrument, bildet die Voraussetzung jeder Strategie, die auf den Eintritt in die bürgerliche Regierung zum Zweck der Umsetzung von Reformen abzielt. Das gilt eindeutig für die deutsche ''Linkspartei'' und ihre europäischen Geschwisterorganisationen, allen voran die einflussreiche griechische ''SYRIZA''. Auch die "antimonopolistische Strategie" der DKP unterstellt letztlich eine Klassenneutralität des Staates der Monopole (s.u.). In unterschiedlichen Abstufungen wird diese Auffassung auch von den "bolivarischen Bewegungen" bzw. den Vertretern eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien etc. vertreten.<br />
<br />
===Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole===<br />
Eine seit 1945 weit verbreitete Position geht davon aus, dass der bürgerliche Staat im Monopolkapitalismus nicht mehr das Interesse der gesamten herrschenden Klasse vertritt, sondern sich zum alleinigen Herrschaftsinstrument der Monopole entwickelt. Diese Vorstellung beruft sich häufig auf die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (s.o.) und ist eng verbunden mit den verschiedenen Varianten der [[Strategie der Übergänge]]. <br />
<br />
'''Deutsche Kommunistische Partei (DKP):'''<br />
Die DKP vertritt seit ihrer Gründung eine Strategie der "antimonopolistischen Demokratie" (im folgenden: AMD). Diese wurde erstmals im Programm von 1978 explizit ausformuliert und beschlossen. Auch im Programm von 2006 bildet die AMD, von einigen kleineren Relativierungen abgesehen, noch immer den Kern der strategischen Vorstellungen der DKP. <br />
<br />
Zu den wichtigsten Grundannahmen der AMD gehört, dass der bürgerliche Staat zu einem Instrument in den Händen der Monopole, also einer Handvoll Finanzoligarchen innerhalb der Bourgeoisie, geworden ist. Der Staat, so die These, setze deren Profitinteressen rigoros gegen alle „nicht-monopolistischen Schichten“, also nicht nur gegen die Arbeiterklasse und alle anderen Werktätigen, sondern auch gegen die „kleine und mittlere Bourgeoisie“ durch. Der bürgerliche Staat vernachlässigt aus dieser Sicht also gewissermaßen seine Aufgabe als „ideeller Gesamtkapitalist“ und verkörpert gegenüber der gesamten Gesellschaft (und einem Großteil der Bourgeoisie) nicht mehr das langfristige Gesamtinteresse aller Kapitalisten, sondern einseitig das Partikularinteresse des Monopolkapitals. <br />
<br />
Im DKP-Programm von 2006 heißt es dazu: "Als Machtinstrument der Monopolbourgeoisie setzt er [der Staat] immer unverblümter eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durch. An die Stelle der sozialen Integration tritt die Konfrontation. Der bürgerliche Staat verliert tendenziell seine Fähigkeit zur sozialen und politischen Vermittlung, weil die Basis für die Organisierung stabilerer sozialer Kompromisse, die größere Teile der Gesellschaft einbeziehen, verloren geht. So wird die bürgerliche Demokratie ausgehöhlt und verliert ihren Inhalt. Bei Beibehaltung formaler Demokratie vollzieht sich der Übergang vom 'Sozialstaat' zum autoritären 'Sicherheitsstaat'." <ref> Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Duisburg 2006, S. 12. </ref> <br />
<br />
Damit wird zwar der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht geleugnet, aber eine neue strategische Bruchlinie zwischen den Monopolen und allen „nicht-monopolistischen“ Schichten aufgemacht, die aus dieser Sicht nun in Opposition zum "Staat der Monopole" geraten. Entlang dieser Linie soll sich ein „antimonopolistisches Bündnis“ formieren, das neben der Arbeiterklasse nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch bedeutende Teile der „nicht-monopolistischen“ Bourgeoisie umfassen soll <ref> Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Duisburg 2006, S. 33. </ref> . Dieses Bündnis hat zwar nicht den Sozialismus zum Ziel, wohl aber eine Zwischenetappe der „antimonopolistischen Übergänge“, in deren Rahmen die Kommunisten sich an der Regierungsmacht beteiligen und zunächst im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise eine politische „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ durchsetzen sollen.<br />
<br />
Diese Vorstellung eines weitgehend bruchlosen Übergangs des Staatsapparats aus den Händen der einen in die Hände der anderen Klasse unterstellt eine instrumentalistische Sicht auf den Staat und behandelt diesen in letzter Konsequenz als ''klassenneutrales Werkzeug'' (s.o.). Zugespitzt formuliert: Der Klassencharakter des Staates scheint sich aus Sicht der Vertreter der antimonopolistischen Strategie nicht aus seiner Funktionsweise und seinem Wesen, sondern aus den politischen Kräfteverhältnissen zu ergeben. Ändert die Regierung ihren Klassencharakter von „monopolistisch“ zu „nicht-monopolistisch“, so ändert sich demzufolge auch der Klassencharakter des Staates. <br />
<br />
Hier geht es zu einer längeren Version dieses Artikels: [https://wiki.kommunistische.org/index.php?title=%E2%80%9EAntimonopolistische_Demokratie%E2%80%9C_(DKP)]<br />
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'''Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD):'''<br />
Zu den wichtigsten Alleinstellungsmerkmalen der Theorie und Programmatik der MLPD gehört der Begriff der „Übermonopole“ (siehe dazu den entsprechendne Artikel [[Imperialismus_als_Weltsystem|"Imperialismus als Weltsystem"]] der AG Politische Ökonomie], der auch ihre Analyse des bürgerlichen Staats der Gegenwart wesentlich prägt: "Die hier ansässigen internationalen Übermonopole, die zum allein herrschenden internationalen Finanzkapital gehören, haben sich den Staat vollkommen untergeordnet, und die Organe des Monopolkapitals sind mit den Organen des Staatsapparats verschmolzen. Sie haben ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft, auch über andere Monopole und die nicht monopolisierten Kapitalisten, errichtet. Über die Organe der EU nehmen sie Einfluss auf andere europäische Staaten." (Programm der MLPD)<br />
<br />
Die MLPD geht also davon aus, dass sich diese „Übermonopole“ den bürgerlichen Staat „vollkommen untergeordnet“ haben – aus dieser Formulierung kann geschlussfolgert werden, dass der Staat nicht mehr als „ideeller Gesamtkapitalist“ das Gesamtinteresse des Kapitals vertritt, sondern von der Fraktion der „Übermonopole“ bzw. des „allein herrschenden Finanzkapitals“ allen anderen Teilen der Bourgeoisie gegenüber als Herrschaftsinstrument benutzt wird. Zudem geht die MLPD davon aus, dass die „Organe des Monopolkapitals“, die im vorangegangenen Stadium des Kapitalismus scheinbar noch unabhängig vom und außerhalb des Staatsapparates existierten, heute vollständig mit diesem „verschmolzen“ sind. <br />
<br />
Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Programmatik der MLPD findet sich hier: [https://kommunistische.org/diskussion/einschaetzung-der-programmatik-der-mlpd/ Philipp Kissel, Einschätzung der Programmatik der MLPD].<br />
<br />
Die Positionen der MLPD zum bürgerlichen Staat entnehmen wir ihrem zuletzt 2016 überarbeiteten Parteiprogramm.<ref>https://www.mlpd.de/parteiprogramm</ref><br />
<br />
===Staatsmonopolistischer Kapitalismus===<br />
Hier soll kurz dargestellt werden, wie die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus den klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt. In welchem Verhältnis stehen Staat und Monopole? Ist der Staat alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole oder auch "ideeller Gesamtkapitalist", also Ausdruck der Herrschaft der gesamten Bourgeoisie?<br />
<br />
'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
<br />
Siehe hierzu den Dissens [[Monopole und Staat]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus.<br />
<br />
===Der Staat als "echte Demokratie"===<br />
Die Position, der bürgerliche Parlamentarismus auf der ökonomischen Basis der kapitalistischen Produktionsweise sei eine "echte Demokratie" läuft letztlich auf die Position hinaus, die gesellschaftlichen Verhältnisse würden nicht von der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie, sondern von der politischen Mehrheit bestimmt. Die Frage des Klassencharakters der Staats wird also reduziert auf eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Je nach dem, ob die Bourgeoisie oder die Arbeiterklasse im demokratischen Prozess mehr Kontrolle über den Staatsapparat ausübt, verschiebt sich auch dessen Klassencharakter. Diese Auffassung setzt zugleich ein Verständnis des Staates als ''klassenneutrales Instrument'' voraus (s. o.). <br />
<br />
'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):''' <br />
Die Vorstellung einer fortschreitenden Demokratisierung des bürgerlichen Staats und einer damit einhergehenden Verwandlung seines Klassencharakters spielten eine zentrale Rolle im Denken des klassischen Revisionismus. Rosa Luxemburg polemisierte schon 1899 gegen Eduard Bernstein: „die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie [sei] eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie.“ <ref> Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), Zweiter Teil </ref> Bürgerliche Demokratie und Parlamentarismus waren für Bernstein nicht taktische Mittel im Klassenkampf, sondern tatsächlicher Ausdruck der Herrschaft durch das Volk bzw. die Mehrheit, also der Arbeiterklasse: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. […] Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“<ref>Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.154-156.</ref> Für die Strategie der Arbeiterbewegung heißt das: „die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.“<ref>Ebd., S. 154-156.</ref> Die Arbeiterbewegung soll sich also darauf beschränken, im legalen Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus für Reformen und schrittweise Verbesserungen zu kämpfen. Der bürgerliche Staat ist dabei nicht ihr Gegner, sondern ihr Werkzeug. Die taktische Herausforderung besteht demnach einzig darin, auf demokratischem Weg in die Position zu gelangen, dieses Werkzeug für die eigenen Zwecke nutzen zu können.<br />
<br />
'''Position von SYRIZA:''' <br />
Die griechische "Linkspartei" SYRIZA argumentiert in ihrem Regierungsprogramm, „der Staat [sei] keine Festung, sondern ein Netzwerk, ein Verhältnis und eine strategische Arena für den politischen Kampf. Er verändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, im Gegenteil, seine notwendige Transformation hat konstante und kontinuierliche Kämpfe zur Voraussetzung, die Einbeziehung des Volkes, ständige Demokratisierung.“ (Quelle: S''YRIZAs Regierungsprogramm''<ref>Zitiert nach einem auf Englisch erschienenen Artikel der KKE, ins Deutsche Übersetzt. URL: https://inter.kke.gr/en/articles/Criticism-of-certain-contemporary-opportunist-views-on-the-state/ (9.01.2019)</ref>) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der bürgerliche Staat von SYRIZA nicht seinem Wesen nach als ein Organ der bürgerlichen Klassenherrschaft angesehen, sondern als eine Ansammlung von Institutionen, die im Interesse des Volkes „transformiert“ werden können. Auf Grundlage dieser Sichtweise wird argumentiert, dass der Charakter des bürgerlichen Staats durch die richtigen politischen Kräfteverhältnisse geformt oder gar "transformiert" werden kann, solange sich nur „linke Regierungen“ durchsetzen können. <br />
<br />
'''Position der DKP:''' <br />
Die DKP bleibt in ihrer Einschätzung der bürgerlichen Demokratie widersprüchlich. Einerseits ist in ihrem Programm von 2006 zwar die Rede davon, dass sich durch die "Globalisierung" die "Tendenz zur Reaktion" verschärft, dass die Demokratie untergraben wird (S. 12) und dass letztlich eine "revolutionäre Überwindung" (S. 28) des Kapitalismus nötig sei. Andererseits gehört es jedoch zu den Kernthesen ihrer "antimonopolistischen Startegie", dass noch auf dem Boden der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und innerhalb des institutionellen Rahmens des bürgerlichen Staats umfassende Reformen und sogar eine "antimonopolistisch-demokratische Umgestaltung" (S. 32) möglich seien: "Je mehr es dabei gelingt, Veränderungen im Sinne von Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, von demokratischer Kontrolle, von Entmilitarisierung und Demokratisierung in Staat und Gesellschaft zu erreichen, je größer der Einfluss der demokratischen und sozialistischen Kräfte überall dort ist, wo Meinungsbildung stattfindet, desto besser sind die Chancen im Kampf um die Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und für die Öffnung des Weges zum Sozialismus. [...] Es geht um die [...] demokratische Einflussnahme auf den staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus im nationalen Rahmen wie im Rahmen der Europäischen Union und anderer internationaler staatsmonopolistischer Institutionen". (S. 30) Diese Vorstellung läuft letztlich also darauf hinaus, die Kommunisten und „Demokraten“ könnten den ideellen Gesamtkapitalisten dem Einfluss der Klasseninteressen der Bourgeoisie entreißen und ihrem eigenen politischen Willen unterwerfen.<br />
<br />
'''Andere Vertreter:''' Ebenfalls weit verbreitet sind Vorstellungen über den demokratischen Charakter des bürgerlichen Staats in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dort gehört der Begriff der „Mitbestimmung“ nicht umsonst zum ideologischen Kernrepertoire. Die Vorstellung, im Betrieb ließe sich zwischen Kapital und Arbeit auf Augenhöhe eine demokratische Mitbestimmung und dadurch ein Interessenausgleich verwirklichen, bildet das Herzstück der Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Ähnliche Sichtweisen werden heute außerdem in einer Reihe lateinamerikanischer Länder gepflegt. Verschiedene „fortschrittliche“ und „linke“ Regierungen versuchen unter dem Banner des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bzw. der „bolivarischen Revolution“ das bürgerliche Staatssystem durch Gesetzesreformen und Volksabstimmungen grundlegend zu veränden.<br />
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==="Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci)===<br />
Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, verfasste in den 1920er und 30er Jahren in faschistischer Gefangenschaft seine „Gefängnishefte“, ein umfangreiches theoretisches Werk, dessen einzelne Bestandteile Gramsci unter den Bedingungen seiner Haft leider nicht mehr zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen konnte. Zu den wichtigsten Aspekten dieses Werks gehören Gramscis Überlegungen zur besonderen Form der Herrschaft der Bourgeoisie in den entwickelten imperialistischen Ländern und die daraus abgeleiteten Weiterentwicklungen der marxistischen Staatstheorie.<br />
<br />
In den Gefängnisheften bringt Gramsci den Staat und die Herrschaft der Bourgeoisie auf die kurze Formel: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang" (H. 6, §88., S. 783)<ref>Antonio Gramsci, Gefängnisgefte. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1991. Im Folgenden wird aus den Gefängnisheften nur noch in Klammern nach Heft Nr., Paragraph und Seitenzahl zitiert.</ref><br />
<br />
Gramsci weitet den Staatsbegriff damit aus und entwickelt sein Konzept des "integralen Staates". Dieser umfasst einerseits die "politische Gesellschaft", womit alle explizit staatlichen Strukturen und Institutionen gemeint sind, also das Parlament, die Beamtenapparate, die Repressionsorgane, die staatlichen Bildungseinrichtungen etc. Andererseits betrachtet Gramsci aber auch die "Zivilgesellschaft" als Teil der bürgerlichen Staatlichkeit. Gemeint sind damit alle Strukturen außerhalb der Staatsapparate, über die die Bourgeoisie ihre Herrschaft absichert, also private Medien, Bildungsstätten, Institute, Stiftungen, Clubs, Thinktanks etc. Mit Blick auf den Sieg der Oktoberrevolution in Russland und die darauffolgenden Niederlagen der Revolutionsversuche in Westeuropa schrieb Gramsci: "Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand;" (H. 7, §16., S. 873-874) An anderer Stelle heißt es: "zumindest was die fortgeschrittenen Staaten angeht, wo die 'Zivilgesellschaft' eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften 'Durchbrüchen' des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg." (H. 13, §14, S. 1553-1554) Die Stabilität der bürgerlichen Herrschaft hängt demnach also wesentlich davon ab, inwieweit die Zivilgesellschaft herausgebildet und die "Hegemonie" der Bourgeoisie enwickelt ist. <br />
<br />
Mit dem Begriff der Hegemonie versucht Gramsci der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass sich die Macht der Bourgeoisie nicht nur auf das Staatliche Gewaltmonopol und die Repressionsapparate stützt, sondern wesentlich über ideologische Integration und die Erzeugung von "Konsens" abgesichert wird. Hegemonie bezeichnet also die politisch-ideologische Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über eine andere. "Die 'normale' Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne daß der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt, sondern im Gegenteil sogar versucht wird, zu erreichen, daß der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint […]" (H. 13, §37, S. 1607-1613). Konsens bezeichnet hier einen Zustand, in dem die Beherrschten die Herrschaft zumindest passiv ertragen oder sogar aktiv die Sichtweise übernehmen, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse entsprächen auch ihren Interessen und seien die bestmöglichen. Gramsci schreibt, dass "eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. […] Die politische Führung wird zu einem Aspekt der Herrschaft, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Klassen zur Enthauptung derselben und zu ihrer Machtlosigkeit führt. Es kann und muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben." (H. 1, §44, S. 101-113) <br />
<br />
Heute wird der Begriff der Hegemonie fast ausschließlich Gramsci zugeschrieben, dabei war er zu dessen Lebzeiten unter den Theoretikern der Kommunistischen Internationale weit verbreitet und wurde breit diskutiert. Wie Buci-Glucksmann bemerkt, war er "im gesamten Marxismus der Dritten Internationale überaus geläufig. Man findet ihn vor allem unter der Feder Lenins vor 1917, aber auch später. Man finet ihn ebenso oft bei Bela Kun, Varga, Stalin, und vor allem Bucharin, der ihn in einer Weise benutzte, die der Gramscis nahezustehen scheinen könnte". <ref>Buci-Glucksmann, Gramsci und der Staat, S. 17.</ref> <br />
<br />
Die "führende Klasse" oder Klassenfraktion ist laut Gramsci in ihrem Ringen um Hegemonie also in der Regel darum bemührt, alle anderen Fraktionen ihrer Klasse und ihrer "verbündeten Klassen" in ihren "Block an der Macht" zu integrieren. Das gelingt nur, indem sie mit diesen anderen Fraktionen ein Komprimissprogramm aushandelt, das bestmöglich das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse zusammenfasst und deren innere Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Der Ort, an dem diese Kompromisse ausgehandelt und schließlich in politische Praxis übersetzt werden, ist der bürgerliche Staat selbst. Gegenüber den "feindlichen Klassen" (also dem Proletariat und den anderen Werktätigen) tritt die Bourgeoisie als "herrschend" auf, sie übt ihre Hegemonie einerseits durch Integration ihrer ideologischen Führer und andererseits durch materielle Zugeständnisse aus: "Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, daß sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, daß also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, daß solche Opfer und ein solcher Kompromiß nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt." (H. 13, §18, S. 1565-1573) Gramsci beschreibt in dieser Formulierung den grundsätzlichen Klassencharakter des Staates. Die Kompromisse können nie "das Wesentliche" betreffen - also die kapitalistische Produktionsweise - sondern sich nur in deren Rahmen bewegen. <br />
<br />
Gramscis Staatstheorie knüpft eindeutig an die Auffassung des Staats als "ideeller Gesamtkapitalist" (s.o.) an, indem sie einerseits die Integration der gesamten herrschenden Klasse in einem "historischen Block" betont und andererseits die zumindest passive Einbindung der Beherrschten im Rahmen der Hegemonie betont. Mit einer Staatsauffassung, die den bürgerlichen Staat im Monopolkapitalismus als "alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole" (s.o.) versteht, ist Gramscis Ansatz kaum zu vereinbaren. <br />
<br />
Mit Blick auf den Staat schreibt Gramsci außerdem, dieser sei "das Instrument zur Anpassung der Zivilgesellschaft an die ökonomische Struktur". (H. 10.II, §15, S. 1267) Dabei spielen Medien und andere ideologische Apparate eine entscheidende Rolle: "Was 'öffentliche Meinung' genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der 'Zivilgesellschaft' und der 'politischen Gesellschaft', zwischen dem Konsens und der Gewalt. Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft. […] die öffentliche Meinung, wie sie heute Verstanden wird, ist am Vorabend des Untergangs der absolutistischen Staaten entstanden, das heißt in der Zeit des Kampfes der neuen bürgerlichen Klasse um die politische Hegemonie und die Erlangung der Macht. […] [Es entbrennt ein] Kampf ums Monopol der Organe der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, Parlament". (H. 7, §83, S. 916-917)<br />
<br />
Verliert die herrschende Klasse ihre Hegemonie, so kommt es zur "Hegemonie-" bzw. "Autoritätskrise": "Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr 'führend', sondern einzig 'herrschend' ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die große Masse sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann". (H. 3, §34, S. 354-355) Der Verlust der Hegemonie darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem automatischen Verlust der Macht, schließlich verfügt die herrschende Klasse auch bei schwindendem Konsens noch immer über die Mittel des Zwangs. <br />
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Zu den strategischen Schlussfolgerungen, die Gramsci aus seiner Staatstheorie ableitete, siehe den Dissens-Artikel zu [[Staat und Revolution]] und dort den Abschnitt "Bewegungs- und Stellungskrieg". <br />
<br />
Einige offene Fragen zu Gramsci und seiner Staatstheorie werden von unserer AG tiefergehend behandelt werden: Handelt es sich dabei um einen wegweisenden Beitrag zur marxistischen Staatstheorie im Zeitalter des Imperialismus und des entwickelten bürgerlichen Staats, an den die Kommunisten anknüpfen und den sie weiterentwickeln müssen? Oder enthält Gramscis Theorie bereits wesentliche revisionistische Abweichungen, die es den verschiedenen opportunistischen Strömungen, die sich heute auf ihn berufen, leicht machen, seine Theorie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?<br />
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==="Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas)===<br />
Nicos Poulantzas war ein griechischer Theoretiker, der in den 1960er und 70er Jahren eine Reihe an marxistischen Studien verfasste. Er sympathisierte nach 1968 mit der eurokommunistischen griechischen kommunistischen Partei des Inlands (KKE-Inland) und stand – in Frankreich lebend - in kritischer Distanz zur Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). In seinen klassen- und staatstheoretischen Schriften ist der Einfluss u.a. von Louis Althussers Strukturalismus sowie [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #"Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci) | Antonio Gramscis Hegemonietheorie]] sichtbar. In der marxistischen Debatte um den Staat hat Poulantzas tiefe Spuren hinterlassen, was primär zurückgeführt werden kann auf seine Konzeption des Staates als „Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“. Historisch bedeutsam war dabei zunächst die Auseinandersetzung mit Ralph Miliband; im deutschsprachigen Raum wurde seine Theorie u.a. über Joachim Hirsch und Alex Demirovic wieder in die Diskussion eingebracht.<br />
<br />
Poulantzas formuliert in der Einleitung zur „Staatstheorie“ den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Es ist nicht der Klassencharakter des Staates, der zur Debatte steht: „Jeder Staat ist ein Klassenstaat; jede politische Herrschaft ist Klassendiktatur; der kapitalistische Staat ist ein Staat der Bourgeoisie; der kapitalistische Staat im Allgemeinen und jeder kapitalistische Staat im Besonderen sind Diktaturen der Bourgeoisie“ (Staatstheorie S. 155), all dies sind für ihn „Banalitäten“ - zwar richtig, aber nicht weiter ausführenswert. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, vielmehr stellt es sich hier neu: „[W]arum greift die Bourgeoisie in ihrer Herrschaft auf diesen nationalen Volksstaat zurück, diesen modernen Repräsentativ-Staat mit seinen spezifischen Institutionen, und nicht auf einen anderen? Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich genau diesen Staat aussuchen würden, wenn sie den Staat komplett selbst und nach ihrem Geschmack aufbauen würden.“ (Staatstheorie, S. 40). Eine verwandte Frage hatte bereits der sowjetische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis knapp 50 Jahre, vorher gestellt: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“1 Poulantzas gibt in der Einleitung auch eine vorläufige, knappe Antwort auf die von ihm formulierte Frage: „Der Staat stellt ein materielles Gerüst dar, das in keiner Weise auf die politische Herrschaft reduziert werden kann. Der Staatsapparat, dieses besondere und furchterregende Etwas, erschöpft sich nicht in der Staatsmacht. [...] Wenn der Staat nicht einfach ein vollständiges Produkt der herrschenden Klassen ist, so haben sie sich seiner auch nicht einfach bemächtigt: Die Macht des Staates (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) hat in dieser Materialität ihre Spuren hinterlassen. Die Handlungen des Staates reduzieren sich nicht auf die politische Herrschaft, sie sind jedoch konstitutiv von ihr gezeichnet.“ (Staatstheorie, S. 42)<br />
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Eine wichtige Aufgabe des Staates sieht Poulantzas in der Repräsentation und Organisation der herrschenden und der Desorganisation der beherrschten Klassen. Die Bourgeoisie ist keine widerspruchsfreie Einheit. Sie verfolgt zwar zwangsläufig als Klasse einheitlich das Ziel der Kapitalverwertung, dieses Ziel bringt sie aber auch in direkte Konkurrenz untereinander, weshalb, wie Engels sagt, der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert. Poulantzas zufolge ist die Kapitalistenklasse in Klassenfraktionen gespalten, die unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Interessen verfolgen. Diese Klassenfraktionen formieren sich unter der Hegemonie einer Fraktion zu einem „Block an der Macht“, in welchen auch andere herrschende Klassen miteinbezogen werden. Die Hegemonie einer Fraktion bedeutet dabei, dass diese die äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Sinne optimieren kann; und diese Hegemonie erst ermöglicht die Einheit dieses Blocks gegenüber den beherrschten Klassen. Poulantzas betont, dass nicht nur Teile der Bourgeoisie (etwa das Monopolkapital) den Machtblock stemmen: „Diese bürgerlichen Fraktionen sind in ihrer Gesamtheit, obwohl in unterschiedlichem Maße, auf dem Terrain der politischen Herrschaft angesiedelt, und gehören somit immer zum Block an der Macht“ (Staatstheorie S. 159). Dieser Machtblock ist aber konfliktdurchzogen, er stellt ein umkämpftes, instabiles Kompromissgleichgewicht dar: „Der Machtblock stellt eine von inneren Widersprüchen gekennzeichnete Einheit von politisch herrschenden Klassen und Fraktionen unter dem Schutz der hegemonialen Fraktion dar. Der Klassenkampf, die Interessenrivalitäten zwischen den gesellschaftlichen Kräften sind darin ständig gegenwärtig, wobei diese Interessen ihren spezifischen Antagonismus bewahren“ (PMGK, S. 239). In diesem Sinne ist die konkrete Politik des Staates und die Hegemonie im Machtblock immer umkämpft, und dieser Kampf wird im Staat, in seinen ideologischen (Medien, Think Tanks, …) aber auch repressiven Apparaten (Polizei, Armee, …) ausgetragen.<br />
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Um die „Rolle der Vereinheitlichung und Organisierung der Bourgeoisie und des Blocks an der Macht“ (Staatstheorie, S. 158) zu erfüllen, muss der Staat laut Poulantzas eine „relative Autonomie“ gegenüber den einzelnen Bestandteilen des Blocks bewahren: „Unter relativer Autonomie dieses Staatstyps verstehe ich […] das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Feld des Klassenkampfes, insbesondere seine relative Autonomie gegenüber den Klassen oder Fraktionen des Machtblocks und in erweiterter Form auch gegenüber seinen Verbündeten oder Stützen […] Ich hoffe, damit klar genug die Distanz auszudrücken, die diese Auffassung des Staats von einer simplifizierten und vulgarisierten Auffassung des Staats trennt, die in ihm das Werkzeug oder Instrument der herrschenden Klasse sieht“ (PMGK S. 256).<br />
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Der Staat als Instrument (siehe auch die Abschnitte zum Staat als [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als klassenneutrales Instrument | klassenneutrales Instrument]] und als [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole | alleiniges Instrument der Monopole]]) und der [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt) | Staat als Subjekt]]: dies beides sind aus Poulantzas‘ Sicht falsche Staatsverständnisse, die er umschiffen will mit dem Verständnis des Staates als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses. Der Staat als Instrument/Werkzeug/Sache unterstellt eine Passivität oder Neutralität des Staates. Dieser wird als ein Apparat verstanden, der zur Ausübung der politischen Macht von der herrschenden Klasse oder auch einer Klassenfraktion verwendet wird, der aber eben auch so wie er ist übernommen werden kann, um gegen die herrschende Klasse gewendet zu werden. Eine Autonomie des Staates ist ausgeschlossen. Eine solche instrumentalistische Konzeption des Staates sieht Poulantzas in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der eurokommunistischen PCF in den 1970ern: „An dieser Konzeption kritisierte ich vor allem, dass sie zu der Vorstellung des mit dem Monopolkapital »fusionierten« Staates führt, einem Staat der im Dienste der Monopole steht und keinerlei Autonomie besitzt“ (Staatstheorie S. 160). Der Staat als Subjekt wiederum lässt ihn vollständig autonom werden, er steht als Akteur außerhalb der Klassen. Er agiert, koordiniert, verwaltet, reguliert selbstständig. Seine Autonomie bezieht sich „auf die angebliche Macht des Staates und auf die Träger dieser Macht und der staatlichen Rationalität: auf die Bürokratie und speziell auf die politische Elite“ (Staatstheorie S. 160). <br />
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Poulantzas schlägt vor, die „Sackgassen des ewigen Pseudodilemmas der Diskussion zwischen der Konzeption des Staates als einer Sache bzw. einem Instrument und der Konzeption des Staates als einem Subjekt“ (Staatstheorie S. 159f) zu vermeiden, indem der Staat über den Klassenkampf selbst verstanden wird, genauer: „ … indem ich sage, dass der Staat […] nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden darf, sondern, wie auch das »Kapital«, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ Der Staat spiegelt also nicht einfach ein gesellschaftliches Verhältnis wider, er selber konstituiert dieses Verhältnis. In der Vielzahl seiner Institutionen findet die ständige Austarierung zwischen Klassen und Klassenfraktionen statt. Diese Austarierung entspricht aber nicht direkt dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, beispielsweise sind die beherrschten Klassen nicht in den Staatsapparaten anwesend: „Sie organisieren und vereinheitlichen den Block an der Macht, indem sie die beherrschten Klassen ständig desorganisieren und spalten. Sie polarisieren sie gegenüber dem Block an der Macht und schließen ihre politischen Organisationen aus.“ (Staatstheorie S. 171)<br />
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Bei Poulantzas bleibt unklar, wie der Begriff der Verdichtung genau zu verstehen ist, wohingegen er ausführt, was es mit der Materialität hier auf sich hat. Mit Blick auf die Staatstheorie in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der PCF wendet er ein, dass diese „die eigenständige Materialität des Staates übersieht. Diese Materialität eines Staates, der als Werkzeug oder Instrument angesehen wird, hat keine eigene politische Bedeutung. Diese Bedeutung wird auf die Staatsmacht beschränkt, d.h. auf die Klasse, die dieses Instrument manipuliert. Das würde im Extremfall implizieren, dass das gleiche Instrument (das verschiedenen, allerdings zweitrangigen Modifikationen unterliegt) durch eine Veränderung der Staatsmacht, also durch die Macht der Arbeiterklasse, für den Übergang zum Sozialismus anders eingesetzt werden könnte“ (Staatstheorie S. 160). Dieses Defizit meint er zu beheben: „Das materielle Gerüst seiner [des Staates] Institutionen wird durch die Beziehung des Staates zu den Produktionsverhältnissen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung konstituiert, die sich in der kapitalistischen Trennung des Staates von diesen Verhältnissen konzentriert. […] Der Staat hat eine eigene Dichte und Widerstandskraft und reduziert sich nicht auf ein Kräfteverhältnis. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Klassen hat sicherlich immer Auswirkungen innerhalb des Staates, sie überträgt sich jedoch nicht direkt und unmittelbar. Sie passt sich der Materialität der verschiedenen Apparate an und kristallisiert sich im Staat nur in gebrochener und differenzierter, den Apparaten entsprechender Form. Eine Veränderung der Staatsmacht allein transformiert die Materialität des Staates nicht“ (Staatstheorie S. 161f). Als Beispiele für die Materialität führt Poulantzas u.a. die Organisierung kapitalistischen Wissens an: „Die geistige Arbeit (Wissen/Macht) ist in den Apparaten konzentriert und steht im Gegensatz zur tendenziell in den Volksmassen konzentrierten manuellen Arbeit, die von den organisatorischen Funktionen ausgeschlossen und getrennt sind“ (Staatstheorie S. 83).<br />
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==="Akkumulationsregime" (Regulationsschule)===<br />
Hier sollen die offenen Fragen und Aufgaben ausformuliert werden, die sich aus der Staatstheorie der "Regulationsschule" und deren Theorie der "Akkumulationsregime" ergeben. Handelt es sich bei dieser Theorie um einen wesentlichen Beitrag zur marxistischen Staatstheorie, die eine vertiefende Analyse der verschiedenen Formen der bürgerlichen Herrschaft seit der Entstehung des Kapitalismus erlaubt (z.B. durch die Unterscheidung eines "keynesianischen" und eines "neoliberalen Akkumulationsregimes")? Wie wird aus Perspektive der der Regulationsschule der Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt? Enthält diese Theorietradition wesentliche Abweichungen von den Grundannahmen der marxistischen Staatstheorie? Welche Verbinndung gibt es zu den Theorien von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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'''Vertreter:''' Zu den prominentesten Vertretern der Regulationsschule gehören heute die Staatstheoretiker Joachim Hirsch und Bob Jessop.<br />
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===Staat = Repressionsapparate / "neue Demokratie" (Maoismus)===<br />
Innerhalb des maoistischen Spektrums lässt sich als tendenzielle Gemeinsamkeit in der Staatsfrage ein besonderer Fokus auf die „bewaffneten Apparate“ des bürgerlichen Staats und eine weitgehende Vernachlässigung der Analyse anderer, nicht unmittelbar gewaltförmiger Herrschaftstechniken der Bourgeoisie (Integrationsideologien, ökonomischer Zwang, etc.) feststellen. Dies steht im engen Zusammenhang mit der Strategie des "Volkskriegs". Dieser Strategie liegt eine Perspektive auf den Staat zugrunde, die den Kampf um die politische Macht weitgehend auf den unmittelbaren militärischen Kampf und die Zerschlagung der bewaffneten Staatsapparate zuspitzt. Die maoistische Theorie der "neuen Demokratie" enthält außerdem die These einer möglichen dritten Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats.<br />
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Von einer einheitlichen und systematisch ausgearbeiteten "maoistischen Staatstheorie" kann genauso wenig die Rede sein, wie von einer homogenen maoistischen Strömung innerhalb des Marxismus. In den klassischen Texten von Mao Tse-Tung findet sich vor allem keine eigene, systematisch ausgearbeitete Analyse des bürgerlichen Staats im Imperialismus. Die chinesischen Revolutionäre kämpften nicht gegen einen entwickelten bürgerlichen Staat, wie er sich in den imperialistischen Zentren herausgebildet hatte, sondern gegen einen agrarischen Feudalstaat mit kolonialen Elementen. Der Großteil von Maos Äußerungen über den Staat sind in diesem Kontext zu sehen, so zum Beispiel die oft zitierte Losung: "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 74.</ref> An anderer Stelle führt Mao diese Zuspitzung auf die Frage der militärischen Macht und der bewaffneten Apparate weiter aus und verallgemeinert sie als die aus seiner Sicht wichtigste Kernaussage der marxistischen Lehre vom Staat: "Vom Standpunkt der marxistischen Lehre vom Staat ist die Armee die Hauptkomponente der Staatsmacht. Wer die Staatsmacht ergreifen und behalten will, der muß eine starke Armee haben. Manche Leute bezeichnen uns höhnisch als Anhänger der ‚Theorie von der Allmacht des Krieges‘; jawohl, wir sind Anhänger der Theorie von der Allmacht des revolutionären Krieges, und das ist nicht schlecht, sondern gut, das ist marxistisch. [...] Die Erfahrungen des Klassenkampfes im Zeitalter des Imperialismus lehren uns: Die Arbeiterklasse und die übrigen Werktätigen Massen können nur mit der Macht der Gewehre die bewaffneten Bourgeois und Grundherren besiegen; in diesem Sinne können wir sagen, daß die ganze Welt nur mit Hilfe der Gewehre umgestaltet werden kann."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 75-76.</ref><br />
<br />
In genau diesem Sinne wird die Staatsfrage auch in Teilen der zeitgenössischen maoistischen Strömungen behandelt. Viele zeitgenössische Mao-Gruppen beziehen sich dabei auf die Traditionslinie der peruanischen Guerillabewegung „Leuchtender Pfad“ bzw. der KP Perus (Vollständiger Name: ''Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui'') und ihres politischen und ideologischen Anführers „Presidente Gonzalo“ (Abiamel Guzmán). (''Anmerkung: Alle Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen sich auf die Broschüre „Einheitsbasis der Kommunistischen Partei Perus – angenommen auf dem I. Parteitag 1988“<ref>http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/gonzalo/1439-die-einheitsbasis-der-kommunistischen-partei-perus-auf-deutsch</ref>, die leider zahlreiche Übersetzungsfehler enthält.'')<br />
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Der Staat erscheint auch hier vor allem als bewaffneter Apparat, der militärisch bekämpft und zerschlagen werden muss:<br />
"die revolutionäre Gewalt ist ausnahmslos ein universelles Gesetz; die Revolution ist die gewaltsame Ersetzung einer Klasse durch eine andere. Er [Mao Tse-Tung] legte seine große These fest: ‚Die Macht kommt aus den Gewehrläufen!‘" (Über den Marxismus-Leninismus-Maoismus, S. 7) "[der] Volkskrieg, der durch eine revolutionäre Armee neuen Typs, unter der absoluten Führung der Partei, Stück für Stück die alte Macht zerstört, hauptsächlich seine bewaffneten und repressiven Kräfte." (Programm und Statuten der KP Perus, S. 16-17.)<br />
<br />
Unter dem Begriff der „neue demokratische Revolution“ vertreten die Maoisten der KP Perus ein spezifisches Etappenmodell, das die Stufen der Revolution festlegt, die die unterdrückten Länder auf dem Weg zum Sozialismus durchlaufen müssen. Der Klasseninhalt der Revolution und der jeweiligen Staatsformen, die diese hervorbringen, ändert sich jedoch je nach Entwicklungsstand des jeweiligen Landes: "Um unser Endziel, den Kommunismus, zu erreichen, müssen wir Marxisten-Leninisten-Maoisten in Perspektive drei Typen von Revolutionen durchführen: 1) Die demokratische Revolution, das ist die bürgerliche Revolution neuen Typs in den rückständigen Ländern, unter der Führung des Proletariats, in deren Verlauf eine gemeinsame Diktatur des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und unter bestimmten Bedingungen der Mittelbourgeoisie unter der Führung des Proletariats errichtet wird; 2) Die sozialistische Revolution in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern, die die Diktatur des Proletariats errichtet; 3) Kulturrevolutionen, sie werden gemacht um die Revolution unter der Diktatur des Proletariats fortzusetzen, um jede Generierung des Kapitalismus zu unterwerfen und zu eliminieren und auch mit den Waffen gegen jedes streben nach Restauration des Kapitalismus zu kämpfen" (Allgemeine politische Linie, S. 19)<br />
<br />
Mit der Theorie der „neuen demokratischen Revolution“ sind spezifische staatstheoretische Grundannahmen verbunden. Die „Neuen Demokratie“ gilt aus maoistischer Sicht als dritte Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats - ihr Klassencharakter ist wesentlich durch einen Klassenkompromiss bzw. ein Klassenbündnis bestimmt: "Die Neue Demokratie. In erster Stelle ist es eine Entwicklung der marxistischen Staatstheorie mit der Festlegung der drei Typen der Diktatur: 1. die Diktatur der Bourgeoisie, in den alten bürgerlichen Demokratien wie in den Vereinigten Staaten, dazu zählen auch die Diktaturen, die in unterdrückten Nationen, wie den lateinamerikanischen existieren, 2. die Diktatur des Proletariats wie in der Sowjetunion oder in China vor der Usurpation der Macht durch die Revisionisten und 3. die Neue Demokratie als gemeinsame Diktatur, die auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern basiert, geführt vom Proletariat mit der Kommunistischen Partei an der Spitze […]." (Über den Marxismus-Leninismus, S. 8) Im Anschluss an Mao und Gonzalo geht die KP Perus davon aus, dass die "Staatssysteme der Welt" auf „drei Grundtypen reduziert werden können, laut ihres Klassencharakters: Republik unter der Diktatur der Bourgeoisie, die auch die Staaten der alten Demokratie ausmachen und die Republik der gemeinsamen Diktatur der Grundbesitzer und Großbourgeoisie; Republiken unter der Diktatur des Proletariats; und Republik unter der gemeinsamen Diktatur der revolutionären Klassen […]." (Allgemeine politische Linie, S. 33.)<br />
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Andere Grundsätzlichere Fragen zum Thema Maoismus, wie die Strategie des „langfristigen Volkskriegs“, die Etappe der "neuen demokratischen Revolution" oder die Theorie des „Zweilinienkampfs“ werden perspektivisch durch die [[AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei]] bearbeitet. Fragen zur Polemik zwischen der Sowjetunion und China über die „friedliche Koexistenz“, die „Kulturrevolution“ und die maoistische Position, die Sowjetunion sei „sozialimperialistisch“ gewesen, gehören zum Arbeitsbereich der [[AG Sozialismus]].<br />
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Eine längere Version dieses Artikels (befindet sich noch in Bearbeitung) findet ihr hier: '''[[Die Staatsfrage im Maoismus]]'''<br />
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Vertreten werden solche oder ähnliche Positionen in Deutschland zum Beispiel von der Sozialistischen Linken (SoL) oder dem mittlerweile aufgelösten Jugendwiderstand (JW).<br />
===Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt)===<br />
Der ''Gegenstandpunkt'' (GSP, früher ''Marxistische Gruppe'') vertritt eine eigene Staatstheorie, die davon ausgeht, der bürgerliche Staat könne aus den abstrakten Kategorien der politischen Ökonomie "abgeleitet" werden. Den Ausgangspunkt dieser Ableitung bildet die einfache Warenzirkulation, in welcher die Warenbesitzer sich wechselseitig als "freie" und "gleiche" Privateigentümer anerkennen. Die Autoren des GSP sehen drei gemeinsame Interessen bei allen Privateigentümern: Die Erhaltung der Revenue, eine möglichst hohe Revenue und den kontinuierliche Fluss der Revenue. Daraus schlussfolgern sie, dass Schutz und Sicherung des Privateigentums, die Sicherung des Wirtschaftswachstums und ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft dem Gesamtinteresse aller Privateigentümer entsprechen, wozu als viertes das Interesse an gleichen Konkurrenzvoraussetzungen hinzutritt. Weil die Privateigentümer aber in der Verfolgung ihrer besonderen Interessen nicht die allgemeinen Interessen durchsetzen können, bedarf es des Staates: "Das besondere Dasein des Staates neben und außer der Gesellschaft der konkurrierenden Privaten – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit – ist das Resultat dieses Widerspruchs zwischen besonderem und allgemeinem Interesse in seinen verschiedenen Existenzweisen. Der Staat verkörpert die Loslösung der allgemeinen Interessen aus der Sphäre der Privaten und ihre Verwaltung in der Sphäre des Staates. Mit der Besonderung des Staates werden die allgemeinen Interessen zu seinen besonderen, deren Verwaltung allein ihm obliegt. <ref> von Flatow, Sybille / Huisken, Freerk: Zum Problem der Ableitung des bürgerlichen Staates, in: Prokla, 7 (1973), S. 121 </ref><br />
<br />
Fertig ausformuliert und in den Reihen des GSP kanonisiert wurde diese "Staatsableitung" von Karl Held in ''Der bürgerliche Staat''. In Helds Analyse wird aus der „Besonderung des Staates“ letztendlich der „Staat als Subjekt“: "Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit und Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert.<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
<br />
Der Staat hält hier nicht nur die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Reproduktion aufrecht, er wird zum eigenständigen Subjekt mit eigenen Interessen: "Der souveräne Staat ist eine von den Bürgern getrennte, selbständige Instanz, die mit keinem besonderen Interesse identisch ist und gerade und nur deswegen von allen anerkannte Gewalt ist, weil er sein Interesse, das Allgemeinwohl, gegen die Privatsubjekte durchsetzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref> "In der Unterordnung aller Aufgaben, um deren Erfüllung willen er sich als politisches Subjekt der Ökonomie betätigt, unter das Kriterium des wirtschaftlichen Wachstums, in der Relativierung aller Funktionen entsprechend dieser Zielsetzung der Wirtschaftspolitik fällt der Grund des bürgerlichen Staates – die freie Konkurrenz – unmittelbar zusammen mit seinem Zweck: er ist bewußter Agent des Inhalts der Konkurrenz, die bekanntlich nicht die Individuen, sondern das Kapital in Freiheit setzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
<br />
Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates besteht daher beim GSP auch zuallererst darin, dass er nicht im Interesse der einen Klasse eine andere, sondern alle Individuen gleichermaßen unterwirft: "Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, daß er Klassenstaat ist: Durch die gleiche Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der Nutzen aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben." <ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat, URL: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat (29.12.2018) </ref><br />
<br />
Der Staat wird dadurch also wesentlich (und nicht nur oberflächlich) zu einem (klassen)neutralen Subjekt erklärt, welches die äußeren Bedingungen der Konkurrenz organisiert und diese Bedingungen den Warenbesitzern unterschiedslos aufzwingt. <br />
<br />
'''Vertreter:''' Neben dem ''Gegenstandpunkt'', dessen Aktivitäten sich fast auschließlich auf das akademische Milieu konzentrieren, werden diese Positionen auch von vielen studentischen Jugendgruppen in der "linksradikalen" und Antifa-Szene vertreten. Dies hat häufig damit zu tun, dass Leute aus der Szene ihre eigene theoretische Bildung über Lesekreise und Seminare des Gegenstandpunkt erwerben. Besonders in Teilen der ''Sozialistischen Jugend - Die Falken'' lässt sich ein starker ideologischer Einfluss des GSP feststellen, das gleiche Phänomen taucht aber auch immer wieder in Gewerkschaftsjugenden oder ''solid SDS''-Gruppen auf. Besonders stark ist zudem die Überschneidung zu "antinationalen" Gruppen, wie etwa bei der Dortmunder ''Gruppe K''.<br />
<br />
Einen Text zur ausführlicheren Einbettung in den Kontext der "Staatsableitungsdebatte" findet ihr hier: [[Der Staat als Subjekt (Staatsableitungsdebatte)]]<br />
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Einen Hintergrundartikel zum Gegenstandpunkt hier: [https://kommunistische.org/diskussion/standpunkt-gegen-den-marxismus/ Standpunkt gegen den Marxismus (Thanasis Spanidis)]<br />
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===Anarchistische Staatskritik===<br />
Der "Anarchismus" (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) umfasst ein sehr diffuses und heterogenes Spektrum, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Dennoch lassen sich grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Anarchisten vertreten eine politische Haltung, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbstbestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammenschließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. Im Mittelpunkt stehen die Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Selbstverwirklichung der Individuen im Rahmen der kollektiven Selbstverwaltung („Autonomie“) möglichst kleiner Organisationseinheiten. Im Anarchismus fließen die Traditionen des bürgerlichen Liberalismus (individuelle Freiheit) und der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen (Kollektivität und Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Heute wird häufig das Adjektiv "libertär" (deutsch: freiheitlich) als Synonym für „anarchistisch“ benutzt.<br />
<br />
An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich aus Sicht der Anarchisten auch schon die Bewegung selbst messen lassen, die für die „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Position so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren, geschweige denn nach der siegreichen Revolution einen eigenen Staat zur Niederhaltung der Unterdrücker und zum Aufbau und zur Verteidigung der Revolution schaffen darf. In Abgrenzung zu solchen individual-anarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen.<br />
<br />
Die anarchistische Staatskritik richtet sich nicht hauptsächlich gegen den bürgerlichen Staat als Klassenstaat der Bourgeoise, sondern lehnt jede Form der Macht, der Autorität und der Staatlichkeit überhaupt als Grundübel der Gesellschaft ab. Der Anarchismus vertritt also in letzter Konsequenz einen klassenneutralen Machtbegriff – er lehnt die Macht nicht als Klassenmacht der Ausbeuter ab, sondern als abstraktes Ding an sich, das aus der Welt geschafft werden soll. <br />
<br />
'''Marx und Engels vs. Bakunin:''' Die erste ausführliche theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. <br />
<br />
Engels fasste die Kritik an der Staatsauffassung Michael Bakunins und der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen: "Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. [...]<br />
Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll,[...] so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität <nowiki>=</nowiki> Staat <nowiki>=</nowiki> absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!" <ref>Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33; Dietz-Verlag; S. 388-389.</ref><br />
<br />
Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der politische Ausdruck dieser Widersprüche ist nicht die Klassenherrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter und alle anderen Werktätigen, sondern die Macht und Autorität des Staates überhaupt. Diese Auffassung hat weitreichende taktische und strategische Konsequenzen (siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]]).<br />
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'''Heutige Vertreter:''' Der Anarchismus in seiner klassischen Form, also als politische Ideologie und Bewegung mit realer Verankerung in der Arbeiterbewegung (wie ihn Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder die spanischen Anarchosyndikalisten vertraten) ist heute kaum mehr präsent. Vulgarisierte Formen des Anarchismus sind dagegen in der "autonomen" Szene und linken Subkulturen nach wie vor sehr weit verbreitet. Neben zahlreichen Splittergruppen, die in der BRD heute ein gemeinsames, hauptsächlich kleinbürgerlich geprägtes Milieu bilden und von der Arbeiterbewegung meist isoliert sind, bildet die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) eine gewisse Ausnahme. Diese Organisation versucht im Rahmen einer kleinen anarchistischen Richtungsgewerkschaft außerhalb der DGB-Gewerkschaften Klassenkämpfe und Streiks zu organisieren.<br />
<br />
Verschiedene "anarchokommunistische" Gruppen und Zusammenschlüsse in Deutschland versuchen Aspekte des Marxismus (gewerkschaftliche Organisation, Klassenkampf, Vergesellschaftung der Produktionsmittel) mit Standpunkten des Anarchismus (Ablehnung von Hierarchien, zentralistischer Organisationsformen und der Diktatur des Proletariats) zu vereinen. Seit Dezember 2018 existiert mit der Initiative [https://www.dieplattform.org/wir/ "die Plattform"] z.B. ein Versuch, einen bundesweiten "plattformistischen" anarchakommunistischen Organisationszusammenhang aufzubauen und im Rahmen einer eigenen Schriftenreihe eine theoretische Debatte anzustoßen.<br />
<br />
Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxistismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff. Die Rojava-Solidarität vereint heute ein politisches Spektrum, dass von der MLPD über die verschiedenen roten Gruppen, die iL, die Linkspartei und bis zu den antinationalen und antideutschen Zusammenhängen reicht.<br />
<br />
==Bezug zu unseren Grundannahmen==<br />
==Wie wollen wir den Dissens klären?==<br />
==Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?==</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Der_Klassencharakter_des_b%C3%BCrgerlichen_Staats&diff=6898Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats2019-12-21T14:16:22Z<p>Dio: /* Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole */</p>
<hr />
<div>Zurück zur [[AG Formen bürgerlicher Herrschaft]]<br />
==Überblick==<br />
Dieser Artikel soll einen ersten groben Überblick über die verschiedenen Auffassungen zum Klassencharakter des bürgerlichen Staats innerhalb des kommunistischen und im weiteren Sinne "linken" Spektrums geben. Ist der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" die organisierte politische Macht der gesamten Bourgeosie und damit das Instrument ihrer Klassenherrschaft? Oder ist der Staat an sich ein klassenneutraler Apparat, der sowohl für die Zwecke der Kapitalistenklasse, als auch im Interesse der Arbeiter in Bewegung gesetzt werden kann? Ist der Staat im Stadium des Imperialismus nur noch das Herrschaftsinstrument eines kleinen Teils der Kapitalisten, der Monopolbourgeoisie, die ihre Macht mit Hilfe des Staats auch gegen die "kleine und mittlere Bourgeoisie" durchsetzt? Oder ist der bürgerliche Staat nach 1945 gar zu einer "echten Demokratie" geworden, in der die politische Macht nicht mehr von den besitzenden Klassen ausgeht, sondern von der demokratischen Mehrheit?<br />
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Die Unterschiede in der Analyse und die Einschätzung des Klassencharakters des bürgerlichen Staats haben weitreichende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung. Die sich daraus ergebenden Dissense werden an anderer Stelle unter dem Stichwort "'''[[Staat und Revolution]]'''" dargestellt.<br />
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===Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise"===<br />
Die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus (Marx, Engels, Lenin) bestimmten den bürgerlichen Staat als "ideellen Gesamtkapitalisten" und als Instrument der "Diktatur der Bourgeosie". <br />
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Schon im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 schrieben Marx und Engels: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. […] Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." <ref> Marx, K., Engels, F.: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, Berlin/DDR 1977, S. 464/482. </ref> Diese Definition des Staates als „Ausschuss“ zur Regelung der „gemeinschaftlichen Geschäfte“ der Bourgeoisie deckt sich mit der späteren Formulierung von Engels, in der er den bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnete: "Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten […] nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. <ref> Engels,F.: Zur Wohnungsfrage, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 18, Berlin/DDR 1973, S.257-258.</ref> Der Staat schützt die kapitalistische Produktionsweise sowohl gegen den Widerstand der Arbeiter als auch gegen die sich widersprechenden Einzelinteressen individueller Kapitalisten. Laut Engels setzt der „ideelle Gesamtkapitalist“ also das Interesse der gesamten herrschenden Klasse nicht nur gegenüber dem Proletariat, sondern auch gegenüber ihrer einzelnen Klassenindividuen durch: "Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." <ref> Engels,F.: Anti-Dühring (1877), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 20, S. 260.</ref> <br />
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Der Staat ist also einerseits Instrument zur Unterdrückung der Arbeiter und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse, gleichzeitig ist er notwendig, um die Bourgeoisie über die kapitalistische Konkurrenz hinweg zu Kompromissen zu zwingen und sie so erst als herrschende Klasse zu organisieren.<br />
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Lenin führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine scharfe Polemik gegen die Revisionisten und Reformisten in der deutschen und russichen Sozialdemokratie. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fasste er die Staatsauffassung von Marx und Engels in seiner Schrift ''Staat und Revolution'' (1917) zusammen: "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen 'Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. <ref> Lenin, W.I.: Staat und Revolution, in: in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Lenin Werke Bd. 25, Berlin/DDR 1974, S. 399. </ref> Der Staat ist demnach eine Macht, "die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben. Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt ‚nicht mehr unmittelbar zusammenfällt‘ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer ‚selbsttätigen bewaffneten Organisation‘. [...] Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?" <ref> ebd., S. 401.</ref><br />
Abschließend fasste Lenin seine Studien zur marxschen Staatsauffasung in der Bestimmung des bürgerlichen Staats als „Diktatur der Bourgeoisie“ zusammen: "Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist […]. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie." <ref> ebd., S. 425.</ref><br />
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Von dieser Analyse ausgehend formulierten die Klassiker die strategische Orientierung auf die "Zerschlagung des bürgerlichen Staats" und die Errichtung der "Diktatur des Proletariats". Siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]].<br />
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Für eine ausführlichere Darstellungen der Annahmen der Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus zum Staat, siehe: [[Grundannahmen Staat]]<br />
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===Der Staat als klassenneutrales Instrument===<br />
Vertreter dieser Auffassung gehen davon aus, dass der bürgerliche Staat und seine Organisationsapparate an sich klassenneutrale Instrumente seien. Das heißt sie werden unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen zwar von der Bourgeoisie benutzt, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen, die Arbeiterklasse niederzuhalten und die Bedingungen der Kapitalakkumulation möglichst günstig zu gestalten, könnten unter anderen Bedingungen (z.B. nach dem Wahlsieg einer Arbeiterpartei) jedoch genausogut im Interese des Proletariats in Bewegung gesetzt werden (z.B. um den Kapitalismus durch Sozialreformen allmählich in den Sozialismus zu überführen). Die Instrumente selbst, also die Staatsorganisationen vom Parlament über die Verwaltungs- bis hin zu den Repressionsorganen, verhalten sich dieser Auffassung nach also neutral zu den Zwecken ihrer Anwendung. Weder ihre konkrete Organisationsform noch das Personal, aus dem sie bestehen, tragen demnach Klassencharakter. Diese Auffassung steht im Widerspruch zu der Position, der bürgerliche Staat sei seiner Form und seinem Klasseninhalt nach "ideeller Gesamtkapitalist" und Ausdruck der "Diktatur der Bourgeoisie" (s.o.).<br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):'''<br />
Die klassischen Vertreter einer solchen Staatsauffassung waren die „Revisionisten“ in der deutschen Sozialdemokratie, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen und zentrale Annahmen des wissenschaftlichen Sozialismus zu "revidieren" begannen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Eduard Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. <br />
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Bernstein bestritt in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899) die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Aufhebung des bürgerlichen Staates und schlug stattdessen einen friedlichen und demokratischen Reformweg zum Sozialismus vor. Bernstein argumentiert, die bisherige Ausrichtung der Sozialdemokratie auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus sei durch die Realität überholt. Das kapitalistische System habe sich als weitgehend krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, ein „Zusammenbruch“ des Kapitalismus bzw. eine revolutionäre Situation sei nicht mehr zu erwarten. Die Aufgabe der SPD sei es nun, im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch „Sozialreformen“ Verbesserungen für die Arbeiterklasse und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards zwischen den Klassen durchzusetzen. Den Weg, um diese Ziele zu erreichen, sah Bernstein in der schrittweisen Ausdehnung des parlamentarischen Einflusses der Sozialdemokratie bis hin zur Übernahme der Regierung. Diese würde dann weitreichende Reformen im Sinne der Arbeiterklasse und des Sozialismus durchsetzen. Das entsprechende Credo des Reformismus lautete: „Der Weg ist alles, das Ziel ist nichts“.<br />
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Der klassische Reformismus setzt notwendig eine bestimmte Auffassung über den bürgerlichen Staat voraus. Wenn es möglich sein soll, den Kapitalismus allmählich durch Sozialreformen zu überwinden, so muss es auch möglich sein, dass die Arbeiterklasse diese Reformen im Staatsapparat gegen den Willen der Bourgeoisie durchsetzt oder diese zumindest zu Kompromissen zwingt – und zwar so weit, dass die Gesellschaft immer mehr sozialistische Züge annimmt und der Staat letztlich aufhört, bürgerlicher Staat zu sein und allmählich zu einem Instrument in den Händen der Arbeiterklasse wird. Dieses Instrument an sich muss also „klassenneutral“ sein und je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse sich entwickeln, kann es sowohl von der einen, als auch von der anderen Klasse kontrolliert und im eigenen Interesse eingesetzt werden. Der Staat steht in dieser rein instrumentalistischen Sichtweise der ihm zugrunde liegenden Produktionsweise also äußerlich gegenüber, er besitzt keine innere Verbindung zu ihr. Der Überbau scheint unabhängig von seiner ökonomischen Basis agieren zu können. Der bürgerliche Staat wird aus dieser Sichtweise nicht als spezifisches, den Klasseninteressen der Bourgeoisie entsprechend geformtes Werkzeug verstanden. Ergo kann das Proletariat dieses Werkzeug unverändert übernehmen, anstatt sich einen eigenen Apparat zu schaffen, der den spezifischen Erfordernissen und Klasseninteressen der Arbeitermacht entspricht.<br />
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'''Eurokommunismus:'''<br />
Ab den 1970er Jahren knüpften die sogenannten "Eurokommunisten" mit vielen ihrer Positionen an die theoretische Tradition des klassischen Revisionismus an, begründeten ihre Haltung aber damit, dass die Kräfteverhältnisse und somit auch der Charakter des bürgerlichen Staates sich nach 1945 grundlegend geändert hätten. Daher seien der „sowjetische Weg zum Sozialismus“ und die "Diktatur des Proletariats" als historischer Sonderfall überholt und Europa mittlerweile in eine Epoche der demokratischen Übergänge eingetreten. Sie vertraten die Einschätzung, die bürgerliche Demokratie sei nach dem Sieg über den Faschismus im Westen zu sehr gefestigt, als dass die Herrschenden gewaltsam gegen einen demokratischen Übergang zum Sozialismus vorgehen könnten. Die Hauptvertreter des Eurokommunismus waren die kommunistischen Parteien Frankreichs (PCF), Italiens (PCI) und Spaniens (PCE).<br />
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Die eurokommunistische Strategie des friedlichen, parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus ging mehr oder weniger offen davon aus, dass der Staat als ein „Feld im Klassenkampf" aufzufassen sei, auf dem sich zwar die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen widerspiegeln, das an sich aber klassenneutral sei. Durch Veränderungen der politischen Mehrheiten sollten der Staat und seine Institutionen durch die Kommunisten kontrolliert und im Sinne der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden. Die Regierung sollte ein Reformprogramm umsetzen, das die Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung Sozialismus entwickeln würde. Auch im Sozialismus sollte der bürgerlich-liberale Parlamentarismus als politische Herrschaftsform bruchlos beibehalten werden: „Die repräsentative Demokratie, kombiniert mit Formen der direkten Demokratie, kann ohne weiteres auch die Form des sozialistischen Systems sein.“<ref> Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen, Rom 1977, URL: https://www.zeit.de/1977/29/der-haeretiker-aus-asturien (letzter Zugriff: 21.12.2019).</ref> In Teilen der eurokommunistischen Strömung wurde sogar die Notwendigkeit der Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Länder in imperialistischen Staatenbündnissen wie der EG und der NATO offen verteidigt. Ausführlich dargelegt ist das Staatsverständnis der Eurokommunisten in Santiago Carrillos ''Eurokommunismus und Staat''<ref>Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.</ref>. <br />
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Ausführlicherer Artikel: [[Eurokommunistische Staatsauffassung]]<br />
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'''Andere Vertreter:'''<br />
Auch heute gibt es zahlreiche "linke" Vertreter dieser Auffassung. Die Annahme, der bürgerliche Staat sei ein grundsätzlich klassenneutrales Instrument, bildet die Voraussetzung jeder Strategie, die auf den Eintritt in die bürgerliche Regierung zum Zweck der Umsetzung von Reformen abzielt. Das gilt eindeutig für die deutsche ''Linkspartei'' und ihre europäischen Geschwisterorganisationen, allen voran die einflussreiche griechische ''SYRIZA''. Auch die "antimonopolistische Strategie" der DKP unterstellt letztlich eine Klassenneutralität des Staates der Monopole (s.u.). In unterschiedlichen Abstufungen wird diese Auffassung auch von den "bolivarischen Bewegungen" bzw. den Vertretern eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien etc. vertreten.<br />
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===Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole===<br />
Eine seit 1945 weit verbreitete Position geht davon aus, dass der bürgerliche Staat im Monopolkapitalismus nicht mehr das Interesse der gesamten herrschenden Klasse vertritt, sondern sich zum alleinigen Herrschaftsinstrument der Monopole entwickelt. Diese Vorstellung beruft sich häufig auf die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (s.o.) und ist eng verbunden mit den verschiedenen Varianten der [[Strategie der Übergänge]]. <br />
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'''Deutsche Kommunistische Partei (DKP):'''<br />
Die DKP vertritt seit ihrer Gründung eine Strategie der "antimonopolistischen Demokratie" (im folgenden: AMD). Diese wurde erstmals im Programm von 1978 explizit ausformuliert und beschlossen. Auch im Programm von 2006 bildet die AMD, von einigen kleineren Relativierungen abgesehen, noch immer den Kern der strategischen Vorstellungen der DKP. <br />
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Zu den wichtigsten Grundannahmen der AMD gehört, dass der bürgerliche Staat zu einem Instrument in den Händen der Monopole, also einer Handvoll Finanzoligarchen innerhalb der Bourgeoisie, geworden ist. Der Staat, so die These, setze deren Profitinteressen rigoros gegen alle „nicht-monopolistischen Schichten“, also nicht nur gegen die Arbeiterklasse und alle anderen Werktätigen, sondern auch gegen die „kleine und mittlere Bourgeoisie“ durch. Der bürgerliche Staat vernachlässigt aus dieser Sicht also gewissermaßen seine Aufgabe als „ideeller Gesamtkapitalist“ und verkörpert gegenüber der gesamten Gesellschaft (und einem Großteil der Bourgeoisie) nicht mehr das langfristige Gesamtinteresse aller Kapitalisten, sondern einseitig das Partikularinteresse des Monopolkapitals. <br />
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Im DKP-Programm von 2006 heißt es dazu: "Als Machtinstrument der Monopolbourgeoisie setzt er [der Staat] immer unverblümter eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durch. An die Stelle der sozialen Integration tritt die Konfrontation. Der bürgerliche Staat verliert tendenziell seine Fähigkeit zur sozialen und politischen Vermittlung, weil die Basis für die Organisierung stabilerer sozialer Kompromisse, die größere Teile der Gesellschaft einbeziehen, verloren geht. So wird die bürgerliche Demokratie ausgehöhlt und verliert ihren Inhalt. Bei Beibehaltung formaler Demokratie vollzieht sich der Übergang vom 'Sozialstaat' zum autoritären 'Sicherheitsstaat'." <ref> Programm der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Duisburg 2006, S. 12. </ref> <br />
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Damit wird zwar der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht geleugnet, aber eine neue strategische Bruchlinie zwischen den Monopolen und allen „nicht-monopolistischen“ Schichten aufgemacht, die aus dieser Sicht nun in Opposition zum "Staat der Monopole" geraten. Entlang dieser Linie soll sich ein „antimonopolistisches Bündnis“ formieren, das neben der Arbeiterklasse nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch bedeutende Teile der „nicht-monopolistischen“ Bourgeoisie umfassen soll (siehe dazu das Programm von 2006, S. 33). Dieses Bündnis hat zwar nicht den Sozialismus zum Ziel, wohl aber eine Zwischenetappe der „antimonopolistischen Übergänge“, in deren Rahmen die Kommunisten sich an der Regierungsmacht beteiligen und zunächst im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise eine politische „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ durchsetzen sollen.<br />
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Diese Vorstellung eines weitgehend bruchlosen Übergangs des Staatsapparats aus den Händen der einen in die Hände der anderen Klasse unterstellt eine instrumentalistische Sicht auf den Staat und behandelt diesen in letzter Konsequenz als ''klassenneutrales Werkzeug'' (s.o.). Zugespitzt formuliert: Der Klassencharakter des Staates scheint sich aus Sicht der Vertreter der antimonopolistischen Strategie nicht aus seiner Funktionsweise und seinem Wesen, sondern aus den politischen Kräfteverhältnissen zu ergeben. Ändert die Regierung ihren Klassencharakter von „monopolistisch“ zu „nicht-monopolistisch“, so ändert sich demzufolge auch der Klassencharakter des Staates. <br />
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Hier geht es zu einer längeren Version dieses Artikels: [http://%E2%80%9EAntimonopolistische_Demokratie%E2%80%9C_(DKP) Antimonopolistische Demokratie]<br />
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'''Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD):'''<br />
Zu den wichtigsten Alleinstellungsmerkmalen der Theorie und Programmatik der MLPD gehört der Begriff der „Übermonopole“ (siehe dazu den Entsprechendne Artikel [[Imperialismus_als_Weltsystem|"Imperialismus als Weltsystem"]] der AG Politische Ökonomie], der auch ihre Analyse des bürgerlichen Staats der Gegenwart wesentlich prägt: "Die hier ansässigen internationalen Übermonopole, die zum allein herrschenden internationalen Finanzkapital gehören, haben sich den Staat vollkommen untergeordnet, und die Organe des Monopolkapitals sind mit den Organen des Staatsapparats verschmolzen. Sie haben ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft, auch über andere Monopole und die nicht monopolisierten Kapitalisten, errichtet. Über die Organe der EU nehmen sie Einfluss auf andere europäische Staaten." (Programm der MLPD)<br />
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Die MLPD geht also davon aus, dass sich diese „Übermonopole“ den bürgerlichen Staat „vollkommen untergeordnet“ haben – aus dieser Formulierung kann geschlussfolgert werden, dass der Staat nicht mehr als „ideeller Gesamtkapitalist“ das Gesamtinteresse des Kapitals vertritt, sondern von der Fraktion der „Übermonopole“ bzw. des „allein herrschenden Finanzkapitals“ allen anderen Teilen der Bourgeoisie gegenüber als Herrschaftsinstrument benutzt wird. Zudem geht die MLPD davon aus, dass die „Organe des Monopolkapitals“, die im vorangegangenen Stadium des Kapitalismus scheinbar noch unabhängig vom und außerhalb des Staatsapparates existierten, heute vollständig mit diesem „verschmolzen“ sind. <br />
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Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Programmatik der MLPD findet sich hier: [https://kommunistische.org/diskussion/einschaetzung-der-programmatik-der-mlpd/ Philipp Kissel, Einschätzung der Programmatik der MLPD].<br />
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Die Positionen der MLPD zum bürgerlichen Staat entnehmen wir ihrem zuletzt 2016 überarbeiteten Parteiprogramm.<ref>https://www.mlpd.de/parteiprogramm</ref><br />
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===Staatsmonopolistischer Kapitalismus===<br />
Hier soll kurz dargestellt werden, wie die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus den klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt. In welchem Verhältnis stehen Staat und Monopole? Ist der Staat alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole oder auch "ideeller Gesamtkapitalist", also Ausdruck der Herrschaft der gesamten Bourgeoisie?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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Siehe hierzu den Dissens [[Monopole und Staat]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus.<br />
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===Der Staat als "echte Demokratie"===<br />
Die Position, der bürgerliche Parlamentarismus auf der ökonomischen Basis der kapitalistischen Produktionsweise sei eine "echte Demokratie" läuft letztlich auf die Position hinaus, die gesellschaftlichen Verhältnisse würden nicht von der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie, sondern von der politischen Mehrheit bestimmt. Die Frage des Klassencharakters der Staats wird also reduziert auf eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Je nach dem, ob die Bourgeoisie oder die Arbeiterklasse im demokratischen Prozess mehr Kontrolle über den Staatsapparat ausübt, verschiebt sich auch dessen Klassencharakter. Diese Auffassung setzt zugleich ein Verständnis des Staates als ''klassenneutrale Instrument'' voraus (siehe oben). <br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):''' <br />
Die Vorstellung einer fortschreitenden Demokratisierung des bürgerlichen Staats und einer damit einhergehenden Verwandlung seines Klassencharakters spielten eine zentrale Rolle im Denken des klassischen Revisionismus. Rosa Luxemburg polemisierte schon 1899 gegen Eduard Bernstein: „die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie [sei] eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie.“ <ref> Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), Zweiter Teil </ref> Bürgerliche Demokratie und Parlamentarismus waren für Bernstein nicht taktische Mittel im Klassenkampf, sondern tatsächlicher Ausdruck der Herrshaft durch das Volk bzw. die Mehrheit, also der Arbeiterklasse: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. […] Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“<ref>Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.154-156.</ref> Für die Strategie der Arbeiterbewegung heißt das: „die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.“<ref>Ebd., S. 154-156.</ref> Die Arbeiterbewegung soll sich also darauf beschränken, im legalen Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus für Reformen und schrittweise Verbesserungen zu kämpfen. Der bürgerliche Staat ist dabei nicht ihr Gegner, sondern ihr Werkzeug. Die taktische Herausforderung besteht demnach einzig darin, auf demokratischem Weg in die Position zu gelangen, dieses Werkzeug für die eigenen Zwecke nutzen zu können.<br />
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'''Position von SYRIZA:''' <br />
Die griechische "Linkspartei" SYRIZA argumentiert in ihrem Regierungsprogramm, „der Staat [sei] keine Festung, sondern ein Netzwerk, ein Verhältnis und eine strategische Arena für den politischen Kampf. Er verändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, im Gegenteil, seine notwendige Transformation hat konstante und kontinuierliche Kämpfe zur Voraussetzung, die Einbeziehung des Volkes, ständige Demokratisierung.“ (Quelle: S''YRIZAs Regierungsprogramm''<ref>Zitiert nach einem auf Englisch erschienenen Artikel der KKE, ins Deutsche Übersetzt. URL: https://inter.kke.gr/en/articles/Criticism-of-certain-contemporary-opportunist-views-on-the-state/ (9.1.2019)</ref>) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der bürgerliche Staat von SYRIZA nicht seinem Wesen nach als ein Organ der bürgerlichen Klassenherrschaft angesehen, sondern als eine Ansammlung von Institutionen, die im Interesse des Volkes „transformiert“ werden können. Auf Grundlage dieser Sichtweise wird argumentiert, dass der Charakter des bürgerlichen Staats durch die richtigen politischen Kräfteverhältnisse geformt oder gar "transformiert" werden kann, solange sich nur „linke Regierungen“ durchsetzen können. <br />
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'''Position der DKP:''' <br />
Die DKP bleibt in ihrer Einschätzung der bürgerlichen Demokratie widersprüchlich. Einerseits ist in ihrem Programm von 2006 zwar die Rede davon, dass sich durch die "Globalisierung" die "Tendenz zur Reaktion" verschärft, dass die Demokratie untergraben wird (siehe S. 12) und dass letztlich eine "revolutionäre Überwindung" (S. 28) des Kapitalismus nötig sei. Andererseits gehört es jedoch zu den Kernthesen ihrer "antimonopolistischen Startegie", dass noch auf dem Boden der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und innerhalb des institutionellen Rahmens des bürgerlichen Staats umfassende Reformen und sogar eine "antimonopolistisch-demokratische Umgestaltung" (S. 32) möglich seien: "Je mehr es dabei gelingt, Veränderungen im Sinne von Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, von demokratischer Kontrolle, von Entmilitarisierung und Demokratisierung in Staat und Gesellschaft zu erreichen, je größer der Einfluss der demokratischen und sozialistischen Kräfte überall dort ist, wo Meinungsbildung stattfindet, desto besser sind die Chancen im Kampf um die Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und für die Öffnung des Weges zum Sozialismus. [...] Es geht um die [...] demokratische Einflussnahme auf den staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus im nationalen Rahmen wie im Rahmen der Europäischen Union und anderer internationaler staatsmonopolistischer Institutionen". (S. 30) Diese Vorstellung läuft letztlich also darauf hinaus, die Kommunisten und „Demokraten“ könnten den ideellen Gesamtkapitalisten dem Einfluss der Klasseninteressen der Bourgeoisie entreißen und ihrem eigenen politischen Willen unterwerfen.<br />
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'''Andere Vertreter:''' Ebenfalls weit verbreitet sind Vorstellungen über den demokratischen Charakter des bürgerlichen Staats in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dort gehört der Begriff der „Mitbestimmung“ nicht umsonst zum ideologischen Kernrepertoire. Die Vorstellung, im Betrieb ließe sich zwischen Kapital und Arbeit auf Augenhöhe eine demokratische Mitbestimmung und dadurch ein Interessenausgleich verwirklichen, bildet das Herzstück der Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Ähnliche Sichtweisen werden heute außerdem in einer Reihe lateinamerikanischer Länder gepflegt. Verschiedene „fortschrittliche“ und „linke“ Regierungen versuchen unter dem Banner des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bzw. der „bolivarischen Revolution“ das bürgerliche Staatsystem durch Gesetzesreformen und Volksabstimmungen grundlegend zu veränden.<br />
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==="Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci)===<br />
Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, verfasste in den 1920er und 30er Jahren in faschistischer Gefangenschaft seine „Gefängnishefte“, ein umfangreiches theoretisches Werk, dessen einzelne Bestandteile Gramsci unter den Bedingungen seiner Haft leider nicht mehr zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen konnte. Zu den wichtigsten Aspekten dieses Werks gehören Gramscis Überlegungen zur besonderen Form der Herrschaft der Bourgeoisie in den entwickelten imperialistischen Ländern und die daraus abgeleiteten Weiterentwicklungen der marxistischen Staatstheorie.<br />
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In den Gefängnisheften bringt Gramsci den Staat und die Herrschaft der Bourgeoisie auf die kurze Formel: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang" (H. 6, §88., S. 783)<ref>Antonio Gramsci, Gefängnisgefte. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1991. Im Folgenden wird aus den Gefängnisheften nur noch in Klammern nach Heft Nr., Paragraph und Seitenzahl zitiert.</ref><br />
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Gramsci weitet den Staatsbegriff damit aus und entwickelt sein Konzept des "integralen Staates". Dieser umfasst einerseits die "politische Gesellschaft", womit alle explizit staatlichen Strukturen und Institutionen gemeint sind, also das Parlament, die Beamtenapparate, die Repressionsorgane, die staatlichen Bildungseinrichtungen etc. Andererseits betrachtet Gramsci aber auch die "Zivilgesellschaft" als Teil der bürgerlichen Staatlichkeit. Gemeint sind damit alle Strukturen außerhalb der Staatsapparate, über die die Bourgeoisie ihre Herrschaft absichert, also private Medien, Bildungsstätten, Institute, Stiftungen, Clubs, Thinktanks etc. Mit Blick auf den Sieg der Oktoberrevolution in Russland und die darauffolgenden Niederlagen der Revolutionsversuche in Westeuropa schrieb Gramsci: "Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand;" (H. 7, §16., S. 873-874) An anderer Stelle heißt es: "zumindest was die fortgeschrittenen Staaten angeht, wo die 'Zivilgesellschaft' eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften 'Durchbrüchen' des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg." (H. 13, §14, S. 1553-1554) Die Stabilität der bürgerlichen Herrschaft hängt demnach also wesentlich davon ab, inwieweit die Zivilgesellschaft herausgebildet und die "Hegemonie" der Bourgeoisie enwickelt ist. <br />
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Mit dem Begriff der Hegemonie versucht Gramsci der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass sich die Macht der Bourgeoisie nicht nur auf das Staatliche Gewaltmonopol und die Repressionsapparate stützt, sondern wesentlich über ideologische Integration und die Erzeugung von "Konsens" abgesichert wird. Hegemonie bezeichnet also die politisch-ideologische Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über eine andere. "Die 'normale' Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne daß der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt, sondern im Gegenteil sogar versucht wird, zu erreichen, daß der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint […]" (H. 13, §37, S. 1607-1613). Konsens bezeichnet hier einen Zustand, in dem die Beherrschten die Herrschaft zumindest passiv ertragen oder sogar aktiv die Sichtweise übernehmen, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse entsprächen auch ihren Interessen und seien die bestmöglichen. Gramsci schreibt, dass "eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. […] Die politische Führung wird zu einem Aspekt der Herrschaft, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Klassen zur Enthauptung derselben und zu ihrer Machtlosigkeit führt. Es kann und muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben." (H. 1, §44, S. 101-113) <br />
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Heute wird der Begriff der Hegemonie fast ausschließlich Gramsci zugeschrieben, dabei war er zu dessen Lebzeiten unter den Theoretikern der Kommunistischen Internationale weit verbreitet und wurde breit diskutiert. Wie Buci-Glucksmann bemerkt, war er "im gesamten Marxismus der Dritten Internationale überaus geläufig. Man findet ihn vor allem unter der Feder Lenins vor 1917, aber auch später. Man finet ihn ebenso oft bei Bela Kun, Varga, Stalin, und vor allem Bucharin, der ihn in einer Weise benutzte, die der Gramscis nahezustehen scheinen könnte". <ref>Buci-Glicksmann, Gramsci und der Staat, S. 17.</ref> <br />
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Die "führende Klasse" oder Klassenfraktion ist laut Gramsci in ihrem Ringen um Hegemonie also in der Regel darum bemührt, alle anderen Fraktionen ihrer Klasse und ihrer "verbündeten Klassen" in ihren "Block an der Macht" zu integrieren. Das gelingt nur, indem sie mit diesen anderen Fraktionen ein Komprimissprogramm aushandelt, das bestmöglich das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse zusammenfasst und deren innere Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Der Ort, an dem diese Kompromisse ausgehandelt und schließlich in politische Praxis übersetzt werden, ist der bürgerliche Staat selbst. Gegenüber den "feindlichen Klassen" (also dem Proletariat und den anderen Werktätigen) tritt die Bourgeoisie als "herrschend" auf, sie übt ihre Hegemonie einerseits durch integration ihrer ideologischen Führer und andererseits durch materielle Zugeständnisse aus: "Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, daß sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, daß also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, daß solche Opfer und ein solcher Kompromiß nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt." (H. 13, §18, S. 1565-1573) Gramsci beschreibt in dieser Formulierung den grundsätzlichen Klassencharakter des Staates. Die Kompromisse können nie "das Wesentliche" betreffen - also die kapitalistische Produktionsweise - sondern sich nur in deren Rahmen Bewegen. <br />
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Gramscis Staatstheorie knüpft eindeutig an die Auffassung des Staats als "ideeller Gesamtkapitalist" (s.o.) an, indem sie einerseits die Integration der gesamten herrschenden Klasse in einem "historischen Block" betont und andererseits die zumindest passive Einbindung der Beherrschten im Rahmen der Hegemonie betont. Mit einer Staatsauffassung, die den bürgerlichen Staat im Monopolkapitalismus als "alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole" (s.o.) versteht, ist Gramscis Ansatz kaum zu vereinbaren. <br />
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Mit Blick auf den Staat schreibt Gramsci außerdem, dieser sei "das Instrument zur Anpassung der Zivilgesellschaft an die ökonomische Struktur". (H. 10.II, §15, S. 1267) Dabei spielen Medien und andere ideologische Apparate eine entscheidende Rolle: "Was 'öffentliche Meinung' genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der 'Zivilgesellschaft' und der 'politischen Gesellschaft', zwischen dem Konsens und der Gewalt. Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft. […] die öffentliche Meinung, wie sie heute Verstanden wird, ist am Vorabend des Untergangs der absolutistischen Staaten entstanden, das heißt in der Zeit des Kampfes der neuen bürgerlichen Klasse um die politische Hegemonie und die Erlangung der Macht. […] [Es entbrennt ein] Kampf ums Monopol der Organe der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, Parlament". (H. 7, §83, S. 916-917)<br />
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Verliert die herrschende Klasse ihre Hegemonie so kommt es zur "Hegemonie-" bzw. "Autoritätskrise": "Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr 'führend', sondern einzig 'herrschend' ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die große Masse sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann". (H. 3, §34, S. 354-355) Der Verlust der Hegemonie darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem automatischen Verlust der Macht, schließlich verfügt die herrschende Klasse auch bei schwindendem Konsens noch immer über die Mittel des Zwangs. <br />
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Zu den strategischen Schlussfolgerungen, die Gramsci aus seiner Staatstheorie ableitete, siehe den Dissens-Artikel zu [[Staat und Revolution]] und dort den Abschnitt "Bewegungs- und Stellungskrieg". <br />
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Einige offene Fragen zu Gramsci und seiner Staatstheorie werden von unserer AG tiefergehend behandelt werden: Handelt es sich dabei um einen wegweisenden Beitrag zur marxistischen Staatstheorie im Zeitalter des Imperialismus und des entwickelten bürgerlichen Staats, an den die Kommunisten anknüpfen und den sie weiterentwickeln müssen? Oder enthält Gramscis Theorie bereits wesentliche revisionistische Abweichungen, die es den verschiedenen opportunistischen Strömungen, die sich heute auf ihn berufen, leicht machten, seine Theorie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?<br />
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==="Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas)===<br />
Nicos Poulantzas war ein griechischer Theoretiker, der in den 1960er und 70er Jahren eine Reihe an marxistischen Studien verfasste. Er sympathisierte nach 1968 mit der eurokommunistischen griechischen kommunistischen Partei des Inlands (KKE-Inland) und stand – in Frankreich lebend - in kritischer Distanz zur Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). In seinen klassen- und staatstheoretischen Schriften ist der Einfluss u.a. von Louis Althussers Strukturalismus sowie [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #"Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci) | Antonio Gramscis Hegemonietheorie]] sichtbar. In der marxistischen Debatte um den Staat hat Poulantzas tiefe Spuren hinterlassen, was primär zurückgeführt werden kann auf seine Konzeption des Staates als „Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“. Historisch bedeutsam war dabei zunächst die Auseinandersetzung mit Ralph Miliband; im deutschsprachigen Raum wurde seine Theorie u.a. über Joachim Hirsch und Alex Demirovic wieder in die Diskussion eingebracht.<br />
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Poulantzas formuliert in der Einleitung zur „Staatstheorie“ den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Es ist nicht der Klassencharakter des Staates, der zur Debatte steht: „Jeder Staat ist ein Klassenstaat; jede politische Herrschaft ist Klassendiktatur; der kapitalistische Staat ist ein Staat der Bourgeoisie; der kapitalistische Staat im Allgemeinen und jeder kapitalistische Staat im Besonderen sind Diktaturen der Bourgeoisie“ (Staatstheorie S. 155), all dies sind für ihn „Banalitäten“ - zwar richtig, aber nicht weiter ausführenswert. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, vielmehr stellt es sich hier neu: „[W]arum greift die Bourgeoisie in ihrer Herrschaft auf diesen nationalen Volksstaat zurück, diesen modernen Repräsentativ-Staat mit seinen spezifischen Institutionen, und nicht auf einen anderen? Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich genau diesen Staat aussuchen würden, wenn sie den Staat komplett selbst und nach ihrem Geschmack aufbauen würden.“ (Staatstheorie, S. 40). Eine verwandte Frage hatte bereits der sowjetische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis knapp 50 Jahre, vorher gestellt: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“1 Poulantzas gibt in der Einleitung auch eine vorläufige, knappe Antwort auf die von ihm formulierte Frage: „Der Staat stellt ein materielles Gerüst dar, das in keiner Weise auf die politische Herrschaft reduziert werden kann. Der Staatsapparat, dieses besondere und furchterregende Etwas, erschöpft sich nicht in der Staatsmacht. [...] Wenn der Staat nicht einfach ein vollständiges Produkt der herrschenden Klassen ist, so haben sie sich seiner auch nicht einfach bemächtigt: Die Macht des Staates (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) hat in dieser Materialität ihre Spuren hinterlassen. Die Handlungen des Staates reduzieren sich nicht auf die politische Herrschaft, sie sind jedoch konstitutiv von ihr gezeichnet.“ (Staatstheorie, S. 42)<br />
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Eine wichtige Aufgabe des Staates sieht Poulantzas in der Repräsentation und Organisation der herrschenden und der Desorganisation der beherrschten Klassen. Die Bourgeoisie ist keine widerspruchsfreie Einheit. Sie verfolgt zwar zwangsläufig als Klasse einheitlich das Ziel der Kapitalverwertung, dieses Ziel bringt sie aber auch in direkte Konkurrenz untereinander, weshalb, wie Engels sagt, der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert. Poulantzas zufolge ist die Kapitalistenklasse in Klassenfraktionen gespalten, die unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Interessen verfolgen. Diese Klassenfraktionen formieren sich unter der Hegemonie einer Fraktion zu einem „Block an der Macht“, in welchen auch andere herrschende Klassen miteinbezogen werden. Die Hegemonie einer Fraktion bedeutet dabei, dass diese die äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Sinne optimieren kann; und diese Hegemonie erst ermöglicht die Einheit dieses Blocks gegenüber den beherrschten Klassen. Poulantzas betont, dass nicht nur Teile der Bourgeoisie (etwa das Monopolkapital) den Machtblock stemmen: „Diese bürgerlichen Fraktionen sind in ihrer Gesamtheit, obwohl in unterschiedlichem Maße, auf dem Terrain der politischen Herrschaft angesiedelt, und gehören somit immer zum Block an der Macht“ (Staatstheorie S. 159). Dieser Machtblock ist aber konfliktdurchzogen, er stellt ein umkämpftes, instabiles Kompromissgleichgewicht dar: „Der Machtblock stellt eine von inneren Widersprüchen gekennzeichnete Einheit von politisch herrschenden Klassen und Fraktionen unter dem Schutz der hegemonialen Fraktion dar. Der Klassenkampf, die Interessenrivalitäten zwischen den gesellschaftlichen Kräften sind darin ständig gegenwärtig, wobei diese Interessen ihren spezifischen Antagonismus bewahren“ (PMGK, S. 239). In diesem Sinne ist die konkrete Politik des Staates und die Hegemonie im Machtblock immer umkämpft, und dieser Kampf wird im Staat, in seinen ideologischen (Medien, Think Tanks, …) aber auch repressiven Apparaten (Polizei, Armee, …) ausgetragen.<br />
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Um die „Rolle der Vereinheitlichung und Organisierung der Bourgeoisie und des Blocks an der Macht“ (Staatstheorie, S. 158) zu erfüllen, muss der Staat laut Poulantzas eine „relative Autonomie“ gegenüber den einzelnen Bestandteilen des Blocks bewahren: „Unter relativer Autonomie dieses Staatstyps verstehe ich […] das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Feld des Klassenkampfes, insbesondere seine relative Autonomie gegenüber den Klassen oder Fraktionen des Machtblocks und in erweiterter Form auch gegenüber seinen Verbündeten oder Stützen […] Ich hoffe, damit klar genug die Distanz auszudrücken, die diese Auffassung des Staats von einer simplifizierten und vulgarisierten Auffassung des Staats trennt, die in ihm das Werkzeug oder Instrument der herrschenden Klasse sieht“ (PMGK S. 256).<br />
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Der Staat als Instrument (siehe auch die Abschnitte zum Staat als [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als klassenneutrales Instrument | klassenneutrales Instrument]] und als [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole | alleiniges Instrument der Monopole]]) und der [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt) | Staat als Subjekt]]: dies beides sind aus Poulantzas‘ Sicht falsche Staatsverständnisse, die er umschiffen will mit dem Verständnis des Staates als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses. Der Staat als Instrument/Werkzeug/Sache unterstellt eine Passivität oder Neutralität des Staates. Dieser wird als ein Apparat verstanden, der zur Ausübung der politischen Macht von der herrschenden Klasse oder auch einer Klassenfraktion verwendet wird, der aber eben auch so wie er ist übernommen werden kann, um gegen die herrschende Klasse gewendet zu werden. Eine Autonomie des Staates ist ausgeschlossen. Eine solche instrumentalistische Konzeption des Staates sieht Poulantzas in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der eurokommunistischen PCF in den 1970ern: „An dieser Konzeption kritisierte ich vor allem, dass sie zu der Vorstellung des mit dem Monopolkapital »fusionierten« Staates führt, einem Staat der im Dienste der Monopole steht und keinerlei Autonomie besitzt“ (Staatstheorie S. 160). Der Staat als Subjekt wiederum lässt ihn vollständig autonom werden, er steht als Akteur außerhalb der Klassen. Er agiert, koordiniert, verwaltet, reguliert selbstständig. Seine Autonomie bezieht sich „auf die angebliche Macht des Staates und auf die Träger dieser Macht und der staatlichen Rationalität: auf die Bürokratie und speziell auf die politische Elite“ (Staatstheorie S. 160). <br />
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Poulantzas schlägt vor, die „Sackgassen des ewigen Pseudodilemmas der Diskussion zwischen der Konzeption des Staates als einer Sache bzw. einem Instrument und der Konzeption des Staates als einem Subjekt“ (Staatstheorie S. 159f) zu vermeiden, indem der Staat über den Klassenkampf selbst verstanden wird, genauer: „ … indem ich sage, dass der Staat […] nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden darf, sondern, wie auch das »Kapital«, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ Der Staat spiegelt also nicht einfach ein gesellschaftliches Verhältnis wider, er selber konstituiert dieses Verhältnis. In der Vielzahl seiner Institutionen findet die ständige Austarierung zwischen Klassen und Klassenfraktionen statt. Diese Austarierung entspricht aber nicht direkt dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, beispielsweise sind die beherrschten Klassen nicht in den Staatsapparaten anwesend: „Sie organisieren und vereinheitlichen den Block an der Macht, indem sie die beherrschten Klassen ständig desorganisieren und spalten. Sie polarisieren sie gegenüber dem Block an der Macht und schließen ihre politischen Organisationen aus.“ (Staatstheorie S. 171)<br />
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Bei Poulantzas bleibt unklar, wie der Begriff der Verdichtung genau zu verstehen ist, wohingegen er ausführt, was es mit der Materialität hier auf sich hat. Mit Blick auf die Staatstheorie in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der PCF wendet er ein, dass diese „die eigenständige Materialität des Staates übersieht. Diese Materialität eines Staates, der als Werkzeug oder Instrument angesehen wird, hat keine eigene politische Bedeutung. Diese Bedeutung wird auf die Staatsmacht beschränkt, d.h. auf die Klasse, die dieses Instrument manipuliert. Das würde im Extremfall implizieren, dass das gleiche Instrument (das verschiedenen, allerdings zweitrangigen Modifikationen unterliegt) durch eine Veränderung der Staatsmacht, also durch die Macht der Arbeiterklasse, für den Übergang zum Sozialismus anders eingesetzt werden könnte“ (Staatstheorie S. 160). Dieses Defizit meint er zu beheben: „Das materielle Gerüst seiner [des Staates] Institutionen wird durch die Beziehung des Staates zu den Produktionsverhältnissen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung konstituiert, die sich in der kapitalistischen Trennung des Staates von diesen Verhältnissen konzentriert. […] Der Staat hat eine eigene Dichte und Widerstandskraft und reduziert sich nicht auf ein Kräfteverhältnis. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Klassen hat sicherlich immer Auswirkungen innerhalb des Staates, sie überträgt sich jedoch nicht direkt und unmittelbar. Sie passt sich der Materialität der verschiedenen Apparate an und kristallisiert sich im Staat nur in gebrochener und differenzierter, den Apparaten entsprechender Form. Eine Veränderung der Staatsmacht allein transformiert die Materialität des Staates nicht“ (Staatstheorie S. 161f). Als Beispiele für die Materialität führt Poulantzas u.a. die Organisierung kapitalistischen Wissens an: „Die geistige Arbeit (Wissen/Macht) ist in den Apparaten konzentriert und steht im Gegensatz zur tendenziell in den Volksmassen konzentrierten manuellen Arbeit, die von den organisatorischen Funktionen ausgeschlossen und getrennt sind“ (Staatstheorie S. 83).<br />
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==="Akkumulationsregime" (Regulationsschule)===<br />
Hier sollen die offenen Fragen und Aufgaben ausformuliert werden, die sich aus der Staatstheorie der "Regulationsschule" und deren Theorie der "Akkumulationsregime" ergeben. Handelt es sich bei dieser Theorie um einen wesentlichen Beitrag zur marxistischen Staatstheorie, die eine vertiefende Analyse der verschiedenen Formen der bürgerlichen Herrschaft seit der Entstehung des Kapitalismus erlaubt (z.B. durch die Unterscheidung eines "keynesianischen" und eines "neoliberalen Akkumulationsregimes")? Wie wird aus Perspektive der der Regulationsschule der Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt? Enthält diese Theorietradition wesentliche Abweichungen von den Grundannahmen der marxistischen Staatstheorie? Welche Verbinndung gibt es zu den Theorien von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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'''Vertreter:''' Zu den prominentesten Vertretern der Regulationsschule gehören heute die Staatstheoretiker Joachim Hirsch und Bob Jessop.<br />
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===Staat = Repressionsapparate / "neue Demokratie" (Maoismus)===<br />
Innerhalb des maoistischen Spektrums lässt sich als tendenzielle Gemeinsamkeit in der Staatsfrage ein besonderer Fokus auf die „bewaffneten Apparate“ des bürgerlichen Staats und eine weitgehende Vernachlässigung der Analyse anderer, nicht unmittelbar gewaltförmiger Herrschaftstechniken der Bourgeoisie (Integrationsideologien, ökonomischer Zwang, etc.) feststellen. Dies steht im engen Zusammenhang mit der Strategie des "Volkskriegs". Dieser Strategie liegt eine Perspektive auf den Staat zugrunde, die den Kampf um die politische Macht weitgehend auf den unmittelbaren militärischen Kampf und die Zerschlagung der bewaffneten Staatsapparate zuspitzt. Die maoistische Theorie der "neuen Demokratie" enthält außerdem die These einer möglichen dritten Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats.<br />
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Von einer einheitlichen und systematisch ausgearbeiteten "maoistischen Staatstheorie" kann genauso wenig die Rede sein, wie von einer homogenen maoistischen Strömung innerhalb des Marxismus. In den klassischen Texten von Mao Tse-Tung findet sich vor allem keine eigene, systematisch ausgearbeitete Analyse des bürgerlichen Staats im Imperialismus. Die chinesischen Revolutionäre kämpften nicht gegen einen entwickelten bürgerlichen Staat, wie er sich in den imperialistischen Zentren herausgebildet hatte, sondern gegen einen agrarischen Feudalstaat mit kolonialen Elementen. Der Großteil von Maos Äußerungen über den Staat sind in diesem Kontext zu sehen, so zum Beispiel die oft zitierte Losung: "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 74.</ref> An anderer Stelle führt Mao diese Zuspitzung auf die Frage der militärischen Macht und der bewaffneten Apparate weiter aus und verallgemeinert sie als die aus seiner Sicht wichtigste Kernaussage der marxistischen Lehre vom Staat: "Vom Standpunkt der marxistischen Lehre vom Staat ist die Armee die Hauptkomponente der Staatsmacht. Wer die Staatsmacht ergreifen und behalten will, der muß eine starke Armee haben. Manche Leute bezeichnen uns höhnisch als Anhänger der ‚Theorie von der Allmacht des Krieges‘; jawohl, wir sind Anhänger der Theorie von der Allmacht des revolutionären Krieges, und das ist nicht schlecht, sondern gut, das ist marxistisch. [...] Die Erfahrungen des Klassenkampfes im Zeitalter des Imperialismus lehren uns: Die Arbeiterklasse und die übrigen Werktätigen Massen können nur mit der Macht der Gewehre die bewaffneten Bourgeois und Grundherren besiegen; in diesem Sinne können wir sagen, daß die ganze Welt nur mit Hilfe der Gewehre umgestaltet werden kann."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 75-76.</ref><br />
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In genau diesem Sinne wird die Staatsfrage auch in Teilen der zeitgenössischen maoistischen Strömungen behandelt. Viele zeitgenössische Mao-Gruppen beziehen sich dabei auf die Traditionslinie der peruanischen Guerillabewegung „Leuchtender Pfad“ bzw. der KP Perus (Vollständiger Name: ''Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui'') und ihres politischen und ideologischen Anführers „Presidente Gonzalo“ (Abiamel Guzmán). (''Anmerkung: Alle Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen sich auf die Broschüre „Einheitsbasis der Kommunistischen Partei Perus – angenommen auf dem I. Parteitag 1988“<ref>http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/gonzalo/1439-die-einheitsbasis-der-kommunistischen-partei-perus-auf-deutsch</ref>, die leider zahlreiche Übersetzungsfehler enthält.'')<br />
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Der Staat erscheint auch hier vor allem als bewaffneter Apparat, der militärisch bekämpft und zerschlagen werden muss:<br />
"die revolutionäre Gewalt ist ausnahmslos ein universelles Gesetz; die Revolution ist die gewaltsame Ersetzung einer Klasse durch eine andere. Er [Mao Tse-Tung] legte seine große These fest: ‚Die Macht kommt aus den Gewehrläufen!‘" (Über den Marxismus-Leninismus-Maoismus, S. 7) "[der] Volkskrieg, der durch eine revolutionäre Armee neuen Typs, unter der absoluten Führung der Partei, Stück für Stück die alte Macht zerstört, hauptsächlich seine bewaffneten und repressiven Kräfte." (Programm und Statuten der KP Perus, S. 16-17.)<br />
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Unter dem Begriff der „neue demokratische Revolution“ vertreten die Maoisten der KP Perus ein spezifisches Etappenmodell, das die Stufen der Revolution festlegt, die die unterdrückten Länder auf dem Weg zum Sozialismus durchlaufen müssen. Der Klasseninhalt der Revolution und der jeweiligen Staatsformen, die diese hervorbringen, ändert sich jedoch je nach Entwicklungsstand des jeweiligen Landes: "Um unser Endziel, den Kommunismus, zu erreichen, müssen wir Marxisten-Leninisten-Maoisten in Perspektive drei Typen von Revolutionen durchführen: 1) Die demokratische Revolution, das ist die bürgerliche Revolution neuen Typs in den rückständigen Ländern, unter der Führung des Proletariats, in deren Verlauf eine gemeinsame Diktatur des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und unter bestimmten Bedingungen der Mittelbourgeoisie unter der Führung des Proletariats errichtet wird; 2) Die sozialistische Revolution in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern, die die Diktatur des Proletariats errichtet; 3) Kulturrevolutionen, sie werden gemacht um die Revolution unter der Diktatur des Proletariats fortzusetzen, um jede Generierung des Kapitalismus zu unterwerfen und zu eliminieren und auch mit den Waffen gegen jedes streben nach Restauration des Kapitalismus zu kämpfen" (Allgemeine politische Linie, S. 19)<br />
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Mit der Theorie der „neuen demokratischen Revolution“ sind spezifische staatstheoretische Grundannahmen verbunden. Die „Neuen Demokratie“ gilt aus maoistischer Sicht als dritte Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats - ihr Klassencharakter ist wesentlich durch einen Klassenkompromiss bzw. ein Klassenbündnis bestimmt: "Die Neue Demokratie. In erster Stelle ist es eine Entwicklung der marxistischen Staatstheorie mit der Festlegung der drei Typen der Diktatur: 1. die Diktatur der Bourgeoisie, in den alten bürgerlichen Demokratien wie in den Vereinigten Staaten, dazu zählen auch die Diktaturen, die in unterdrückten Nationen, wie den lateinamerikanischen existieren, 2. die Diktatur des Proletariats wie in der Sowjetunion oder in China vor der Usurpation der Macht durch die Revisionisten und 3. die Neue Demokratie als gemeinsame Diktatur, die auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern basiert, geführt vom Proletariat mit der Kommunistischen Partei an der Spitze […]." (Über den Marxismus-Leninismus, S. 8) Im Anschluss an Mao und Gonzalo geht die KP Perus davon aus, dass die "Staatssysteme der Welt" auf „drei Grundtypen reduziert werden können, laut ihres Klassencharakters: Republik unter der Diktatur der Bourgeoisie, die auch die Staaten der alten Demokratie ausmachen und die Republik der gemeinsamen Diktatur der Grundbesitzer und Großbourgeoisie; Republiken unter der Diktatur des Proletariats; und Republik unter der gemeinsamen Diktatur der revolutionären Klassen […]." (Allgemeine politische Linie, S. 33.)<br />
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Andere Grundsätzlichere Fragen zum Thema Maoismus, wie die Strategie des „langfristigen Volkskriegs“, die Etappe der "neuen demokratischen Revolution" oder die Theorie des „Zweilinienkampfs“ werden perspektivisch durch die [[AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei]] bearbeitet. Fragen zur Polemik zwischen der Sowjetunion und China über die „friedliche Koexistenz“, die „Kulturrevolution“ und die maoistische Position, die Sowjetunion sei „sozialimperialistisch“ gewesen, gehören zum Arbeitsbereich der [[AG Sozialismus]].<br />
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Eine längere Version dieses Artikels (befindet sich noch in Bearbeitung) findet ihr hier: '''[[Die Staatsfrage im Maoismus]]'''<br />
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Vertreten werden solche oder ähnliche Positionen in Deutschland zum Beispiel von der Sozialistischen Linken (SoL) oder dem mittlerweile aufgelösten Jugendwiderstand (JW).<br />
===Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt)===<br />
Der ''Gegenstandpunkt'' (GSP, früher ''Marxistische Gruppe'') vertritt eine eigene Staatstheorie, die davon ausgeht, der bürgerliche Staat könne aus den abstrakten Kategorien der politischen Ökonomie "abgeleitet" werden. Den Ausgangspunkt dieser Ableitung bildet die einfache Warenzirkulation, in welcher die Warenbesitzer sich wechselseitig als "freie" und "gleiche" Privateigentümer anerkennen. Die Autoren des GSP sehen drei gemeinsame Interessen bei allen Privateigentümern: Die Erhaltung der Revenue, eine möglichst hohe Revenue und den kontinuierliche Fluss der Revenue. Daraus schlussfolgern sie, dass Schutz und Sicherung des Privateigentums, die Sicherung des Wirtschaftswachstums und ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft dem Gesamtinteresse aller Privateigentümer entsprechen, wozu als viertes das Interesse an gleichen Konkurrenzvoraussetzungen hinzutritt. Weil die Privateigentümer aber in der Verfolgung ihrer besonderen Interessen nicht die allgemeinen Interessen durchsetzen können, bedarf es des Staates: "Das besondere Dasein des Staates neben und außer der Gesellschaft der konkurrierenden Privaten – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit – ist das Resultat dieses Widerspruchs zwischen besonderem und allgemeinem Interesse in seinen verschiedenen Existenzweisen. Der Staat verkörpert die Loslösung der allgemeinen Interessen aus der Sphäre der Privaten und ihre Verwaltung in der Sphäre des Staates. Mit der Besonderung des Staates werden die allgemeinen Interessen zu seinen besonderen, deren Verwaltung allein ihm obliegt. <ref> von Flatow, Sybille / Huisken, Freerk: Zum Problem der Ableitung des bürgerlichen Staates, in: Prokla, 7 (1973), S. 121 </ref><br />
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Fertig ausformuliert und in den Reihen des GSP kanonisiert wurde diese "Staatsableitung" von Karl Held in ''Der bürgerliche Staat''. In Helds Analyse wird aus der „Besonderung des Staates“ letztendlich der „Staat als Subjekt“: "Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit und Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert.<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Staat hält hier nicht nur die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Reproduktion aufrecht, er wird zum eigenständigen Subjekt mit eigenen Interessen: "Der souveräne Staat ist eine von den Bürgern getrennte, selbständige Instanz, die mit keinem besonderen Interesse identisch ist und gerade und nur deswegen von allen anerkannte Gewalt ist, weil er sein Interesse, das Allgemeinwohl, gegen die Privatsubjekte durchsetzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref> "In der Unterordnung aller Aufgaben, um deren Erfüllung willen er sich als politisches Subjekt der Ökonomie betätigt, unter das Kriterium des wirtschaftlichen Wachstums, in der Relativierung aller Funktionen entsprechend dieser Zielsetzung der Wirtschaftspolitik fällt der Grund des bürgerlichen Staates – die freie Konkurrenz – unmittelbar zusammen mit seinem Zweck: er ist bewußter Agent des Inhalts der Konkurrenz, die bekanntlich nicht die Individuen, sondern das Kapital in Freiheit setzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
<br />
Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates besteht daher beim GSP auch zuallererst darin, dass er nicht im Interesse der einen Klasse eine andere, sondern alle Individuen gleichermaßen unterwirft: "Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, daß er Klassenstaat ist: Durch die gleiche Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der Nutzen aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben." <ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat, URL: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat (29.12.2018) </ref><br />
<br />
Der Staat wird dadurch also wesentlich (und nicht nur oberflächlich) zu einem (klassen)neutralen Subjekt erklärt, welches die äußeren Bedingungen der Konkurrenz organisiert und diese Bedingungen den Warenbesitzern unterschiedslos aufzwingt. <br />
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'''Vertreter:''' Neben dem ''Gegenstandpunkt'', dessen Aktivitäten sich fast auschließlich auf das akademische Milieu konzentrieren, werden diese Positionen auch von vielen studentischen Jugendgruppen in der "linksradikalen" und Antifa-Szene vertreten. Dies hat häufig damit zu tun, dass Leute aus der Szene ihre eigene theoretische Bildung über Lesekreise und Seminare des Gegenstandpunkt erwerben. Besonders in Teilen der ''Sozialistischen Jugend - Die Falken'' lässt sich ein starker ideologischer Einfluss des GSP feststellen, das gleiche Phänomen taucht aber auch immer wieder in Gewerkschaftsjugenden oder ''solid SDS''-Gruppen auf. Besonders stark ist zudem die Überschneidung zu "antinationalen" Gruppen, wie etwa bei der Dortmunder ''Gruppe K''.<br />
<br />
Einen Text zur ausführlicheren Einbettung in den Kontext der "Staatsableitungsdebatte" findet ihr hier: [[Der Staat als Subjekt (Staatsableitungsdebatte)]]<br />
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Einen Hintergrundartikel zum Gegenstandpunkt hier: [https://kommunistische.org/diskussion/standpunkt-gegen-den-marxismus/ Standpunkt gegen den Marxismus (Thanasis Spanidis)]<br />
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===Anarchistische Staatskritik===<br />
Der "Anarchismus" (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) umfasst ein sehr diffuses und heterogenes Spektrum, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Dennoch lassen sich grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Anarchisten vertreten eine politische Haltung, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbstbestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammenschließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. Im Mittelpunkt stehen die Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, und Selbstverwirklichung der Individuen im Rahmen der kollektiven Selbstverwaltung („Autonomie“) möglichst kleiner Organisationseinheiten. Im Anarchismus fließen die Traditionen des bürgerlichen Liberalismus (individuelle Freiheit) und der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen (Kollektivität und Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Heute wird häufig das Adjektiv "libertär" (deutsch: freiheitlich) als Synonym für „anarchistisch“ benutzt.<br />
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An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich aus Sicht der Anarchisten auch schon die Bewegung selbst messen lassen, die für die „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Position so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren, geschweige denn nach der siegreichen Revolution einen eigenen Staat zur Niederhaltung der Unterdrücker und zum Aufbau und zur Verteidigung der Revolution schaffen darf. In Abgrenzung zu solchen individual-anarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen.<br />
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Die anarchistische Staatskritik richtet sich nicht hauptsächlich gegen den bürgerlichen Staat als Klassenstaat der Bourgeoise, sondern lehnt jede Form der Macht, der Autorität und der Staatlichkeit überhaupt als Grundübel der Gesellschaft ab. Der Anarchismus vertritt also in letzter Konsequenz einen klassenneutralen Machtbegriff – er lehnt die Macht nicht als Klassenmacht der Ausbeuter ab, sondern als abstraktes Ding an sich, das aus der Welt geschafft werden soll. <br />
<br />
'''Marx und Engels vs. Bakunin:''' Die erste ausführliche theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. <br />
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Engels fasste die Kritik an der Staatsauffassung Michael Bakunins und der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen: "Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. [...]<br />
Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll,[...] so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität <nowiki>=</nowiki> Staat <nowiki>=</nowiki> absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!" <ref>Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33;Dietz-Verlag; S. 388-389.</ref><br />
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Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der politische Ausdruck dieser Widersprüche ist nicht die Klassenherrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter und alle anderen Werktätigen, sondern die Macht und Autorität des Staates überhaupt. Diese Auffassung hat weitreichende taktische und strategische Konsequenzen (siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]]).<br />
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'''Heutige Vertreter:''' Der Anarchismus in seiner klassischen Form, also als politische Ideologie und Bewegung mit realer Verankerung in der Arbeiterbewegung (wie ihn Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder die spanischen Anarchosyndikalisten vertraten) ist heute kaum mehr präsent. Vulgarisierte Formen des Anarchismus sind dagegen in der "autonomen" Szene und linken Subkulturen nach wie vor sehr weit verbreitet. Neben zahlreichen Splittergruppen, die in der BRD heute ein gemeinsames, hauptsächlich kleinbürgerlich geprägtes Milieu bilden und von der Arbeiterbewegung meist isoliert sind, bildet die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) eine gewisse Ausnahme. Diese Organisation versucht im Rahmen einer kleinen anarchistischen Richtungsgewerkschaft außerhalb der DGB-Gewerkschaften Klassenkämpfe und Streiks zu organisieren.<br />
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Verschiedene "anarchokommunistische" Gruppen und Zusammenschlüsse in Deutschland versuchen Aspekte des Marxismus (gewerkschaftliche Organisation, Klassenkampf, Vergesellschaftung der Produktionsmittel) mit Standpunkten des Anarchismus (Ablehnung von Hierarchien, zentralistischer Organisationsformen und der Diktatur des Proletariats) zu vereinen. Seit Dezember 2018 existiert mit der Initiative [https://www.dieplattform.org/wir/ "die Plattform"] z.B. ein Versuch, einen bundesweiten "plattformistischen" anarchakommunistischen Organisationszusammenhang aufzubauen und im Rahmen einer eigenen Schriftenreihe eine theoretische Debatte anzustoßen.<br />
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Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxistismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff. Die Rojava-Solidarität vereint heute ein politisches Spektrum, dass von der MLPD über die verschiedenen roten Gruppen, die iL, die Linkspartei und bis zu den antinationalen und antideutschen Zusammenhängen reicht.<br />
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==Bezug zu unseren Grundannahmen==<br />
==Wie wollen wir den Dissens klären?==<br />
==Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?==</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Der_Klassencharakter_des_b%C3%BCrgerlichen_Staats&diff=6897Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats2019-12-21T14:06:09Z<p>Dio: /* Der Staat als klassenneutrales Instrument */</p>
<hr />
<div>Zurück zur [[AG Formen bürgerlicher Herrschaft]]<br />
==Überblick==<br />
Dieser Artikel soll einen ersten groben Überblick über die verschiedenen Auffassungen zum Klassencharakter des bürgerlichen Staats innerhalb des kommunistischen und im weiteren Sinne "linken" Spektrums geben. Ist der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" die organisierte politische Macht der gesamten Bourgeosie und damit das Instrument ihrer Klassenherrschaft? Oder ist der Staat an sich ein klassenneutraler Apparat, der sowohl für die Zwecke der Kapitalistenklasse, als auch im Interesse der Arbeiter in Bewegung gesetzt werden kann? Ist der Staat im Stadium des Imperialismus nur noch das Herrschaftsinstrument eines kleinen Teils der Kapitalisten, der Monopolbourgeoisie, die ihre Macht mit Hilfe des Staats auch gegen die "kleine und mittlere Bourgeoisie" durchsetzt? Oder ist der bürgerliche Staat nach 1945 gar zu einer "echten Demokratie" geworden, in der die politische Macht nicht mehr von den besitzenden Klassen ausgeht, sondern von der demokratischen Mehrheit?<br />
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Die Unterschiede in der Analyse und die Einschätzung des Klassencharakters des bürgerlichen Staats haben weitreichende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung. Die sich daraus ergebenden Dissense werden an anderer Stelle unter dem Stichwort "'''[[Staat und Revolution]]'''" dargestellt.<br />
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===Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise"===<br />
Die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus (Marx, Engels, Lenin) bestimmten den bürgerlichen Staat als "ideellen Gesamtkapitalisten" und als Instrument der "Diktatur der Bourgeosie". <br />
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Schon im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 schrieben Marx und Engels: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. […] Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." <ref> Marx, K., Engels, F.: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, Berlin/DDR 1977, S. 464/482. </ref> Diese Definition des Staates als „Ausschuss“ zur Regelung der „gemeinschaftlichen Geschäfte“ der Bourgeoisie deckt sich mit der späteren Formulierung von Engels, in der er den bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnete: "Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten […] nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. <ref> Engels,F.: Zur Wohnungsfrage, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 18, Berlin/DDR 1973, S.257-258.</ref> Der Staat schützt die kapitalistische Produktionsweise sowohl gegen den Widerstand der Arbeiter als auch gegen die sich widersprechenden Einzelinteressen individueller Kapitalisten. Laut Engels setzt der „ideelle Gesamtkapitalist“ also das Interesse der gesamten herrschenden Klasse nicht nur gegenüber dem Proletariat, sondern auch gegenüber ihrer einzelnen Klassenindividuen durch: "Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." <ref> Engels,F.: Anti-Dühring (1877), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 20, S. 260.</ref> <br />
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Der Staat ist also einerseits Instrument zur Unterdrückung der Arbeiter und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse, gleichzeitig ist er notwendig, um die Bourgeoisie über die kapitalistische Konkurrenz hinweg zu Kompromissen zu zwingen und sie so erst als herrschende Klasse zu organisieren.<br />
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Lenin führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine scharfe Polemik gegen die Revisionisten und Reformisten in der deutschen und russichen Sozialdemokratie. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fasste er die Staatsauffassung von Marx und Engels in seiner Schrift ''Staat und Revolution'' (1917) zusammen: "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen 'Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. <ref> Lenin, W.I.: Staat und Revolution, in: in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Lenin Werke Bd. 25, Berlin/DDR 1974, S. 399. </ref> Der Staat ist demnach eine Macht, "die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben. Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt ‚nicht mehr unmittelbar zusammenfällt‘ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer ‚selbsttätigen bewaffneten Organisation‘. [...] Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?" <ref> ebd., S. 401.</ref><br />
Abschließend fasste Lenin seine Studien zur marxschen Staatsauffasung in der Bestimmung des bürgerlichen Staats als „Diktatur der Bourgeoisie“ zusammen: "Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist […]. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie." <ref> ebd., S. 425.</ref><br />
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Von dieser Analyse ausgehend formulierten die Klassiker die strategische Orientierung auf die "Zerschlagung des bürgerlichen Staats" und die Errichtung der "Diktatur des Proletariats". Siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]].<br />
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Für eine ausführlichere Darstellungen der Annahmen der Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus zum Staat, siehe: [[Grundannahmen Staat]]<br />
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===Der Staat als klassenneutrales Instrument===<br />
Vertreter dieser Auffassung gehen davon aus, dass der bürgerliche Staat und seine Organisationsapparate an sich klassenneutrale Instrumente seien. Das heißt sie werden unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen zwar von der Bourgeoisie benutzt, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen, die Arbeiterklasse niederzuhalten und die Bedingungen der Kapitalakkumulation möglichst günstig zu gestalten, könnten unter anderen Bedingungen (z.B. nach dem Wahlsieg einer Arbeiterpartei) jedoch genausogut im Interese des Proletariats in Bewegung gesetzt werden (z.B. um den Kapitalismus durch Sozialreformen allmählich in den Sozialismus zu überführen). Die Instrumente selbst, also die Staatsorganisationen vom Parlament über die Verwaltungs- bis hin zu den Repressionsorganen, verhalten sich dieser Auffassung nach also neutral zu den Zwecken ihrer Anwendung. Weder ihre konkrete Organisationsform noch das Personal, aus dem sie bestehen, tragen demnach Klassencharakter. Diese Auffassung steht im Widerspruch zu der Position, der bürgerliche Staat sei seiner Form und seinem Klasseninhalt nach "ideeller Gesamtkapitalist" und Ausdruck der "Diktatur der Bourgeoisie" (s.o.).<br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):'''<br />
Die klassischen Vertreter einer solchen Staatsauffassung waren die „Revisionisten“ in der deutschen Sozialdemokratie, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen und zentrale Annahmen des wissenschaftlichen Sozialismus zu "revidieren" begannen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Eduard Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. <br />
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Bernstein bestritt in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899) die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Aufhebung des bürgerlichen Staates und schlug stattdessen einen friedlichen und demokratischen Reformweg zum Sozialismus vor. Bernstein argumentiert, die bisherige Ausrichtung der Sozialdemokratie auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus sei durch die Realität überholt. Das kapitalistische System habe sich als weitgehend krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, ein „Zusammenbruch“ des Kapitalismus bzw. eine revolutionäre Situation sei nicht mehr zu erwarten. Die Aufgabe der SPD sei es nun, im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch „Sozialreformen“ Verbesserungen für die Arbeiterklasse und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards zwischen den Klassen durchzusetzen. Den Weg, um diese Ziele zu erreichen, sah Bernstein in der schrittweisen Ausdehnung des parlamentarischen Einflusses der Sozialdemokratie bis hin zur Übernahme der Regierung. Diese würde dann weitreichende Reformen im Sinne der Arbeiterklasse und des Sozialismus durchsetzen. Das entsprechende Credo des Reformismus lautete: „Der Weg ist alles, das Ziel ist nichts“.<br />
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Der klassische Reformismus setzt notwendig eine bestimmte Auffassung über den bürgerlichen Staat voraus. Wenn es möglich sein soll, den Kapitalismus allmählich durch Sozialreformen zu überwinden, so muss es auch möglich sein, dass die Arbeiterklasse diese Reformen im Staatsapparat gegen den Willen der Bourgeoisie durchsetzt oder diese zumindest zu Kompromissen zwingt – und zwar so weit, dass die Gesellschaft immer mehr sozialistische Züge annimmt und der Staat letztlich aufhört, bürgerlicher Staat zu sein und allmählich zu einem Instrument in den Händen der Arbeiterklasse wird. Dieses Instrument an sich muss also „klassenneutral“ sein und je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse sich entwickeln, kann es sowohl von der einen, als auch von der anderen Klasse kontrolliert und im eigenen Interesse eingesetzt werden. Der Staat steht in dieser rein instrumentalistischen Sichtweise der ihm zugrunde liegenden Produktionsweise also äußerlich gegenüber, er besitzt keine innere Verbindung zu ihr. Der Überbau scheint unabhängig von seiner ökonomischen Basis agieren zu können. Der bürgerliche Staat wird aus dieser Sichtweise nicht als spezifisches, den Klasseninteressen der Bourgeoisie entsprechend geformtes Werkzeug verstanden. Ergo kann das Proletariat dieses Werkzeug unverändert übernehmen, anstatt sich einen eigenen Apparat zu schaffen, der den spezifischen Erfordernissen und Klasseninteressen der Arbeitermacht entspricht.<br />
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'''Eurokommunismus:'''<br />
Ab den 1970er Jahren knüpften die sogenannten "Eurokommunisten" mit vielen ihrer Positionen an die theoretische Tradition des klassischen Revisionismus an, begründeten ihre Haltung aber damit, dass die Kräfteverhältnisse und somit auch der Charakter des bürgerlichen Staates sich nach 1945 grundlegend geändert hätten. Daher seien der „sowjetische Weg zum Sozialismus“ und die "Diktatur des Proletariats" als historischer Sonderfall überholt und Europa mittlerweile in eine Epoche der demokratischen Übergänge eingetreten. Sie vertraten die Einschätzung, die bürgerliche Demokratie sei nach dem Sieg über den Faschismus im Westen zu sehr gefestigt, als dass die Herrschenden gewaltsam gegen einen demokratischen Übergang zum Sozialismus vorgehen könnten. Die Hauptvertreter des Eurokommunismus waren die kommunistischen Parteien Frankreichs (PCF), Italiens (PCI) und Spaniens (PCE).<br />
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Die eurokommunistische Strategie des friedlichen, parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus ging mehr oder weniger offen davon aus, dass der Staat als ein „Feld im Klassenkampf" aufzufassen sei, auf dem sich zwar die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen widerspiegeln, das an sich aber klassenneutral sei. Durch Veränderungen der politischen Mehrheiten sollten der Staat und seine Institutionen durch die Kommunisten kontrolliert und im Sinne der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden. Die Regierung sollte ein Reformprogramm umsetzen, das die Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung Sozialismus entwickeln würde. Auch im Sozialismus sollte der bürgerlich-liberale Parlamentarismus als politische Herrschaftsform bruchlos beibehalten werden: „Die repräsentative Demokratie, kombiniert mit Formen der direkten Demokratie, kann ohne weiteres auch die Form des sozialistischen Systems sein.“<ref> Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen, Rom 1977, URL: https://www.zeit.de/1977/29/der-haeretiker-aus-asturien (letzter Zugriff: 21.12.2019).</ref> In Teilen der eurokommunistischen Strömung wurde sogar die Notwendigkeit der Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Länder in imperialistischen Staatenbündnissen wie der EG und der NATO offen verteidigt. Ausführlich dargelegt ist das Staatsverständnis der Eurokommunisten in Santiago Carrillos ''Eurokommunismus und Staat''<ref>Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.</ref>. <br />
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Ausführlicherer Artikel: [[Eurokommunistische Staatsauffassung]]<br />
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'''Andere Vertreter:'''<br />
Auch heute gibt es zahlreiche "linke" Vertreter dieser Auffassung. Die Annahme, der bürgerliche Staat sei ein grundsätzlich klassenneutrales Instrument, bildet die Voraussetzung jeder Strategie, die auf den Eintritt in die bürgerliche Regierung zum Zweck der Umsetzung von Reformen abzielt. Das gilt eindeutig für die deutsche ''Linkspartei'' und ihre europäischen Geschwisterorganisationen, allen voran die einflussreiche griechische ''SYRIZA''. Auch die "antimonopolistische Strategie" der DKP unterstellt letztlich eine Klassenneutralität des Staates der Monopole (s.u.). In unterschiedlichen Abstufungen wird diese Auffassung auch von den "bolivarischen Bewegungen" bzw. den Vertretern eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien etc. vertreten.<br />
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===Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole===<br />
Eine seit 1945 weit verbreitete Position geht davon aus, dass der bürgerliche Staat im Monopolkapitalismus nicht mehr das Interesse der gesamten herrschenden Klasse vertritt, sondern sich zum alleinigen Herrschaftsinstrument der Monopole entwickelt. Diese Vorstellung beruft sich häufig auf die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (s.o.) und ist eng verbunden mit den verschiedenen Varianten der [[Strategie der Übergänge]]. <br />
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'''Deutsche Kommunistische Partei (DKP):'''<br />
Die DKP vertritt seit ihrer Gründung eine Strategie der "antimonopolistischen Demokratie" (AMD). Diese wurde erstmals im Programm von 1978 explizit ausformuliert und beschlossen. Auch im Programm von 2006 bildet die AMD, von einigen kleineren Relativierungen abgesehen, noch immer den Kern der strategischen Vorstellungen der DKP. <br />
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Zu den wichtigsten Grundannahmen der AMD gehört, dass der bürgerliche Staat zu einem Instrument in den Händen der Monopole, also einer Handvoll Finanzoligarchen innerhalb der Bourgeoisie, geworden ist. Der Staat, so die These, setzt deren Profitinteressen rigoros gegen alle „nicht-monopolistischen Schichten“, also nicht nur gegen die Arbeiterklasse und alle anderen Werktätigen, sondern auch gegen die „kleine und mittlere Bourgeoisie“ durch. Der bürgerliche Staat vernachlässigt aus dieser Sicht also gewissermaßen seine Aufgabe als „ideeller Gesamtkapitalist“ und verkörpert gegenüber der gesamten Gesellschaft (und einem Großteil der Bourgeoisie) nicht mehr das langfristige Gesamtinteresse aller Kapitalisten, sondern einseitig das Partikularinteresse des Monopolkapitals. <br />
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Im DKP-Programm von 2006 heißt es dazu: "Als Machtinstrument der Monopolbourgeoisie setzt er [der Staat] immer unverblümter eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durch. An die Stelle der sozialen Integration tritt die Konfrontation. Der bürgerliche Staat verliert tendenziell seine Fähigkeit zur sozialen und politischen Vermittlung, weil die Basis für die Organisierung stabilerer sozialer Kompromisse, die größere Teile der Gesellschaft einbeziehen, verloren geht. So wird die bürgerliche Demokratie ausgehöhlt und verliert ihren Inhalt. Bei Beibehaltung formaler Demokratie vollzieht sich der Übergang vom 'Sozialstaat' zum autoritären 'Sicherheitsstaat'." (S. 12) <br />
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Damit wird zwar der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht geleugnet, aber eine neue strategische Bruchlinie zwischen den Monopolen und allen „nicht-monopolistischen“ Schichten aufgemacht, die aus dieser Sicht nun in Opposition zum "Staat der Monopole" geraten. Entlang dieser Linie soll sich ein „antimonopolistisches Bündnis“ formieren, das neben der Arbeiterklasse nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch bedeutende Teile der „nicht-monopolistischen“ Bourgeoisie umfassen soll (siehe dazu das Programm von 2006, S. 33). Dieses Bündnis hat zwar nicht den Sozialismus zum Ziel, wohl aber eine Zwischenetappe der „antimonopolistischen Übergänge“, in deren Rahmen die Kommunisten sich an der Regierungsmacht beteiligen und zunächst im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise eine politische „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ durchsetzen sollen.<br />
<br />
Diese Vorstellung eines weitgehend bruchlosen Übergangs des Staatsapparats aus den Händen der einen in die Hände der anderen Klasse unterstellt eine instrumentalistische Sicht auf den Staat und behandelt diesen in letzter Konsequenz als ''klassenneutrales Werkzeug'' (s.o.). Zugespitzt formuliert: Der Klassencharakter des Staates scheint sich aus Sicht der Vertreter der antimonopolistischen Strategie nicht aus seiner Funktionsweise und seinem Wesen, sondern aus den politischen Kräfteverhältnissen zu ergeben. Ändert die Regierung ihren Klassencharakter von „monopolistisch“ zu „nicht-monopolistisch“, so ändert sich demzufolge auch der Klassencharakter des Staates. <br />
<br />
Hier geht es zu einer längeren Version dieses Artikels: [http://%E2%80%9EAntimonopolistische_Demokratie%E2%80%9C_(DKP) Antimonopolistische Demokratie]<br />
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'''Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD):'''<br />
Zu den wichtigsten Alleinstellungsmerkmalen der Theorie und Programmatik der MLPD gehört der Begriff der „Übermonopole“ (siehe dazu den Entsprechendne Artikel [[Imperialismus_als_Weltsystem|"Imperialismus als Weltsystem"]] der AG Politische Ökonomie], der auch ihre Analyse des bürgerlichen Staats der Gegenwart wesentlich prägt: "Die hier ansässigen internationalen Übermonopole, die zum allein herrschenden internationalen Finanzkapital gehören, haben sich den Staat vollkommen untergeordnet, und die Organe des Monopolkapitals sind mit den Organen des Staatsapparats verschmolzen. Sie haben ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft, auch über andere Monopole und die nicht monopolisierten Kapitalisten, errichtet. Über die Organe der EU nehmen sie Einfluss auf andere europäische Staaten." (Programm der MLPD)<br />
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Die MLPD geht also davon aus, dass sich diese „Übermonopole“ den bürgerlichen Staat „vollkommen untergeordnet“ haben – aus dieser Formulierung kann geschlussfolgert werden, dass der Staat nicht mehr als „ideeller Gesamtkapitalist“ das Gesamtinteresse des Kapitals vertritt, sondern von der Fraktion der „Übermonopole“ bzw. des „allein herrschenden Finanzkapitals“ allen anderen Teilen der Bourgeoisie gegenüber als Herrschaftsinstrument benutzt wird. Zudem geht die MLPD davon aus, dass die „Organe des Monopolkapitals“, die im vorangegangenen Stadium des Kapitalismus scheinbar noch unabhängig vom und außerhalb des Staatsapparates existierten, heute vollständig mit diesem „verschmolzen“ sind. <br />
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Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Programmatik der MLPD findet sich hier: [https://kommunistische.org/diskussion/einschaetzung-der-programmatik-der-mlpd/ Philipp Kissel, Einschätzung der Programmatik der MLPD].<br />
<br />
Die Positionen der MLPD zum bürgerlichen Staat entnehmen wir ihrem zuletzt 2016 überarbeiteten Parteiprogramm.<ref>https://www.mlpd.de/parteiprogramm</ref><br />
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===Staatsmonopolistischer Kapitalismus===<br />
Hier soll kurz dargestellt werden, wie die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus den klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt. In welchem Verhältnis stehen Staat und Monopole? Ist der Staat alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole oder auch "ideeller Gesamtkapitalist", also Ausdruck der Herrschaft der gesamten Bourgeoisie?<br />
<br />
'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
<br />
Siehe hierzu den Dissens [[Monopole und Staat]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus.<br />
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===Der Staat als "echte Demokratie"===<br />
Die Position, der bürgerliche Parlamentarismus auf der ökonomischen Basis der kapitalistischen Produktionsweise sei eine "echte Demokratie" läuft letztlich auf die Position hinaus, die gesellschaftlichen Verhältnisse würden nicht von der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie, sondern von der politischen Mehrheit bestimmt. Die Frage des Klassencharakters der Staats wird also reduziert auf eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Je nach dem, ob die Bourgeoisie oder die Arbeiterklasse im demokratischen Prozess mehr Kontrolle über den Staatsapparat ausübt, verschiebt sich auch dessen Klassencharakter. Diese Auffassung setzt zugleich ein Verständnis des Staates als ''klassenneutrale Instrument'' voraus (siehe oben). <br />
<br />
'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):''' <br />
Die Vorstellung einer fortschreitenden Demokratisierung des bürgerlichen Staats und einer damit einhergehenden Verwandlung seines Klassencharakters spielten eine zentrale Rolle im Denken des klassischen Revisionismus. Rosa Luxemburg polemisierte schon 1899 gegen Eduard Bernstein: „die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie [sei] eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie.“ <ref> Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), Zweiter Teil </ref> Bürgerliche Demokratie und Parlamentarismus waren für Bernstein nicht taktische Mittel im Klassenkampf, sondern tatsächlicher Ausdruck der Herrshaft durch das Volk bzw. die Mehrheit, also der Arbeiterklasse: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. […] Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“<ref>Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.154-156.</ref> Für die Strategie der Arbeiterbewegung heißt das: „die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.“<ref>Ebd., S. 154-156.</ref> Die Arbeiterbewegung soll sich also darauf beschränken, im legalen Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus für Reformen und schrittweise Verbesserungen zu kämpfen. Der bürgerliche Staat ist dabei nicht ihr Gegner, sondern ihr Werkzeug. Die taktische Herausforderung besteht demnach einzig darin, auf demokratischem Weg in die Position zu gelangen, dieses Werkzeug für die eigenen Zwecke nutzen zu können.<br />
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'''Position von SYRIZA:''' <br />
Die griechische "Linkspartei" SYRIZA argumentiert in ihrem Regierungsprogramm, „der Staat [sei] keine Festung, sondern ein Netzwerk, ein Verhältnis und eine strategische Arena für den politischen Kampf. Er verändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, im Gegenteil, seine notwendige Transformation hat konstante und kontinuierliche Kämpfe zur Voraussetzung, die Einbeziehung des Volkes, ständige Demokratisierung.“ (Quelle: S''YRIZAs Regierungsprogramm''<ref>Zitiert nach einem auf Englisch erschienenen Artikel der KKE, ins Deutsche Übersetzt. URL: https://inter.kke.gr/en/articles/Criticism-of-certain-contemporary-opportunist-views-on-the-state/ (9.1.2019)</ref>) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der bürgerliche Staat von SYRIZA nicht seinem Wesen nach als ein Organ der bürgerlichen Klassenherrschaft angesehen, sondern als eine Ansammlung von Institutionen, die im Interesse des Volkes „transformiert“ werden können. Auf Grundlage dieser Sichtweise wird argumentiert, dass der Charakter des bürgerlichen Staats durch die richtigen politischen Kräfteverhältnisse geformt oder gar "transformiert" werden kann, solange sich nur „linke Regierungen“ durchsetzen können. <br />
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'''Position der DKP:''' <br />
Die DKP bleibt in ihrer Einschätzung der bürgerlichen Demokratie widersprüchlich. Einerseits ist in ihrem Programm von 2006 zwar die Rede davon, dass sich durch die "Globalisierung" die "Tendenz zur Reaktion" verschärft, dass die Demokratie untergraben wird (siehe S. 12) und dass letztlich eine "revolutionäre Überwindung" (S. 28) des Kapitalismus nötig sei. Andererseits gehört es jedoch zu den Kernthesen ihrer "antimonopolistischen Startegie", dass noch auf dem Boden der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und innerhalb des institutionellen Rahmens des bürgerlichen Staats umfassende Reformen und sogar eine "antimonopolistisch-demokratische Umgestaltung" (S. 32) möglich seien: "Je mehr es dabei gelingt, Veränderungen im Sinne von Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, von demokratischer Kontrolle, von Entmilitarisierung und Demokratisierung in Staat und Gesellschaft zu erreichen, je größer der Einfluss der demokratischen und sozialistischen Kräfte überall dort ist, wo Meinungsbildung stattfindet, desto besser sind die Chancen im Kampf um die Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und für die Öffnung des Weges zum Sozialismus. [...] Es geht um die [...] demokratische Einflussnahme auf den staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus im nationalen Rahmen wie im Rahmen der Europäischen Union und anderer internationaler staatsmonopolistischer Institutionen". (S. 30) Diese Vorstellung läuft letztlich also darauf hinaus, die Kommunisten und „Demokraten“ könnten den ideellen Gesamtkapitalisten dem Einfluss der Klasseninteressen der Bourgeoisie entreißen und ihrem eigenen politischen Willen unterwerfen.<br />
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'''Andere Vertreter:''' Ebenfalls weit verbreitet sind Vorstellungen über den demokratischen Charakter des bürgerlichen Staats in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dort gehört der Begriff der „Mitbestimmung“ nicht umsonst zum ideologischen Kernrepertoire. Die Vorstellung, im Betrieb ließe sich zwischen Kapital und Arbeit auf Augenhöhe eine demokratische Mitbestimmung und dadurch ein Interessenausgleich verwirklichen, bildet das Herzstück der Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Ähnliche Sichtweisen werden heute außerdem in einer Reihe lateinamerikanischer Länder gepflegt. Verschiedene „fortschrittliche“ und „linke“ Regierungen versuchen unter dem Banner des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bzw. der „bolivarischen Revolution“ das bürgerliche Staatsystem durch Gesetzesreformen und Volksabstimmungen grundlegend zu veränden.<br />
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==="Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci)===<br />
Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, verfasste in den 1920er und 30er Jahren in faschistischer Gefangenschaft seine „Gefängnishefte“, ein umfangreiches theoretisches Werk, dessen einzelne Bestandteile Gramsci unter den Bedingungen seiner Haft leider nicht mehr zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen konnte. Zu den wichtigsten Aspekten dieses Werks gehören Gramscis Überlegungen zur besonderen Form der Herrschaft der Bourgeoisie in den entwickelten imperialistischen Ländern und die daraus abgeleiteten Weiterentwicklungen der marxistischen Staatstheorie.<br />
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In den Gefängnisheften bringt Gramsci den Staat und die Herrschaft der Bourgeoisie auf die kurze Formel: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang" (H. 6, §88., S. 783)<ref>Antonio Gramsci, Gefängnisgefte. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1991. Im Folgenden wird aus den Gefängnisheften nur noch in Klammern nach Heft Nr., Paragraph und Seitenzahl zitiert.</ref><br />
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Gramsci weitet den Staatsbegriff damit aus und entwickelt sein Konzept des "integralen Staates". Dieser umfasst einerseits die "politische Gesellschaft", womit alle explizit staatlichen Strukturen und Institutionen gemeint sind, also das Parlament, die Beamtenapparate, die Repressionsorgane, die staatlichen Bildungseinrichtungen etc. Andererseits betrachtet Gramsci aber auch die "Zivilgesellschaft" als Teil der bürgerlichen Staatlichkeit. Gemeint sind damit alle Strukturen außerhalb der Staatsapparate, über die die Bourgeoisie ihre Herrschaft absichert, also private Medien, Bildungsstätten, Institute, Stiftungen, Clubs, Thinktanks etc. Mit Blick auf den Sieg der Oktoberrevolution in Russland und die darauffolgenden Niederlagen der Revolutionsversuche in Westeuropa schrieb Gramsci: "Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand;" (H. 7, §16., S. 873-874) An anderer Stelle heißt es: "zumindest was die fortgeschrittenen Staaten angeht, wo die 'Zivilgesellschaft' eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften 'Durchbrüchen' des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg." (H. 13, §14, S. 1553-1554) Die Stabilität der bürgerlichen Herrschaft hängt demnach also wesentlich davon ab, inwieweit die Zivilgesellschaft herausgebildet und die "Hegemonie" der Bourgeoisie enwickelt ist. <br />
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Mit dem Begriff der Hegemonie versucht Gramsci der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass sich die Macht der Bourgeoisie nicht nur auf das Staatliche Gewaltmonopol und die Repressionsapparate stützt, sondern wesentlich über ideologische Integration und die Erzeugung von "Konsens" abgesichert wird. Hegemonie bezeichnet also die politisch-ideologische Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über eine andere. "Die 'normale' Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne daß der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt, sondern im Gegenteil sogar versucht wird, zu erreichen, daß der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint […]" (H. 13, §37, S. 1607-1613). Konsens bezeichnet hier einen Zustand, in dem die Beherrschten die Herrschaft zumindest passiv ertragen oder sogar aktiv die Sichtweise übernehmen, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse entsprächen auch ihren Interessen und seien die bestmöglichen. Gramsci schreibt, dass "eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. […] Die politische Führung wird zu einem Aspekt der Herrschaft, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Klassen zur Enthauptung derselben und zu ihrer Machtlosigkeit führt. Es kann und muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben." (H. 1, §44, S. 101-113) <br />
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Heute wird der Begriff der Hegemonie fast ausschließlich Gramsci zugeschrieben, dabei war er zu dessen Lebzeiten unter den Theoretikern der Kommunistischen Internationale weit verbreitet und wurde breit diskutiert. Wie Buci-Glucksmann bemerkt, war er "im gesamten Marxismus der Dritten Internationale überaus geläufig. Man findet ihn vor allem unter der Feder Lenins vor 1917, aber auch später. Man finet ihn ebenso oft bei Bela Kun, Varga, Stalin, und vor allem Bucharin, der ihn in einer Weise benutzte, die der Gramscis nahezustehen scheinen könnte". <ref>Buci-Glicksmann, Gramsci und der Staat, S. 17.</ref> <br />
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Die "führende Klasse" oder Klassenfraktion ist laut Gramsci in ihrem Ringen um Hegemonie also in der Regel darum bemührt, alle anderen Fraktionen ihrer Klasse und ihrer "verbündeten Klassen" in ihren "Block an der Macht" zu integrieren. Das gelingt nur, indem sie mit diesen anderen Fraktionen ein Komprimissprogramm aushandelt, das bestmöglich das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse zusammenfasst und deren innere Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Der Ort, an dem diese Kompromisse ausgehandelt und schließlich in politische Praxis übersetzt werden, ist der bürgerliche Staat selbst. Gegenüber den "feindlichen Klassen" (also dem Proletariat und den anderen Werktätigen) tritt die Bourgeoisie als "herrschend" auf, sie übt ihre Hegemonie einerseits durch integration ihrer ideologischen Führer und andererseits durch materielle Zugeständnisse aus: "Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, daß sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, daß also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, daß solche Opfer und ein solcher Kompromiß nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt." (H. 13, §18, S. 1565-1573) Gramsci beschreibt in dieser Formulierung den grundsätzlichen Klassencharakter des Staates. Die Kompromisse können nie "das Wesentliche" betreffen - also die kapitalistische Produktionsweise - sondern sich nur in deren Rahmen Bewegen. <br />
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Gramscis Staatstheorie knüpft eindeutig an die Auffassung des Staats als "ideeller Gesamtkapitalist" (s.o.) an, indem sie einerseits die Integration der gesamten herrschenden Klasse in einem "historischen Block" betont und andererseits die zumindest passive Einbindung der Beherrschten im Rahmen der Hegemonie betont. Mit einer Staatsauffassung, die den bürgerlichen Staat im Monopolkapitalismus als "alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole" (s.o.) versteht, ist Gramscis Ansatz kaum zu vereinbaren. <br />
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Mit Blick auf den Staat schreibt Gramsci außerdem, dieser sei "das Instrument zur Anpassung der Zivilgesellschaft an die ökonomische Struktur". (H. 10.II, §15, S. 1267) Dabei spielen Medien und andere ideologische Apparate eine entscheidende Rolle: "Was 'öffentliche Meinung' genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der 'Zivilgesellschaft' und der 'politischen Gesellschaft', zwischen dem Konsens und der Gewalt. Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft. […] die öffentliche Meinung, wie sie heute Verstanden wird, ist am Vorabend des Untergangs der absolutistischen Staaten entstanden, das heißt in der Zeit des Kampfes der neuen bürgerlichen Klasse um die politische Hegemonie und die Erlangung der Macht. […] [Es entbrennt ein] Kampf ums Monopol der Organe der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, Parlament". (H. 7, §83, S. 916-917)<br />
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Verliert die herrschende Klasse ihre Hegemonie so kommt es zur "Hegemonie-" bzw. "Autoritätskrise": "Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr 'führend', sondern einzig 'herrschend' ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die große Masse sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann". (H. 3, §34, S. 354-355) Der Verlust der Hegemonie darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem automatischen Verlust der Macht, schließlich verfügt die herrschende Klasse auch bei schwindendem Konsens noch immer über die Mittel des Zwangs. <br />
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Zu den strategischen Schlussfolgerungen, die Gramsci aus seiner Staatstheorie ableitete, siehe den Dissens-Artikel zu [[Staat und Revolution]] und dort den Abschnitt "Bewegungs- und Stellungskrieg". <br />
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Einige offene Fragen zu Gramsci und seiner Staatstheorie werden von unserer AG tiefergehend behandelt werden: Handelt es sich dabei um einen wegweisenden Beitrag zur marxistischen Staatstheorie im Zeitalter des Imperialismus und des entwickelten bürgerlichen Staats, an den die Kommunisten anknüpfen und den sie weiterentwickeln müssen? Oder enthält Gramscis Theorie bereits wesentliche revisionistische Abweichungen, die es den verschiedenen opportunistischen Strömungen, die sich heute auf ihn berufen, leicht machten, seine Theorie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?<br />
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==="Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas)===<br />
Nicos Poulantzas war ein griechischer Theoretiker, der in den 1960er und 70er Jahren eine Reihe an marxistischen Studien verfasste. Er sympathisierte nach 1968 mit der eurokommunistischen griechischen kommunistischen Partei des Inlands (KKE-Inland) und stand – in Frankreich lebend - in kritischer Distanz zur Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). In seinen klassen- und staatstheoretischen Schriften ist der Einfluss u.a. von Louis Althussers Strukturalismus sowie [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #"Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci) | Antonio Gramscis Hegemonietheorie]] sichtbar. In der marxistischen Debatte um den Staat hat Poulantzas tiefe Spuren hinterlassen, was primär zurückgeführt werden kann auf seine Konzeption des Staates als „Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“. Historisch bedeutsam war dabei zunächst die Auseinandersetzung mit Ralph Miliband; im deutschsprachigen Raum wurde seine Theorie u.a. über Joachim Hirsch und Alex Demirovic wieder in die Diskussion eingebracht.<br />
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Poulantzas formuliert in der Einleitung zur „Staatstheorie“ den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Es ist nicht der Klassencharakter des Staates, der zur Debatte steht: „Jeder Staat ist ein Klassenstaat; jede politische Herrschaft ist Klassendiktatur; der kapitalistische Staat ist ein Staat der Bourgeoisie; der kapitalistische Staat im Allgemeinen und jeder kapitalistische Staat im Besonderen sind Diktaturen der Bourgeoisie“ (Staatstheorie S. 155), all dies sind für ihn „Banalitäten“ - zwar richtig, aber nicht weiter ausführenswert. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, vielmehr stellt es sich hier neu: „[W]arum greift die Bourgeoisie in ihrer Herrschaft auf diesen nationalen Volksstaat zurück, diesen modernen Repräsentativ-Staat mit seinen spezifischen Institutionen, und nicht auf einen anderen? Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich genau diesen Staat aussuchen würden, wenn sie den Staat komplett selbst und nach ihrem Geschmack aufbauen würden.“ (Staatstheorie, S. 40). Eine verwandte Frage hatte bereits der sowjetische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis knapp 50 Jahre, vorher gestellt: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“1 Poulantzas gibt in der Einleitung auch eine vorläufige, knappe Antwort auf die von ihm formulierte Frage: „Der Staat stellt ein materielles Gerüst dar, das in keiner Weise auf die politische Herrschaft reduziert werden kann. Der Staatsapparat, dieses besondere und furchterregende Etwas, erschöpft sich nicht in der Staatsmacht. [...] Wenn der Staat nicht einfach ein vollständiges Produkt der herrschenden Klassen ist, so haben sie sich seiner auch nicht einfach bemächtigt: Die Macht des Staates (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) hat in dieser Materialität ihre Spuren hinterlassen. Die Handlungen des Staates reduzieren sich nicht auf die politische Herrschaft, sie sind jedoch konstitutiv von ihr gezeichnet.“ (Staatstheorie, S. 42)<br />
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Eine wichtige Aufgabe des Staates sieht Poulantzas in der Repräsentation und Organisation der herrschenden und der Desorganisation der beherrschten Klassen. Die Bourgeoisie ist keine widerspruchsfreie Einheit. Sie verfolgt zwar zwangsläufig als Klasse einheitlich das Ziel der Kapitalverwertung, dieses Ziel bringt sie aber auch in direkte Konkurrenz untereinander, weshalb, wie Engels sagt, der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert. Poulantzas zufolge ist die Kapitalistenklasse in Klassenfraktionen gespalten, die unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Interessen verfolgen. Diese Klassenfraktionen formieren sich unter der Hegemonie einer Fraktion zu einem „Block an der Macht“, in welchen auch andere herrschende Klassen miteinbezogen werden. Die Hegemonie einer Fraktion bedeutet dabei, dass diese die äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Sinne optimieren kann; und diese Hegemonie erst ermöglicht die Einheit dieses Blocks gegenüber den beherrschten Klassen. Poulantzas betont, dass nicht nur Teile der Bourgeoisie (etwa das Monopolkapital) den Machtblock stemmen: „Diese bürgerlichen Fraktionen sind in ihrer Gesamtheit, obwohl in unterschiedlichem Maße, auf dem Terrain der politischen Herrschaft angesiedelt, und gehören somit immer zum Block an der Macht“ (Staatstheorie S. 159). Dieser Machtblock ist aber konfliktdurchzogen, er stellt ein umkämpftes, instabiles Kompromissgleichgewicht dar: „Der Machtblock stellt eine von inneren Widersprüchen gekennzeichnete Einheit von politisch herrschenden Klassen und Fraktionen unter dem Schutz der hegemonialen Fraktion dar. Der Klassenkampf, die Interessenrivalitäten zwischen den gesellschaftlichen Kräften sind darin ständig gegenwärtig, wobei diese Interessen ihren spezifischen Antagonismus bewahren“ (PMGK, S. 239). In diesem Sinne ist die konkrete Politik des Staates und die Hegemonie im Machtblock immer umkämpft, und dieser Kampf wird im Staat, in seinen ideologischen (Medien, Think Tanks, …) aber auch repressiven Apparaten (Polizei, Armee, …) ausgetragen.<br />
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Um die „Rolle der Vereinheitlichung und Organisierung der Bourgeoisie und des Blocks an der Macht“ (Staatstheorie, S. 158) zu erfüllen, muss der Staat laut Poulantzas eine „relative Autonomie“ gegenüber den einzelnen Bestandteilen des Blocks bewahren: „Unter relativer Autonomie dieses Staatstyps verstehe ich […] das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Feld des Klassenkampfes, insbesondere seine relative Autonomie gegenüber den Klassen oder Fraktionen des Machtblocks und in erweiterter Form auch gegenüber seinen Verbündeten oder Stützen […] Ich hoffe, damit klar genug die Distanz auszudrücken, die diese Auffassung des Staats von einer simplifizierten und vulgarisierten Auffassung des Staats trennt, die in ihm das Werkzeug oder Instrument der herrschenden Klasse sieht“ (PMGK S. 256).<br />
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Der Staat als Instrument (siehe auch die Abschnitte zum Staat als [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als klassenneutrales Instrument | klassenneutrales Instrument]] und als [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole | alleiniges Instrument der Monopole]]) und der [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt) | Staat als Subjekt]]: dies beides sind aus Poulantzas‘ Sicht falsche Staatsverständnisse, die er umschiffen will mit dem Verständnis des Staates als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses. Der Staat als Instrument/Werkzeug/Sache unterstellt eine Passivität oder Neutralität des Staates. Dieser wird als ein Apparat verstanden, der zur Ausübung der politischen Macht von der herrschenden Klasse oder auch einer Klassenfraktion verwendet wird, der aber eben auch so wie er ist übernommen werden kann, um gegen die herrschende Klasse gewendet zu werden. Eine Autonomie des Staates ist ausgeschlossen. Eine solche instrumentalistische Konzeption des Staates sieht Poulantzas in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der eurokommunistischen PCF in den 1970ern: „An dieser Konzeption kritisierte ich vor allem, dass sie zu der Vorstellung des mit dem Monopolkapital »fusionierten« Staates führt, einem Staat der im Dienste der Monopole steht und keinerlei Autonomie besitzt“ (Staatstheorie S. 160). Der Staat als Subjekt wiederum lässt ihn vollständig autonom werden, er steht als Akteur außerhalb der Klassen. Er agiert, koordiniert, verwaltet, reguliert selbstständig. Seine Autonomie bezieht sich „auf die angebliche Macht des Staates und auf die Träger dieser Macht und der staatlichen Rationalität: auf die Bürokratie und speziell auf die politische Elite“ (Staatstheorie S. 160). <br />
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Poulantzas schlägt vor, die „Sackgassen des ewigen Pseudodilemmas der Diskussion zwischen der Konzeption des Staates als einer Sache bzw. einem Instrument und der Konzeption des Staates als einem Subjekt“ (Staatstheorie S. 159f) zu vermeiden, indem der Staat über den Klassenkampf selbst verstanden wird, genauer: „ … indem ich sage, dass der Staat […] nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden darf, sondern, wie auch das »Kapital«, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ Der Staat spiegelt also nicht einfach ein gesellschaftliches Verhältnis wider, er selber konstituiert dieses Verhältnis. In der Vielzahl seiner Institutionen findet die ständige Austarierung zwischen Klassen und Klassenfraktionen statt. Diese Austarierung entspricht aber nicht direkt dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, beispielsweise sind die beherrschten Klassen nicht in den Staatsapparaten anwesend: „Sie organisieren und vereinheitlichen den Block an der Macht, indem sie die beherrschten Klassen ständig desorganisieren und spalten. Sie polarisieren sie gegenüber dem Block an der Macht und schließen ihre politischen Organisationen aus.“ (Staatstheorie S. 171)<br />
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Bei Poulantzas bleibt unklar, wie der Begriff der Verdichtung genau zu verstehen ist, wohingegen er ausführt, was es mit der Materialität hier auf sich hat. Mit Blick auf die Staatstheorie in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der PCF wendet er ein, dass diese „die eigenständige Materialität des Staates übersieht. Diese Materialität eines Staates, der als Werkzeug oder Instrument angesehen wird, hat keine eigene politische Bedeutung. Diese Bedeutung wird auf die Staatsmacht beschränkt, d.h. auf die Klasse, die dieses Instrument manipuliert. Das würde im Extremfall implizieren, dass das gleiche Instrument (das verschiedenen, allerdings zweitrangigen Modifikationen unterliegt) durch eine Veränderung der Staatsmacht, also durch die Macht der Arbeiterklasse, für den Übergang zum Sozialismus anders eingesetzt werden könnte“ (Staatstheorie S. 160). Dieses Defizit meint er zu beheben: „Das materielle Gerüst seiner [des Staates] Institutionen wird durch die Beziehung des Staates zu den Produktionsverhältnissen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung konstituiert, die sich in der kapitalistischen Trennung des Staates von diesen Verhältnissen konzentriert. […] Der Staat hat eine eigene Dichte und Widerstandskraft und reduziert sich nicht auf ein Kräfteverhältnis. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Klassen hat sicherlich immer Auswirkungen innerhalb des Staates, sie überträgt sich jedoch nicht direkt und unmittelbar. Sie passt sich der Materialität der verschiedenen Apparate an und kristallisiert sich im Staat nur in gebrochener und differenzierter, den Apparaten entsprechender Form. Eine Veränderung der Staatsmacht allein transformiert die Materialität des Staates nicht“ (Staatstheorie S. 161f). Als Beispiele für die Materialität führt Poulantzas u.a. die Organisierung kapitalistischen Wissens an: „Die geistige Arbeit (Wissen/Macht) ist in den Apparaten konzentriert und steht im Gegensatz zur tendenziell in den Volksmassen konzentrierten manuellen Arbeit, die von den organisatorischen Funktionen ausgeschlossen und getrennt sind“ (Staatstheorie S. 83).<br />
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==="Akkumulationsregime" (Regulationsschule)===<br />
Hier sollen die offenen Fragen und Aufgaben ausformuliert werden, die sich aus der Staatstheorie der "Regulationsschule" und deren Theorie der "Akkumulationsregime" ergeben. Handelt es sich bei dieser Theorie um einen wesentlichen Beitrag zur marxistischen Staatstheorie, die eine vertiefende Analyse der verschiedenen Formen der bürgerlichen Herrschaft seit der Entstehung des Kapitalismus erlaubt (z.B. durch die Unterscheidung eines "keynesianischen" und eines "neoliberalen Akkumulationsregimes")? Wie wird aus Perspektive der der Regulationsschule der Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt? Enthält diese Theorietradition wesentliche Abweichungen von den Grundannahmen der marxistischen Staatstheorie? Welche Verbinndung gibt es zu den Theorien von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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'''Vertreter:''' Zu den prominentesten Vertretern der Regulationsschule gehören heute die Staatstheoretiker Joachim Hirsch und Bob Jessop.<br />
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===Staat = Repressionsapparate / "neue Demokratie" (Maoismus)===<br />
Innerhalb des maoistischen Spektrums lässt sich als tendenzielle Gemeinsamkeit in der Staatsfrage ein besonderer Fokus auf die „bewaffneten Apparate“ des bürgerlichen Staats und eine weitgehende Vernachlässigung der Analyse anderer, nicht unmittelbar gewaltförmiger Herrschaftstechniken der Bourgeoisie (Integrationsideologien, ökonomischer Zwang, etc.) feststellen. Dies steht im engen Zusammenhang mit der Strategie des "Volkskriegs". Dieser Strategie liegt eine Perspektive auf den Staat zugrunde, die den Kampf um die politische Macht weitgehend auf den unmittelbaren militärischen Kampf und die Zerschlagung der bewaffneten Staatsapparate zuspitzt. Die maoistische Theorie der "neuen Demokratie" enthält außerdem die These einer möglichen dritten Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats.<br />
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Von einer einheitlichen und systematisch ausgearbeiteten "maoistischen Staatstheorie" kann genauso wenig die Rede sein, wie von einer homogenen maoistischen Strömung innerhalb des Marxismus. In den klassischen Texten von Mao Tse-Tung findet sich vor allem keine eigene, systematisch ausgearbeitete Analyse des bürgerlichen Staats im Imperialismus. Die chinesischen Revolutionäre kämpften nicht gegen einen entwickelten bürgerlichen Staat, wie er sich in den imperialistischen Zentren herausgebildet hatte, sondern gegen einen agrarischen Feudalstaat mit kolonialen Elementen. Der Großteil von Maos Äußerungen über den Staat sind in diesem Kontext zu sehen, so zum Beispiel die oft zitierte Losung: "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 74.</ref> An anderer Stelle führt Mao diese Zuspitzung auf die Frage der militärischen Macht und der bewaffneten Apparate weiter aus und verallgemeinert sie als die aus seiner Sicht wichtigste Kernaussage der marxistischen Lehre vom Staat: "Vom Standpunkt der marxistischen Lehre vom Staat ist die Armee die Hauptkomponente der Staatsmacht. Wer die Staatsmacht ergreifen und behalten will, der muß eine starke Armee haben. Manche Leute bezeichnen uns höhnisch als Anhänger der ‚Theorie von der Allmacht des Krieges‘; jawohl, wir sind Anhänger der Theorie von der Allmacht des revolutionären Krieges, und das ist nicht schlecht, sondern gut, das ist marxistisch. [...] Die Erfahrungen des Klassenkampfes im Zeitalter des Imperialismus lehren uns: Die Arbeiterklasse und die übrigen Werktätigen Massen können nur mit der Macht der Gewehre die bewaffneten Bourgeois und Grundherren besiegen; in diesem Sinne können wir sagen, daß die ganze Welt nur mit Hilfe der Gewehre umgestaltet werden kann."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 75-76.</ref><br />
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In genau diesem Sinne wird die Staatsfrage auch in Teilen der zeitgenössischen maoistischen Strömungen behandelt. Viele zeitgenössische Mao-Gruppen beziehen sich dabei auf die Traditionslinie der peruanischen Guerillabewegung „Leuchtender Pfad“ bzw. der KP Perus (Vollständiger Name: ''Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui'') und ihres politischen und ideologischen Anführers „Presidente Gonzalo“ (Abiamel Guzmán). (''Anmerkung: Alle Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen sich auf die Broschüre „Einheitsbasis der Kommunistischen Partei Perus – angenommen auf dem I. Parteitag 1988“<ref>http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/gonzalo/1439-die-einheitsbasis-der-kommunistischen-partei-perus-auf-deutsch</ref>, die leider zahlreiche Übersetzungsfehler enthält.'')<br />
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Der Staat erscheint auch hier vor allem als bewaffneter Apparat, der militärisch bekämpft und zerschlagen werden muss:<br />
"die revolutionäre Gewalt ist ausnahmslos ein universelles Gesetz; die Revolution ist die gewaltsame Ersetzung einer Klasse durch eine andere. Er [Mao Tse-Tung] legte seine große These fest: ‚Die Macht kommt aus den Gewehrläufen!‘" (Über den Marxismus-Leninismus-Maoismus, S. 7) "[der] Volkskrieg, der durch eine revolutionäre Armee neuen Typs, unter der absoluten Führung der Partei, Stück für Stück die alte Macht zerstört, hauptsächlich seine bewaffneten und repressiven Kräfte." (Programm und Statuten der KP Perus, S. 16-17.)<br />
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Unter dem Begriff der „neue demokratische Revolution“ vertreten die Maoisten der KP Perus ein spezifisches Etappenmodell, das die Stufen der Revolution festlegt, die die unterdrückten Länder auf dem Weg zum Sozialismus durchlaufen müssen. Der Klasseninhalt der Revolution und der jeweiligen Staatsformen, die diese hervorbringen, ändert sich jedoch je nach Entwicklungsstand des jeweiligen Landes: "Um unser Endziel, den Kommunismus, zu erreichen, müssen wir Marxisten-Leninisten-Maoisten in Perspektive drei Typen von Revolutionen durchführen: 1) Die demokratische Revolution, das ist die bürgerliche Revolution neuen Typs in den rückständigen Ländern, unter der Führung des Proletariats, in deren Verlauf eine gemeinsame Diktatur des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und unter bestimmten Bedingungen der Mittelbourgeoisie unter der Führung des Proletariats errichtet wird; 2) Die sozialistische Revolution in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern, die die Diktatur des Proletariats errichtet; 3) Kulturrevolutionen, sie werden gemacht um die Revolution unter der Diktatur des Proletariats fortzusetzen, um jede Generierung des Kapitalismus zu unterwerfen und zu eliminieren und auch mit den Waffen gegen jedes streben nach Restauration des Kapitalismus zu kämpfen" (Allgemeine politische Linie, S. 19)<br />
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Mit der Theorie der „neuen demokratischen Revolution“ sind spezifische staatstheoretische Grundannahmen verbunden. Die „Neuen Demokratie“ gilt aus maoistischer Sicht als dritte Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats - ihr Klassencharakter ist wesentlich durch einen Klassenkompromiss bzw. ein Klassenbündnis bestimmt: "Die Neue Demokratie. In erster Stelle ist es eine Entwicklung der marxistischen Staatstheorie mit der Festlegung der drei Typen der Diktatur: 1. die Diktatur der Bourgeoisie, in den alten bürgerlichen Demokratien wie in den Vereinigten Staaten, dazu zählen auch die Diktaturen, die in unterdrückten Nationen, wie den lateinamerikanischen existieren, 2. die Diktatur des Proletariats wie in der Sowjetunion oder in China vor der Usurpation der Macht durch die Revisionisten und 3. die Neue Demokratie als gemeinsame Diktatur, die auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern basiert, geführt vom Proletariat mit der Kommunistischen Partei an der Spitze […]." (Über den Marxismus-Leninismus, S. 8) Im Anschluss an Mao und Gonzalo geht die KP Perus davon aus, dass die "Staatssysteme der Welt" auf „drei Grundtypen reduziert werden können, laut ihres Klassencharakters: Republik unter der Diktatur der Bourgeoisie, die auch die Staaten der alten Demokratie ausmachen und die Republik der gemeinsamen Diktatur der Grundbesitzer und Großbourgeoisie; Republiken unter der Diktatur des Proletariats; und Republik unter der gemeinsamen Diktatur der revolutionären Klassen […]." (Allgemeine politische Linie, S. 33.)<br />
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Andere Grundsätzlichere Fragen zum Thema Maoismus, wie die Strategie des „langfristigen Volkskriegs“, die Etappe der "neuen demokratischen Revolution" oder die Theorie des „Zweilinienkampfs“ werden perspektivisch durch die [[AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei]] bearbeitet. Fragen zur Polemik zwischen der Sowjetunion und China über die „friedliche Koexistenz“, die „Kulturrevolution“ und die maoistische Position, die Sowjetunion sei „sozialimperialistisch“ gewesen, gehören zum Arbeitsbereich der [[AG Sozialismus]].<br />
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Eine längere Version dieses Artikels (befindet sich noch in Bearbeitung) findet ihr hier: '''[[Die Staatsfrage im Maoismus]]'''<br />
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Vertreten werden solche oder ähnliche Positionen in Deutschland zum Beispiel von der Sozialistischen Linken (SoL) oder dem mittlerweile aufgelösten Jugendwiderstand (JW).<br />
===Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt)===<br />
Der ''Gegenstandpunkt'' (GSP, früher ''Marxistische Gruppe'') vertritt eine eigene Staatstheorie, die davon ausgeht, der bürgerliche Staat könne aus den abstrakten Kategorien der politischen Ökonomie "abgeleitet" werden. Den Ausgangspunkt dieser Ableitung bildet die einfache Warenzirkulation, in welcher die Warenbesitzer sich wechselseitig als "freie" und "gleiche" Privateigentümer anerkennen. Die Autoren des GSP sehen drei gemeinsame Interessen bei allen Privateigentümern: Die Erhaltung der Revenue, eine möglichst hohe Revenue und den kontinuierliche Fluss der Revenue. Daraus schlussfolgern sie, dass Schutz und Sicherung des Privateigentums, die Sicherung des Wirtschaftswachstums und ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft dem Gesamtinteresse aller Privateigentümer entsprechen, wozu als viertes das Interesse an gleichen Konkurrenzvoraussetzungen hinzutritt. Weil die Privateigentümer aber in der Verfolgung ihrer besonderen Interessen nicht die allgemeinen Interessen durchsetzen können, bedarf es des Staates: "Das besondere Dasein des Staates neben und außer der Gesellschaft der konkurrierenden Privaten – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit – ist das Resultat dieses Widerspruchs zwischen besonderem und allgemeinem Interesse in seinen verschiedenen Existenzweisen. Der Staat verkörpert die Loslösung der allgemeinen Interessen aus der Sphäre der Privaten und ihre Verwaltung in der Sphäre des Staates. Mit der Besonderung des Staates werden die allgemeinen Interessen zu seinen besonderen, deren Verwaltung allein ihm obliegt. <ref> von Flatow, Sybille / Huisken, Freerk: Zum Problem der Ableitung des bürgerlichen Staates, in: Prokla, 7 (1973), S. 121 </ref><br />
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Fertig ausformuliert und in den Reihen des GSP kanonisiert wurde diese "Staatsableitung" von Karl Held in ''Der bürgerliche Staat''. In Helds Analyse wird aus der „Besonderung des Staates“ letztendlich der „Staat als Subjekt“: "Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit und Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert.<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
<br />
Der Staat hält hier nicht nur die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Reproduktion aufrecht, er wird zum eigenständigen Subjekt mit eigenen Interessen: "Der souveräne Staat ist eine von den Bürgern getrennte, selbständige Instanz, die mit keinem besonderen Interesse identisch ist und gerade und nur deswegen von allen anerkannte Gewalt ist, weil er sein Interesse, das Allgemeinwohl, gegen die Privatsubjekte durchsetzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref> "In der Unterordnung aller Aufgaben, um deren Erfüllung willen er sich als politisches Subjekt der Ökonomie betätigt, unter das Kriterium des wirtschaftlichen Wachstums, in der Relativierung aller Funktionen entsprechend dieser Zielsetzung der Wirtschaftspolitik fällt der Grund des bürgerlichen Staates – die freie Konkurrenz – unmittelbar zusammen mit seinem Zweck: er ist bewußter Agent des Inhalts der Konkurrenz, die bekanntlich nicht die Individuen, sondern das Kapital in Freiheit setzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
<br />
Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates besteht daher beim GSP auch zuallererst darin, dass er nicht im Interesse der einen Klasse eine andere, sondern alle Individuen gleichermaßen unterwirft: "Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, daß er Klassenstaat ist: Durch die gleiche Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der Nutzen aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben." <ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat, URL: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat (29.12.2018) </ref><br />
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Der Staat wird dadurch also wesentlich (und nicht nur oberflächlich) zu einem (klassen)neutralen Subjekt erklärt, welches die äußeren Bedingungen der Konkurrenz organisiert und diese Bedingungen den Warenbesitzern unterschiedslos aufzwingt. <br />
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'''Vertreter:''' Neben dem ''Gegenstandpunkt'', dessen Aktivitäten sich fast auschließlich auf das akademische Milieu konzentrieren, werden diese Positionen auch von vielen studentischen Jugendgruppen in der "linksradikalen" und Antifa-Szene vertreten. Dies hat häufig damit zu tun, dass Leute aus der Szene ihre eigene theoretische Bildung über Lesekreise und Seminare des Gegenstandpunkt erwerben. Besonders in Teilen der ''Sozialistischen Jugend - Die Falken'' lässt sich ein starker ideologischer Einfluss des GSP feststellen, das gleiche Phänomen taucht aber auch immer wieder in Gewerkschaftsjugenden oder ''solid SDS''-Gruppen auf. Besonders stark ist zudem die Überschneidung zu "antinationalen" Gruppen, wie etwa bei der Dortmunder ''Gruppe K''.<br />
<br />
Einen Text zur ausführlicheren Einbettung in den Kontext der "Staatsableitungsdebatte" findet ihr hier: [[Der Staat als Subjekt (Staatsableitungsdebatte)]]<br />
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Einen Hintergrundartikel zum Gegenstandpunkt hier: [https://kommunistische.org/diskussion/standpunkt-gegen-den-marxismus/ Standpunkt gegen den Marxismus (Thanasis Spanidis)]<br />
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===Anarchistische Staatskritik===<br />
Der "Anarchismus" (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) umfasst ein sehr diffuses und heterogenes Spektrum, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Dennoch lassen sich grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Anarchisten vertreten eine politische Haltung, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbstbestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammenschließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. Im Mittelpunkt stehen die Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, und Selbstverwirklichung der Individuen im Rahmen der kollektiven Selbstverwaltung („Autonomie“) möglichst kleiner Organisationseinheiten. Im Anarchismus fließen die Traditionen des bürgerlichen Liberalismus (individuelle Freiheit) und der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen (Kollektivität und Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Heute wird häufig das Adjektiv "libertär" (deutsch: freiheitlich) als Synonym für „anarchistisch“ benutzt.<br />
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An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich aus Sicht der Anarchisten auch schon die Bewegung selbst messen lassen, die für die „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Position so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren, geschweige denn nach der siegreichen Revolution einen eigenen Staat zur Niederhaltung der Unterdrücker und zum Aufbau und zur Verteidigung der Revolution schaffen darf. In Abgrenzung zu solchen individual-anarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen.<br />
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Die anarchistische Staatskritik richtet sich nicht hauptsächlich gegen den bürgerlichen Staat als Klassenstaat der Bourgeoise, sondern lehnt jede Form der Macht, der Autorität und der Staatlichkeit überhaupt als Grundübel der Gesellschaft ab. Der Anarchismus vertritt also in letzter Konsequenz einen klassenneutralen Machtbegriff – er lehnt die Macht nicht als Klassenmacht der Ausbeuter ab, sondern als abstraktes Ding an sich, das aus der Welt geschafft werden soll. <br />
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'''Marx und Engels vs. Bakunin:''' Die erste ausführliche theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. <br />
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Engels fasste die Kritik an der Staatsauffassung Michael Bakunins und der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen: "Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. [...]<br />
Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll,[...] so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität <nowiki>=</nowiki> Staat <nowiki>=</nowiki> absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!" <ref>Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33;Dietz-Verlag; S. 388-389.</ref><br />
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Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der politische Ausdruck dieser Widersprüche ist nicht die Klassenherrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter und alle anderen Werktätigen, sondern die Macht und Autorität des Staates überhaupt. Diese Auffassung hat weitreichende taktische und strategische Konsequenzen (siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]]).<br />
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'''Heutige Vertreter:''' Der Anarchismus in seiner klassischen Form, also als politische Ideologie und Bewegung mit realer Verankerung in der Arbeiterbewegung (wie ihn Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder die spanischen Anarchosyndikalisten vertraten) ist heute kaum mehr präsent. Vulgarisierte Formen des Anarchismus sind dagegen in der "autonomen" Szene und linken Subkulturen nach wie vor sehr weit verbreitet. Neben zahlreichen Splittergruppen, die in der BRD heute ein gemeinsames, hauptsächlich kleinbürgerlich geprägtes Milieu bilden und von der Arbeiterbewegung meist isoliert sind, bildet die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) eine gewisse Ausnahme. Diese Organisation versucht im Rahmen einer kleinen anarchistischen Richtungsgewerkschaft außerhalb der DGB-Gewerkschaften Klassenkämpfe und Streiks zu organisieren.<br />
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Verschiedene "anarchokommunistische" Gruppen und Zusammenschlüsse in Deutschland versuchen Aspekte des Marxismus (gewerkschaftliche Organisation, Klassenkampf, Vergesellschaftung der Produktionsmittel) mit Standpunkten des Anarchismus (Ablehnung von Hierarchien, zentralistischer Organisationsformen und der Diktatur des Proletariats) zu vereinen. Seit Dezember 2018 existiert mit der Initiative [https://www.dieplattform.org/wir/ "die Plattform"] z.B. ein Versuch, einen bundesweiten "plattformistischen" anarchakommunistischen Organisationszusammenhang aufzubauen und im Rahmen einer eigenen Schriftenreihe eine theoretische Debatte anzustoßen.<br />
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Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxistismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff. Die Rojava-Solidarität vereint heute ein politisches Spektrum, dass von der MLPD über die verschiedenen roten Gruppen, die iL, die Linkspartei und bis zu den antinationalen und antideutschen Zusammenhängen reicht.<br />
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==Bezug zu unseren Grundannahmen==<br />
==Wie wollen wir den Dissens klären?==<br />
==Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?==</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Der_Klassencharakter_des_b%C3%BCrgerlichen_Staats&diff=6896Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats2019-12-21T11:38:14Z<p>Dio: /* Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise" */</p>
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<div>Zurück zur [[AG Formen bürgerlicher Herrschaft]]<br />
==Überblick==<br />
Dieser Artikel soll einen ersten groben Überblick über die verschiedenen Auffassungen zum Klassencharakter des bürgerlichen Staats innerhalb des kommunistischen und im weiteren Sinne "linken" Spektrums geben. Ist der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" die organisierte politische Macht der gesamten Bourgeosie und damit das Instrument ihrer Klassenherrschaft? Oder ist der Staat an sich ein klassenneutraler Apparat, der sowohl für die Zwecke der Kapitalistenklasse, als auch im Interesse der Arbeiter in Bewegung gesetzt werden kann? Ist der Staat im Stadium des Imperialismus nur noch das Herrschaftsinstrument eines kleinen Teils der Kapitalisten, der Monopolbourgeoisie, die ihre Macht mit Hilfe des Staats auch gegen die "kleine und mittlere Bourgeoisie" durchsetzt? Oder ist der bürgerliche Staat nach 1945 gar zu einer "echten Demokratie" geworden, in der die politische Macht nicht mehr von den besitzenden Klassen ausgeht, sondern von der demokratischen Mehrheit?<br />
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Die Unterschiede in der Analyse und die Einschätzung des Klassencharakters des bürgerlichen Staats haben weitreichende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung. Die sich daraus ergebenden Dissense werden an anderer Stelle unter dem Stichwort "'''[[Staat und Revolution]]'''" dargestellt.<br />
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===Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise"===<br />
Die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus (Marx, Engels, Lenin) bestimmten den bürgerlichen Staat als "ideellen Gesamtkapitalisten" und als Instrument der "Diktatur der Bourgeosie". <br />
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Schon im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 schrieben Marx und Engels: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. […] Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." <ref> Marx, K., Engels, F.: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, Berlin/DDR 1977, S. 464/482. </ref> Diese Definition des Staates als „Ausschuss“ zur Regelung der „gemeinschaftlichen Geschäfte“ der Bourgeoisie deckt sich mit der späteren Formulierung von Engels, in der er den bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnete: "Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten […] nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. <ref> Engels,F.: Zur Wohnungsfrage, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 18, Berlin/DDR 1973, S.257-258.</ref> Der Staat schützt die kapitalistische Produktionsweise sowohl gegen den Widerstand der Arbeiter als auch gegen die sich widersprechenden Einzelinteressen individueller Kapitalisten. Laut Engels setzt der „ideelle Gesamtkapitalist“ also das Interesse der gesamten herrschenden Klasse nicht nur gegenüber dem Proletariat, sondern auch gegenüber ihrer einzelnen Klassenindividuen durch: "Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." <ref> Engels,F.: Anti-Dühring (1877), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 20, S. 260.</ref> <br />
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Der Staat ist also einerseits Instrument zur Unterdrückung der Arbeiter und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse, gleichzeitig ist er notwendig, um die Bourgeoisie über die kapitalistische Konkurrenz hinweg zu Kompromissen zu zwingen und sie so erst als herrschende Klasse zu organisieren.<br />
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Lenin führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine scharfe Polemik gegen die Revisionisten und Reformisten in der deutschen und russichen Sozialdemokratie. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fasste er die Staatsauffassung von Marx und Engels in seiner Schrift ''Staat und Revolution'' (1917) zusammen: "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen 'Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. <ref> Lenin, W.I.: Staat und Revolution, in: in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Lenin Werke Bd. 25, Berlin/DDR 1974, S. 399. </ref> Der Staat ist demnach eine Macht, "die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben. Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt ‚nicht mehr unmittelbar zusammenfällt‘ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer ‚selbsttätigen bewaffneten Organisation‘. [...] Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?" <ref> ebd., S. 401.</ref><br />
Abschließend fasste Lenin seine Studien zur marxschen Staatsauffasung in der Bestimmung des bürgerlichen Staats als „Diktatur der Bourgeoisie“ zusammen: "Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist […]. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie." <ref> ebd., S. 425.</ref><br />
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Von dieser Analyse ausgehend formulierten die Klassiker die strategische Orientierung auf die "Zerschlagung des bürgerlichen Staats" und die Errichtung der "Diktatur des Proletariats". Siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]].<br />
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Für eine ausführlichere Darstellungen der Annahmen der Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus zum Staat, siehe: [[Grundannahmen Staat]]<br />
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===Der Staat als klassenneutrales Instrument===<br />
Vertreter dieser Auffassung gehen davon aus, dass der bürgerliche Staat und seine Organisationsapparate an sich klassenneutrale Instrumente sind. Das heißt sie werden unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen zwar von der Bourgeoisie benutzt, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen, die Arbeiterklasse niederzuhalten und die Bedingungen der Kapitalakkumulation möglichst günstig zu gestalten, könnten unter anderen Bedingungen, zum Beispiel nach dem Wahlsieg einer Arbeiterpartei, aber genausogut im Interese des Proletariats in Bewegung gesetzt werden, zum beispiel um den Kapitalismus durch Sozialreformen allmählich in den Sozialismus zu überführen. Die Instrumente selbst, also die Staatsorganisationen vom Parlament über die Verwaltungs- bis hin zu den Repressionsorganen, verhalten sich dieser Auffassung nach also neutral zu den Zwecken ihrer Anwendung. Weder ihre konkrete Organisationsform noch das Personal, aus dem sie bestehen, tragen demnach Klassencharakter. Diese Auffassung steht im Widerspruch zu der Position, der bürgerliche Staat sei seiner Form und seinem Klasseninhalt nach "ideeller Gesamtkapitalist" und Ausdruck der "Diktatur der Bourgeoisie" (s.o.).<br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):'''<br />
Die klassischen Vertreter einer solchen Staatsauffassung waren die „Revisionisten“ in der deutschen Sozialdemokratie, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen und zentrale Annahmen des wissenschaftlichen Sozialismus zu "revidieren" begannen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Eduard Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. <br />
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Bernstein bestritt in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899) die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Aufhebung des bürgerlichen Staats und schlug stattdessen einen friedlichen und demokratischen Reformweg zum Sozialismus vor. Bernstein argumentiert, die bisherige Ausrichtung der Sozialdemokratie auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus sei durch die Realität überholt. Das kapitalistische System habe sich als weitgehend krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, ein „Zusammenbruch“ des Kapitalismus bzw. eine revolutionäre Situation sei nicht mehr zu erwarten. Die Aufgabe der SPD sei es nun, im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch „Sozialreformen“ Verbesserungen für die Arbeiterklasse und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards zwischen den Klassen durchzusetzen. Den Weg, um diese Ziele zu erreichen, sah Bernstein in der schrittweisen Ausdehnung des parlamentarischen Einflusses der Sozialdemokratie bis hin zur Übernahme der Regierung. Diese würde dann weitreichende Reformen im Sinne der Arbeiterklasse und des Sozialismus durchsetzen. Das entsprechende Credo des Reformismus lautete: „der Weg ist alles, das Ziel ist nichts.“<br />
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Der klassische Reformismus setzt notwendig eine bestimmte Auffassung über den bürgerlichen Staat voraus. Wenn es möglich sein soll, den Kapitalismus allmählich durch Sozialreformen zu überwinden, so muss es auch möglich sein, dass die Arbeiterklasse diese Reformen im Staatsapparat gegen den Willen der Bourgeoisie durchsetzt oder diese zumindest zu Kompromissen zwingt – und zwar so weit, dass die Gesellschaft immer mehr sozialistische Züge annimmt und der Staat letztlich aufhört, bürgerlicher Staat zu sein und allmählich zu einem Instrument in den Händen der Arbeiterklasse wird. Dieses Instrument an sich muss also „klassenneutral“ sein und je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse sich entwickeln, kann es sowohl von der einen, als auch von der anderen Klasse kontrolliert und im eigenen Interesse eingesetzt werden. Der Staat steht in dieser rein instrumentalistischen Sichtweise der ihm zugrunde liegenden Produktionsweise also äußerlich gegenüber, er besitzt keine innere Verbindung zu ihr. Der Überbau scheint unabhängig von seiner ökonomischen Basis agieren zu können. Der bürgerliche Staat wird aus dieser Sichtweise nicht als spezifisches, den Klasseninteressen der Bourgeoisie entsprechend geformtes Werkzeug verstanden. Ergo kann das Proletariat dieses Werkzeug unverändert übernehmen, anstatt sich einen eigenen Apparat zu schaffen, der den spezifischen Erfordernissen und Klasseninteressen der Arbeitermacht entspricht.<br />
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'''Eurokommunismus:'''<br />
Ab den 1970er Jahren knüpften die sogenannten "Eurokommunisten" mit vielen ihrer Positionen an die theoretische Tradition des klassischen Revisionismus an, begründeten ihre Haltung aber damit, dass die Kräfteverhältnisse und somit auch der Charakter des bürgerlichen Staats sich nach 1945 grundlegend geändert hätten. Daher seien der „sowjetische Weg zum Sozialismus“ und die Diktatur des Proletariats als historischer Sonderfall überholt und Europa mittlerweile in eine Epoche der demokratischen Übergänge eingetreten. Sie vertraten die Einschätzung, die bürgerliche Demokratie sei nach dem Sieg über den Faschismus im Westen zu sehr gefestigt, als dass die Herrschenden gewaltsam gegen einen demokratischen Übergang zum Sozialismus vorgehen könnten. Die Hauptvertreter des Eurokommunismus waren die kommunistischen Parteien Frankreichs (PCF), Italiens (PCI) und Spaniens (PCE).<br />
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Die eurokommunistische Strategie des friedlichen, parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus ging mehr oder weniger offen davon aus, dass der Staat als ein „Feld im Klassenkampf" aufzufassen sei, auf dem sich zwar die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen widerspiegeln, das an sich aber klassenneutral sei. Durch Veränderungen der politischen Mehrheiten sollten der Staat und seine Institutionen durch die Kommunisten kontrolliert und im Sinne der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden. Die Regierung sollte ein Reformprogramm umsetzen, das die Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung Sozialismus entwickeln würde. Auch im Sozialismus sollte der bürgerlich-liberale Parlamentarismus als politische Herrschaftsform bruchlos beibehalten werden: „Die repräsentative Demokratie, kombiniert mit Formen der direkten Demokratie, kann ohne weiteres auch die Form des sozialistischen Systems sein.“<ref>zitiert nach: Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen, 1977.</ref> In Teilen der eurokommunistischen Strömung wurde sogar die Notwendigkeit der Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Länder in imperialistischen Staatenbündnissen wie der EG und der NATO offen verteidigt. Ausführlich dargelegt ist das Staatsverständnis der Eurokommunisten in Santiago Carrillos ''Eurokommunismus und Staat''<ref>Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.</ref>. <br />
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Ausführlicherer Artikel: [[Eurokommunistische Staatsauffassung]]<br />
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'''Andere Vertreter:'''<br />
Auch heute gibt es zahlreiche "linke" Vertreter dieser Auffassung. Die Annahme, der bürgerliche Staat sei ein grundsätzlich klassenneutrales Instrument, bildet die Voraussetzung jeder Strategie, die auf den Eintritt in die bürgerliche Regierung zum Zweck der Umsetzung von Reformen abzielt. Das gilt eindeutig für die deutsche ''Linkspartei'' und ihre europäischen Geschwisterorganisationen, allen voran die einflussreiche griechische ''SYRIZA''. Auch die "antimonopolistische Strategie" der DKP unterstellt letztlich eine Klassenneutralität des Staats der Monopole (s.u.). In unterschiedlichen Abstufungen wird diese Auffassung auch von den "bolivarischen Bewegungen" bzw. den Vertretern eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien etc. vertreten.<br />
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===Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole===<br />
Eine seit 1945 weit verbreitete Position geht davon aus, dass der bürgerliche Staat im Monopolkapitalismus nicht mehr das Interesse der gesamten herrschenden Klasse vertritt, sondern sich zum alleinigen Herrschaftsinstrument der Monopole entwickelt. Diese Vorstellung beruft sich häufig auf die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (s.o.) und ist eng verbunden mit den verschiedenen Varianten der [[Strategie der Übergänge]]. <br />
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'''Deutsche Kommunistische Partei (DKP):'''<br />
Die DKP vertritt seit ihrer Gründung eine Strategie der "antimonopolistischen Demokratie" (AMD). Diese wurde erstmals im Programm von 1978 explizit ausformuliert und beschlossen. Auch im Programm von 2006 bildet die AMD, von einigen kleineren Relativierungen abgesehen, noch immer den Kern der strategischen Vorstellungen der DKP. <br />
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Zu den wichtigsten Grundannahmen der AMD gehört, dass der bürgerliche Staat zu einem Instrument in den Händen der Monopole, also einer Handvoll Finanzoligarchen innerhalb der Bourgeoisie, geworden ist. Der Staat, so die These, setzt deren Profitinteressen rigoros gegen alle „nicht-monopolistischen Schichten“, also nicht nur gegen die Arbeiterklasse und alle anderen Werktätigen, sondern auch gegen die „kleine und mittlere Bourgeoisie“ durch. Der bürgerliche Staat vernachlässigt aus dieser Sicht also gewissermaßen seine Aufgabe als „ideeller Gesamtkapitalist“ und verkörpert gegenüber der gesamten Gesellschaft (und einem Großteil der Bourgeoisie) nicht mehr das langfristige Gesamtinteresse aller Kapitalisten, sondern einseitig das Partikularinteresse des Monopolkapitals. <br />
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Im DKP-Programm von 2006 heißt es dazu: "Als Machtinstrument der Monopolbourgeoisie setzt er [der Staat] immer unverblümter eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durch. An die Stelle der sozialen Integration tritt die Konfrontation. Der bürgerliche Staat verliert tendenziell seine Fähigkeit zur sozialen und politischen Vermittlung, weil die Basis für die Organisierung stabilerer sozialer Kompromisse, die größere Teile der Gesellschaft einbeziehen, verloren geht. So wird die bürgerliche Demokratie ausgehöhlt und verliert ihren Inhalt. Bei Beibehaltung formaler Demokratie vollzieht sich der Übergang vom 'Sozialstaat' zum autoritären 'Sicherheitsstaat'." (S. 12) <br />
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Damit wird zwar der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht geleugnet, aber eine neue strategische Bruchlinie zwischen den Monopolen und allen „nicht-monopolistischen“ Schichten aufgemacht, die aus dieser Sicht nun in Opposition zum "Staat der Monopole" geraten. Entlang dieser Linie soll sich ein „antimonopolistisches Bündnis“ formieren, das neben der Arbeiterklasse nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch bedeutende Teile der „nicht-monopolistischen“ Bourgeoisie umfassen soll (siehe dazu das Programm von 2006, S. 33). Dieses Bündnis hat zwar nicht den Sozialismus zum Ziel, wohl aber eine Zwischenetappe der „antimonopolistischen Übergänge“, in deren Rahmen die Kommunisten sich an der Regierungsmacht beteiligen und zunächst im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise eine politische „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ durchsetzen sollen.<br />
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Diese Vorstellung eines weitgehend bruchlosen Übergangs des Staatsapparats aus den Händen der einen in die Hände der anderen Klasse unterstellt eine instrumentalistische Sicht auf den Staat und behandelt diesen in letzter Konsequenz als ''klassenneutrales Werkzeug'' (s.o.). Zugespitzt formuliert: Der Klassencharakter des Staates scheint sich aus Sicht der Vertreter der antimonopolistischen Strategie nicht aus seiner Funktionsweise und seinem Wesen, sondern aus den politischen Kräfteverhältnissen zu ergeben. Ändert die Regierung ihren Klassencharakter von „monopolistisch“ zu „nicht-monopolistisch“, so ändert sich demzufolge auch der Klassencharakter des Staates. <br />
<br />
Hier geht es zu einer längeren Version dieses Artikels: [http://%E2%80%9EAntimonopolistische_Demokratie%E2%80%9C_(DKP) Antimonopolistische Demokratie]<br />
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'''Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD):'''<br />
Zu den wichtigsten Alleinstellungsmerkmalen der Theorie und Programmatik der MLPD gehört der Begriff der „Übermonopole“ (siehe dazu den Entsprechendne Artikel [[Imperialismus_als_Weltsystem|"Imperialismus als Weltsystem"]] der AG Politische Ökonomie], der auch ihre Analyse des bürgerlichen Staats der Gegenwart wesentlich prägt: "Die hier ansässigen internationalen Übermonopole, die zum allein herrschenden internationalen Finanzkapital gehören, haben sich den Staat vollkommen untergeordnet, und die Organe des Monopolkapitals sind mit den Organen des Staatsapparats verschmolzen. Sie haben ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft, auch über andere Monopole und die nicht monopolisierten Kapitalisten, errichtet. Über die Organe der EU nehmen sie Einfluss auf andere europäische Staaten." (Programm der MLPD)<br />
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Die MLPD geht also davon aus, dass sich diese „Übermonopole“ den bürgerlichen Staat „vollkommen untergeordnet“ haben – aus dieser Formulierung kann geschlussfolgert werden, dass der Staat nicht mehr als „ideeller Gesamtkapitalist“ das Gesamtinteresse des Kapitals vertritt, sondern von der Fraktion der „Übermonopole“ bzw. des „allein herrschenden Finanzkapitals“ allen anderen Teilen der Bourgeoisie gegenüber als Herrschaftsinstrument benutzt wird. Zudem geht die MLPD davon aus, dass die „Organe des Monopolkapitals“, die im vorangegangenen Stadium des Kapitalismus scheinbar noch unabhängig vom und außerhalb des Staatsapparates existierten, heute vollständig mit diesem „verschmolzen“ sind. <br />
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Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Programmatik der MLPD findet sich hier: [https://kommunistische.org/diskussion/einschaetzung-der-programmatik-der-mlpd/ Philipp Kissel, Einschätzung der Programmatik der MLPD].<br />
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Die Positionen der MLPD zum bürgerlichen Staat entnehmen wir ihrem zuletzt 2016 überarbeiteten Parteiprogramm.<ref>https://www.mlpd.de/parteiprogramm</ref><br />
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===Staatsmonopolistischer Kapitalismus===<br />
Hier soll kurz dargestellt werden, wie die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus den klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt. In welchem Verhältnis stehen Staat und Monopole? Ist der Staat alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole oder auch "ideeller Gesamtkapitalist", also Ausdruck der Herrschaft der gesamten Bourgeoisie?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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Siehe hierzu den Dissens [[Monopole und Staat]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus.<br />
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===Der Staat als "echte Demokratie"===<br />
Die Position, der bürgerliche Parlamentarismus auf der ökonomischen Basis der kapitalistischen Produktionsweise sei eine "echte Demokratie" läuft letztlich auf die Position hinaus, die gesellschaftlichen Verhältnisse würden nicht von der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie, sondern von der politischen Mehrheit bestimmt. Die Frage des Klassencharakters der Staats wird also reduziert auf eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Je nach dem, ob die Bourgeoisie oder die Arbeiterklasse im demokratischen Prozess mehr Kontrolle über den Staatsapparat ausübt, verschiebt sich auch dessen Klassencharakter. Diese Auffassung setzt zugleich ein Verständnis des Staates als ''klassenneutrale Instrument'' voraus (siehe oben). <br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):''' <br />
Die Vorstellung einer fortschreitenden Demokratisierung des bürgerlichen Staats und einer damit einhergehenden Verwandlung seines Klassencharakters spielten eine zentrale Rolle im Denken des klassischen Revisionismus. Rosa Luxemburg polemisierte schon 1899 gegen Eduard Bernstein: „die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie [sei] eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie.“ <ref> Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), Zweiter Teil </ref> Bürgerliche Demokratie und Parlamentarismus waren für Bernstein nicht taktische Mittel im Klassenkampf, sondern tatsächlicher Ausdruck der Herrshaft durch das Volk bzw. die Mehrheit, also der Arbeiterklasse: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. […] Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“<ref>Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.154-156.</ref> Für die Strategie der Arbeiterbewegung heißt das: „die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.“<ref>Ebd., S. 154-156.</ref> Die Arbeiterbewegung soll sich also darauf beschränken, im legalen Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus für Reformen und schrittweise Verbesserungen zu kämpfen. Der bürgerliche Staat ist dabei nicht ihr Gegner, sondern ihr Werkzeug. Die taktische Herausforderung besteht demnach einzig darin, auf demokratischem Weg in die Position zu gelangen, dieses Werkzeug für die eigenen Zwecke nutzen zu können.<br />
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'''Position von SYRIZA:''' <br />
Die griechische "Linkspartei" SYRIZA argumentiert in ihrem Regierungsprogramm, „der Staat [sei] keine Festung, sondern ein Netzwerk, ein Verhältnis und eine strategische Arena für den politischen Kampf. Er verändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, im Gegenteil, seine notwendige Transformation hat konstante und kontinuierliche Kämpfe zur Voraussetzung, die Einbeziehung des Volkes, ständige Demokratisierung.“ (Quelle: S''YRIZAs Regierungsprogramm''<ref>Zitiert nach einem auf Englisch erschienenen Artikel der KKE, ins Deutsche Übersetzt. URL: https://inter.kke.gr/en/articles/Criticism-of-certain-contemporary-opportunist-views-on-the-state/ (9.1.2019)</ref>) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der bürgerliche Staat von SYRIZA nicht seinem Wesen nach als ein Organ der bürgerlichen Klassenherrschaft angesehen, sondern als eine Ansammlung von Institutionen, die im Interesse des Volkes „transformiert“ werden können. Auf Grundlage dieser Sichtweise wird argumentiert, dass der Charakter des bürgerlichen Staats durch die richtigen politischen Kräfteverhältnisse geformt oder gar "transformiert" werden kann, solange sich nur „linke Regierungen“ durchsetzen können. <br />
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'''Position der DKP:''' <br />
Die DKP bleibt in ihrer Einschätzung der bürgerlichen Demokratie widersprüchlich. Einerseits ist in ihrem Programm von 2006 zwar die Rede davon, dass sich durch die "Globalisierung" die "Tendenz zur Reaktion" verschärft, dass die Demokratie untergraben wird (siehe S. 12) und dass letztlich eine "revolutionäre Überwindung" (S. 28) des Kapitalismus nötig sei. Andererseits gehört es jedoch zu den Kernthesen ihrer "antimonopolistischen Startegie", dass noch auf dem Boden der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und innerhalb des institutionellen Rahmens des bürgerlichen Staats umfassende Reformen und sogar eine "antimonopolistisch-demokratische Umgestaltung" (S. 32) möglich seien: "Je mehr es dabei gelingt, Veränderungen im Sinne von Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, von demokratischer Kontrolle, von Entmilitarisierung und Demokratisierung in Staat und Gesellschaft zu erreichen, je größer der Einfluss der demokratischen und sozialistischen Kräfte überall dort ist, wo Meinungsbildung stattfindet, desto besser sind die Chancen im Kampf um die Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und für die Öffnung des Weges zum Sozialismus. [...] Es geht um die [...] demokratische Einflussnahme auf den staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus im nationalen Rahmen wie im Rahmen der Europäischen Union und anderer internationaler staatsmonopolistischer Institutionen". (S. 30) Diese Vorstellung läuft letztlich also darauf hinaus, die Kommunisten und „Demokraten“ könnten den ideellen Gesamtkapitalisten dem Einfluss der Klasseninteressen der Bourgeoisie entreißen und ihrem eigenen politischen Willen unterwerfen.<br />
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'''Andere Vertreter:''' Ebenfalls weit verbreitet sind Vorstellungen über den demokratischen Charakter des bürgerlichen Staats in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dort gehört der Begriff der „Mitbestimmung“ nicht umsonst zum ideologischen Kernrepertoire. Die Vorstellung, im Betrieb ließe sich zwischen Kapital und Arbeit auf Augenhöhe eine demokratische Mitbestimmung und dadurch ein Interessenausgleich verwirklichen, bildet das Herzstück der Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Ähnliche Sichtweisen werden heute außerdem in einer Reihe lateinamerikanischer Länder gepflegt. Verschiedene „fortschrittliche“ und „linke“ Regierungen versuchen unter dem Banner des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bzw. der „bolivarischen Revolution“ das bürgerliche Staatsystem durch Gesetzesreformen und Volksabstimmungen grundlegend zu veränden.<br />
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==="Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci)===<br />
Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, verfasste in den 1920er und 30er Jahren in faschistischer Gefangenschaft seine „Gefängnishefte“, ein umfangreiches theoretisches Werk, dessen einzelne Bestandteile Gramsci unter den Bedingungen seiner Haft leider nicht mehr zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen konnte. Zu den wichtigsten Aspekten dieses Werks gehören Gramscis Überlegungen zur besonderen Form der Herrschaft der Bourgeoisie in den entwickelten imperialistischen Ländern und die daraus abgeleiteten Weiterentwicklungen der marxistischen Staatstheorie.<br />
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In den Gefängnisheften bringt Gramsci den Staat und die Herrschaft der Bourgeoisie auf die kurze Formel: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang" (H. 6, §88., S. 783)<ref>Antonio Gramsci, Gefängnisgefte. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1991. Im Folgenden wird aus den Gefängnisheften nur noch in Klammern nach Heft Nr., Paragraph und Seitenzahl zitiert.</ref><br />
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Gramsci weitet den Staatsbegriff damit aus und entwickelt sein Konzept des "integralen Staates". Dieser umfasst einerseits die "politische Gesellschaft", womit alle explizit staatlichen Strukturen und Institutionen gemeint sind, also das Parlament, die Beamtenapparate, die Repressionsorgane, die staatlichen Bildungseinrichtungen etc. Andererseits betrachtet Gramsci aber auch die "Zivilgesellschaft" als Teil der bürgerlichen Staatlichkeit. Gemeint sind damit alle Strukturen außerhalb der Staatsapparate, über die die Bourgeoisie ihre Herrschaft absichert, also private Medien, Bildungsstätten, Institute, Stiftungen, Clubs, Thinktanks etc. Mit Blick auf den Sieg der Oktoberrevolution in Russland und die darauffolgenden Niederlagen der Revolutionsversuche in Westeuropa schrieb Gramsci: "Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand;" (H. 7, §16., S. 873-874) An anderer Stelle heißt es: "zumindest was die fortgeschrittenen Staaten angeht, wo die 'Zivilgesellschaft' eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften 'Durchbrüchen' des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg." (H. 13, §14, S. 1553-1554) Die Stabilität der bürgerlichen Herrschaft hängt demnach also wesentlich davon ab, inwieweit die Zivilgesellschaft herausgebildet und die "Hegemonie" der Bourgeoisie enwickelt ist. <br />
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Mit dem Begriff der Hegemonie versucht Gramsci der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass sich die Macht der Bourgeoisie nicht nur auf das Staatliche Gewaltmonopol und die Repressionsapparate stützt, sondern wesentlich über ideologische Integration und die Erzeugung von "Konsens" abgesichert wird. Hegemonie bezeichnet also die politisch-ideologische Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über eine andere. "Die 'normale' Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne daß der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt, sondern im Gegenteil sogar versucht wird, zu erreichen, daß der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint […]" (H. 13, §37, S. 1607-1613). Konsens bezeichnet hier einen Zustand, in dem die Beherrschten die Herrschaft zumindest passiv ertragen oder sogar aktiv die Sichtweise übernehmen, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse entsprächen auch ihren Interessen und seien die bestmöglichen. Gramsci schreibt, dass "eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. […] Die politische Führung wird zu einem Aspekt der Herrschaft, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Klassen zur Enthauptung derselben und zu ihrer Machtlosigkeit führt. Es kann und muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben." (H. 1, §44, S. 101-113) <br />
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Heute wird der Begriff der Hegemonie fast ausschließlich Gramsci zugeschrieben, dabei war er zu dessen Lebzeiten unter den Theoretikern der Kommunistischen Internationale weit verbreitet und wurde breit diskutiert. Wie Buci-Glucksmann bemerkt, war er "im gesamten Marxismus der Dritten Internationale überaus geläufig. Man findet ihn vor allem unter der Feder Lenins vor 1917, aber auch später. Man finet ihn ebenso oft bei Bela Kun, Varga, Stalin, und vor allem Bucharin, der ihn in einer Weise benutzte, die der Gramscis nahezustehen scheinen könnte". <ref>Buci-Glicksmann, Gramsci und der Staat, S. 17.</ref> <br />
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Die "führende Klasse" oder Klassenfraktion ist laut Gramsci in ihrem Ringen um Hegemonie also in der Regel darum bemührt, alle anderen Fraktionen ihrer Klasse und ihrer "verbündeten Klassen" in ihren "Block an der Macht" zu integrieren. Das gelingt nur, indem sie mit diesen anderen Fraktionen ein Komprimissprogramm aushandelt, das bestmöglich das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse zusammenfasst und deren innere Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Der Ort, an dem diese Kompromisse ausgehandelt und schließlich in politische Praxis übersetzt werden, ist der bürgerliche Staat selbst. Gegenüber den "feindlichen Klassen" (also dem Proletariat und den anderen Werktätigen) tritt die Bourgeoisie als "herrschend" auf, sie übt ihre Hegemonie einerseits durch integration ihrer ideologischen Führer und andererseits durch materielle Zugeständnisse aus: "Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, daß sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, daß also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, daß solche Opfer und ein solcher Kompromiß nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt." (H. 13, §18, S. 1565-1573) Gramsci beschreibt in dieser Formulierung den grundsätzlichen Klassencharakter des Staates. Die Kompromisse können nie "das Wesentliche" betreffen - also die kapitalistische Produktionsweise - sondern sich nur in deren Rahmen Bewegen. <br />
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Gramscis Staatstheorie knüpft eindeutig an die Auffassung des Staats als "ideeller Gesamtkapitalist" (s.o.) an, indem sie einerseits die Integration der gesamten herrschenden Klasse in einem "historischen Block" betont und andererseits die zumindest passive Einbindung der Beherrschten im Rahmen der Hegemonie betont. Mit einer Staatsauffassung, die den bürgerlichen Staat im Monopolkapitalismus als "alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole" (s.o.) versteht, ist Gramscis Ansatz kaum zu vereinbaren. <br />
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Mit Blick auf den Staat schreibt Gramsci außerdem, dieser sei "das Instrument zur Anpassung der Zivilgesellschaft an die ökonomische Struktur". (H. 10.II, §15, S. 1267) Dabei spielen Medien und andere ideologische Apparate eine entscheidende Rolle: "Was 'öffentliche Meinung' genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der 'Zivilgesellschaft' und der 'politischen Gesellschaft', zwischen dem Konsens und der Gewalt. Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft. […] die öffentliche Meinung, wie sie heute Verstanden wird, ist am Vorabend des Untergangs der absolutistischen Staaten entstanden, das heißt in der Zeit des Kampfes der neuen bürgerlichen Klasse um die politische Hegemonie und die Erlangung der Macht. […] [Es entbrennt ein] Kampf ums Monopol der Organe der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, Parlament". (H. 7, §83, S. 916-917)<br />
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Verliert die herrschende Klasse ihre Hegemonie so kommt es zur "Hegemonie-" bzw. "Autoritätskrise": "Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr 'führend', sondern einzig 'herrschend' ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die große Masse sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann". (H. 3, §34, S. 354-355) Der Verlust der Hegemonie darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem automatischen Verlust der Macht, schließlich verfügt die herrschende Klasse auch bei schwindendem Konsens noch immer über die Mittel des Zwangs. <br />
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Zu den strategischen Schlussfolgerungen, die Gramsci aus seiner Staatstheorie ableitete, siehe den Dissens-Artikel zu [[Staat und Revolution]] und dort den Abschnitt "Bewegungs- und Stellungskrieg". <br />
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Einige offene Fragen zu Gramsci und seiner Staatstheorie werden von unserer AG tiefergehend behandelt werden: Handelt es sich dabei um einen wegweisenden Beitrag zur marxistischen Staatstheorie im Zeitalter des Imperialismus und des entwickelten bürgerlichen Staats, an den die Kommunisten anknüpfen und den sie weiterentwickeln müssen? Oder enthält Gramscis Theorie bereits wesentliche revisionistische Abweichungen, die es den verschiedenen opportunistischen Strömungen, die sich heute auf ihn berufen, leicht machten, seine Theorie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?<br />
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==="Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas)===<br />
Nicos Poulantzas war ein griechischer Theoretiker, der in den 1960er und 70er Jahren eine Reihe an marxistischen Studien verfasste. Er sympathisierte nach 1968 mit der eurokommunistischen griechischen kommunistischen Partei des Inlands (KKE-Inland) und stand – in Frankreich lebend - in kritischer Distanz zur Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). In seinen klassen- und staatstheoretischen Schriften ist der Einfluss u.a. von Louis Althussers Strukturalismus sowie [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #"Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci) | Antonio Gramscis Hegemonietheorie]] sichtbar. In der marxistischen Debatte um den Staat hat Poulantzas tiefe Spuren hinterlassen, was primär zurückgeführt werden kann auf seine Konzeption des Staates als „Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“. Historisch bedeutsam war dabei zunächst die Auseinandersetzung mit Ralph Miliband; im deutschsprachigen Raum wurde seine Theorie u.a. über Joachim Hirsch und Alex Demirovic wieder in die Diskussion eingebracht.<br />
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Poulantzas formuliert in der Einleitung zur „Staatstheorie“ den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Es ist nicht der Klassencharakter des Staates, der zur Debatte steht: „Jeder Staat ist ein Klassenstaat; jede politische Herrschaft ist Klassendiktatur; der kapitalistische Staat ist ein Staat der Bourgeoisie; der kapitalistische Staat im Allgemeinen und jeder kapitalistische Staat im Besonderen sind Diktaturen der Bourgeoisie“ (Staatstheorie S. 155), all dies sind für ihn „Banalitäten“ - zwar richtig, aber nicht weiter ausführenswert. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, vielmehr stellt es sich hier neu: „[W]arum greift die Bourgeoisie in ihrer Herrschaft auf diesen nationalen Volksstaat zurück, diesen modernen Repräsentativ-Staat mit seinen spezifischen Institutionen, und nicht auf einen anderen? Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich genau diesen Staat aussuchen würden, wenn sie den Staat komplett selbst und nach ihrem Geschmack aufbauen würden.“ (Staatstheorie, S. 40). Eine verwandte Frage hatte bereits der sowjetische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis knapp 50 Jahre, vorher gestellt: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“1 Poulantzas gibt in der Einleitung auch eine vorläufige, knappe Antwort auf die von ihm formulierte Frage: „Der Staat stellt ein materielles Gerüst dar, das in keiner Weise auf die politische Herrschaft reduziert werden kann. Der Staatsapparat, dieses besondere und furchterregende Etwas, erschöpft sich nicht in der Staatsmacht. [...] Wenn der Staat nicht einfach ein vollständiges Produkt der herrschenden Klassen ist, so haben sie sich seiner auch nicht einfach bemächtigt: Die Macht des Staates (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) hat in dieser Materialität ihre Spuren hinterlassen. Die Handlungen des Staates reduzieren sich nicht auf die politische Herrschaft, sie sind jedoch konstitutiv von ihr gezeichnet.“ (Staatstheorie, S. 42)<br />
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Eine wichtige Aufgabe des Staates sieht Poulantzas in der Repräsentation und Organisation der herrschenden und der Desorganisation der beherrschten Klassen. Die Bourgeoisie ist keine widerspruchsfreie Einheit. Sie verfolgt zwar zwangsläufig als Klasse einheitlich das Ziel der Kapitalverwertung, dieses Ziel bringt sie aber auch in direkte Konkurrenz untereinander, weshalb, wie Engels sagt, der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert. Poulantzas zufolge ist die Kapitalistenklasse in Klassenfraktionen gespalten, die unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Interessen verfolgen. Diese Klassenfraktionen formieren sich unter der Hegemonie einer Fraktion zu einem „Block an der Macht“, in welchen auch andere herrschende Klassen miteinbezogen werden. Die Hegemonie einer Fraktion bedeutet dabei, dass diese die äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Sinne optimieren kann; und diese Hegemonie erst ermöglicht die Einheit dieses Blocks gegenüber den beherrschten Klassen. Poulantzas betont, dass nicht nur Teile der Bourgeoisie (etwa das Monopolkapital) den Machtblock stemmen: „Diese bürgerlichen Fraktionen sind in ihrer Gesamtheit, obwohl in unterschiedlichem Maße, auf dem Terrain der politischen Herrschaft angesiedelt, und gehören somit immer zum Block an der Macht“ (Staatstheorie S. 159). Dieser Machtblock ist aber konfliktdurchzogen, er stellt ein umkämpftes, instabiles Kompromissgleichgewicht dar: „Der Machtblock stellt eine von inneren Widersprüchen gekennzeichnete Einheit von politisch herrschenden Klassen und Fraktionen unter dem Schutz der hegemonialen Fraktion dar. Der Klassenkampf, die Interessenrivalitäten zwischen den gesellschaftlichen Kräften sind darin ständig gegenwärtig, wobei diese Interessen ihren spezifischen Antagonismus bewahren“ (PMGK, S. 239). In diesem Sinne ist die konkrete Politik des Staates und die Hegemonie im Machtblock immer umkämpft, und dieser Kampf wird im Staat, in seinen ideologischen (Medien, Think Tanks, …) aber auch repressiven Apparaten (Polizei, Armee, …) ausgetragen.<br />
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Um die „Rolle der Vereinheitlichung und Organisierung der Bourgeoisie und des Blocks an der Macht“ (Staatstheorie, S. 158) zu erfüllen, muss der Staat laut Poulantzas eine „relative Autonomie“ gegenüber den einzelnen Bestandteilen des Blocks bewahren: „Unter relativer Autonomie dieses Staatstyps verstehe ich […] das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Feld des Klassenkampfes, insbesondere seine relative Autonomie gegenüber den Klassen oder Fraktionen des Machtblocks und in erweiterter Form auch gegenüber seinen Verbündeten oder Stützen […] Ich hoffe, damit klar genug die Distanz auszudrücken, die diese Auffassung des Staats von einer simplifizierten und vulgarisierten Auffassung des Staats trennt, die in ihm das Werkzeug oder Instrument der herrschenden Klasse sieht“ (PMGK S. 256).<br />
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Der Staat als Instrument (siehe auch die Abschnitte zum Staat als [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als klassenneutrales Instrument | klassenneutrales Instrument]] und als [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole | alleiniges Instrument der Monopole]]) und der [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt) | Staat als Subjekt]]: dies beides sind aus Poulantzas‘ Sicht falsche Staatsverständnisse, die er umschiffen will mit dem Verständnis des Staates als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses. Der Staat als Instrument/Werkzeug/Sache unterstellt eine Passivität oder Neutralität des Staates. Dieser wird als ein Apparat verstanden, der zur Ausübung der politischen Macht von der herrschenden Klasse oder auch einer Klassenfraktion verwendet wird, der aber eben auch so wie er ist übernommen werden kann, um gegen die herrschende Klasse gewendet zu werden. Eine Autonomie des Staates ist ausgeschlossen. Eine solche instrumentalistische Konzeption des Staates sieht Poulantzas in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der eurokommunistischen PCF in den 1970ern: „An dieser Konzeption kritisierte ich vor allem, dass sie zu der Vorstellung des mit dem Monopolkapital »fusionierten« Staates führt, einem Staat der im Dienste der Monopole steht und keinerlei Autonomie besitzt“ (Staatstheorie S. 160). Der Staat als Subjekt wiederum lässt ihn vollständig autonom werden, er steht als Akteur außerhalb der Klassen. Er agiert, koordiniert, verwaltet, reguliert selbstständig. Seine Autonomie bezieht sich „auf die angebliche Macht des Staates und auf die Träger dieser Macht und der staatlichen Rationalität: auf die Bürokratie und speziell auf die politische Elite“ (Staatstheorie S. 160). <br />
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Poulantzas schlägt vor, die „Sackgassen des ewigen Pseudodilemmas der Diskussion zwischen der Konzeption des Staates als einer Sache bzw. einem Instrument und der Konzeption des Staates als einem Subjekt“ (Staatstheorie S. 159f) zu vermeiden, indem der Staat über den Klassenkampf selbst verstanden wird, genauer: „ … indem ich sage, dass der Staat […] nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden darf, sondern, wie auch das »Kapital«, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ Der Staat spiegelt also nicht einfach ein gesellschaftliches Verhältnis wider, er selber konstituiert dieses Verhältnis. In der Vielzahl seiner Institutionen findet die ständige Austarierung zwischen Klassen und Klassenfraktionen statt. Diese Austarierung entspricht aber nicht direkt dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, beispielsweise sind die beherrschten Klassen nicht in den Staatsapparaten anwesend: „Sie organisieren und vereinheitlichen den Block an der Macht, indem sie die beherrschten Klassen ständig desorganisieren und spalten. Sie polarisieren sie gegenüber dem Block an der Macht und schließen ihre politischen Organisationen aus.“ (Staatstheorie S. 171)<br />
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Bei Poulantzas bleibt unklar, wie der Begriff der Verdichtung genau zu verstehen ist, wohingegen er ausführt, was es mit der Materialität hier auf sich hat. Mit Blick auf die Staatstheorie in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der PCF wendet er ein, dass diese „die eigenständige Materialität des Staates übersieht. Diese Materialität eines Staates, der als Werkzeug oder Instrument angesehen wird, hat keine eigene politische Bedeutung. Diese Bedeutung wird auf die Staatsmacht beschränkt, d.h. auf die Klasse, die dieses Instrument manipuliert. Das würde im Extremfall implizieren, dass das gleiche Instrument (das verschiedenen, allerdings zweitrangigen Modifikationen unterliegt) durch eine Veränderung der Staatsmacht, also durch die Macht der Arbeiterklasse, für den Übergang zum Sozialismus anders eingesetzt werden könnte“ (Staatstheorie S. 160). Dieses Defizit meint er zu beheben: „Das materielle Gerüst seiner [des Staates] Institutionen wird durch die Beziehung des Staates zu den Produktionsverhältnissen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung konstituiert, die sich in der kapitalistischen Trennung des Staates von diesen Verhältnissen konzentriert. […] Der Staat hat eine eigene Dichte und Widerstandskraft und reduziert sich nicht auf ein Kräfteverhältnis. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Klassen hat sicherlich immer Auswirkungen innerhalb des Staates, sie überträgt sich jedoch nicht direkt und unmittelbar. Sie passt sich der Materialität der verschiedenen Apparate an und kristallisiert sich im Staat nur in gebrochener und differenzierter, den Apparaten entsprechender Form. Eine Veränderung der Staatsmacht allein transformiert die Materialität des Staates nicht“ (Staatstheorie S. 161f). Als Beispiele für die Materialität führt Poulantzas u.a. die Organisierung kapitalistischen Wissens an: „Die geistige Arbeit (Wissen/Macht) ist in den Apparaten konzentriert und steht im Gegensatz zur tendenziell in den Volksmassen konzentrierten manuellen Arbeit, die von den organisatorischen Funktionen ausgeschlossen und getrennt sind“ (Staatstheorie S. 83).<br />
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==="Akkumulationsregime" (Regulationsschule)===<br />
Hier sollen die offenen Fragen und Aufgaben ausformuliert werden, die sich aus der Staatstheorie der "Regulationsschule" und deren Theorie der "Akkumulationsregime" ergeben. Handelt es sich bei dieser Theorie um einen wesentlichen Beitrag zur marxistischen Staatstheorie, die eine vertiefende Analyse der verschiedenen Formen der bürgerlichen Herrschaft seit der Entstehung des Kapitalismus erlaubt (z.B. durch die Unterscheidung eines "keynesianischen" und eines "neoliberalen Akkumulationsregimes")? Wie wird aus Perspektive der der Regulationsschule der Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt? Enthält diese Theorietradition wesentliche Abweichungen von den Grundannahmen der marxistischen Staatstheorie? Welche Verbinndung gibt es zu den Theorien von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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'''Vertreter:''' Zu den prominentesten Vertretern der Regulationsschule gehören heute die Staatstheoretiker Joachim Hirsch und Bob Jessop.<br />
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===Staat = Repressionsapparate / "neue Demokratie" (Maoismus)===<br />
Innerhalb des maoistischen Spektrums lässt sich als tendenzielle Gemeinsamkeit in der Staatsfrage ein besonderer Fokus auf die „bewaffneten Apparate“ des bürgerlichen Staats und eine weitgehende Vernachlässigung der Analyse anderer, nicht unmittelbar gewaltförmiger Herrschaftstechniken der Bourgeoisie (Integrationsideologien, ökonomischer Zwang, etc.) feststellen. Dies steht im engen Zusammenhang mit der Strategie des "Volkskriegs". Dieser Strategie liegt eine Perspektive auf den Staat zugrunde, die den Kampf um die politische Macht weitgehend auf den unmittelbaren militärischen Kampf und die Zerschlagung der bewaffneten Staatsapparate zuspitzt. Die maoistische Theorie der "neuen Demokratie" enthält außerdem die These einer möglichen dritten Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats.<br />
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Von einer einheitlichen und systematisch ausgearbeiteten "maoistischen Staatstheorie" kann genauso wenig die Rede sein, wie von einer homogenen maoistischen Strömung innerhalb des Marxismus. In den klassischen Texten von Mao Tse-Tung findet sich vor allem keine eigene, systematisch ausgearbeitete Analyse des bürgerlichen Staats im Imperialismus. Die chinesischen Revolutionäre kämpften nicht gegen einen entwickelten bürgerlichen Staat, wie er sich in den imperialistischen Zentren herausgebildet hatte, sondern gegen einen agrarischen Feudalstaat mit kolonialen Elementen. Der Großteil von Maos Äußerungen über den Staat sind in diesem Kontext zu sehen, so zum Beispiel die oft zitierte Losung: "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 74.</ref> An anderer Stelle führt Mao diese Zuspitzung auf die Frage der militärischen Macht und der bewaffneten Apparate weiter aus und verallgemeinert sie als die aus seiner Sicht wichtigste Kernaussage der marxistischen Lehre vom Staat: "Vom Standpunkt der marxistischen Lehre vom Staat ist die Armee die Hauptkomponente der Staatsmacht. Wer die Staatsmacht ergreifen und behalten will, der muß eine starke Armee haben. Manche Leute bezeichnen uns höhnisch als Anhänger der ‚Theorie von der Allmacht des Krieges‘; jawohl, wir sind Anhänger der Theorie von der Allmacht des revolutionären Krieges, und das ist nicht schlecht, sondern gut, das ist marxistisch. [...] Die Erfahrungen des Klassenkampfes im Zeitalter des Imperialismus lehren uns: Die Arbeiterklasse und die übrigen Werktätigen Massen können nur mit der Macht der Gewehre die bewaffneten Bourgeois und Grundherren besiegen; in diesem Sinne können wir sagen, daß die ganze Welt nur mit Hilfe der Gewehre umgestaltet werden kann."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 75-76.</ref><br />
<br />
In genau diesem Sinne wird die Staatsfrage auch in Teilen der zeitgenössischen maoistischen Strömungen behandelt. Viele zeitgenössische Mao-Gruppen beziehen sich dabei auf die Traditionslinie der peruanischen Guerillabewegung „Leuchtender Pfad“ bzw. der KP Perus (Vollständiger Name: ''Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui'') und ihres politischen und ideologischen Anführers „Presidente Gonzalo“ (Abiamel Guzmán). (''Anmerkung: Alle Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen sich auf die Broschüre „Einheitsbasis der Kommunistischen Partei Perus – angenommen auf dem I. Parteitag 1988“<ref>http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/gonzalo/1439-die-einheitsbasis-der-kommunistischen-partei-perus-auf-deutsch</ref>, die leider zahlreiche Übersetzungsfehler enthält.'')<br />
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Der Staat erscheint auch hier vor allem als bewaffneter Apparat, der militärisch bekämpft und zerschlagen werden muss:<br />
"die revolutionäre Gewalt ist ausnahmslos ein universelles Gesetz; die Revolution ist die gewaltsame Ersetzung einer Klasse durch eine andere. Er [Mao Tse-Tung] legte seine große These fest: ‚Die Macht kommt aus den Gewehrläufen!‘" (Über den Marxismus-Leninismus-Maoismus, S. 7) "[der] Volkskrieg, der durch eine revolutionäre Armee neuen Typs, unter der absoluten Führung der Partei, Stück für Stück die alte Macht zerstört, hauptsächlich seine bewaffneten und repressiven Kräfte." (Programm und Statuten der KP Perus, S. 16-17.)<br />
<br />
Unter dem Begriff der „neue demokratische Revolution“ vertreten die Maoisten der KP Perus ein spezifisches Etappenmodell, das die Stufen der Revolution festlegt, die die unterdrückten Länder auf dem Weg zum Sozialismus durchlaufen müssen. Der Klasseninhalt der Revolution und der jeweiligen Staatsformen, die diese hervorbringen, ändert sich jedoch je nach Entwicklungsstand des jeweiligen Landes: "Um unser Endziel, den Kommunismus, zu erreichen, müssen wir Marxisten-Leninisten-Maoisten in Perspektive drei Typen von Revolutionen durchführen: 1) Die demokratische Revolution, das ist die bürgerliche Revolution neuen Typs in den rückständigen Ländern, unter der Führung des Proletariats, in deren Verlauf eine gemeinsame Diktatur des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und unter bestimmten Bedingungen der Mittelbourgeoisie unter der Führung des Proletariats errichtet wird; 2) Die sozialistische Revolution in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern, die die Diktatur des Proletariats errichtet; 3) Kulturrevolutionen, sie werden gemacht um die Revolution unter der Diktatur des Proletariats fortzusetzen, um jede Generierung des Kapitalismus zu unterwerfen und zu eliminieren und auch mit den Waffen gegen jedes streben nach Restauration des Kapitalismus zu kämpfen" (Allgemeine politische Linie, S. 19)<br />
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Mit der Theorie der „neuen demokratischen Revolution“ sind spezifische staatstheoretische Grundannahmen verbunden. Die „Neuen Demokratie“ gilt aus maoistischer Sicht als dritte Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats - ihr Klassencharakter ist wesentlich durch einen Klassenkompromiss bzw. ein Klassenbündnis bestimmt: "Die Neue Demokratie. In erster Stelle ist es eine Entwicklung der marxistischen Staatstheorie mit der Festlegung der drei Typen der Diktatur: 1. die Diktatur der Bourgeoisie, in den alten bürgerlichen Demokratien wie in den Vereinigten Staaten, dazu zählen auch die Diktaturen, die in unterdrückten Nationen, wie den lateinamerikanischen existieren, 2. die Diktatur des Proletariats wie in der Sowjetunion oder in China vor der Usurpation der Macht durch die Revisionisten und 3. die Neue Demokratie als gemeinsame Diktatur, die auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern basiert, geführt vom Proletariat mit der Kommunistischen Partei an der Spitze […]." (Über den Marxismus-Leninismus, S. 8) Im Anschluss an Mao und Gonzalo geht die KP Perus davon aus, dass die "Staatssysteme der Welt" auf „drei Grundtypen reduziert werden können, laut ihres Klassencharakters: Republik unter der Diktatur der Bourgeoisie, die auch die Staaten der alten Demokratie ausmachen und die Republik der gemeinsamen Diktatur der Grundbesitzer und Großbourgeoisie; Republiken unter der Diktatur des Proletariats; und Republik unter der gemeinsamen Diktatur der revolutionären Klassen […]." (Allgemeine politische Linie, S. 33.)<br />
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Andere Grundsätzlichere Fragen zum Thema Maoismus, wie die Strategie des „langfristigen Volkskriegs“, die Etappe der "neuen demokratischen Revolution" oder die Theorie des „Zweilinienkampfs“ werden perspektivisch durch die [[AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei]] bearbeitet. Fragen zur Polemik zwischen der Sowjetunion und China über die „friedliche Koexistenz“, die „Kulturrevolution“ und die maoistische Position, die Sowjetunion sei „sozialimperialistisch“ gewesen, gehören zum Arbeitsbereich der [[AG Sozialismus]].<br />
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Eine längere Version dieses Artikels (befindet sich noch in Bearbeitung) findet ihr hier: '''[[Die Staatsfrage im Maoismus]]'''<br />
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Vertreten werden solche oder ähnliche Positionen in Deutschland zum Beispiel von der Sozialistischen Linken (SoL) oder dem mittlerweile aufgelösten Jugendwiderstand (JW).<br />
===Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt)===<br />
Der ''Gegenstandpunkt'' (GSP, früher ''Marxistische Gruppe'') vertritt eine eigene Staatstheorie, die davon ausgeht, der bürgerliche Staat könne aus den abstrakten Kategorien der politischen Ökonomie "abgeleitet" werden. Den Ausgangspunkt dieser Ableitung bildet die einfache Warenzirkulation, in welcher die Warenbesitzer sich wechselseitig als "freie" und "gleiche" Privateigentümer anerkennen. Die Autoren des GSP sehen drei gemeinsame Interessen bei allen Privateigentümern: Die Erhaltung der Revenue, eine möglichst hohe Revenue und den kontinuierliche Fluss der Revenue. Daraus schlussfolgern sie, dass Schutz und Sicherung des Privateigentums, die Sicherung des Wirtschaftswachstums und ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft dem Gesamtinteresse aller Privateigentümer entsprechen, wozu als viertes das Interesse an gleichen Konkurrenzvoraussetzungen hinzutritt. Weil die Privateigentümer aber in der Verfolgung ihrer besonderen Interessen nicht die allgemeinen Interessen durchsetzen können, bedarf es des Staates: "Das besondere Dasein des Staates neben und außer der Gesellschaft der konkurrierenden Privaten – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit – ist das Resultat dieses Widerspruchs zwischen besonderem und allgemeinem Interesse in seinen verschiedenen Existenzweisen. Der Staat verkörpert die Loslösung der allgemeinen Interessen aus der Sphäre der Privaten und ihre Verwaltung in der Sphäre des Staates. Mit der Besonderung des Staates werden die allgemeinen Interessen zu seinen besonderen, deren Verwaltung allein ihm obliegt. <ref> von Flatow, Sybille / Huisken, Freerk: Zum Problem der Ableitung des bürgerlichen Staates, in: Prokla, 7 (1973), S. 121 </ref><br />
<br />
Fertig ausformuliert und in den Reihen des GSP kanonisiert wurde diese "Staatsableitung" von Karl Held in ''Der bürgerliche Staat''. In Helds Analyse wird aus der „Besonderung des Staates“ letztendlich der „Staat als Subjekt“: "Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit und Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert.<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
<br />
Der Staat hält hier nicht nur die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Reproduktion aufrecht, er wird zum eigenständigen Subjekt mit eigenen Interessen: "Der souveräne Staat ist eine von den Bürgern getrennte, selbständige Instanz, die mit keinem besonderen Interesse identisch ist und gerade und nur deswegen von allen anerkannte Gewalt ist, weil er sein Interesse, das Allgemeinwohl, gegen die Privatsubjekte durchsetzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref> "In der Unterordnung aller Aufgaben, um deren Erfüllung willen er sich als politisches Subjekt der Ökonomie betätigt, unter das Kriterium des wirtschaftlichen Wachstums, in der Relativierung aller Funktionen entsprechend dieser Zielsetzung der Wirtschaftspolitik fällt der Grund des bürgerlichen Staates – die freie Konkurrenz – unmittelbar zusammen mit seinem Zweck: er ist bewußter Agent des Inhalts der Konkurrenz, die bekanntlich nicht die Individuen, sondern das Kapital in Freiheit setzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates besteht daher beim GSP auch zuallererst darin, dass er nicht im Interesse der einen Klasse eine andere, sondern alle Individuen gleichermaßen unterwirft: "Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, daß er Klassenstaat ist: Durch die gleiche Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der Nutzen aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben." <ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat, URL: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat (29.12.2018) </ref><br />
<br />
Der Staat wird dadurch also wesentlich (und nicht nur oberflächlich) zu einem (klassen)neutralen Subjekt erklärt, welches die äußeren Bedingungen der Konkurrenz organisiert und diese Bedingungen den Warenbesitzern unterschiedslos aufzwingt. <br />
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'''Vertreter:''' Neben dem ''Gegenstandpunkt'', dessen Aktivitäten sich fast auschließlich auf das akademische Milieu konzentrieren, werden diese Positionen auch von vielen studentischen Jugendgruppen in der "linksradikalen" und Antifa-Szene vertreten. Dies hat häufig damit zu tun, dass Leute aus der Szene ihre eigene theoretische Bildung über Lesekreise und Seminare des Gegenstandpunkt erwerben. Besonders in Teilen der ''Sozialistischen Jugend - Die Falken'' lässt sich ein starker ideologischer Einfluss des GSP feststellen, das gleiche Phänomen taucht aber auch immer wieder in Gewerkschaftsjugenden oder ''solid SDS''-Gruppen auf. Besonders stark ist zudem die Überschneidung zu "antinationalen" Gruppen, wie etwa bei der Dortmunder ''Gruppe K''.<br />
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Einen Text zur ausführlicheren Einbettung in den Kontext der "Staatsableitungsdebatte" findet ihr hier: [[Der Staat als Subjekt (Staatsableitungsdebatte)]]<br />
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Einen Hintergrundartikel zum Gegenstandpunkt hier: [https://kommunistische.org/diskussion/standpunkt-gegen-den-marxismus/ Standpunkt gegen den Marxismus (Thanasis Spanidis)]<br />
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===Anarchistische Staatskritik===<br />
Der "Anarchismus" (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) umfasst ein sehr diffuses und heterogenes Spektrum, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Dennoch lassen sich grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Anarchisten vertreten eine politische Haltung, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbstbestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammenschließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. Im Mittelpunkt stehen die Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, und Selbstverwirklichung der Individuen im Rahmen der kollektiven Selbstverwaltung („Autonomie“) möglichst kleiner Organisationseinheiten. Im Anarchismus fließen die Traditionen des bürgerlichen Liberalismus (individuelle Freiheit) und der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen (Kollektivität und Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Heute wird häufig das Adjektiv "libertär" (deutsch: freiheitlich) als Synonym für „anarchistisch“ benutzt.<br />
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An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich aus Sicht der Anarchisten auch schon die Bewegung selbst messen lassen, die für die „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Position so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren, geschweige denn nach der siegreichen Revolution einen eigenen Staat zur Niederhaltung der Unterdrücker und zum Aufbau und zur Verteidigung der Revolution schaffen darf. In Abgrenzung zu solchen individual-anarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen.<br />
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Die anarchistische Staatskritik richtet sich nicht hauptsächlich gegen den bürgerlichen Staat als Klassenstaat der Bourgeoise, sondern lehnt jede Form der Macht, der Autorität und der Staatlichkeit überhaupt als Grundübel der Gesellschaft ab. Der Anarchismus vertritt also in letzter Konsequenz einen klassenneutralen Machtbegriff – er lehnt die Macht nicht als Klassenmacht der Ausbeuter ab, sondern als abstraktes Ding an sich, das aus der Welt geschafft werden soll. <br />
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'''Marx und Engels vs. Bakunin:''' Die erste ausführliche theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. <br />
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Engels fasste die Kritik an der Staatsauffassung Michael Bakunins und der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen: "Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. [...]<br />
Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll,[...] so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität <nowiki>=</nowiki> Staat <nowiki>=</nowiki> absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!" <ref>Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33;Dietz-Verlag; S. 388-389.</ref><br />
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Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der politische Ausdruck dieser Widersprüche ist nicht die Klassenherrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter und alle anderen Werktätigen, sondern die Macht und Autorität des Staates überhaupt. Diese Auffassung hat weitreichende taktische und strategische Konsequenzen (siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]]).<br />
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'''Heutige Vertreter:''' Der Anarchismus in seiner klassischen Form, also als politische Ideologie und Bewegung mit realer Verankerung in der Arbeiterbewegung (wie ihn Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder die spanischen Anarchosyndikalisten vertraten) ist heute kaum mehr präsent. Vulgarisierte Formen des Anarchismus sind dagegen in der "autonomen" Szene und linken Subkulturen nach wie vor sehr weit verbreitet. Neben zahlreichen Splittergruppen, die in der BRD heute ein gemeinsames, hauptsächlich kleinbürgerlich geprägtes Milieu bilden und von der Arbeiterbewegung meist isoliert sind, bildet die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) eine gewisse Ausnahme. Diese Organisation versucht im Rahmen einer kleinen anarchistischen Richtungsgewerkschaft außerhalb der DGB-Gewerkschaften Klassenkämpfe und Streiks zu organisieren.<br />
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Verschiedene "anarchokommunistische" Gruppen und Zusammenschlüsse in Deutschland versuchen Aspekte des Marxismus (gewerkschaftliche Organisation, Klassenkampf, Vergesellschaftung der Produktionsmittel) mit Standpunkten des Anarchismus (Ablehnung von Hierarchien, zentralistischer Organisationsformen und der Diktatur des Proletariats) zu vereinen. Seit Dezember 2018 existiert mit der Initiative [https://www.dieplattform.org/wir/ "die Plattform"] z.B. ein Versuch, einen bundesweiten "plattformistischen" anarchakommunistischen Organisationszusammenhang aufzubauen und im Rahmen einer eigenen Schriftenreihe eine theoretische Debatte anzustoßen.<br />
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Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxistismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff. Die Rojava-Solidarität vereint heute ein politisches Spektrum, dass von der MLPD über die verschiedenen roten Gruppen, die iL, die Linkspartei und bis zu den antinationalen und antideutschen Zusammenhängen reicht.<br />
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==Bezug zu unseren Grundannahmen==<br />
==Wie wollen wir den Dissens klären?==<br />
==Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?==</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Der_Klassencharakter_des_b%C3%BCrgerlichen_Staats&diff=6895Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats2019-12-21T11:37:52Z<p>Dio: /* Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise" */</p>
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<div>Zurück zur [[AG Formen bürgerlicher Herrschaft]]<br />
==Überblick==<br />
Dieser Artikel soll einen ersten groben Überblick über die verschiedenen Auffassungen zum Klassencharakter des bürgerlichen Staats innerhalb des kommunistischen und im weiteren Sinne "linken" Spektrums geben. Ist der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" die organisierte politische Macht der gesamten Bourgeosie und damit das Instrument ihrer Klassenherrschaft? Oder ist der Staat an sich ein klassenneutraler Apparat, der sowohl für die Zwecke der Kapitalistenklasse, als auch im Interesse der Arbeiter in Bewegung gesetzt werden kann? Ist der Staat im Stadium des Imperialismus nur noch das Herrschaftsinstrument eines kleinen Teils der Kapitalisten, der Monopolbourgeoisie, die ihre Macht mit Hilfe des Staats auch gegen die "kleine und mittlere Bourgeoisie" durchsetzt? Oder ist der bürgerliche Staat nach 1945 gar zu einer "echten Demokratie" geworden, in der die politische Macht nicht mehr von den besitzenden Klassen ausgeht, sondern von der demokratischen Mehrheit?<br />
<br />
Die Unterschiede in der Analyse und die Einschätzung des Klassencharakters des bürgerlichen Staats haben weitreichende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung. Die sich daraus ergebenden Dissense werden an anderer Stelle unter dem Stichwort "'''[[Staat und Revolution]]'''" dargestellt.<br />
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===Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise"===<br />
Die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus (Marx, Engels, Lenin) bestimmten den bürgerlichen Staat als "ideellen Gesamtkapitalisten" und als Instrument der "Diktatur der Bourgeosie". <br />
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Schon im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 schrieben Marx und Engels: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. […] Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." <ref> Marx, K., Engels, F.: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, Berlin/DDR 1977, S. 464/482. </ref> Diese Definition des Staates als „Ausschuss“ zur Regelung der „gemeinschaftlichen Geschäfte“ der Bourgeoisie deckt sich mit der späteren Formulierung von Engels, in der er den bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnete: "Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten […] nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. <ref> Engels,F.: Zur Wohnungsfrage, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 18, Berlin/DDR 1973, S.257-258.</ref> Der Staat schützt die kapitalistische Produktionsweise sowohl gegen den Widerstand der Arbeiter als auch gegen die sich widersprechenden Einzelinteressen individueller Kapitalisten. Laut Engels setzt der „ideelle Gesamtkapitalist“ also das Interesse der gesamten herrschenden Klasse nicht nur gegenüber dem Proletariat, sondern auch gegenüber ihrer einzelnen Klassenindividuen durch: "Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." <ref> Engels,F.: Anti-Dühring (1877), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 20, S. 260.</ref> <br />
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Der Staat ist also einerseits Instrument zur Unterdrückung der Arbeiter und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse, gleichzeitig ist er notwendig, um die Bourgeoisie über die kapitalistische Konkurrenz hinweg zu Kompromissen zu zwingen und sie so erst als herrschende Klasse zu organisieren.<br />
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Lenin führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine scharfe Polemik gegen die Revisionisten und Reformisten in der deutschen und russichen Sozialdemokratie. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fasste er die Staatsauffassung von Marx und Engels in seiner Schrift ''Staat und Revolution'' (1917) zusammen: "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen 'Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. <ref> Lenin, W.I.: Staat und Revolution, in: in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Lenin Werke Bd. 25, Berlin/DDR 1974, S. 399. </ref> Der Staat ist demnach eine Macht, "die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben. Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt ‚nicht mehr unmittelbar zusammenfällt‘ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer ‚selbsttätigen bewaffneten Organisation‘. [...] Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?" <ref> ebd., S. 401.</ref><br />
Abschließend fasste Lenin seine Studien zur marxschen Staatsauffasung in der Bestimmung des bürgerlichen Staats als „Diktatur der Bourgeoisie“ zusammen: "Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist […]. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie." <ref> wbd., S. 425.</ref><br />
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Von dieser Analyse ausgehend formulierten die Klassiker die strategische Orientierung auf die "Zerschlagung des bürgerlichen Staats" und die Errichtung der "Diktatur des Proletariats". Siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]].<br />
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Für eine ausführlichere Darstellungen der Annahmen der Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus zum Staat, siehe: [[Grundannahmen Staat]]<br />
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===Der Staat als klassenneutrales Instrument===<br />
Vertreter dieser Auffassung gehen davon aus, dass der bürgerliche Staat und seine Organisationsapparate an sich klassenneutrale Instrumente sind. Das heißt sie werden unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen zwar von der Bourgeoisie benutzt, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen, die Arbeiterklasse niederzuhalten und die Bedingungen der Kapitalakkumulation möglichst günstig zu gestalten, könnten unter anderen Bedingungen, zum Beispiel nach dem Wahlsieg einer Arbeiterpartei, aber genausogut im Interese des Proletariats in Bewegung gesetzt werden, zum beispiel um den Kapitalismus durch Sozialreformen allmählich in den Sozialismus zu überführen. Die Instrumente selbst, also die Staatsorganisationen vom Parlament über die Verwaltungs- bis hin zu den Repressionsorganen, verhalten sich dieser Auffassung nach also neutral zu den Zwecken ihrer Anwendung. Weder ihre konkrete Organisationsform noch das Personal, aus dem sie bestehen, tragen demnach Klassencharakter. Diese Auffassung steht im Widerspruch zu der Position, der bürgerliche Staat sei seiner Form und seinem Klasseninhalt nach "ideeller Gesamtkapitalist" und Ausdruck der "Diktatur der Bourgeoisie" (s.o.).<br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):'''<br />
Die klassischen Vertreter einer solchen Staatsauffassung waren die „Revisionisten“ in der deutschen Sozialdemokratie, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen und zentrale Annahmen des wissenschaftlichen Sozialismus zu "revidieren" begannen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Eduard Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. <br />
<br />
Bernstein bestritt in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899) die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Aufhebung des bürgerlichen Staats und schlug stattdessen einen friedlichen und demokratischen Reformweg zum Sozialismus vor. Bernstein argumentiert, die bisherige Ausrichtung der Sozialdemokratie auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus sei durch die Realität überholt. Das kapitalistische System habe sich als weitgehend krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, ein „Zusammenbruch“ des Kapitalismus bzw. eine revolutionäre Situation sei nicht mehr zu erwarten. Die Aufgabe der SPD sei es nun, im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch „Sozialreformen“ Verbesserungen für die Arbeiterklasse und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards zwischen den Klassen durchzusetzen. Den Weg, um diese Ziele zu erreichen, sah Bernstein in der schrittweisen Ausdehnung des parlamentarischen Einflusses der Sozialdemokratie bis hin zur Übernahme der Regierung. Diese würde dann weitreichende Reformen im Sinne der Arbeiterklasse und des Sozialismus durchsetzen. Das entsprechende Credo des Reformismus lautete: „der Weg ist alles, das Ziel ist nichts.“<br />
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Der klassische Reformismus setzt notwendig eine bestimmte Auffassung über den bürgerlichen Staat voraus. Wenn es möglich sein soll, den Kapitalismus allmählich durch Sozialreformen zu überwinden, so muss es auch möglich sein, dass die Arbeiterklasse diese Reformen im Staatsapparat gegen den Willen der Bourgeoisie durchsetzt oder diese zumindest zu Kompromissen zwingt – und zwar so weit, dass die Gesellschaft immer mehr sozialistische Züge annimmt und der Staat letztlich aufhört, bürgerlicher Staat zu sein und allmählich zu einem Instrument in den Händen der Arbeiterklasse wird. Dieses Instrument an sich muss also „klassenneutral“ sein und je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse sich entwickeln, kann es sowohl von der einen, als auch von der anderen Klasse kontrolliert und im eigenen Interesse eingesetzt werden. Der Staat steht in dieser rein instrumentalistischen Sichtweise der ihm zugrunde liegenden Produktionsweise also äußerlich gegenüber, er besitzt keine innere Verbindung zu ihr. Der Überbau scheint unabhängig von seiner ökonomischen Basis agieren zu können. Der bürgerliche Staat wird aus dieser Sichtweise nicht als spezifisches, den Klasseninteressen der Bourgeoisie entsprechend geformtes Werkzeug verstanden. Ergo kann das Proletariat dieses Werkzeug unverändert übernehmen, anstatt sich einen eigenen Apparat zu schaffen, der den spezifischen Erfordernissen und Klasseninteressen der Arbeitermacht entspricht.<br />
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'''Eurokommunismus:'''<br />
Ab den 1970er Jahren knüpften die sogenannten "Eurokommunisten" mit vielen ihrer Positionen an die theoretische Tradition des klassischen Revisionismus an, begründeten ihre Haltung aber damit, dass die Kräfteverhältnisse und somit auch der Charakter des bürgerlichen Staats sich nach 1945 grundlegend geändert hätten. Daher seien der „sowjetische Weg zum Sozialismus“ und die Diktatur des Proletariats als historischer Sonderfall überholt und Europa mittlerweile in eine Epoche der demokratischen Übergänge eingetreten. Sie vertraten die Einschätzung, die bürgerliche Demokratie sei nach dem Sieg über den Faschismus im Westen zu sehr gefestigt, als dass die Herrschenden gewaltsam gegen einen demokratischen Übergang zum Sozialismus vorgehen könnten. Die Hauptvertreter des Eurokommunismus waren die kommunistischen Parteien Frankreichs (PCF), Italiens (PCI) und Spaniens (PCE).<br />
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Die eurokommunistische Strategie des friedlichen, parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus ging mehr oder weniger offen davon aus, dass der Staat als ein „Feld im Klassenkampf" aufzufassen sei, auf dem sich zwar die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen widerspiegeln, das an sich aber klassenneutral sei. Durch Veränderungen der politischen Mehrheiten sollten der Staat und seine Institutionen durch die Kommunisten kontrolliert und im Sinne der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden. Die Regierung sollte ein Reformprogramm umsetzen, das die Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung Sozialismus entwickeln würde. Auch im Sozialismus sollte der bürgerlich-liberale Parlamentarismus als politische Herrschaftsform bruchlos beibehalten werden: „Die repräsentative Demokratie, kombiniert mit Formen der direkten Demokratie, kann ohne weiteres auch die Form des sozialistischen Systems sein.“<ref>zitiert nach: Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen, 1977.</ref> In Teilen der eurokommunistischen Strömung wurde sogar die Notwendigkeit der Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Länder in imperialistischen Staatenbündnissen wie der EG und der NATO offen verteidigt. Ausführlich dargelegt ist das Staatsverständnis der Eurokommunisten in Santiago Carrillos ''Eurokommunismus und Staat''<ref>Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.</ref>. <br />
<br />
Ausführlicherer Artikel: [[Eurokommunistische Staatsauffassung]]<br />
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'''Andere Vertreter:'''<br />
Auch heute gibt es zahlreiche "linke" Vertreter dieser Auffassung. Die Annahme, der bürgerliche Staat sei ein grundsätzlich klassenneutrales Instrument, bildet die Voraussetzung jeder Strategie, die auf den Eintritt in die bürgerliche Regierung zum Zweck der Umsetzung von Reformen abzielt. Das gilt eindeutig für die deutsche ''Linkspartei'' und ihre europäischen Geschwisterorganisationen, allen voran die einflussreiche griechische ''SYRIZA''. Auch die "antimonopolistische Strategie" der DKP unterstellt letztlich eine Klassenneutralität des Staats der Monopole (s.u.). In unterschiedlichen Abstufungen wird diese Auffassung auch von den "bolivarischen Bewegungen" bzw. den Vertretern eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien etc. vertreten.<br />
<br />
===Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole===<br />
Eine seit 1945 weit verbreitete Position geht davon aus, dass der bürgerliche Staat im Monopolkapitalismus nicht mehr das Interesse der gesamten herrschenden Klasse vertritt, sondern sich zum alleinigen Herrschaftsinstrument der Monopole entwickelt. Diese Vorstellung beruft sich häufig auf die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (s.o.) und ist eng verbunden mit den verschiedenen Varianten der [[Strategie der Übergänge]]. <br />
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'''Deutsche Kommunistische Partei (DKP):'''<br />
Die DKP vertritt seit ihrer Gründung eine Strategie der "antimonopolistischen Demokratie" (AMD). Diese wurde erstmals im Programm von 1978 explizit ausformuliert und beschlossen. Auch im Programm von 2006 bildet die AMD, von einigen kleineren Relativierungen abgesehen, noch immer den Kern der strategischen Vorstellungen der DKP. <br />
<br />
Zu den wichtigsten Grundannahmen der AMD gehört, dass der bürgerliche Staat zu einem Instrument in den Händen der Monopole, also einer Handvoll Finanzoligarchen innerhalb der Bourgeoisie, geworden ist. Der Staat, so die These, setzt deren Profitinteressen rigoros gegen alle „nicht-monopolistischen Schichten“, also nicht nur gegen die Arbeiterklasse und alle anderen Werktätigen, sondern auch gegen die „kleine und mittlere Bourgeoisie“ durch. Der bürgerliche Staat vernachlässigt aus dieser Sicht also gewissermaßen seine Aufgabe als „ideeller Gesamtkapitalist“ und verkörpert gegenüber der gesamten Gesellschaft (und einem Großteil der Bourgeoisie) nicht mehr das langfristige Gesamtinteresse aller Kapitalisten, sondern einseitig das Partikularinteresse des Monopolkapitals. <br />
<br />
Im DKP-Programm von 2006 heißt es dazu: "Als Machtinstrument der Monopolbourgeoisie setzt er [der Staat] immer unverblümter eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durch. An die Stelle der sozialen Integration tritt die Konfrontation. Der bürgerliche Staat verliert tendenziell seine Fähigkeit zur sozialen und politischen Vermittlung, weil die Basis für die Organisierung stabilerer sozialer Kompromisse, die größere Teile der Gesellschaft einbeziehen, verloren geht. So wird die bürgerliche Demokratie ausgehöhlt und verliert ihren Inhalt. Bei Beibehaltung formaler Demokratie vollzieht sich der Übergang vom 'Sozialstaat' zum autoritären 'Sicherheitsstaat'." (S. 12) <br />
<br />
Damit wird zwar der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht geleugnet, aber eine neue strategische Bruchlinie zwischen den Monopolen und allen „nicht-monopolistischen“ Schichten aufgemacht, die aus dieser Sicht nun in Opposition zum "Staat der Monopole" geraten. Entlang dieser Linie soll sich ein „antimonopolistisches Bündnis“ formieren, das neben der Arbeiterklasse nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch bedeutende Teile der „nicht-monopolistischen“ Bourgeoisie umfassen soll (siehe dazu das Programm von 2006, S. 33). Dieses Bündnis hat zwar nicht den Sozialismus zum Ziel, wohl aber eine Zwischenetappe der „antimonopolistischen Übergänge“, in deren Rahmen die Kommunisten sich an der Regierungsmacht beteiligen und zunächst im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise eine politische „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ durchsetzen sollen.<br />
<br />
Diese Vorstellung eines weitgehend bruchlosen Übergangs des Staatsapparats aus den Händen der einen in die Hände der anderen Klasse unterstellt eine instrumentalistische Sicht auf den Staat und behandelt diesen in letzter Konsequenz als ''klassenneutrales Werkzeug'' (s.o.). Zugespitzt formuliert: Der Klassencharakter des Staates scheint sich aus Sicht der Vertreter der antimonopolistischen Strategie nicht aus seiner Funktionsweise und seinem Wesen, sondern aus den politischen Kräfteverhältnissen zu ergeben. Ändert die Regierung ihren Klassencharakter von „monopolistisch“ zu „nicht-monopolistisch“, so ändert sich demzufolge auch der Klassencharakter des Staates. <br />
<br />
Hier geht es zu einer längeren Version dieses Artikels: [http://%E2%80%9EAntimonopolistische_Demokratie%E2%80%9C_(DKP) Antimonopolistische Demokratie]<br />
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'''Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD):'''<br />
Zu den wichtigsten Alleinstellungsmerkmalen der Theorie und Programmatik der MLPD gehört der Begriff der „Übermonopole“ (siehe dazu den Entsprechendne Artikel [[Imperialismus_als_Weltsystem|"Imperialismus als Weltsystem"]] der AG Politische Ökonomie], der auch ihre Analyse des bürgerlichen Staats der Gegenwart wesentlich prägt: "Die hier ansässigen internationalen Übermonopole, die zum allein herrschenden internationalen Finanzkapital gehören, haben sich den Staat vollkommen untergeordnet, und die Organe des Monopolkapitals sind mit den Organen des Staatsapparats verschmolzen. Sie haben ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft, auch über andere Monopole und die nicht monopolisierten Kapitalisten, errichtet. Über die Organe der EU nehmen sie Einfluss auf andere europäische Staaten." (Programm der MLPD)<br />
<br />
Die MLPD geht also davon aus, dass sich diese „Übermonopole“ den bürgerlichen Staat „vollkommen untergeordnet“ haben – aus dieser Formulierung kann geschlussfolgert werden, dass der Staat nicht mehr als „ideeller Gesamtkapitalist“ das Gesamtinteresse des Kapitals vertritt, sondern von der Fraktion der „Übermonopole“ bzw. des „allein herrschenden Finanzkapitals“ allen anderen Teilen der Bourgeoisie gegenüber als Herrschaftsinstrument benutzt wird. Zudem geht die MLPD davon aus, dass die „Organe des Monopolkapitals“, die im vorangegangenen Stadium des Kapitalismus scheinbar noch unabhängig vom und außerhalb des Staatsapparates existierten, heute vollständig mit diesem „verschmolzen“ sind. <br />
<br />
Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Programmatik der MLPD findet sich hier: [https://kommunistische.org/diskussion/einschaetzung-der-programmatik-der-mlpd/ Philipp Kissel, Einschätzung der Programmatik der MLPD].<br />
<br />
Die Positionen der MLPD zum bürgerlichen Staat entnehmen wir ihrem zuletzt 2016 überarbeiteten Parteiprogramm.<ref>https://www.mlpd.de/parteiprogramm</ref><br />
<br />
===Staatsmonopolistischer Kapitalismus===<br />
Hier soll kurz dargestellt werden, wie die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus den klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt. In welchem Verhältnis stehen Staat und Monopole? Ist der Staat alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole oder auch "ideeller Gesamtkapitalist", also Ausdruck der Herrschaft der gesamten Bourgeoisie?<br />
<br />
'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
<br />
Siehe hierzu den Dissens [[Monopole und Staat]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus.<br />
<br />
===Der Staat als "echte Demokratie"===<br />
Die Position, der bürgerliche Parlamentarismus auf der ökonomischen Basis der kapitalistischen Produktionsweise sei eine "echte Demokratie" läuft letztlich auf die Position hinaus, die gesellschaftlichen Verhältnisse würden nicht von der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie, sondern von der politischen Mehrheit bestimmt. Die Frage des Klassencharakters der Staats wird also reduziert auf eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Je nach dem, ob die Bourgeoisie oder die Arbeiterklasse im demokratischen Prozess mehr Kontrolle über den Staatsapparat ausübt, verschiebt sich auch dessen Klassencharakter. Diese Auffassung setzt zugleich ein Verständnis des Staates als ''klassenneutrale Instrument'' voraus (siehe oben). <br />
<br />
'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):''' <br />
Die Vorstellung einer fortschreitenden Demokratisierung des bürgerlichen Staats und einer damit einhergehenden Verwandlung seines Klassencharakters spielten eine zentrale Rolle im Denken des klassischen Revisionismus. Rosa Luxemburg polemisierte schon 1899 gegen Eduard Bernstein: „die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie [sei] eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie.“ <ref> Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), Zweiter Teil </ref> Bürgerliche Demokratie und Parlamentarismus waren für Bernstein nicht taktische Mittel im Klassenkampf, sondern tatsächlicher Ausdruck der Herrshaft durch das Volk bzw. die Mehrheit, also der Arbeiterklasse: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. […] Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“<ref>Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.154-156.</ref> Für die Strategie der Arbeiterbewegung heißt das: „die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.“<ref>Ebd., S. 154-156.</ref> Die Arbeiterbewegung soll sich also darauf beschränken, im legalen Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus für Reformen und schrittweise Verbesserungen zu kämpfen. Der bürgerliche Staat ist dabei nicht ihr Gegner, sondern ihr Werkzeug. Die taktische Herausforderung besteht demnach einzig darin, auf demokratischem Weg in die Position zu gelangen, dieses Werkzeug für die eigenen Zwecke nutzen zu können.<br />
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'''Position von SYRIZA:''' <br />
Die griechische "Linkspartei" SYRIZA argumentiert in ihrem Regierungsprogramm, „der Staat [sei] keine Festung, sondern ein Netzwerk, ein Verhältnis und eine strategische Arena für den politischen Kampf. Er verändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, im Gegenteil, seine notwendige Transformation hat konstante und kontinuierliche Kämpfe zur Voraussetzung, die Einbeziehung des Volkes, ständige Demokratisierung.“ (Quelle: S''YRIZAs Regierungsprogramm''<ref>Zitiert nach einem auf Englisch erschienenen Artikel der KKE, ins Deutsche Übersetzt. URL: https://inter.kke.gr/en/articles/Criticism-of-certain-contemporary-opportunist-views-on-the-state/ (9.1.2019)</ref>) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der bürgerliche Staat von SYRIZA nicht seinem Wesen nach als ein Organ der bürgerlichen Klassenherrschaft angesehen, sondern als eine Ansammlung von Institutionen, die im Interesse des Volkes „transformiert“ werden können. Auf Grundlage dieser Sichtweise wird argumentiert, dass der Charakter des bürgerlichen Staats durch die richtigen politischen Kräfteverhältnisse geformt oder gar "transformiert" werden kann, solange sich nur „linke Regierungen“ durchsetzen können. <br />
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'''Position der DKP:''' <br />
Die DKP bleibt in ihrer Einschätzung der bürgerlichen Demokratie widersprüchlich. Einerseits ist in ihrem Programm von 2006 zwar die Rede davon, dass sich durch die "Globalisierung" die "Tendenz zur Reaktion" verschärft, dass die Demokratie untergraben wird (siehe S. 12) und dass letztlich eine "revolutionäre Überwindung" (S. 28) des Kapitalismus nötig sei. Andererseits gehört es jedoch zu den Kernthesen ihrer "antimonopolistischen Startegie", dass noch auf dem Boden der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und innerhalb des institutionellen Rahmens des bürgerlichen Staats umfassende Reformen und sogar eine "antimonopolistisch-demokratische Umgestaltung" (S. 32) möglich seien: "Je mehr es dabei gelingt, Veränderungen im Sinne von Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, von demokratischer Kontrolle, von Entmilitarisierung und Demokratisierung in Staat und Gesellschaft zu erreichen, je größer der Einfluss der demokratischen und sozialistischen Kräfte überall dort ist, wo Meinungsbildung stattfindet, desto besser sind die Chancen im Kampf um die Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und für die Öffnung des Weges zum Sozialismus. [...] Es geht um die [...] demokratische Einflussnahme auf den staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus im nationalen Rahmen wie im Rahmen der Europäischen Union und anderer internationaler staatsmonopolistischer Institutionen". (S. 30) Diese Vorstellung läuft letztlich also darauf hinaus, die Kommunisten und „Demokraten“ könnten den ideellen Gesamtkapitalisten dem Einfluss der Klasseninteressen der Bourgeoisie entreißen und ihrem eigenen politischen Willen unterwerfen.<br />
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'''Andere Vertreter:''' Ebenfalls weit verbreitet sind Vorstellungen über den demokratischen Charakter des bürgerlichen Staats in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dort gehört der Begriff der „Mitbestimmung“ nicht umsonst zum ideologischen Kernrepertoire. Die Vorstellung, im Betrieb ließe sich zwischen Kapital und Arbeit auf Augenhöhe eine demokratische Mitbestimmung und dadurch ein Interessenausgleich verwirklichen, bildet das Herzstück der Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Ähnliche Sichtweisen werden heute außerdem in einer Reihe lateinamerikanischer Länder gepflegt. Verschiedene „fortschrittliche“ und „linke“ Regierungen versuchen unter dem Banner des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bzw. der „bolivarischen Revolution“ das bürgerliche Staatsystem durch Gesetzesreformen und Volksabstimmungen grundlegend zu veränden.<br />
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==="Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci)===<br />
Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, verfasste in den 1920er und 30er Jahren in faschistischer Gefangenschaft seine „Gefängnishefte“, ein umfangreiches theoretisches Werk, dessen einzelne Bestandteile Gramsci unter den Bedingungen seiner Haft leider nicht mehr zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen konnte. Zu den wichtigsten Aspekten dieses Werks gehören Gramscis Überlegungen zur besonderen Form der Herrschaft der Bourgeoisie in den entwickelten imperialistischen Ländern und die daraus abgeleiteten Weiterentwicklungen der marxistischen Staatstheorie.<br />
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In den Gefängnisheften bringt Gramsci den Staat und die Herrschaft der Bourgeoisie auf die kurze Formel: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang" (H. 6, §88., S. 783)<ref>Antonio Gramsci, Gefängnisgefte. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1991. Im Folgenden wird aus den Gefängnisheften nur noch in Klammern nach Heft Nr., Paragraph und Seitenzahl zitiert.</ref><br />
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Gramsci weitet den Staatsbegriff damit aus und entwickelt sein Konzept des "integralen Staates". Dieser umfasst einerseits die "politische Gesellschaft", womit alle explizit staatlichen Strukturen und Institutionen gemeint sind, also das Parlament, die Beamtenapparate, die Repressionsorgane, die staatlichen Bildungseinrichtungen etc. Andererseits betrachtet Gramsci aber auch die "Zivilgesellschaft" als Teil der bürgerlichen Staatlichkeit. Gemeint sind damit alle Strukturen außerhalb der Staatsapparate, über die die Bourgeoisie ihre Herrschaft absichert, also private Medien, Bildungsstätten, Institute, Stiftungen, Clubs, Thinktanks etc. Mit Blick auf den Sieg der Oktoberrevolution in Russland und die darauffolgenden Niederlagen der Revolutionsversuche in Westeuropa schrieb Gramsci: "Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand;" (H. 7, §16., S. 873-874) An anderer Stelle heißt es: "zumindest was die fortgeschrittenen Staaten angeht, wo die 'Zivilgesellschaft' eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften 'Durchbrüchen' des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg." (H. 13, §14, S. 1553-1554) Die Stabilität der bürgerlichen Herrschaft hängt demnach also wesentlich davon ab, inwieweit die Zivilgesellschaft herausgebildet und die "Hegemonie" der Bourgeoisie enwickelt ist. <br />
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Mit dem Begriff der Hegemonie versucht Gramsci der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass sich die Macht der Bourgeoisie nicht nur auf das Staatliche Gewaltmonopol und die Repressionsapparate stützt, sondern wesentlich über ideologische Integration und die Erzeugung von "Konsens" abgesichert wird. Hegemonie bezeichnet also die politisch-ideologische Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über eine andere. "Die 'normale' Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne daß der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt, sondern im Gegenteil sogar versucht wird, zu erreichen, daß der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint […]" (H. 13, §37, S. 1607-1613). Konsens bezeichnet hier einen Zustand, in dem die Beherrschten die Herrschaft zumindest passiv ertragen oder sogar aktiv die Sichtweise übernehmen, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse entsprächen auch ihren Interessen und seien die bestmöglichen. Gramsci schreibt, dass "eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. […] Die politische Führung wird zu einem Aspekt der Herrschaft, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Klassen zur Enthauptung derselben und zu ihrer Machtlosigkeit führt. Es kann und muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben." (H. 1, §44, S. 101-113) <br />
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Heute wird der Begriff der Hegemonie fast ausschließlich Gramsci zugeschrieben, dabei war er zu dessen Lebzeiten unter den Theoretikern der Kommunistischen Internationale weit verbreitet und wurde breit diskutiert. Wie Buci-Glucksmann bemerkt, war er "im gesamten Marxismus der Dritten Internationale überaus geläufig. Man findet ihn vor allem unter der Feder Lenins vor 1917, aber auch später. Man finet ihn ebenso oft bei Bela Kun, Varga, Stalin, und vor allem Bucharin, der ihn in einer Weise benutzte, die der Gramscis nahezustehen scheinen könnte". <ref>Buci-Glicksmann, Gramsci und der Staat, S. 17.</ref> <br />
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Die "führende Klasse" oder Klassenfraktion ist laut Gramsci in ihrem Ringen um Hegemonie also in der Regel darum bemührt, alle anderen Fraktionen ihrer Klasse und ihrer "verbündeten Klassen" in ihren "Block an der Macht" zu integrieren. Das gelingt nur, indem sie mit diesen anderen Fraktionen ein Komprimissprogramm aushandelt, das bestmöglich das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse zusammenfasst und deren innere Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Der Ort, an dem diese Kompromisse ausgehandelt und schließlich in politische Praxis übersetzt werden, ist der bürgerliche Staat selbst. Gegenüber den "feindlichen Klassen" (also dem Proletariat und den anderen Werktätigen) tritt die Bourgeoisie als "herrschend" auf, sie übt ihre Hegemonie einerseits durch integration ihrer ideologischen Führer und andererseits durch materielle Zugeständnisse aus: "Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, daß sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, daß also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, daß solche Opfer und ein solcher Kompromiß nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt." (H. 13, §18, S. 1565-1573) Gramsci beschreibt in dieser Formulierung den grundsätzlichen Klassencharakter des Staates. Die Kompromisse können nie "das Wesentliche" betreffen - also die kapitalistische Produktionsweise - sondern sich nur in deren Rahmen Bewegen. <br />
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Gramscis Staatstheorie knüpft eindeutig an die Auffassung des Staats als "ideeller Gesamtkapitalist" (s.o.) an, indem sie einerseits die Integration der gesamten herrschenden Klasse in einem "historischen Block" betont und andererseits die zumindest passive Einbindung der Beherrschten im Rahmen der Hegemonie betont. Mit einer Staatsauffassung, die den bürgerlichen Staat im Monopolkapitalismus als "alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole" (s.o.) versteht, ist Gramscis Ansatz kaum zu vereinbaren. <br />
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Mit Blick auf den Staat schreibt Gramsci außerdem, dieser sei "das Instrument zur Anpassung der Zivilgesellschaft an die ökonomische Struktur". (H. 10.II, §15, S. 1267) Dabei spielen Medien und andere ideologische Apparate eine entscheidende Rolle: "Was 'öffentliche Meinung' genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der 'Zivilgesellschaft' und der 'politischen Gesellschaft', zwischen dem Konsens und der Gewalt. Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft. […] die öffentliche Meinung, wie sie heute Verstanden wird, ist am Vorabend des Untergangs der absolutistischen Staaten entstanden, das heißt in der Zeit des Kampfes der neuen bürgerlichen Klasse um die politische Hegemonie und die Erlangung der Macht. […] [Es entbrennt ein] Kampf ums Monopol der Organe der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, Parlament". (H. 7, §83, S. 916-917)<br />
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Verliert die herrschende Klasse ihre Hegemonie so kommt es zur "Hegemonie-" bzw. "Autoritätskrise": "Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr 'führend', sondern einzig 'herrschend' ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die große Masse sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann". (H. 3, §34, S. 354-355) Der Verlust der Hegemonie darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem automatischen Verlust der Macht, schließlich verfügt die herrschende Klasse auch bei schwindendem Konsens noch immer über die Mittel des Zwangs. <br />
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Zu den strategischen Schlussfolgerungen, die Gramsci aus seiner Staatstheorie ableitete, siehe den Dissens-Artikel zu [[Staat und Revolution]] und dort den Abschnitt "Bewegungs- und Stellungskrieg". <br />
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Einige offene Fragen zu Gramsci und seiner Staatstheorie werden von unserer AG tiefergehend behandelt werden: Handelt es sich dabei um einen wegweisenden Beitrag zur marxistischen Staatstheorie im Zeitalter des Imperialismus und des entwickelten bürgerlichen Staats, an den die Kommunisten anknüpfen und den sie weiterentwickeln müssen? Oder enthält Gramscis Theorie bereits wesentliche revisionistische Abweichungen, die es den verschiedenen opportunistischen Strömungen, die sich heute auf ihn berufen, leicht machten, seine Theorie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?<br />
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==="Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas)===<br />
Nicos Poulantzas war ein griechischer Theoretiker, der in den 1960er und 70er Jahren eine Reihe an marxistischen Studien verfasste. Er sympathisierte nach 1968 mit der eurokommunistischen griechischen kommunistischen Partei des Inlands (KKE-Inland) und stand – in Frankreich lebend - in kritischer Distanz zur Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). In seinen klassen- und staatstheoretischen Schriften ist der Einfluss u.a. von Louis Althussers Strukturalismus sowie [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #"Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci) | Antonio Gramscis Hegemonietheorie]] sichtbar. In der marxistischen Debatte um den Staat hat Poulantzas tiefe Spuren hinterlassen, was primär zurückgeführt werden kann auf seine Konzeption des Staates als „Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“. Historisch bedeutsam war dabei zunächst die Auseinandersetzung mit Ralph Miliband; im deutschsprachigen Raum wurde seine Theorie u.a. über Joachim Hirsch und Alex Demirovic wieder in die Diskussion eingebracht.<br />
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Poulantzas formuliert in der Einleitung zur „Staatstheorie“ den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Es ist nicht der Klassencharakter des Staates, der zur Debatte steht: „Jeder Staat ist ein Klassenstaat; jede politische Herrschaft ist Klassendiktatur; der kapitalistische Staat ist ein Staat der Bourgeoisie; der kapitalistische Staat im Allgemeinen und jeder kapitalistische Staat im Besonderen sind Diktaturen der Bourgeoisie“ (Staatstheorie S. 155), all dies sind für ihn „Banalitäten“ - zwar richtig, aber nicht weiter ausführenswert. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, vielmehr stellt es sich hier neu: „[W]arum greift die Bourgeoisie in ihrer Herrschaft auf diesen nationalen Volksstaat zurück, diesen modernen Repräsentativ-Staat mit seinen spezifischen Institutionen, und nicht auf einen anderen? Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich genau diesen Staat aussuchen würden, wenn sie den Staat komplett selbst und nach ihrem Geschmack aufbauen würden.“ (Staatstheorie, S. 40). Eine verwandte Frage hatte bereits der sowjetische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis knapp 50 Jahre, vorher gestellt: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“1 Poulantzas gibt in der Einleitung auch eine vorläufige, knappe Antwort auf die von ihm formulierte Frage: „Der Staat stellt ein materielles Gerüst dar, das in keiner Weise auf die politische Herrschaft reduziert werden kann. Der Staatsapparat, dieses besondere und furchterregende Etwas, erschöpft sich nicht in der Staatsmacht. [...] Wenn der Staat nicht einfach ein vollständiges Produkt der herrschenden Klassen ist, so haben sie sich seiner auch nicht einfach bemächtigt: Die Macht des Staates (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) hat in dieser Materialität ihre Spuren hinterlassen. Die Handlungen des Staates reduzieren sich nicht auf die politische Herrschaft, sie sind jedoch konstitutiv von ihr gezeichnet.“ (Staatstheorie, S. 42)<br />
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Eine wichtige Aufgabe des Staates sieht Poulantzas in der Repräsentation und Organisation der herrschenden und der Desorganisation der beherrschten Klassen. Die Bourgeoisie ist keine widerspruchsfreie Einheit. Sie verfolgt zwar zwangsläufig als Klasse einheitlich das Ziel der Kapitalverwertung, dieses Ziel bringt sie aber auch in direkte Konkurrenz untereinander, weshalb, wie Engels sagt, der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert. Poulantzas zufolge ist die Kapitalistenklasse in Klassenfraktionen gespalten, die unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Interessen verfolgen. Diese Klassenfraktionen formieren sich unter der Hegemonie einer Fraktion zu einem „Block an der Macht“, in welchen auch andere herrschende Klassen miteinbezogen werden. Die Hegemonie einer Fraktion bedeutet dabei, dass diese die äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Sinne optimieren kann; und diese Hegemonie erst ermöglicht die Einheit dieses Blocks gegenüber den beherrschten Klassen. Poulantzas betont, dass nicht nur Teile der Bourgeoisie (etwa das Monopolkapital) den Machtblock stemmen: „Diese bürgerlichen Fraktionen sind in ihrer Gesamtheit, obwohl in unterschiedlichem Maße, auf dem Terrain der politischen Herrschaft angesiedelt, und gehören somit immer zum Block an der Macht“ (Staatstheorie S. 159). Dieser Machtblock ist aber konfliktdurchzogen, er stellt ein umkämpftes, instabiles Kompromissgleichgewicht dar: „Der Machtblock stellt eine von inneren Widersprüchen gekennzeichnete Einheit von politisch herrschenden Klassen und Fraktionen unter dem Schutz der hegemonialen Fraktion dar. Der Klassenkampf, die Interessenrivalitäten zwischen den gesellschaftlichen Kräften sind darin ständig gegenwärtig, wobei diese Interessen ihren spezifischen Antagonismus bewahren“ (PMGK, S. 239). In diesem Sinne ist die konkrete Politik des Staates und die Hegemonie im Machtblock immer umkämpft, und dieser Kampf wird im Staat, in seinen ideologischen (Medien, Think Tanks, …) aber auch repressiven Apparaten (Polizei, Armee, …) ausgetragen.<br />
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Um die „Rolle der Vereinheitlichung und Organisierung der Bourgeoisie und des Blocks an der Macht“ (Staatstheorie, S. 158) zu erfüllen, muss der Staat laut Poulantzas eine „relative Autonomie“ gegenüber den einzelnen Bestandteilen des Blocks bewahren: „Unter relativer Autonomie dieses Staatstyps verstehe ich […] das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Feld des Klassenkampfes, insbesondere seine relative Autonomie gegenüber den Klassen oder Fraktionen des Machtblocks und in erweiterter Form auch gegenüber seinen Verbündeten oder Stützen […] Ich hoffe, damit klar genug die Distanz auszudrücken, die diese Auffassung des Staats von einer simplifizierten und vulgarisierten Auffassung des Staats trennt, die in ihm das Werkzeug oder Instrument der herrschenden Klasse sieht“ (PMGK S. 256).<br />
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Der Staat als Instrument (siehe auch die Abschnitte zum Staat als [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als klassenneutrales Instrument | klassenneutrales Instrument]] und als [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole | alleiniges Instrument der Monopole]]) und der [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt) | Staat als Subjekt]]: dies beides sind aus Poulantzas‘ Sicht falsche Staatsverständnisse, die er umschiffen will mit dem Verständnis des Staates als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses. Der Staat als Instrument/Werkzeug/Sache unterstellt eine Passivität oder Neutralität des Staates. Dieser wird als ein Apparat verstanden, der zur Ausübung der politischen Macht von der herrschenden Klasse oder auch einer Klassenfraktion verwendet wird, der aber eben auch so wie er ist übernommen werden kann, um gegen die herrschende Klasse gewendet zu werden. Eine Autonomie des Staates ist ausgeschlossen. Eine solche instrumentalistische Konzeption des Staates sieht Poulantzas in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der eurokommunistischen PCF in den 1970ern: „An dieser Konzeption kritisierte ich vor allem, dass sie zu der Vorstellung des mit dem Monopolkapital »fusionierten« Staates führt, einem Staat der im Dienste der Monopole steht und keinerlei Autonomie besitzt“ (Staatstheorie S. 160). Der Staat als Subjekt wiederum lässt ihn vollständig autonom werden, er steht als Akteur außerhalb der Klassen. Er agiert, koordiniert, verwaltet, reguliert selbstständig. Seine Autonomie bezieht sich „auf die angebliche Macht des Staates und auf die Träger dieser Macht und der staatlichen Rationalität: auf die Bürokratie und speziell auf die politische Elite“ (Staatstheorie S. 160). <br />
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Poulantzas schlägt vor, die „Sackgassen des ewigen Pseudodilemmas der Diskussion zwischen der Konzeption des Staates als einer Sache bzw. einem Instrument und der Konzeption des Staates als einem Subjekt“ (Staatstheorie S. 159f) zu vermeiden, indem der Staat über den Klassenkampf selbst verstanden wird, genauer: „ … indem ich sage, dass der Staat […] nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden darf, sondern, wie auch das »Kapital«, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ Der Staat spiegelt also nicht einfach ein gesellschaftliches Verhältnis wider, er selber konstituiert dieses Verhältnis. In der Vielzahl seiner Institutionen findet die ständige Austarierung zwischen Klassen und Klassenfraktionen statt. Diese Austarierung entspricht aber nicht direkt dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, beispielsweise sind die beherrschten Klassen nicht in den Staatsapparaten anwesend: „Sie organisieren und vereinheitlichen den Block an der Macht, indem sie die beherrschten Klassen ständig desorganisieren und spalten. Sie polarisieren sie gegenüber dem Block an der Macht und schließen ihre politischen Organisationen aus.“ (Staatstheorie S. 171)<br />
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Bei Poulantzas bleibt unklar, wie der Begriff der Verdichtung genau zu verstehen ist, wohingegen er ausführt, was es mit der Materialität hier auf sich hat. Mit Blick auf die Staatstheorie in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der PCF wendet er ein, dass diese „die eigenständige Materialität des Staates übersieht. Diese Materialität eines Staates, der als Werkzeug oder Instrument angesehen wird, hat keine eigene politische Bedeutung. Diese Bedeutung wird auf die Staatsmacht beschränkt, d.h. auf die Klasse, die dieses Instrument manipuliert. Das würde im Extremfall implizieren, dass das gleiche Instrument (das verschiedenen, allerdings zweitrangigen Modifikationen unterliegt) durch eine Veränderung der Staatsmacht, also durch die Macht der Arbeiterklasse, für den Übergang zum Sozialismus anders eingesetzt werden könnte“ (Staatstheorie S. 160). Dieses Defizit meint er zu beheben: „Das materielle Gerüst seiner [des Staates] Institutionen wird durch die Beziehung des Staates zu den Produktionsverhältnissen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung konstituiert, die sich in der kapitalistischen Trennung des Staates von diesen Verhältnissen konzentriert. […] Der Staat hat eine eigene Dichte und Widerstandskraft und reduziert sich nicht auf ein Kräfteverhältnis. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Klassen hat sicherlich immer Auswirkungen innerhalb des Staates, sie überträgt sich jedoch nicht direkt und unmittelbar. Sie passt sich der Materialität der verschiedenen Apparate an und kristallisiert sich im Staat nur in gebrochener und differenzierter, den Apparaten entsprechender Form. Eine Veränderung der Staatsmacht allein transformiert die Materialität des Staates nicht“ (Staatstheorie S. 161f). Als Beispiele für die Materialität führt Poulantzas u.a. die Organisierung kapitalistischen Wissens an: „Die geistige Arbeit (Wissen/Macht) ist in den Apparaten konzentriert und steht im Gegensatz zur tendenziell in den Volksmassen konzentrierten manuellen Arbeit, die von den organisatorischen Funktionen ausgeschlossen und getrennt sind“ (Staatstheorie S. 83).<br />
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==="Akkumulationsregime" (Regulationsschule)===<br />
Hier sollen die offenen Fragen und Aufgaben ausformuliert werden, die sich aus der Staatstheorie der "Regulationsschule" und deren Theorie der "Akkumulationsregime" ergeben. Handelt es sich bei dieser Theorie um einen wesentlichen Beitrag zur marxistischen Staatstheorie, die eine vertiefende Analyse der verschiedenen Formen der bürgerlichen Herrschaft seit der Entstehung des Kapitalismus erlaubt (z.B. durch die Unterscheidung eines "keynesianischen" und eines "neoliberalen Akkumulationsregimes")? Wie wird aus Perspektive der der Regulationsschule der Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt? Enthält diese Theorietradition wesentliche Abweichungen von den Grundannahmen der marxistischen Staatstheorie? Welche Verbinndung gibt es zu den Theorien von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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'''Vertreter:''' Zu den prominentesten Vertretern der Regulationsschule gehören heute die Staatstheoretiker Joachim Hirsch und Bob Jessop.<br />
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===Staat = Repressionsapparate / "neue Demokratie" (Maoismus)===<br />
Innerhalb des maoistischen Spektrums lässt sich als tendenzielle Gemeinsamkeit in der Staatsfrage ein besonderer Fokus auf die „bewaffneten Apparate“ des bürgerlichen Staats und eine weitgehende Vernachlässigung der Analyse anderer, nicht unmittelbar gewaltförmiger Herrschaftstechniken der Bourgeoisie (Integrationsideologien, ökonomischer Zwang, etc.) feststellen. Dies steht im engen Zusammenhang mit der Strategie des "Volkskriegs". Dieser Strategie liegt eine Perspektive auf den Staat zugrunde, die den Kampf um die politische Macht weitgehend auf den unmittelbaren militärischen Kampf und die Zerschlagung der bewaffneten Staatsapparate zuspitzt. Die maoistische Theorie der "neuen Demokratie" enthält außerdem die These einer möglichen dritten Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats.<br />
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Von einer einheitlichen und systematisch ausgearbeiteten "maoistischen Staatstheorie" kann genauso wenig die Rede sein, wie von einer homogenen maoistischen Strömung innerhalb des Marxismus. In den klassischen Texten von Mao Tse-Tung findet sich vor allem keine eigene, systematisch ausgearbeitete Analyse des bürgerlichen Staats im Imperialismus. Die chinesischen Revolutionäre kämpften nicht gegen einen entwickelten bürgerlichen Staat, wie er sich in den imperialistischen Zentren herausgebildet hatte, sondern gegen einen agrarischen Feudalstaat mit kolonialen Elementen. Der Großteil von Maos Äußerungen über den Staat sind in diesem Kontext zu sehen, so zum Beispiel die oft zitierte Losung: "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 74.</ref> An anderer Stelle führt Mao diese Zuspitzung auf die Frage der militärischen Macht und der bewaffneten Apparate weiter aus und verallgemeinert sie als die aus seiner Sicht wichtigste Kernaussage der marxistischen Lehre vom Staat: "Vom Standpunkt der marxistischen Lehre vom Staat ist die Armee die Hauptkomponente der Staatsmacht. Wer die Staatsmacht ergreifen und behalten will, der muß eine starke Armee haben. Manche Leute bezeichnen uns höhnisch als Anhänger der ‚Theorie von der Allmacht des Krieges‘; jawohl, wir sind Anhänger der Theorie von der Allmacht des revolutionären Krieges, und das ist nicht schlecht, sondern gut, das ist marxistisch. [...] Die Erfahrungen des Klassenkampfes im Zeitalter des Imperialismus lehren uns: Die Arbeiterklasse und die übrigen Werktätigen Massen können nur mit der Macht der Gewehre die bewaffneten Bourgeois und Grundherren besiegen; in diesem Sinne können wir sagen, daß die ganze Welt nur mit Hilfe der Gewehre umgestaltet werden kann."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 75-76.</ref><br />
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In genau diesem Sinne wird die Staatsfrage auch in Teilen der zeitgenössischen maoistischen Strömungen behandelt. Viele zeitgenössische Mao-Gruppen beziehen sich dabei auf die Traditionslinie der peruanischen Guerillabewegung „Leuchtender Pfad“ bzw. der KP Perus (Vollständiger Name: ''Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui'') und ihres politischen und ideologischen Anführers „Presidente Gonzalo“ (Abiamel Guzmán). (''Anmerkung: Alle Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen sich auf die Broschüre „Einheitsbasis der Kommunistischen Partei Perus – angenommen auf dem I. Parteitag 1988“<ref>http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/gonzalo/1439-die-einheitsbasis-der-kommunistischen-partei-perus-auf-deutsch</ref>, die leider zahlreiche Übersetzungsfehler enthält.'')<br />
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Der Staat erscheint auch hier vor allem als bewaffneter Apparat, der militärisch bekämpft und zerschlagen werden muss:<br />
"die revolutionäre Gewalt ist ausnahmslos ein universelles Gesetz; die Revolution ist die gewaltsame Ersetzung einer Klasse durch eine andere. Er [Mao Tse-Tung] legte seine große These fest: ‚Die Macht kommt aus den Gewehrläufen!‘" (Über den Marxismus-Leninismus-Maoismus, S. 7) "[der] Volkskrieg, der durch eine revolutionäre Armee neuen Typs, unter der absoluten Führung der Partei, Stück für Stück die alte Macht zerstört, hauptsächlich seine bewaffneten und repressiven Kräfte." (Programm und Statuten der KP Perus, S. 16-17.)<br />
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Unter dem Begriff der „neue demokratische Revolution“ vertreten die Maoisten der KP Perus ein spezifisches Etappenmodell, das die Stufen der Revolution festlegt, die die unterdrückten Länder auf dem Weg zum Sozialismus durchlaufen müssen. Der Klasseninhalt der Revolution und der jeweiligen Staatsformen, die diese hervorbringen, ändert sich jedoch je nach Entwicklungsstand des jeweiligen Landes: "Um unser Endziel, den Kommunismus, zu erreichen, müssen wir Marxisten-Leninisten-Maoisten in Perspektive drei Typen von Revolutionen durchführen: 1) Die demokratische Revolution, das ist die bürgerliche Revolution neuen Typs in den rückständigen Ländern, unter der Führung des Proletariats, in deren Verlauf eine gemeinsame Diktatur des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und unter bestimmten Bedingungen der Mittelbourgeoisie unter der Führung des Proletariats errichtet wird; 2) Die sozialistische Revolution in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern, die die Diktatur des Proletariats errichtet; 3) Kulturrevolutionen, sie werden gemacht um die Revolution unter der Diktatur des Proletariats fortzusetzen, um jede Generierung des Kapitalismus zu unterwerfen und zu eliminieren und auch mit den Waffen gegen jedes streben nach Restauration des Kapitalismus zu kämpfen" (Allgemeine politische Linie, S. 19)<br />
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Mit der Theorie der „neuen demokratischen Revolution“ sind spezifische staatstheoretische Grundannahmen verbunden. Die „Neuen Demokratie“ gilt aus maoistischer Sicht als dritte Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats - ihr Klassencharakter ist wesentlich durch einen Klassenkompromiss bzw. ein Klassenbündnis bestimmt: "Die Neue Demokratie. In erster Stelle ist es eine Entwicklung der marxistischen Staatstheorie mit der Festlegung der drei Typen der Diktatur: 1. die Diktatur der Bourgeoisie, in den alten bürgerlichen Demokratien wie in den Vereinigten Staaten, dazu zählen auch die Diktaturen, die in unterdrückten Nationen, wie den lateinamerikanischen existieren, 2. die Diktatur des Proletariats wie in der Sowjetunion oder in China vor der Usurpation der Macht durch die Revisionisten und 3. die Neue Demokratie als gemeinsame Diktatur, die auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern basiert, geführt vom Proletariat mit der Kommunistischen Partei an der Spitze […]." (Über den Marxismus-Leninismus, S. 8) Im Anschluss an Mao und Gonzalo geht die KP Perus davon aus, dass die "Staatssysteme der Welt" auf „drei Grundtypen reduziert werden können, laut ihres Klassencharakters: Republik unter der Diktatur der Bourgeoisie, die auch die Staaten der alten Demokratie ausmachen und die Republik der gemeinsamen Diktatur der Grundbesitzer und Großbourgeoisie; Republiken unter der Diktatur des Proletariats; und Republik unter der gemeinsamen Diktatur der revolutionären Klassen […]." (Allgemeine politische Linie, S. 33.)<br />
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Andere Grundsätzlichere Fragen zum Thema Maoismus, wie die Strategie des „langfristigen Volkskriegs“, die Etappe der "neuen demokratischen Revolution" oder die Theorie des „Zweilinienkampfs“ werden perspektivisch durch die [[AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei]] bearbeitet. Fragen zur Polemik zwischen der Sowjetunion und China über die „friedliche Koexistenz“, die „Kulturrevolution“ und die maoistische Position, die Sowjetunion sei „sozialimperialistisch“ gewesen, gehören zum Arbeitsbereich der [[AG Sozialismus]].<br />
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Eine längere Version dieses Artikels (befindet sich noch in Bearbeitung) findet ihr hier: '''[[Die Staatsfrage im Maoismus]]'''<br />
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Vertreten werden solche oder ähnliche Positionen in Deutschland zum Beispiel von der Sozialistischen Linken (SoL) oder dem mittlerweile aufgelösten Jugendwiderstand (JW).<br />
===Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt)===<br />
Der ''Gegenstandpunkt'' (GSP, früher ''Marxistische Gruppe'') vertritt eine eigene Staatstheorie, die davon ausgeht, der bürgerliche Staat könne aus den abstrakten Kategorien der politischen Ökonomie "abgeleitet" werden. Den Ausgangspunkt dieser Ableitung bildet die einfache Warenzirkulation, in welcher die Warenbesitzer sich wechselseitig als "freie" und "gleiche" Privateigentümer anerkennen. Die Autoren des GSP sehen drei gemeinsame Interessen bei allen Privateigentümern: Die Erhaltung der Revenue, eine möglichst hohe Revenue und den kontinuierliche Fluss der Revenue. Daraus schlussfolgern sie, dass Schutz und Sicherung des Privateigentums, die Sicherung des Wirtschaftswachstums und ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft dem Gesamtinteresse aller Privateigentümer entsprechen, wozu als viertes das Interesse an gleichen Konkurrenzvoraussetzungen hinzutritt. Weil die Privateigentümer aber in der Verfolgung ihrer besonderen Interessen nicht die allgemeinen Interessen durchsetzen können, bedarf es des Staates: "Das besondere Dasein des Staates neben und außer der Gesellschaft der konkurrierenden Privaten – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit – ist das Resultat dieses Widerspruchs zwischen besonderem und allgemeinem Interesse in seinen verschiedenen Existenzweisen. Der Staat verkörpert die Loslösung der allgemeinen Interessen aus der Sphäre der Privaten und ihre Verwaltung in der Sphäre des Staates. Mit der Besonderung des Staates werden die allgemeinen Interessen zu seinen besonderen, deren Verwaltung allein ihm obliegt. <ref> von Flatow, Sybille / Huisken, Freerk: Zum Problem der Ableitung des bürgerlichen Staates, in: Prokla, 7 (1973), S. 121 </ref><br />
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Fertig ausformuliert und in den Reihen des GSP kanonisiert wurde diese "Staatsableitung" von Karl Held in ''Der bürgerliche Staat''. In Helds Analyse wird aus der „Besonderung des Staates“ letztendlich der „Staat als Subjekt“: "Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit und Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert.<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Staat hält hier nicht nur die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Reproduktion aufrecht, er wird zum eigenständigen Subjekt mit eigenen Interessen: "Der souveräne Staat ist eine von den Bürgern getrennte, selbständige Instanz, die mit keinem besonderen Interesse identisch ist und gerade und nur deswegen von allen anerkannte Gewalt ist, weil er sein Interesse, das Allgemeinwohl, gegen die Privatsubjekte durchsetzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref> "In der Unterordnung aller Aufgaben, um deren Erfüllung willen er sich als politisches Subjekt der Ökonomie betätigt, unter das Kriterium des wirtschaftlichen Wachstums, in der Relativierung aller Funktionen entsprechend dieser Zielsetzung der Wirtschaftspolitik fällt der Grund des bürgerlichen Staates – die freie Konkurrenz – unmittelbar zusammen mit seinem Zweck: er ist bewußter Agent des Inhalts der Konkurrenz, die bekanntlich nicht die Individuen, sondern das Kapital in Freiheit setzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates besteht daher beim GSP auch zuallererst darin, dass er nicht im Interesse der einen Klasse eine andere, sondern alle Individuen gleichermaßen unterwirft: "Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, daß er Klassenstaat ist: Durch die gleiche Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der Nutzen aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben." <ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat, URL: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat (29.12.2018) </ref><br />
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Der Staat wird dadurch also wesentlich (und nicht nur oberflächlich) zu einem (klassen)neutralen Subjekt erklärt, welches die äußeren Bedingungen der Konkurrenz organisiert und diese Bedingungen den Warenbesitzern unterschiedslos aufzwingt. <br />
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'''Vertreter:''' Neben dem ''Gegenstandpunkt'', dessen Aktivitäten sich fast auschließlich auf das akademische Milieu konzentrieren, werden diese Positionen auch von vielen studentischen Jugendgruppen in der "linksradikalen" und Antifa-Szene vertreten. Dies hat häufig damit zu tun, dass Leute aus der Szene ihre eigene theoretische Bildung über Lesekreise und Seminare des Gegenstandpunkt erwerben. Besonders in Teilen der ''Sozialistischen Jugend - Die Falken'' lässt sich ein starker ideologischer Einfluss des GSP feststellen, das gleiche Phänomen taucht aber auch immer wieder in Gewerkschaftsjugenden oder ''solid SDS''-Gruppen auf. Besonders stark ist zudem die Überschneidung zu "antinationalen" Gruppen, wie etwa bei der Dortmunder ''Gruppe K''.<br />
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Einen Text zur ausführlicheren Einbettung in den Kontext der "Staatsableitungsdebatte" findet ihr hier: [[Der Staat als Subjekt (Staatsableitungsdebatte)]]<br />
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Einen Hintergrundartikel zum Gegenstandpunkt hier: [https://kommunistische.org/diskussion/standpunkt-gegen-den-marxismus/ Standpunkt gegen den Marxismus (Thanasis Spanidis)]<br />
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===Anarchistische Staatskritik===<br />
Der "Anarchismus" (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) umfasst ein sehr diffuses und heterogenes Spektrum, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Dennoch lassen sich grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Anarchisten vertreten eine politische Haltung, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbstbestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammenschließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. Im Mittelpunkt stehen die Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, und Selbstverwirklichung der Individuen im Rahmen der kollektiven Selbstverwaltung („Autonomie“) möglichst kleiner Organisationseinheiten. Im Anarchismus fließen die Traditionen des bürgerlichen Liberalismus (individuelle Freiheit) und der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen (Kollektivität und Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Heute wird häufig das Adjektiv "libertär" (deutsch: freiheitlich) als Synonym für „anarchistisch“ benutzt.<br />
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An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich aus Sicht der Anarchisten auch schon die Bewegung selbst messen lassen, die für die „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Position so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren, geschweige denn nach der siegreichen Revolution einen eigenen Staat zur Niederhaltung der Unterdrücker und zum Aufbau und zur Verteidigung der Revolution schaffen darf. In Abgrenzung zu solchen individual-anarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen.<br />
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Die anarchistische Staatskritik richtet sich nicht hauptsächlich gegen den bürgerlichen Staat als Klassenstaat der Bourgeoise, sondern lehnt jede Form der Macht, der Autorität und der Staatlichkeit überhaupt als Grundübel der Gesellschaft ab. Der Anarchismus vertritt also in letzter Konsequenz einen klassenneutralen Machtbegriff – er lehnt die Macht nicht als Klassenmacht der Ausbeuter ab, sondern als abstraktes Ding an sich, das aus der Welt geschafft werden soll. <br />
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'''Marx und Engels vs. Bakunin:''' Die erste ausführliche theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. <br />
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Engels fasste die Kritik an der Staatsauffassung Michael Bakunins und der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen: "Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. [...]<br />
Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll,[...] so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität <nowiki>=</nowiki> Staat <nowiki>=</nowiki> absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!" <ref>Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33;Dietz-Verlag; S. 388-389.</ref><br />
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Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der politische Ausdruck dieser Widersprüche ist nicht die Klassenherrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter und alle anderen Werktätigen, sondern die Macht und Autorität des Staates überhaupt. Diese Auffassung hat weitreichende taktische und strategische Konsequenzen (siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]]).<br />
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'''Heutige Vertreter:''' Der Anarchismus in seiner klassischen Form, also als politische Ideologie und Bewegung mit realer Verankerung in der Arbeiterbewegung (wie ihn Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder die spanischen Anarchosyndikalisten vertraten) ist heute kaum mehr präsent. Vulgarisierte Formen des Anarchismus sind dagegen in der "autonomen" Szene und linken Subkulturen nach wie vor sehr weit verbreitet. Neben zahlreichen Splittergruppen, die in der BRD heute ein gemeinsames, hauptsächlich kleinbürgerlich geprägtes Milieu bilden und von der Arbeiterbewegung meist isoliert sind, bildet die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) eine gewisse Ausnahme. Diese Organisation versucht im Rahmen einer kleinen anarchistischen Richtungsgewerkschaft außerhalb der DGB-Gewerkschaften Klassenkämpfe und Streiks zu organisieren.<br />
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Verschiedene "anarchokommunistische" Gruppen und Zusammenschlüsse in Deutschland versuchen Aspekte des Marxismus (gewerkschaftliche Organisation, Klassenkampf, Vergesellschaftung der Produktionsmittel) mit Standpunkten des Anarchismus (Ablehnung von Hierarchien, zentralistischer Organisationsformen und der Diktatur des Proletariats) zu vereinen. Seit Dezember 2018 existiert mit der Initiative [https://www.dieplattform.org/wir/ "die Plattform"] z.B. ein Versuch, einen bundesweiten "plattformistischen" anarchakommunistischen Organisationszusammenhang aufzubauen und im Rahmen einer eigenen Schriftenreihe eine theoretische Debatte anzustoßen.<br />
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Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxistismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff. Die Rojava-Solidarität vereint heute ein politisches Spektrum, dass von der MLPD über die verschiedenen roten Gruppen, die iL, die Linkspartei und bis zu den antinationalen und antideutschen Zusammenhängen reicht.<br />
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==Bezug zu unseren Grundannahmen==<br />
==Wie wollen wir den Dissens klären?==<br />
==Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?==</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Der_Klassencharakter_des_b%C3%BCrgerlichen_Staats&diff=6894Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats2019-12-21T09:44:08Z<p>Dio: /* Der Staat als klassenneutrales Instrument */</p>
<hr />
<div>Zurück zur [[AG Formen bürgerlicher Herrschaft]]<br />
==Überblick==<br />
Dieser Artikel soll einen ersten groben Überblick über die verschiedenen Auffassungen zum Klassencharakter des bürgerlichen Staats innerhalb des kommunistischen und im weiteren Sinne "linken" Spektrums geben. Ist der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" die organisierte politische Macht der gesamten Bourgeosie und damit das Instrument ihrer Klassenherrschaft? Oder ist der Staat an sich ein klassenneutraler Apparat, der sowohl für die Zwecke der Kapitalistenklasse, als auch im Interesse der Arbeiter in Bewegung gesetzt werden kann? Ist der Staat im Stadium des Imperialismus nur noch das Herrschaftsinstrument eines kleinen Teils der Kapitalisten, der Monopolbourgeoisie, die ihre Macht mit Hilfe des Staats auch gegen die "kleine und mittlere Bourgeoisie" durchsetzt? Oder ist der bürgerliche Staat nach 1945 gar zu einer "echten Demokratie" geworden, in der die politische Macht nicht mehr von den besitzenden Klassen ausgeht, sondern von der demokratischen Mehrheit?<br />
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Die Unterschiede in der Analyse und die Einschätzung des Klassencharakters des bürgerlichen Staats haben weitreichende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung. Die sich daraus ergebenden Dissense werden an anderer Stelle unter dem Stichwort "'''[[Staat und Revolution]]'''" dargestellt.<br />
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===Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise"===<br />
Die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus (Marx, Engels, Lenin) bestimmten den bürgerlichen Staat als "ideellen Gesamtkapitalisten" und als Instrument der "Diktatur der Bourgeosie". <br />
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Schon im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 schrieben Marx und Engels: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. […] Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." <ref> Marx, K., Engels, F.: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, Berlin/DDR 1977, S. 464/482. </ref> Diese Definition des Staates als „Ausschuss“ zur Regelung der „gemeinschaftlichen Geschäfte“ der Bourgeoisie deckt sich mit der späteren Formulierung von Engels, in der er den bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnete: "Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten […] nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. <ref> Engels,F.: Zur Wohnungsfrage, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 18, Berlin/DDR 1973, S.257-258.</ref> Der Staat schützt die kapitalistische Produktionsweise sowohl gegen den Widerstand der Arbeiter als auch gegen die sich widersprechenden Einzelinteressen individueller Kapitalisten. Laut Engels setzt der „ideelle Gesamtkapitalist“ also das Interesse der gesamten herrschenden Klasse nicht nur gegenüber dem Proletariat, sondern auch gegenüber ihrer einzelnen Klassenindividuen durch: "Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." <ref> Engels,F.: Anti-Dühring (1877), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 20, S. 260.</ref> <br />
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Der Staat ist also einerseits Instrument zur Unterdrückung der Arbeiter und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse, gleichzeitig ist er notwendig, um die Bourgeoisie über die kapitalistische Konkurrenz hinweg zu Kompromissen zu zwingen und sie so erst als herrschende Klasse zu organisieren.<br />
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Lenin führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine scharfe Polemik gegen die Revisionisten und Reformisten in der deutschen und russichen Sozialdemokratie. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fasste er die Staatsauffassung von Marx und Engels in seiner Schrift ''Staat und Revolution'' (1917) zusammen: "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen 'Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. <ref> Lenin, W.I.: Staat und Revolution, in: in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Lenin Werke Bd. 25, Berlin/DDR 1974, S. 399. </ref> Der Staat ist demnach eine Macht, "die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben. Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt ‚nicht mehr unmittelbar zusammenfällt‘ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer ‚selbsttätigen bewaffneten Organisation‘. [...] Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?" <ref> Lenin, W.I.: Staat und Revolution, in: in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Lenin Werke Bd. 25, Berlin/DDR 1974, S. 401.</ref><br />
Abschließend fasste Lenin seine Studien zur marxschen Staatsauffasung in der Bestimmung des bürgerlichen Staats als „Diktatur der Bourgeoisie“ zusammen: "Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist […]. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie." <ref> Lenin, W.I.: Staat und Revolution, in: in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Lenin Werke Bd. 25, Berlin/DDR 1974, S. 425.</ref><br />
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Von dieser Analyse ausgehend formulierten die Klassiker die strategische Orientierung auf die "Zerschlagung des bürgerlichen Staats" und die Errichtung der "Diktatur des Proletariats". Siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]].<br />
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Für eine ausführlichere Darstellungen der Annahmen der Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus zum Staat, siehe: [[Grundannahmen Staat]]<br />
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===Der Staat als klassenneutrales Instrument===<br />
Vertreter dieser Auffassung gehen davon aus, dass der bürgerliche Staat und seine Organisationsapparate an sich klassenneutrale Instrumente sind. Das heißt sie werden unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen zwar von der Bourgeoisie benutzt, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen, die Arbeiterklasse niederzuhalten und die Bedingungen der Kapitalakkumulation möglichst günstig zu gestalten, könnten unter anderen Bedingungen, zum Beispiel nach dem Wahlsieg einer Arbeiterpartei, aber genausogut im Interese des Proletariats in Bewegung gesetzt werden, zum beispiel um den Kapitalismus durch Sozialreformen allmählich in den Sozialismus zu überführen. Die Instrumente selbst, also die Staatsorganisationen vom Parlament über die Verwaltungs- bis hin zu den Repressionsorganen, verhalten sich dieser Auffassung nach also neutral zu den Zwecken ihrer Anwendung. Weder ihre konkrete Organisationsform noch das Personal, aus dem sie bestehen, tragen demnach Klassencharakter. Diese Auffassung steht im Widerspruch zu der Position, der bürgerliche Staat sei seiner Form und seinem Klasseninhalt nach "ideeller Gesamtkapitalist" und Ausdruck der "Diktatur der Bourgeoisie" (s.o.).<br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):'''<br />
Die klassischen Vertreter einer solchen Staatsauffassung waren die „Revisionisten“ in der deutschen Sozialdemokratie, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen und zentrale Annahmen des wissenschaftlichen Sozialismus zu "revidieren" begannen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Eduard Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. <br />
<br />
Bernstein bestritt in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899) die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Aufhebung des bürgerlichen Staats und schlug stattdessen einen friedlichen und demokratischen Reformweg zum Sozialismus vor. Bernstein argumentiert, die bisherige Ausrichtung der Sozialdemokratie auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus sei durch die Realität überholt. Das kapitalistische System habe sich als weitgehend krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, ein „Zusammenbruch“ des Kapitalismus bzw. eine revolutionäre Situation sei nicht mehr zu erwarten. Die Aufgabe der SPD sei es nun, im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch „Sozialreformen“ Verbesserungen für die Arbeiterklasse und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards zwischen den Klassen durchzusetzen. Den Weg, um diese Ziele zu erreichen, sah Bernstein in der schrittweisen Ausdehnung des parlamentarischen Einflusses der Sozialdemokratie bis hin zur Übernahme der Regierung. Diese würde dann weitreichende Reformen im Sinne der Arbeiterklasse und des Sozialismus durchsetzen. Das entsprechende Credo des Reformismus lautete: „der Weg ist alles, das Ziel ist nichts.“<br />
<br />
Der klassische Reformismus setzt notwendig eine bestimmte Auffassung über den bürgerlichen Staat voraus. Wenn es möglich sein soll, den Kapitalismus allmählich durch Sozialreformen zu überwinden, so muss es auch möglich sein, dass die Arbeiterklasse diese Reformen im Staatsapparat gegen den Willen der Bourgeoisie durchsetzt oder diese zumindest zu Kompromissen zwingt – und zwar so weit, dass die Gesellschaft immer mehr sozialistische Züge annimmt und der Staat letztlich aufhört, bürgerlicher Staat zu sein und allmählich zu einem Instrument in den Händen der Arbeiterklasse wird. Dieses Instrument an sich muss also „klassenneutral“ sein und je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse sich entwickeln, kann es sowohl von der einen, als auch von der anderen Klasse kontrolliert und im eigenen Interesse eingesetzt werden. Der Staat steht in dieser rein instrumentalistischen Sichtweise der ihm zugrunde liegenden Produktionsweise also äußerlich gegenüber, er besitzt keine innere Verbindung zu ihr. Der Überbau scheint unabhängig von seiner ökonomischen Basis agieren zu können. Der bürgerliche Staat wird aus dieser Sichtweise nicht als spezifisches, den Klasseninteressen der Bourgeoisie entsprechend geformtes Werkzeug verstanden. Ergo kann das Proletariat dieses Werkzeug unverändert übernehmen, anstatt sich einen eigenen Apparat zu schaffen, der den spezifischen Erfordernissen und Klasseninteressen der Arbeitermacht entspricht.<br />
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'''Eurokommunismus:'''<br />
Ab den 1970er Jahren knüpften die sogenannten "Eurokommunisten" mit vielen ihrer Positionen an die theoretische Tradition des klassischen Revisionismus an, begründeten ihre Haltung aber damit, dass die Kräfteverhältnisse und somit auch der Charakter des bürgerlichen Staats sich nach 1945 grundlegend geändert hätten. Daher seien der „sowjetische Weg zum Sozialismus“ und die Diktatur des Proletariats als historischer Sonderfall überholt und Europa mittlerweile in eine Epoche der demokratischen Übergänge eingetreten. Sie vertraten die Einschätzung, die bürgerliche Demokratie sei nach dem Sieg über den Faschismus im Westen zu sehr gefestigt, als dass die Herrschenden gewaltsam gegen einen demokratischen Übergang zum Sozialismus vorgehen könnten. Die Hauptvertreter des Eurokommunismus waren die kommunistischen Parteien Frankreichs (PCF), Italiens (PCI) und Spaniens (PCE).<br />
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Die eurokommunistische Strategie des friedlichen, parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus ging mehr oder weniger offen davon aus, dass der Staat als ein „Feld im Klassenkampf" aufzufassen sei, auf dem sich zwar die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen widerspiegeln, das an sich aber klassenneutral sei. Durch Veränderungen der politischen Mehrheiten sollten der Staat und seine Institutionen durch die Kommunisten kontrolliert und im Sinne der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden. Die Regierung sollte ein Reformprogramm umsetzen, das die Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung Sozialismus entwickeln würde. Auch im Sozialismus sollte der bürgerlich-liberale Parlamentarismus als politische Herrschaftsform bruchlos beibehalten werden: „Die repräsentative Demokratie, kombiniert mit Formen der direkten Demokratie, kann ohne weiteres auch die Form des sozialistischen Systems sein.“<ref>zitiert nach: Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen, 1977.</ref> In Teilen der eurokommunistischen Strömung wurde sogar die Notwendigkeit der Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Länder in imperialistischen Staatenbündnissen wie der EG und der NATO offen verteidigt. Ausführlich dargelegt ist das Staatsverständnis der Eurokommunisten in Santiago Carrillos ''Eurokommunismus und Staat''<ref>Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.</ref>. <br />
<br />
Ausführlicherer Artikel: [[Eurokommunistische Staatsauffassung]]<br />
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'''Andere Vertreter:'''<br />
Auch heute gibt es zahlreiche "linke" Vertreter dieser Auffassung. Die Annahme, der bürgerliche Staat sei ein grundsätzlich klassenneutrales Instrument, bildet die Voraussetzung jeder Strategie, die auf den Eintritt in die bürgerliche Regierung zum Zweck der Umsetzung von Reformen abzielt. Das gilt eindeutig für die deutsche ''Linkspartei'' und ihre europäischen Geschwisterorganisationen, allen voran die einflussreiche griechische ''SYRIZA''. Auch die "antimonopolistische Strategie" der DKP unterstellt letztlich eine Klassenneutralität des Staats der Monopole (s.u.). In unterschiedlichen Abstufungen wird diese Auffassung auch von den "bolivarischen Bewegungen" bzw. den Vertretern eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien etc. vertreten.<br />
<br />
===Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole===<br />
Eine seit 1945 weit verbreitete Position geht davon aus, dass der bürgerliche Staat im Monopolkapitalismus nicht mehr das Interesse der gesamten herrschenden Klasse vertritt, sondern sich zum alleinigen Herrschaftsinstrument der Monopole entwickelt. Diese Vorstellung beruft sich häufig auf die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (s.o.) und ist eng verbunden mit den verschiedenen Varianten der [[Strategie der Übergänge]]. <br />
<br />
'''Deutsche Kommunistische Partei (DKP):'''<br />
Die DKP vertritt seit ihrer Gründung eine Strategie der "antimonopolistischen Demokratie" (AMD). Diese wurde erstmals im Programm von 1978 explizit ausformuliert und beschlossen. Auch im Programm von 2006 bildet die AMD, von einigen kleineren Relativierungen abgesehen, noch immer den Kern der strategischen Vorstellungen der DKP. <br />
<br />
Zu den wichtigsten Grundannahmen der AMD gehört, dass der bürgerliche Staat zu einem Instrument in den Händen der Monopole, also einer Handvoll Finanzoligarchen innerhalb der Bourgeoisie, geworden ist. Der Staat, so die These, setzt deren Profitinteressen rigoros gegen alle „nicht-monopolistischen Schichten“, also nicht nur gegen die Arbeiterklasse und alle anderen Werktätigen, sondern auch gegen die „kleine und mittlere Bourgeoisie“ durch. Der bürgerliche Staat vernachlässigt aus dieser Sicht also gewissermaßen seine Aufgabe als „ideeller Gesamtkapitalist“ und verkörpert gegenüber der gesamten Gesellschaft (und einem Großteil der Bourgeoisie) nicht mehr das langfristige Gesamtinteresse aller Kapitalisten, sondern einseitig das Partikularinteresse des Monopolkapitals. <br />
<br />
Im DKP-Programm von 2006 heißt es dazu: "Als Machtinstrument der Monopolbourgeoisie setzt er [der Staat] immer unverblümter eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durch. An die Stelle der sozialen Integration tritt die Konfrontation. Der bürgerliche Staat verliert tendenziell seine Fähigkeit zur sozialen und politischen Vermittlung, weil die Basis für die Organisierung stabilerer sozialer Kompromisse, die größere Teile der Gesellschaft einbeziehen, verloren geht. So wird die bürgerliche Demokratie ausgehöhlt und verliert ihren Inhalt. Bei Beibehaltung formaler Demokratie vollzieht sich der Übergang vom 'Sozialstaat' zum autoritären 'Sicherheitsstaat'." (S. 12) <br />
<br />
Damit wird zwar der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht geleugnet, aber eine neue strategische Bruchlinie zwischen den Monopolen und allen „nicht-monopolistischen“ Schichten aufgemacht, die aus dieser Sicht nun in Opposition zum "Staat der Monopole" geraten. Entlang dieser Linie soll sich ein „antimonopolistisches Bündnis“ formieren, das neben der Arbeiterklasse nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch bedeutende Teile der „nicht-monopolistischen“ Bourgeoisie umfassen soll (siehe dazu das Programm von 2006, S. 33). Dieses Bündnis hat zwar nicht den Sozialismus zum Ziel, wohl aber eine Zwischenetappe der „antimonopolistischen Übergänge“, in deren Rahmen die Kommunisten sich an der Regierungsmacht beteiligen und zunächst im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise eine politische „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ durchsetzen sollen.<br />
<br />
Diese Vorstellung eines weitgehend bruchlosen Übergangs des Staatsapparats aus den Händen der einen in die Hände der anderen Klasse unterstellt eine instrumentalistische Sicht auf den Staat und behandelt diesen in letzter Konsequenz als ''klassenneutrales Werkzeug'' (s.o.). Zugespitzt formuliert: Der Klassencharakter des Staates scheint sich aus Sicht der Vertreter der antimonopolistischen Strategie nicht aus seiner Funktionsweise und seinem Wesen, sondern aus den politischen Kräfteverhältnissen zu ergeben. Ändert die Regierung ihren Klassencharakter von „monopolistisch“ zu „nicht-monopolistisch“, so ändert sich demzufolge auch der Klassencharakter des Staates. <br />
<br />
Hier geht es zu einer längeren Version dieses Artikels: [http://%E2%80%9EAntimonopolistische_Demokratie%E2%80%9C_(DKP) Antimonopolistische Demokratie]<br />
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'''Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD):'''<br />
Zu den wichtigsten Alleinstellungsmerkmalen der Theorie und Programmatik der MLPD gehört der Begriff der „Übermonopole“ (siehe dazu den Entsprechendne Artikel [[Imperialismus_als_Weltsystem|"Imperialismus als Weltsystem"]] der AG Politische Ökonomie], der auch ihre Analyse des bürgerlichen Staats der Gegenwart wesentlich prägt: "Die hier ansässigen internationalen Übermonopole, die zum allein herrschenden internationalen Finanzkapital gehören, haben sich den Staat vollkommen untergeordnet, und die Organe des Monopolkapitals sind mit den Organen des Staatsapparats verschmolzen. Sie haben ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft, auch über andere Monopole und die nicht monopolisierten Kapitalisten, errichtet. Über die Organe der EU nehmen sie Einfluss auf andere europäische Staaten." (Programm der MLPD)<br />
<br />
Die MLPD geht also davon aus, dass sich diese „Übermonopole“ den bürgerlichen Staat „vollkommen untergeordnet“ haben – aus dieser Formulierung kann geschlussfolgert werden, dass der Staat nicht mehr als „ideeller Gesamtkapitalist“ das Gesamtinteresse des Kapitals vertritt, sondern von der Fraktion der „Übermonopole“ bzw. des „allein herrschenden Finanzkapitals“ allen anderen Teilen der Bourgeoisie gegenüber als Herrschaftsinstrument benutzt wird. Zudem geht die MLPD davon aus, dass die „Organe des Monopolkapitals“, die im vorangegangenen Stadium des Kapitalismus scheinbar noch unabhängig vom und außerhalb des Staatsapparates existierten, heute vollständig mit diesem „verschmolzen“ sind. <br />
<br />
Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Programmatik der MLPD findet sich hier: [https://kommunistische.org/diskussion/einschaetzung-der-programmatik-der-mlpd/ Philipp Kissel, Einschätzung der Programmatik der MLPD].<br />
<br />
Die Positionen der MLPD zum bürgerlichen Staat entnehmen wir ihrem zuletzt 2016 überarbeiteten Parteiprogramm.<ref>https://www.mlpd.de/parteiprogramm</ref><br />
<br />
===Staatsmonopolistischer Kapitalismus===<br />
Hier soll kurz dargestellt werden, wie die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus den klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt. In welchem Verhältnis stehen Staat und Monopole? Ist der Staat alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole oder auch "ideeller Gesamtkapitalist", also Ausdruck der Herrschaft der gesamten Bourgeoisie?<br />
<br />
'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
<br />
Siehe hierzu den Dissens [[Monopole und Staat]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus.<br />
<br />
===Der Staat als "echte Demokratie"===<br />
Die Position, der bürgerliche Parlamentarismus auf der ökonomischen Basis der kapitalistischen Produktionsweise sei eine "echte Demokratie" läuft letztlich auf die Position hinaus, die gesellschaftlichen Verhältnisse würden nicht von der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie, sondern von der politischen Mehrheit bestimmt. Die Frage des Klassencharakters der Staats wird also reduziert auf eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Je nach dem, ob die Bourgeoisie oder die Arbeiterklasse im demokratischen Prozess mehr Kontrolle über den Staatsapparat ausübt, verschiebt sich auch dessen Klassencharakter. Diese Auffassung setzt zugleich ein Verständnis des Staates als ''klassenneutrale Instrument'' voraus (siehe oben). <br />
<br />
'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):''' <br />
Die Vorstellung einer fortschreitenden Demokratisierung des bürgerlichen Staats und einer damit einhergehenden Verwandlung seines Klassencharakters spielten eine zentrale Rolle im Denken des klassischen Revisionismus. Rosa Luxemburg polemisierte schon 1899 gegen Eduard Bernstein: „die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie [sei] eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie.“ <ref> Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), Zweiter Teil </ref> Bürgerliche Demokratie und Parlamentarismus waren für Bernstein nicht taktische Mittel im Klassenkampf, sondern tatsächlicher Ausdruck der Herrshaft durch das Volk bzw. die Mehrheit, also der Arbeiterklasse: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. […] Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“<ref>Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.154-156.</ref> Für die Strategie der Arbeiterbewegung heißt das: „die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.“<ref>Ebd., S. 154-156.</ref> Die Arbeiterbewegung soll sich also darauf beschränken, im legalen Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus für Reformen und schrittweise Verbesserungen zu kämpfen. Der bürgerliche Staat ist dabei nicht ihr Gegner, sondern ihr Werkzeug. Die taktische Herausforderung besteht demnach einzig darin, auf demokratischem Weg in die Position zu gelangen, dieses Werkzeug für die eigenen Zwecke nutzen zu können.<br />
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'''Position von SYRIZA:''' <br />
Die griechische "Linkspartei" SYRIZA argumentiert in ihrem Regierungsprogramm, „der Staat [sei] keine Festung, sondern ein Netzwerk, ein Verhältnis und eine strategische Arena für den politischen Kampf. Er verändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, im Gegenteil, seine notwendige Transformation hat konstante und kontinuierliche Kämpfe zur Voraussetzung, die Einbeziehung des Volkes, ständige Demokratisierung.“ (Quelle: S''YRIZAs Regierungsprogramm''<ref>Zitiert nach einem auf Englisch erschienenen Artikel der KKE, ins Deutsche Übersetzt. URL: https://inter.kke.gr/en/articles/Criticism-of-certain-contemporary-opportunist-views-on-the-state/ (9.1.2019)</ref>) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der bürgerliche Staat von SYRIZA nicht seinem Wesen nach als ein Organ der bürgerlichen Klassenherrschaft angesehen, sondern als eine Ansammlung von Institutionen, die im Interesse des Volkes „transformiert“ werden können. Auf Grundlage dieser Sichtweise wird argumentiert, dass der Charakter des bürgerlichen Staats durch die richtigen politischen Kräfteverhältnisse geformt oder gar "transformiert" werden kann, solange sich nur „linke Regierungen“ durchsetzen können. <br />
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'''Position der DKP:''' <br />
Die DKP bleibt in ihrer Einschätzung der bürgerlichen Demokratie widersprüchlich. Einerseits ist in ihrem Programm von 2006 zwar die Rede davon, dass sich durch die "Globalisierung" die "Tendenz zur Reaktion" verschärft, dass die Demokratie untergraben wird (siehe S. 12) und dass letztlich eine "revolutionäre Überwindung" (S. 28) des Kapitalismus nötig sei. Andererseits gehört es jedoch zu den Kernthesen ihrer "antimonopolistischen Startegie", dass noch auf dem Boden der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und innerhalb des institutionellen Rahmens des bürgerlichen Staats umfassende Reformen und sogar eine "antimonopolistisch-demokratische Umgestaltung" (S. 32) möglich seien: "Je mehr es dabei gelingt, Veränderungen im Sinne von Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, von demokratischer Kontrolle, von Entmilitarisierung und Demokratisierung in Staat und Gesellschaft zu erreichen, je größer der Einfluss der demokratischen und sozialistischen Kräfte überall dort ist, wo Meinungsbildung stattfindet, desto besser sind die Chancen im Kampf um die Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und für die Öffnung des Weges zum Sozialismus. [...] Es geht um die [...] demokratische Einflussnahme auf den staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus im nationalen Rahmen wie im Rahmen der Europäischen Union und anderer internationaler staatsmonopolistischer Institutionen". (S. 30) Diese Vorstellung läuft letztlich also darauf hinaus, die Kommunisten und „Demokraten“ könnten den ideellen Gesamtkapitalisten dem Einfluss der Klasseninteressen der Bourgeoisie entreißen und ihrem eigenen politischen Willen unterwerfen.<br />
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'''Andere Vertreter:''' Ebenfalls weit verbreitet sind Vorstellungen über den demokratischen Charakter des bürgerlichen Staats in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dort gehört der Begriff der „Mitbestimmung“ nicht umsonst zum ideologischen Kernrepertoire. Die Vorstellung, im Betrieb ließe sich zwischen Kapital und Arbeit auf Augenhöhe eine demokratische Mitbestimmung und dadurch ein Interessenausgleich verwirklichen, bildet das Herzstück der Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Ähnliche Sichtweisen werden heute außerdem in einer Reihe lateinamerikanischer Länder gepflegt. Verschiedene „fortschrittliche“ und „linke“ Regierungen versuchen unter dem Banner des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bzw. der „bolivarischen Revolution“ das bürgerliche Staatsystem durch Gesetzesreformen und Volksabstimmungen grundlegend zu veränden.<br />
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==="Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci)===<br />
Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, verfasste in den 1920er und 30er Jahren in faschistischer Gefangenschaft seine „Gefängnishefte“, ein umfangreiches theoretisches Werk, dessen einzelne Bestandteile Gramsci unter den Bedingungen seiner Haft leider nicht mehr zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen konnte. Zu den wichtigsten Aspekten dieses Werks gehören Gramscis Überlegungen zur besonderen Form der Herrschaft der Bourgeoisie in den entwickelten imperialistischen Ländern und die daraus abgeleiteten Weiterentwicklungen der marxistischen Staatstheorie.<br />
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In den Gefängnisheften bringt Gramsci den Staat und die Herrschaft der Bourgeoisie auf die kurze Formel: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang" (H. 6, §88., S. 783)<ref>Antonio Gramsci, Gefängnisgefte. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1991. Im Folgenden wird aus den Gefängnisheften nur noch in Klammern nach Heft Nr., Paragraph und Seitenzahl zitiert.</ref><br />
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Gramsci weitet den Staatsbegriff damit aus und entwickelt sein Konzept des "integralen Staates". Dieser umfasst einerseits die "politische Gesellschaft", womit alle explizit staatlichen Strukturen und Institutionen gemeint sind, also das Parlament, die Beamtenapparate, die Repressionsorgane, die staatlichen Bildungseinrichtungen etc. Andererseits betrachtet Gramsci aber auch die "Zivilgesellschaft" als Teil der bürgerlichen Staatlichkeit. Gemeint sind damit alle Strukturen außerhalb der Staatsapparate, über die die Bourgeoisie ihre Herrschaft absichert, also private Medien, Bildungsstätten, Institute, Stiftungen, Clubs, Thinktanks etc. Mit Blick auf den Sieg der Oktoberrevolution in Russland und die darauffolgenden Niederlagen der Revolutionsversuche in Westeuropa schrieb Gramsci: "Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand;" (H. 7, §16., S. 873-874) An anderer Stelle heißt es: "zumindest was die fortgeschrittenen Staaten angeht, wo die 'Zivilgesellschaft' eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften 'Durchbrüchen' des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg." (H. 13, §14, S. 1553-1554) Die Stabilität der bürgerlichen Herrschaft hängt demnach also wesentlich davon ab, inwieweit die Zivilgesellschaft herausgebildet und die "Hegemonie" der Bourgeoisie enwickelt ist. <br />
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Mit dem Begriff der Hegemonie versucht Gramsci der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass sich die Macht der Bourgeoisie nicht nur auf das Staatliche Gewaltmonopol und die Repressionsapparate stützt, sondern wesentlich über ideologische Integration und die Erzeugung von "Konsens" abgesichert wird. Hegemonie bezeichnet also die politisch-ideologische Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über eine andere. "Die 'normale' Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne daß der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt, sondern im Gegenteil sogar versucht wird, zu erreichen, daß der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint […]" (H. 13, §37, S. 1607-1613). Konsens bezeichnet hier einen Zustand, in dem die Beherrschten die Herrschaft zumindest passiv ertragen oder sogar aktiv die Sichtweise übernehmen, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse entsprächen auch ihren Interessen und seien die bestmöglichen. Gramsci schreibt, dass "eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. […] Die politische Führung wird zu einem Aspekt der Herrschaft, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Klassen zur Enthauptung derselben und zu ihrer Machtlosigkeit führt. Es kann und muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben." (H. 1, §44, S. 101-113) <br />
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Heute wird der Begriff der Hegemonie fast ausschließlich Gramsci zugeschrieben, dabei war er zu dessen Lebzeiten unter den Theoretikern der Kommunistischen Internationale weit verbreitet und wurde breit diskutiert. Wie Buci-Glucksmann bemerkt, war er "im gesamten Marxismus der Dritten Internationale überaus geläufig. Man findet ihn vor allem unter der Feder Lenins vor 1917, aber auch später. Man finet ihn ebenso oft bei Bela Kun, Varga, Stalin, und vor allem Bucharin, der ihn in einer Weise benutzte, die der Gramscis nahezustehen scheinen könnte". <ref>Buci-Glicksmann, Gramsci und der Staat, S. 17.</ref> <br />
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Die "führende Klasse" oder Klassenfraktion ist laut Gramsci in ihrem Ringen um Hegemonie also in der Regel darum bemührt, alle anderen Fraktionen ihrer Klasse und ihrer "verbündeten Klassen" in ihren "Block an der Macht" zu integrieren. Das gelingt nur, indem sie mit diesen anderen Fraktionen ein Komprimissprogramm aushandelt, das bestmöglich das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse zusammenfasst und deren innere Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Der Ort, an dem diese Kompromisse ausgehandelt und schließlich in politische Praxis übersetzt werden, ist der bürgerliche Staat selbst. Gegenüber den "feindlichen Klassen" (also dem Proletariat und den anderen Werktätigen) tritt die Bourgeoisie als "herrschend" auf, sie übt ihre Hegemonie einerseits durch integration ihrer ideologischen Führer und andererseits durch materielle Zugeständnisse aus: "Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, daß sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, daß also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, daß solche Opfer und ein solcher Kompromiß nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt." (H. 13, §18, S. 1565-1573) Gramsci beschreibt in dieser Formulierung den grundsätzlichen Klassencharakter des Staates. Die Kompromisse können nie "das Wesentliche" betreffen - also die kapitalistische Produktionsweise - sondern sich nur in deren Rahmen Bewegen. <br />
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Gramscis Staatstheorie knüpft eindeutig an die Auffassung des Staats als "ideeller Gesamtkapitalist" (s.o.) an, indem sie einerseits die Integration der gesamten herrschenden Klasse in einem "historischen Block" betont und andererseits die zumindest passive Einbindung der Beherrschten im Rahmen der Hegemonie betont. Mit einer Staatsauffassung, die den bürgerlichen Staat im Monopolkapitalismus als "alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole" (s.o.) versteht, ist Gramscis Ansatz kaum zu vereinbaren. <br />
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Mit Blick auf den Staat schreibt Gramsci außerdem, dieser sei "das Instrument zur Anpassung der Zivilgesellschaft an die ökonomische Struktur". (H. 10.II, §15, S. 1267) Dabei spielen Medien und andere ideologische Apparate eine entscheidende Rolle: "Was 'öffentliche Meinung' genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der 'Zivilgesellschaft' und der 'politischen Gesellschaft', zwischen dem Konsens und der Gewalt. Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft. […] die öffentliche Meinung, wie sie heute Verstanden wird, ist am Vorabend des Untergangs der absolutistischen Staaten entstanden, das heißt in der Zeit des Kampfes der neuen bürgerlichen Klasse um die politische Hegemonie und die Erlangung der Macht. […] [Es entbrennt ein] Kampf ums Monopol der Organe der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, Parlament". (H. 7, §83, S. 916-917)<br />
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Verliert die herrschende Klasse ihre Hegemonie so kommt es zur "Hegemonie-" bzw. "Autoritätskrise": "Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr 'führend', sondern einzig 'herrschend' ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die große Masse sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann". (H. 3, §34, S. 354-355) Der Verlust der Hegemonie darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem automatischen Verlust der Macht, schließlich verfügt die herrschende Klasse auch bei schwindendem Konsens noch immer über die Mittel des Zwangs. <br />
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Zu den strategischen Schlussfolgerungen, die Gramsci aus seiner Staatstheorie ableitete, siehe den Dissens-Artikel zu [[Staat und Revolution]] und dort den Abschnitt "Bewegungs- und Stellungskrieg". <br />
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Einige offene Fragen zu Gramsci und seiner Staatstheorie werden von unserer AG tiefergehend behandelt werden: Handelt es sich dabei um einen wegweisenden Beitrag zur marxistischen Staatstheorie im Zeitalter des Imperialismus und des entwickelten bürgerlichen Staats, an den die Kommunisten anknüpfen und den sie weiterentwickeln müssen? Oder enthält Gramscis Theorie bereits wesentliche revisionistische Abweichungen, die es den verschiedenen opportunistischen Strömungen, die sich heute auf ihn berufen, leicht machten, seine Theorie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?<br />
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==="Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas)===<br />
Nicos Poulantzas war ein griechischer Theoretiker, der in den 1960er und 70er Jahren eine Reihe an marxistischen Studien verfasste. Er sympathisierte nach 1968 mit der eurokommunistischen griechischen kommunistischen Partei des Inlands (KKE-Inland) und stand – in Frankreich lebend - in kritischer Distanz zur Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). In seinen klassen- und staatstheoretischen Schriften ist der Einfluss u.a. von Louis Althussers Strukturalismus sowie [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #"Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci) | Antonio Gramscis Hegemonietheorie]] sichtbar. In der marxistischen Debatte um den Staat hat Poulantzas tiefe Spuren hinterlassen, was primär zurückgeführt werden kann auf seine Konzeption des Staates als „Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“. Historisch bedeutsam war dabei zunächst die Auseinandersetzung mit Ralph Miliband; im deutschsprachigen Raum wurde seine Theorie u.a. über Joachim Hirsch und Alex Demirovic wieder in die Diskussion eingebracht.<br />
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Poulantzas formuliert in der Einleitung zur „Staatstheorie“ den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Es ist nicht der Klassencharakter des Staates, der zur Debatte steht: „Jeder Staat ist ein Klassenstaat; jede politische Herrschaft ist Klassendiktatur; der kapitalistische Staat ist ein Staat der Bourgeoisie; der kapitalistische Staat im Allgemeinen und jeder kapitalistische Staat im Besonderen sind Diktaturen der Bourgeoisie“ (Staatstheorie S. 155), all dies sind für ihn „Banalitäten“ - zwar richtig, aber nicht weiter ausführenswert. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, vielmehr stellt es sich hier neu: „[W]arum greift die Bourgeoisie in ihrer Herrschaft auf diesen nationalen Volksstaat zurück, diesen modernen Repräsentativ-Staat mit seinen spezifischen Institutionen, und nicht auf einen anderen? Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich genau diesen Staat aussuchen würden, wenn sie den Staat komplett selbst und nach ihrem Geschmack aufbauen würden.“ (Staatstheorie, S. 40). Eine verwandte Frage hatte bereits der sowjetische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis knapp 50 Jahre, vorher gestellt: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“1 Poulantzas gibt in der Einleitung auch eine vorläufige, knappe Antwort auf die von ihm formulierte Frage: „Der Staat stellt ein materielles Gerüst dar, das in keiner Weise auf die politische Herrschaft reduziert werden kann. Der Staatsapparat, dieses besondere und furchterregende Etwas, erschöpft sich nicht in der Staatsmacht. [...] Wenn der Staat nicht einfach ein vollständiges Produkt der herrschenden Klassen ist, so haben sie sich seiner auch nicht einfach bemächtigt: Die Macht des Staates (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) hat in dieser Materialität ihre Spuren hinterlassen. Die Handlungen des Staates reduzieren sich nicht auf die politische Herrschaft, sie sind jedoch konstitutiv von ihr gezeichnet.“ (Staatstheorie, S. 42)<br />
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Eine wichtige Aufgabe des Staates sieht Poulantzas in der Repräsentation und Organisation der herrschenden und der Desorganisation der beherrschten Klassen. Die Bourgeoisie ist keine widerspruchsfreie Einheit. Sie verfolgt zwar zwangsläufig als Klasse einheitlich das Ziel der Kapitalverwertung, dieses Ziel bringt sie aber auch in direkte Konkurrenz untereinander, weshalb, wie Engels sagt, der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert. Poulantzas zufolge ist die Kapitalistenklasse in Klassenfraktionen gespalten, die unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Interessen verfolgen. Diese Klassenfraktionen formieren sich unter der Hegemonie einer Fraktion zu einem „Block an der Macht“, in welchen auch andere herrschende Klassen miteinbezogen werden. Die Hegemonie einer Fraktion bedeutet dabei, dass diese die äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Sinne optimieren kann; und diese Hegemonie erst ermöglicht die Einheit dieses Blocks gegenüber den beherrschten Klassen. Poulantzas betont, dass nicht nur Teile der Bourgeoisie (etwa das Monopolkapital) den Machtblock stemmen: „Diese bürgerlichen Fraktionen sind in ihrer Gesamtheit, obwohl in unterschiedlichem Maße, auf dem Terrain der politischen Herrschaft angesiedelt, und gehören somit immer zum Block an der Macht“ (Staatstheorie S. 159). Dieser Machtblock ist aber konfliktdurchzogen, er stellt ein umkämpftes, instabiles Kompromissgleichgewicht dar: „Der Machtblock stellt eine von inneren Widersprüchen gekennzeichnete Einheit von politisch herrschenden Klassen und Fraktionen unter dem Schutz der hegemonialen Fraktion dar. Der Klassenkampf, die Interessenrivalitäten zwischen den gesellschaftlichen Kräften sind darin ständig gegenwärtig, wobei diese Interessen ihren spezifischen Antagonismus bewahren“ (PMGK, S. 239). In diesem Sinne ist die konkrete Politik des Staates und die Hegemonie im Machtblock immer umkämpft, und dieser Kampf wird im Staat, in seinen ideologischen (Medien, Think Tanks, …) aber auch repressiven Apparaten (Polizei, Armee, …) ausgetragen.<br />
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Um die „Rolle der Vereinheitlichung und Organisierung der Bourgeoisie und des Blocks an der Macht“ (Staatstheorie, S. 158) zu erfüllen, muss der Staat laut Poulantzas eine „relative Autonomie“ gegenüber den einzelnen Bestandteilen des Blocks bewahren: „Unter relativer Autonomie dieses Staatstyps verstehe ich […] das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Feld des Klassenkampfes, insbesondere seine relative Autonomie gegenüber den Klassen oder Fraktionen des Machtblocks und in erweiterter Form auch gegenüber seinen Verbündeten oder Stützen […] Ich hoffe, damit klar genug die Distanz auszudrücken, die diese Auffassung des Staats von einer simplifizierten und vulgarisierten Auffassung des Staats trennt, die in ihm das Werkzeug oder Instrument der herrschenden Klasse sieht“ (PMGK S. 256).<br />
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Der Staat als Instrument (siehe auch die Abschnitte zum Staat als [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als klassenneutrales Instrument | klassenneutrales Instrument]] und als [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole | alleiniges Instrument der Monopole]]) und der [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt) | Staat als Subjekt]]: dies beides sind aus Poulantzas‘ Sicht falsche Staatsverständnisse, die er umschiffen will mit dem Verständnis des Staates als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses. Der Staat als Instrument/Werkzeug/Sache unterstellt eine Passivität oder Neutralität des Staates. Dieser wird als ein Apparat verstanden, der zur Ausübung der politischen Macht von der herrschenden Klasse oder auch einer Klassenfraktion verwendet wird, der aber eben auch so wie er ist übernommen werden kann, um gegen die herrschende Klasse gewendet zu werden. Eine Autonomie des Staates ist ausgeschlossen. Eine solche instrumentalistische Konzeption des Staates sieht Poulantzas in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der eurokommunistischen PCF in den 1970ern: „An dieser Konzeption kritisierte ich vor allem, dass sie zu der Vorstellung des mit dem Monopolkapital »fusionierten« Staates führt, einem Staat der im Dienste der Monopole steht und keinerlei Autonomie besitzt“ (Staatstheorie S. 160). Der Staat als Subjekt wiederum lässt ihn vollständig autonom werden, er steht als Akteur außerhalb der Klassen. Er agiert, koordiniert, verwaltet, reguliert selbstständig. Seine Autonomie bezieht sich „auf die angebliche Macht des Staates und auf die Träger dieser Macht und der staatlichen Rationalität: auf die Bürokratie und speziell auf die politische Elite“ (Staatstheorie S. 160). <br />
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Poulantzas schlägt vor, die „Sackgassen des ewigen Pseudodilemmas der Diskussion zwischen der Konzeption des Staates als einer Sache bzw. einem Instrument und der Konzeption des Staates als einem Subjekt“ (Staatstheorie S. 159f) zu vermeiden, indem der Staat über den Klassenkampf selbst verstanden wird, genauer: „ … indem ich sage, dass der Staat […] nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden darf, sondern, wie auch das »Kapital«, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ Der Staat spiegelt also nicht einfach ein gesellschaftliches Verhältnis wider, er selber konstituiert dieses Verhältnis. In der Vielzahl seiner Institutionen findet die ständige Austarierung zwischen Klassen und Klassenfraktionen statt. Diese Austarierung entspricht aber nicht direkt dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, beispielsweise sind die beherrschten Klassen nicht in den Staatsapparaten anwesend: „Sie organisieren und vereinheitlichen den Block an der Macht, indem sie die beherrschten Klassen ständig desorganisieren und spalten. Sie polarisieren sie gegenüber dem Block an der Macht und schließen ihre politischen Organisationen aus.“ (Staatstheorie S. 171)<br />
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Bei Poulantzas bleibt unklar, wie der Begriff der Verdichtung genau zu verstehen ist, wohingegen er ausführt, was es mit der Materialität hier auf sich hat. Mit Blick auf die Staatstheorie in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der PCF wendet er ein, dass diese „die eigenständige Materialität des Staates übersieht. Diese Materialität eines Staates, der als Werkzeug oder Instrument angesehen wird, hat keine eigene politische Bedeutung. Diese Bedeutung wird auf die Staatsmacht beschränkt, d.h. auf die Klasse, die dieses Instrument manipuliert. Das würde im Extremfall implizieren, dass das gleiche Instrument (das verschiedenen, allerdings zweitrangigen Modifikationen unterliegt) durch eine Veränderung der Staatsmacht, also durch die Macht der Arbeiterklasse, für den Übergang zum Sozialismus anders eingesetzt werden könnte“ (Staatstheorie S. 160). Dieses Defizit meint er zu beheben: „Das materielle Gerüst seiner [des Staates] Institutionen wird durch die Beziehung des Staates zu den Produktionsverhältnissen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung konstituiert, die sich in der kapitalistischen Trennung des Staates von diesen Verhältnissen konzentriert. […] Der Staat hat eine eigene Dichte und Widerstandskraft und reduziert sich nicht auf ein Kräfteverhältnis. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Klassen hat sicherlich immer Auswirkungen innerhalb des Staates, sie überträgt sich jedoch nicht direkt und unmittelbar. Sie passt sich der Materialität der verschiedenen Apparate an und kristallisiert sich im Staat nur in gebrochener und differenzierter, den Apparaten entsprechender Form. Eine Veränderung der Staatsmacht allein transformiert die Materialität des Staates nicht“ (Staatstheorie S. 161f). Als Beispiele für die Materialität führt Poulantzas u.a. die Organisierung kapitalistischen Wissens an: „Die geistige Arbeit (Wissen/Macht) ist in den Apparaten konzentriert und steht im Gegensatz zur tendenziell in den Volksmassen konzentrierten manuellen Arbeit, die von den organisatorischen Funktionen ausgeschlossen und getrennt sind“ (Staatstheorie S. 83).<br />
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==="Akkumulationsregime" (Regulationsschule)===<br />
Hier sollen die offenen Fragen und Aufgaben ausformuliert werden, die sich aus der Staatstheorie der "Regulationsschule" und deren Theorie der "Akkumulationsregime" ergeben. Handelt es sich bei dieser Theorie um einen wesentlichen Beitrag zur marxistischen Staatstheorie, die eine vertiefende Analyse der verschiedenen Formen der bürgerlichen Herrschaft seit der Entstehung des Kapitalismus erlaubt (z.B. durch die Unterscheidung eines "keynesianischen" und eines "neoliberalen Akkumulationsregimes")? Wie wird aus Perspektive der der Regulationsschule der Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt? Enthält diese Theorietradition wesentliche Abweichungen von den Grundannahmen der marxistischen Staatstheorie? Welche Verbinndung gibt es zu den Theorien von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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'''Vertreter:''' Zu den prominentesten Vertretern der Regulationsschule gehören heute die Staatstheoretiker Joachim Hirsch und Bob Jessop.<br />
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===Staat = Repressionsapparate / "neue Demokratie" (Maoismus)===<br />
Innerhalb des maoistischen Spektrums lässt sich als tendenzielle Gemeinsamkeit in der Staatsfrage ein besonderer Fokus auf die „bewaffneten Apparate“ des bürgerlichen Staats und eine weitgehende Vernachlässigung der Analyse anderer, nicht unmittelbar gewaltförmiger Herrschaftstechniken der Bourgeoisie (Integrationsideologien, ökonomischer Zwang, etc.) feststellen. Dies steht im engen Zusammenhang mit der Strategie des "Volkskriegs". Dieser Strategie liegt eine Perspektive auf den Staat zugrunde, die den Kampf um die politische Macht weitgehend auf den unmittelbaren militärischen Kampf und die Zerschlagung der bewaffneten Staatsapparate zuspitzt. Die maoistische Theorie der "neuen Demokratie" enthält außerdem die These einer möglichen dritten Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats.<br />
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Von einer einheitlichen und systematisch ausgearbeiteten "maoistischen Staatstheorie" kann genauso wenig die Rede sein, wie von einer homogenen maoistischen Strömung innerhalb des Marxismus. In den klassischen Texten von Mao Tse-Tung findet sich vor allem keine eigene, systematisch ausgearbeitete Analyse des bürgerlichen Staats im Imperialismus. Die chinesischen Revolutionäre kämpften nicht gegen einen entwickelten bürgerlichen Staat, wie er sich in den imperialistischen Zentren herausgebildet hatte, sondern gegen einen agrarischen Feudalstaat mit kolonialen Elementen. Der Großteil von Maos Äußerungen über den Staat sind in diesem Kontext zu sehen, so zum Beispiel die oft zitierte Losung: "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 74.</ref> An anderer Stelle führt Mao diese Zuspitzung auf die Frage der militärischen Macht und der bewaffneten Apparate weiter aus und verallgemeinert sie als die aus seiner Sicht wichtigste Kernaussage der marxistischen Lehre vom Staat: "Vom Standpunkt der marxistischen Lehre vom Staat ist die Armee die Hauptkomponente der Staatsmacht. Wer die Staatsmacht ergreifen und behalten will, der muß eine starke Armee haben. Manche Leute bezeichnen uns höhnisch als Anhänger der ‚Theorie von der Allmacht des Krieges‘; jawohl, wir sind Anhänger der Theorie von der Allmacht des revolutionären Krieges, und das ist nicht schlecht, sondern gut, das ist marxistisch. [...] Die Erfahrungen des Klassenkampfes im Zeitalter des Imperialismus lehren uns: Die Arbeiterklasse und die übrigen Werktätigen Massen können nur mit der Macht der Gewehre die bewaffneten Bourgeois und Grundherren besiegen; in diesem Sinne können wir sagen, daß die ganze Welt nur mit Hilfe der Gewehre umgestaltet werden kann."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 75-76.</ref><br />
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In genau diesem Sinne wird die Staatsfrage auch in Teilen der zeitgenössischen maoistischen Strömungen behandelt. Viele zeitgenössische Mao-Gruppen beziehen sich dabei auf die Traditionslinie der peruanischen Guerillabewegung „Leuchtender Pfad“ bzw. der KP Perus (Vollständiger Name: ''Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui'') und ihres politischen und ideologischen Anführers „Presidente Gonzalo“ (Abiamel Guzmán). (''Anmerkung: Alle Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen sich auf die Broschüre „Einheitsbasis der Kommunistischen Partei Perus – angenommen auf dem I. Parteitag 1988“<ref>http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/gonzalo/1439-die-einheitsbasis-der-kommunistischen-partei-perus-auf-deutsch</ref>, die leider zahlreiche Übersetzungsfehler enthält.'')<br />
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Der Staat erscheint auch hier vor allem als bewaffneter Apparat, der militärisch bekämpft und zerschlagen werden muss:<br />
"die revolutionäre Gewalt ist ausnahmslos ein universelles Gesetz; die Revolution ist die gewaltsame Ersetzung einer Klasse durch eine andere. Er [Mao Tse-Tung] legte seine große These fest: ‚Die Macht kommt aus den Gewehrläufen!‘" (Über den Marxismus-Leninismus-Maoismus, S. 7) "[der] Volkskrieg, der durch eine revolutionäre Armee neuen Typs, unter der absoluten Führung der Partei, Stück für Stück die alte Macht zerstört, hauptsächlich seine bewaffneten und repressiven Kräfte." (Programm und Statuten der KP Perus, S. 16-17.)<br />
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Unter dem Begriff der „neue demokratische Revolution“ vertreten die Maoisten der KP Perus ein spezifisches Etappenmodell, das die Stufen der Revolution festlegt, die die unterdrückten Länder auf dem Weg zum Sozialismus durchlaufen müssen. Der Klasseninhalt der Revolution und der jeweiligen Staatsformen, die diese hervorbringen, ändert sich jedoch je nach Entwicklungsstand des jeweiligen Landes: "Um unser Endziel, den Kommunismus, zu erreichen, müssen wir Marxisten-Leninisten-Maoisten in Perspektive drei Typen von Revolutionen durchführen: 1) Die demokratische Revolution, das ist die bürgerliche Revolution neuen Typs in den rückständigen Ländern, unter der Führung des Proletariats, in deren Verlauf eine gemeinsame Diktatur des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und unter bestimmten Bedingungen der Mittelbourgeoisie unter der Führung des Proletariats errichtet wird; 2) Die sozialistische Revolution in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern, die die Diktatur des Proletariats errichtet; 3) Kulturrevolutionen, sie werden gemacht um die Revolution unter der Diktatur des Proletariats fortzusetzen, um jede Generierung des Kapitalismus zu unterwerfen und zu eliminieren und auch mit den Waffen gegen jedes streben nach Restauration des Kapitalismus zu kämpfen" (Allgemeine politische Linie, S. 19)<br />
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Mit der Theorie der „neuen demokratischen Revolution“ sind spezifische staatstheoretische Grundannahmen verbunden. Die „Neuen Demokratie“ gilt aus maoistischer Sicht als dritte Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats - ihr Klassencharakter ist wesentlich durch einen Klassenkompromiss bzw. ein Klassenbündnis bestimmt: "Die Neue Demokratie. In erster Stelle ist es eine Entwicklung der marxistischen Staatstheorie mit der Festlegung der drei Typen der Diktatur: 1. die Diktatur der Bourgeoisie, in den alten bürgerlichen Demokratien wie in den Vereinigten Staaten, dazu zählen auch die Diktaturen, die in unterdrückten Nationen, wie den lateinamerikanischen existieren, 2. die Diktatur des Proletariats wie in der Sowjetunion oder in China vor der Usurpation der Macht durch die Revisionisten und 3. die Neue Demokratie als gemeinsame Diktatur, die auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern basiert, geführt vom Proletariat mit der Kommunistischen Partei an der Spitze […]." (Über den Marxismus-Leninismus, S. 8) Im Anschluss an Mao und Gonzalo geht die KP Perus davon aus, dass die "Staatssysteme der Welt" auf „drei Grundtypen reduziert werden können, laut ihres Klassencharakters: Republik unter der Diktatur der Bourgeoisie, die auch die Staaten der alten Demokratie ausmachen und die Republik der gemeinsamen Diktatur der Grundbesitzer und Großbourgeoisie; Republiken unter der Diktatur des Proletariats; und Republik unter der gemeinsamen Diktatur der revolutionären Klassen […]." (Allgemeine politische Linie, S. 33.)<br />
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Andere Grundsätzlichere Fragen zum Thema Maoismus, wie die Strategie des „langfristigen Volkskriegs“, die Etappe der "neuen demokratischen Revolution" oder die Theorie des „Zweilinienkampfs“ werden perspektivisch durch die [[AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei]] bearbeitet. Fragen zur Polemik zwischen der Sowjetunion und China über die „friedliche Koexistenz“, die „Kulturrevolution“ und die maoistische Position, die Sowjetunion sei „sozialimperialistisch“ gewesen, gehören zum Arbeitsbereich der [[AG Sozialismus]].<br />
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Eine längere Version dieses Artikels (befindet sich noch in Bearbeitung) findet ihr hier: '''[[Die Staatsfrage im Maoismus]]'''<br />
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Vertreten werden solche oder ähnliche Positionen in Deutschland zum Beispiel von der Sozialistischen Linken (SoL) oder dem mittlerweile aufgelösten Jugendwiderstand (JW).<br />
===Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt)===<br />
Der ''Gegenstandpunkt'' (GSP, früher ''Marxistische Gruppe'') vertritt eine eigene Staatstheorie, die davon ausgeht, der bürgerliche Staat könne aus den abstrakten Kategorien der politischen Ökonomie "abgeleitet" werden. Den Ausgangspunkt dieser Ableitung bildet die einfache Warenzirkulation, in welcher die Warenbesitzer sich wechselseitig als "freie" und "gleiche" Privateigentümer anerkennen. Die Autoren des GSP sehen drei gemeinsame Interessen bei allen Privateigentümern: Die Erhaltung der Revenue, eine möglichst hohe Revenue und den kontinuierliche Fluss der Revenue. Daraus schlussfolgern sie, dass Schutz und Sicherung des Privateigentums, die Sicherung des Wirtschaftswachstums und ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft dem Gesamtinteresse aller Privateigentümer entsprechen, wozu als viertes das Interesse an gleichen Konkurrenzvoraussetzungen hinzutritt. Weil die Privateigentümer aber in der Verfolgung ihrer besonderen Interessen nicht die allgemeinen Interessen durchsetzen können, bedarf es des Staates: "Das besondere Dasein des Staates neben und außer der Gesellschaft der konkurrierenden Privaten – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit – ist das Resultat dieses Widerspruchs zwischen besonderem und allgemeinem Interesse in seinen verschiedenen Existenzweisen. Der Staat verkörpert die Loslösung der allgemeinen Interessen aus der Sphäre der Privaten und ihre Verwaltung in der Sphäre des Staates. Mit der Besonderung des Staates werden die allgemeinen Interessen zu seinen besonderen, deren Verwaltung allein ihm obliegt. <ref> von Flatow, Sybille / Huisken, Freerk: Zum Problem der Ableitung des bürgerlichen Staates, in: Prokla, 7 (1973), S. 121 </ref><br />
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Fertig ausformuliert und in den Reihen des GSP kanonisiert wurde diese "Staatsableitung" von Karl Held in ''Der bürgerliche Staat''. In Helds Analyse wird aus der „Besonderung des Staates“ letztendlich der „Staat als Subjekt“: "Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit und Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert.<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Staat hält hier nicht nur die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Reproduktion aufrecht, er wird zum eigenständigen Subjekt mit eigenen Interessen: "Der souveräne Staat ist eine von den Bürgern getrennte, selbständige Instanz, die mit keinem besonderen Interesse identisch ist und gerade und nur deswegen von allen anerkannte Gewalt ist, weil er sein Interesse, das Allgemeinwohl, gegen die Privatsubjekte durchsetzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref> "In der Unterordnung aller Aufgaben, um deren Erfüllung willen er sich als politisches Subjekt der Ökonomie betätigt, unter das Kriterium des wirtschaftlichen Wachstums, in der Relativierung aller Funktionen entsprechend dieser Zielsetzung der Wirtschaftspolitik fällt der Grund des bürgerlichen Staates – die freie Konkurrenz – unmittelbar zusammen mit seinem Zweck: er ist bewußter Agent des Inhalts der Konkurrenz, die bekanntlich nicht die Individuen, sondern das Kapital in Freiheit setzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates besteht daher beim GSP auch zuallererst darin, dass er nicht im Interesse der einen Klasse eine andere, sondern alle Individuen gleichermaßen unterwirft: "Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, daß er Klassenstaat ist: Durch die gleiche Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der Nutzen aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben." <ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat, URL: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat (29.12.2018) </ref><br />
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Der Staat wird dadurch also wesentlich (und nicht nur oberflächlich) zu einem (klassen)neutralen Subjekt erklärt, welches die äußeren Bedingungen der Konkurrenz organisiert und diese Bedingungen den Warenbesitzern unterschiedslos aufzwingt. <br />
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'''Vertreter:''' Neben dem ''Gegenstandpunkt'', dessen Aktivitäten sich fast auschließlich auf das akademische Milieu konzentrieren, werden diese Positionen auch von vielen studentischen Jugendgruppen in der "linksradikalen" und Antifa-Szene vertreten. Dies hat häufig damit zu tun, dass Leute aus der Szene ihre eigene theoretische Bildung über Lesekreise und Seminare des Gegenstandpunkt erwerben. Besonders in Teilen der ''Sozialistischen Jugend - Die Falken'' lässt sich ein starker ideologischer Einfluss des GSP feststellen, das gleiche Phänomen taucht aber auch immer wieder in Gewerkschaftsjugenden oder ''solid SDS''-Gruppen auf. Besonders stark ist zudem die Überschneidung zu "antinationalen" Gruppen, wie etwa bei der Dortmunder ''Gruppe K''.<br />
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Einen Text zur ausführlicheren Einbettung in den Kontext der "Staatsableitungsdebatte" findet ihr hier: [[Der Staat als Subjekt (Staatsableitungsdebatte)]]<br />
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Einen Hintergrundartikel zum Gegenstandpunkt hier: [https://kommunistische.org/diskussion/standpunkt-gegen-den-marxismus/ Standpunkt gegen den Marxismus (Thanasis Spanidis)]<br />
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===Anarchistische Staatskritik===<br />
Der "Anarchismus" (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) umfasst ein sehr diffuses und heterogenes Spektrum, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Dennoch lassen sich grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Anarchisten vertreten eine politische Haltung, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbstbestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammenschließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. Im Mittelpunkt stehen die Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, und Selbstverwirklichung der Individuen im Rahmen der kollektiven Selbstverwaltung („Autonomie“) möglichst kleiner Organisationseinheiten. Im Anarchismus fließen die Traditionen des bürgerlichen Liberalismus (individuelle Freiheit) und der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen (Kollektivität und Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Heute wird häufig das Adjektiv "libertär" (deutsch: freiheitlich) als Synonym für „anarchistisch“ benutzt.<br />
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An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich aus Sicht der Anarchisten auch schon die Bewegung selbst messen lassen, die für die „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Position so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren, geschweige denn nach der siegreichen Revolution einen eigenen Staat zur Niederhaltung der Unterdrücker und zum Aufbau und zur Verteidigung der Revolution schaffen darf. In Abgrenzung zu solchen individual-anarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen.<br />
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Die anarchistische Staatskritik richtet sich nicht hauptsächlich gegen den bürgerlichen Staat als Klassenstaat der Bourgeoise, sondern lehnt jede Form der Macht, der Autorität und der Staatlichkeit überhaupt als Grundübel der Gesellschaft ab. Der Anarchismus vertritt also in letzter Konsequenz einen klassenneutralen Machtbegriff – er lehnt die Macht nicht als Klassenmacht der Ausbeuter ab, sondern als abstraktes Ding an sich, das aus der Welt geschafft werden soll. <br />
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'''Marx und Engels vs. Bakunin:''' Die erste ausführliche theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. <br />
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Engels fasste die Kritik an der Staatsauffassung Michael Bakunins und der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen: "Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. [...]<br />
Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll,[...] so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität <nowiki>=</nowiki> Staat <nowiki>=</nowiki> absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!" <ref>Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33;Dietz-Verlag; S. 388-389.</ref><br />
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Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der politische Ausdruck dieser Widersprüche ist nicht die Klassenherrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter und alle anderen Werktätigen, sondern die Macht und Autorität des Staates überhaupt. Diese Auffassung hat weitreichende taktische und strategische Konsequenzen (siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]]).<br />
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'''Heutige Vertreter:''' Der Anarchismus in seiner klassischen Form, also als politische Ideologie und Bewegung mit realer Verankerung in der Arbeiterbewegung (wie ihn Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder die spanischen Anarchosyndikalisten vertraten) ist heute kaum mehr präsent. Vulgarisierte Formen des Anarchismus sind dagegen in der "autonomen" Szene und linken Subkulturen nach wie vor sehr weit verbreitet. Neben zahlreichen Splittergruppen, die in der BRD heute ein gemeinsames, hauptsächlich kleinbürgerlich geprägtes Milieu bilden und von der Arbeiterbewegung meist isoliert sind, bildet die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) eine gewisse Ausnahme. Diese Organisation versucht im Rahmen einer kleinen anarchistischen Richtungsgewerkschaft außerhalb der DGB-Gewerkschaften Klassenkämpfe und Streiks zu organisieren.<br />
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Verschiedene "anarchokommunistische" Gruppen und Zusammenschlüsse in Deutschland versuchen Aspekte des Marxismus (gewerkschaftliche Organisation, Klassenkampf, Vergesellschaftung der Produktionsmittel) mit Standpunkten des Anarchismus (Ablehnung von Hierarchien, zentralistischer Organisationsformen und der Diktatur des Proletariats) zu vereinen. Seit Dezember 2018 existiert mit der Initiative [https://www.dieplattform.org/wir/ "die Plattform"] z.B. ein Versuch, einen bundesweiten "plattformistischen" anarchakommunistischen Organisationszusammenhang aufzubauen und im Rahmen einer eigenen Schriftenreihe eine theoretische Debatte anzustoßen.<br />
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Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxistismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff. Die Rojava-Solidarität vereint heute ein politisches Spektrum, dass von der MLPD über die verschiedenen roten Gruppen, die iL, die Linkspartei und bis zu den antinationalen und antideutschen Zusammenhängen reicht.<br />
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==Bezug zu unseren Grundannahmen==<br />
==Wie wollen wir den Dissens klären?==<br />
==Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?==</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Der_Klassencharakter_des_b%C3%BCrgerlichen_Staats&diff=6893Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats2019-12-21T09:41:16Z<p>Dio: /* Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise" */</p>
<hr />
<div>Zurück zur [[AG Formen bürgerlicher Herrschaft]]<br />
==Überblick==<br />
Dieser Artikel soll einen ersten groben Überblick über die verschiedenen Auffassungen zum Klassencharakter des bürgerlichen Staats innerhalb des kommunistischen und im weiteren Sinne "linken" Spektrums geben. Ist der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" die organisierte politische Macht der gesamten Bourgeosie und damit das Instrument ihrer Klassenherrschaft? Oder ist der Staat an sich ein klassenneutraler Apparat, der sowohl für die Zwecke der Kapitalistenklasse, als auch im Interesse der Arbeiter in Bewegung gesetzt werden kann? Ist der Staat im Stadium des Imperialismus nur noch das Herrschaftsinstrument eines kleinen Teils der Kapitalisten, der Monopolbourgeoisie, die ihre Macht mit Hilfe des Staats auch gegen die "kleine und mittlere Bourgeoisie" durchsetzt? Oder ist der bürgerliche Staat nach 1945 gar zu einer "echten Demokratie" geworden, in der die politische Macht nicht mehr von den besitzenden Klassen ausgeht, sondern von der demokratischen Mehrheit?<br />
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Die Unterschiede in der Analyse und die Einschätzung des Klassencharakters des bürgerlichen Staats haben weitreichende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung. Die sich daraus ergebenden Dissense werden an anderer Stelle unter dem Stichwort "'''[[Staat und Revolution]]'''" dargestellt.<br />
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===Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise"===<br />
Die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus (Marx, Engels, Lenin) bestimmten den bürgerlichen Staat als "ideellen Gesamtkapitalisten" und als Instrument der "Diktatur der Bourgeosie". <br />
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Schon im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 schrieben Marx und Engels: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. […] Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." <ref> Marx, K., Engels, F.: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, Berlin/DDR 1977, S. 464/482. </ref> Diese Definition des Staates als „Ausschuss“ zur Regelung der „gemeinschaftlichen Geschäfte“ der Bourgeoisie deckt sich mit der späteren Formulierung von Engels, in der er den bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnete: "Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten […] nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. <ref> Engels,F.: Zur Wohnungsfrage, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 18, Berlin/DDR 1973, S.257-258.</ref> Der Staat schützt die kapitalistische Produktionsweise sowohl gegen den Widerstand der Arbeiter als auch gegen die sich widersprechenden Einzelinteressen individueller Kapitalisten. Laut Engels setzt der „ideelle Gesamtkapitalist“ also das Interesse der gesamten herrschenden Klasse nicht nur gegenüber dem Proletariat, sondern auch gegenüber ihrer einzelnen Klassenindividuen durch: "Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." <ref> Engels,F.: Anti-Dühring (1877), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 20, S. 260.</ref> <br />
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Der Staat ist also einerseits Instrument zur Unterdrückung der Arbeiter und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse, gleichzeitig ist er notwendig, um die Bourgeoisie über die kapitalistische Konkurrenz hinweg zu Kompromissen zu zwingen und sie so erst als herrschende Klasse zu organisieren.<br />
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Lenin führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine scharfe Polemik gegen die Revisionisten und Reformisten in der deutschen und russichen Sozialdemokratie. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fasste er die Staatsauffassung von Marx und Engels in seiner Schrift ''Staat und Revolution'' (1917) zusammen: "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen 'Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. <ref> Lenin, W.I.: Staat und Revolution, in: in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Lenin Werke Bd. 25, Berlin/DDR 1974, S. 399. </ref> Der Staat ist demnach eine Macht, "die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben. Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt ‚nicht mehr unmittelbar zusammenfällt‘ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer ‚selbsttätigen bewaffneten Organisation‘. [...] Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?" <ref> Lenin, W.I.: Staat und Revolution, in: in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Lenin Werke Bd. 25, Berlin/DDR 1974, S. 401.</ref><br />
Abschließend fasste Lenin seine Studien zur marxschen Staatsauffasung in der Bestimmung des bürgerlichen Staats als „Diktatur der Bourgeoisie“ zusammen: "Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist […]. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie." <ref> Lenin, W.I.: Staat und Revolution, in: in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Lenin Werke Bd. 25, Berlin/DDR 1974, S. 425.</ref><br />
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Von dieser Analyse ausgehend formulierten die Klassiker die strategische Orientierung auf die "Zerschlagung des bürgerlichen Staats" und die Errichtung der "Diktatur des Proletariats". Siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]].<br />
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Für eine ausführlichere Darstellungen der Annahmen der Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus zum Staat, siehe: [[Grundannahmen Staat]]<br />
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===Der Staat als klassenneutrales Instrument===<br />
Vertreter dieser Auffassung gehen davon aus, dass der bürgerliche Staat und seine Organisationsapparate an sich klassenneutrale Instrumente sind. Das heißt sie werden unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen zwar von der Bourgeoisie benutzt, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen, die Arbeiterklasse niederzuhalten und die Bedingungen der Kapitalakkumulation möglichts günstig zu gestalten, könnten unter anderen Bedingungen, zum Beispiel nach dem Wahlsieg einer Arbeiterpartei, aber genausogut im Interese des Proletariats in Bewegung gesetzt werden, zum beispiel um den Kapitalismus durch Sozialreformen allmählich in den Sozialismus zu überführen. Die Instrumente selbst, also die Staatsorganisationen vom Parlament über die Verwaltungs- bis hin zu den Repressionsorganen, verhalten sich dieser Auffassung nach also neutral zu den Zwecken ihrer Anwendung. Weder ihre konkrete Organisationsform noch das Personal, aus dem sie bestehen, tragen demnach Klassencharakter. Diese Auffassung steht im Widerspruch zu der Position, der bürgerliche Staat sei seiner Form und seinem Klasseninhalt nach "ideeller Gesamtkapitalist" und Ausdruck der "Diktatur der Bourgeoisie" (s.o.).<br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):'''<br />
Die klassischen Vertreter einer solchen Staatsauffassung waren die „Revisionisten“ in der deutschen Sozialdemokratie, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen und zentrale Annahmen des wissenschaftlichen Sozialismus zu "revidieren" begannen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Eduard Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. <br />
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Bernstein bestritt in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899) die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Aufhebung des bürgerlichen Staats und schlug stattdessen einen friedlichen und demokratischen Reformweg zum Sozialismus vor. Bernstein argumentiert, die bisherige Ausrichtung der Sozialdemokratie auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus sei durch die Realität überholt. Das kapitalistische System habe sich als weitgehend krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, ein „Zusammenbruch“ des Kapitalismus bzw. eine revolutionäre Situation sei nicht mehr zu erwarten. Die Aufgabe der SPD sei es nun, im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch „Sozialreformen“ Verbesserungen für die Arbeiterklasse und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards zwischen den Klassen durchzusetzen. Den Weg, um diese Ziele zu erreichen, sah Bernstein in der schrittweisen Ausdehnung des parlamentarischen Einflusses der Sozialdemokratie bis hin zur Übernahme der Regierung. Diese würde dann weitreichende Reformen im Sinne der Arbeiterklasse und des Sozialismus durchsetzen. Das entsprechende Credo des Reformismus lautete: „der Weg ist alles, das Ziel ist nichts.“<br />
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Der klassische Reformismus setzt notwendig eine bestimmte Auffassung über den bürgerlichen Staat voraus. Wenn es möglich sein soll, den Kapitalismus allmählich durch Sozialreformen zu überwinden, so muss es auch möglich sein, dass die Arbeiterklasse diese Reformen im Staatsapparat gegen den Willen der Bourgeoisie durchsetzt oder diese zumindest zu Kompromissen zwingt – und zwar so weit, dass die Gesellschaft immer mehr sozialistische Züge annimmt und der Staat letztlich aufhört, bürgerlicher Staat zu sein und allmählich zu einem Instrument in den Händen der Arbeiterklasse wird. Dieses Instrument an sich muss also „klassenneutral“ sein und je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse sich entwickeln, kann es sowohl von der einen, als auch von der anderen Klasse kontrolliert und im eigenen Interesse eingesetzt werden. Der Staat steht in dieser rein instrumentalistischen Sichtweise der ihm zugrunde liegenden Produktionsweise also äußerlich gegenüber, er besitzt keine innere Verbindung zu ihr. Der Überbau scheint unabhängig von seiner ökonomischen Basis agieren zu können. Der bürgerliche Staat wird aus dieser Sichtweise nicht als spezifisches, den Klasseninteressen der Bourgeoisie entsprechend geformtes Werkzeug verstanden. Ergo kann das Proletariat dieses Werkzeug unverändert übernehmen, anstatt sich einen eigenen Apparat zu schaffen, der den spezifischen Erfordernissen und Klasseninteressen der Arbeitermacht entspricht.<br />
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'''Eurokommunismus:'''<br />
Ab den 1970er Jahren knüpften die sogenannten "Eurokommunisten" mit vielen ihrer Positionen an die theoretische Tradition des klassischen Revisionismus an, begründeten ihre Haltung aber damit, dass die Kräfteverhältnisse und somit auch der Charakter des bürgerlichen Staats sich nach 1945 grundlegend geändert hätten. Daher seien der „sowjetische Weg zum Sozialismus“ und die Diktatur des Proletariats als historischer Sonderfall überholt und Europa mittlerweile in eine Epoche der demokratischen Übergänge eingetreten. Sie vertraten die Einschätzung, die bürgerliche Demokratie sei nach dem Sieg über den Faschismus im Westen zu sehr gefestigt, als dass die Herrschenden gewaltsam gegen einen demokratischen Übergang zum Sozialismus vorgehen könnten. Die Hauptvertreter des Eurokommunismus waren die kommunistischen Parteien Frankreichs (PCF), Italiens (PCI) und Spaniens (PCE).<br />
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Die eurokommunistische Strategie des friedlichen, parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus ging mehr oder weniger offen davon aus, dass der Staat als ein „Feld im Klassenkampf" aufzufassen sei, auf dem sich zwar die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen widerspiegeln, das an sich aber klassenneutral sei. Durch Veränderungen der politischen Mehrheiten sollten der Staat und seine Institutionen durch die Kommunisten kontrolliert und im Sinne der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden. Die Regierung sollte ein Reformprogramm umsetzen, das die Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung Sozialismus entwickeln würde. Auch im Sozialismus sollte der bürgerlich-liberale Parlamentarismus als politische Herrschaftsform bruchlos beibehalten werden: „Die repräsentative Demokratie, kombiniert mit Formen der direkten Demokratie, kann ohne weiteres auch die Form des sozialistischen Systems sein.“<ref>zitiert nach: Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen, 1977.</ref> In Teilen der eurokommunistischen Strömung wurde sogar die Notwendigkeit der Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Länder in imperialistischen Staatenbündnissen wie der EG und der NATO offen verteidigt. Ausführlich dargelegt ist das Staatsverständnis der Eurokommunisten in Santiago Carrillos ''Eurokommunismus und Staat''<ref>Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.</ref>. <br />
<br />
Ausführlicherer Artikel: [[Eurokommunistische Staatsauffassung]]<br />
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'''Andere Vertreter:'''<br />
Auch heute gibt es zahlreiche "linke" Vertreter dieser Auffassung. Die Annahme, der bürgerliche Staat sei ein grundsätzlich klassenneutrales Instrument, bildet die Voraussetzung jeder Strategie, die auf den Eintritt in die bürgerliche Regierung zum Zweck der Umsetzung von Reformen abzielt. Das gilt eindeutig für die deutsche ''Linkspartei'' und ihre europäischen Geschwisterorganisationen, allen voran die einflussreiche griechische ''SYRIZA''. Auch die "antimonopolistische Strategie" der DKP unterstellt letztlich eine Klassenneutralität des Staats der Monopole (s.u.). In unterschiedlichen Abstufungen wird diese Auffassung auch von den "bolivarischen Bewegungen" bzw. den Vertretern eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien etc. vertreten.<br />
<br />
===Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole===<br />
Eine seit 1945 weit verbreitete Position geht davon aus, dass der bürgerliche Staat im Monopolkapitalismus nicht mehr das Interesse der gesamten herrschenden Klasse vertritt, sondern sich zum alleinigen Herrschaftsinstrument der Monopole entwickelt. Diese Vorstellung beruft sich häufig auf die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (s.o.) und ist eng verbunden mit den verschiedenen Varianten der [[Strategie der Übergänge]]. <br />
<br />
'''Deutsche Kommunistische Partei (DKP):'''<br />
Die DKP vertritt seit ihrer Gründung eine Strategie der "antimonopolistischen Demokratie" (AMD). Diese wurde erstmals im Programm von 1978 explizit ausformuliert und beschlossen. Auch im Programm von 2006 bildet die AMD, von einigen kleineren Relativierungen abgesehen, noch immer den Kern der strategischen Vorstellungen der DKP. <br />
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Zu den wichtigsten Grundannahmen der AMD gehört, dass der bürgerliche Staat zu einem Instrument in den Händen der Monopole, also einer Handvoll Finanzoligarchen innerhalb der Bourgeoisie, geworden ist. Der Staat, so die These, setzt deren Profitinteressen rigoros gegen alle „nicht-monopolistischen Schichten“, also nicht nur gegen die Arbeiterklasse und alle anderen Werktätigen, sondern auch gegen die „kleine und mittlere Bourgeoisie“ durch. Der bürgerliche Staat vernachlässigt aus dieser Sicht also gewissermaßen seine Aufgabe als „ideeller Gesamtkapitalist“ und verkörpert gegenüber der gesamten Gesellschaft (und einem Großteil der Bourgeoisie) nicht mehr das langfristige Gesamtinteresse aller Kapitalisten, sondern einseitig das Partikularinteresse des Monopolkapitals. <br />
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Im DKP-Programm von 2006 heißt es dazu: "Als Machtinstrument der Monopolbourgeoisie setzt er [der Staat] immer unverblümter eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durch. An die Stelle der sozialen Integration tritt die Konfrontation. Der bürgerliche Staat verliert tendenziell seine Fähigkeit zur sozialen und politischen Vermittlung, weil die Basis für die Organisierung stabilerer sozialer Kompromisse, die größere Teile der Gesellschaft einbeziehen, verloren geht. So wird die bürgerliche Demokratie ausgehöhlt und verliert ihren Inhalt. Bei Beibehaltung formaler Demokratie vollzieht sich der Übergang vom 'Sozialstaat' zum autoritären 'Sicherheitsstaat'." (S. 12) <br />
<br />
Damit wird zwar der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht geleugnet, aber eine neue strategische Bruchlinie zwischen den Monopolen und allen „nicht-monopolistischen“ Schichten aufgemacht, die aus dieser Sicht nun in Opposition zum "Staat der Monopole" geraten. Entlang dieser Linie soll sich ein „antimonopolistisches Bündnis“ formieren, das neben der Arbeiterklasse nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch bedeutende Teile der „nicht-monopolistischen“ Bourgeoisie umfassen soll (siehe dazu das Programm von 2006, S. 33). Dieses Bündnis hat zwar nicht den Sozialismus zum Ziel, wohl aber eine Zwischenetappe der „antimonopolistischen Übergänge“, in deren Rahmen die Kommunisten sich an der Regierungsmacht beteiligen und zunächst im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise eine politische „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ durchsetzen sollen.<br />
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Diese Vorstellung eines weitgehend bruchlosen Übergangs des Staatsapparats aus den Händen der einen in die Hände der anderen Klasse unterstellt eine instrumentalistische Sicht auf den Staat und behandelt diesen in letzter Konsequenz als ''klassenneutrales Werkzeug'' (s.o.). Zugespitzt formuliert: Der Klassencharakter des Staates scheint sich aus Sicht der Vertreter der antimonopolistischen Strategie nicht aus seiner Funktionsweise und seinem Wesen, sondern aus den politischen Kräfteverhältnissen zu ergeben. Ändert die Regierung ihren Klassencharakter von „monopolistisch“ zu „nicht-monopolistisch“, so ändert sich demzufolge auch der Klassencharakter des Staates. <br />
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Hier geht es zu einer längeren Version dieses Artikels: [http://%E2%80%9EAntimonopolistische_Demokratie%E2%80%9C_(DKP) Antimonopolistische Demokratie]<br />
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'''Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD):'''<br />
Zu den wichtigsten Alleinstellungsmerkmalen der Theorie und Programmatik der MLPD gehört der Begriff der „Übermonopole“ (siehe dazu den Entsprechendne Artikel [[Imperialismus_als_Weltsystem|"Imperialismus als Weltsystem"]] der AG Politische Ökonomie], der auch ihre Analyse des bürgerlichen Staats der Gegenwart wesentlich prägt: "Die hier ansässigen internationalen Übermonopole, die zum allein herrschenden internationalen Finanzkapital gehören, haben sich den Staat vollkommen untergeordnet, und die Organe des Monopolkapitals sind mit den Organen des Staatsapparats verschmolzen. Sie haben ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft, auch über andere Monopole und die nicht monopolisierten Kapitalisten, errichtet. Über die Organe der EU nehmen sie Einfluss auf andere europäische Staaten." (Programm der MLPD)<br />
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Die MLPD geht also davon aus, dass sich diese „Übermonopole“ den bürgerlichen Staat „vollkommen untergeordnet“ haben – aus dieser Formulierung kann geschlussfolgert werden, dass der Staat nicht mehr als „ideeller Gesamtkapitalist“ das Gesamtinteresse des Kapitals vertritt, sondern von der Fraktion der „Übermonopole“ bzw. des „allein herrschenden Finanzkapitals“ allen anderen Teilen der Bourgeoisie gegenüber als Herrschaftsinstrument benutzt wird. Zudem geht die MLPD davon aus, dass die „Organe des Monopolkapitals“, die im vorangegangenen Stadium des Kapitalismus scheinbar noch unabhängig vom und außerhalb des Staatsapparates existierten, heute vollständig mit diesem „verschmolzen“ sind. <br />
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Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Programmatik der MLPD findet sich hier: [https://kommunistische.org/diskussion/einschaetzung-der-programmatik-der-mlpd/ Philipp Kissel, Einschätzung der Programmatik der MLPD].<br />
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Die Positionen der MLPD zum bürgerlichen Staat entnehmen wir ihrem zuletzt 2016 überarbeiteten Parteiprogramm.<ref>https://www.mlpd.de/parteiprogramm</ref><br />
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===Staatsmonopolistischer Kapitalismus===<br />
Hier soll kurz dargestellt werden, wie die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus den klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt. In welchem Verhältnis stehen Staat und Monopole? Ist der Staat alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole oder auch "ideeller Gesamtkapitalist", also Ausdruck der Herrschaft der gesamten Bourgeoisie?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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Siehe hierzu den Dissens [[Monopole und Staat]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus.<br />
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===Der Staat als "echte Demokratie"===<br />
Die Position, der bürgerliche Parlamentarismus auf der ökonomischen Basis der kapitalistischen Produktionsweise sei eine "echte Demokratie" läuft letztlich auf die Position hinaus, die gesellschaftlichen Verhältnisse würden nicht von der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie, sondern von der politischen Mehrheit bestimmt. Die Frage des Klassencharakters der Staats wird also reduziert auf eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Je nach dem, ob die Bourgeoisie oder die Arbeiterklasse im demokratischen Prozess mehr Kontrolle über den Staatsapparat ausübt, verschiebt sich auch dessen Klassencharakter. Diese Auffassung setzt zugleich ein Verständnis des Staates als ''klassenneutrale Instrument'' voraus (siehe oben). <br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):''' <br />
Die Vorstellung einer fortschreitenden Demokratisierung des bürgerlichen Staats und einer damit einhergehenden Verwandlung seines Klassencharakters spielten eine zentrale Rolle im Denken des klassischen Revisionismus. Rosa Luxemburg polemisierte schon 1899 gegen Eduard Bernstein: „die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie [sei] eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie.“ <ref> Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), Zweiter Teil </ref> Bürgerliche Demokratie und Parlamentarismus waren für Bernstein nicht taktische Mittel im Klassenkampf, sondern tatsächlicher Ausdruck der Herrshaft durch das Volk bzw. die Mehrheit, also der Arbeiterklasse: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. […] Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“<ref>Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.154-156.</ref> Für die Strategie der Arbeiterbewegung heißt das: „die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.“<ref>Ebd., S. 154-156.</ref> Die Arbeiterbewegung soll sich also darauf beschränken, im legalen Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus für Reformen und schrittweise Verbesserungen zu kämpfen. Der bürgerliche Staat ist dabei nicht ihr Gegner, sondern ihr Werkzeug. Die taktische Herausforderung besteht demnach einzig darin, auf demokratischem Weg in die Position zu gelangen, dieses Werkzeug für die eigenen Zwecke nutzen zu können.<br />
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'''Position von SYRIZA:''' <br />
Die griechische "Linkspartei" SYRIZA argumentiert in ihrem Regierungsprogramm, „der Staat [sei] keine Festung, sondern ein Netzwerk, ein Verhältnis und eine strategische Arena für den politischen Kampf. Er verändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, im Gegenteil, seine notwendige Transformation hat konstante und kontinuierliche Kämpfe zur Voraussetzung, die Einbeziehung des Volkes, ständige Demokratisierung.“ (Quelle: S''YRIZAs Regierungsprogramm''<ref>Zitiert nach einem auf Englisch erschienenen Artikel der KKE, ins Deutsche Übersetzt. URL: https://inter.kke.gr/en/articles/Criticism-of-certain-contemporary-opportunist-views-on-the-state/ (9.1.2019)</ref>) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der bürgerliche Staat von SYRIZA nicht seinem Wesen nach als ein Organ der bürgerlichen Klassenherrschaft angesehen, sondern als eine Ansammlung von Institutionen, die im Interesse des Volkes „transformiert“ werden können. Auf Grundlage dieser Sichtweise wird argumentiert, dass der Charakter des bürgerlichen Staats durch die richtigen politischen Kräfteverhältnisse geformt oder gar "transformiert" werden kann, solange sich nur „linke Regierungen“ durchsetzen können. <br />
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'''Position der DKP:''' <br />
Die DKP bleibt in ihrer Einschätzung der bürgerlichen Demokratie widersprüchlich. Einerseits ist in ihrem Programm von 2006 zwar die Rede davon, dass sich durch die "Globalisierung" die "Tendenz zur Reaktion" verschärft, dass die Demokratie untergraben wird (siehe S. 12) und dass letztlich eine "revolutionäre Überwindung" (S. 28) des Kapitalismus nötig sei. Andererseits gehört es jedoch zu den Kernthesen ihrer "antimonopolistischen Startegie", dass noch auf dem Boden der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und innerhalb des institutionellen Rahmens des bürgerlichen Staats umfassende Reformen und sogar eine "antimonopolistisch-demokratische Umgestaltung" (S. 32) möglich seien: "Je mehr es dabei gelingt, Veränderungen im Sinne von Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, von demokratischer Kontrolle, von Entmilitarisierung und Demokratisierung in Staat und Gesellschaft zu erreichen, je größer der Einfluss der demokratischen und sozialistischen Kräfte überall dort ist, wo Meinungsbildung stattfindet, desto besser sind die Chancen im Kampf um die Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und für die Öffnung des Weges zum Sozialismus. [...] Es geht um die [...] demokratische Einflussnahme auf den staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus im nationalen Rahmen wie im Rahmen der Europäischen Union und anderer internationaler staatsmonopolistischer Institutionen". (S. 30) Diese Vorstellung läuft letztlich also darauf hinaus, die Kommunisten und „Demokraten“ könnten den ideellen Gesamtkapitalisten dem Einfluss der Klasseninteressen der Bourgeoisie entreißen und ihrem eigenen politischen Willen unterwerfen.<br />
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'''Andere Vertreter:''' Ebenfalls weit verbreitet sind Vorstellungen über den demokratischen Charakter des bürgerlichen Staats in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dort gehört der Begriff der „Mitbestimmung“ nicht umsonst zum ideologischen Kernrepertoire. Die Vorstellung, im Betrieb ließe sich zwischen Kapital und Arbeit auf Augenhöhe eine demokratische Mitbestimmung und dadurch ein Interessenausgleich verwirklichen, bildet das Herzstück der Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Ähnliche Sichtweisen werden heute außerdem in einer Reihe lateinamerikanischer Länder gepflegt. Verschiedene „fortschrittliche“ und „linke“ Regierungen versuchen unter dem Banner des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bzw. der „bolivarischen Revolution“ das bürgerliche Staatsystem durch Gesetzesreformen und Volksabstimmungen grundlegend zu veränden.<br />
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==="Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci)===<br />
Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, verfasste in den 1920er und 30er Jahren in faschistischer Gefangenschaft seine „Gefängnishefte“, ein umfangreiches theoretisches Werk, dessen einzelne Bestandteile Gramsci unter den Bedingungen seiner Haft leider nicht mehr zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen konnte. Zu den wichtigsten Aspekten dieses Werks gehören Gramscis Überlegungen zur besonderen Form der Herrschaft der Bourgeoisie in den entwickelten imperialistischen Ländern und die daraus abgeleiteten Weiterentwicklungen der marxistischen Staatstheorie.<br />
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In den Gefängnisheften bringt Gramsci den Staat und die Herrschaft der Bourgeoisie auf die kurze Formel: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang" (H. 6, §88., S. 783)<ref>Antonio Gramsci, Gefängnisgefte. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1991. Im Folgenden wird aus den Gefängnisheften nur noch in Klammern nach Heft Nr., Paragraph und Seitenzahl zitiert.</ref><br />
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Gramsci weitet den Staatsbegriff damit aus und entwickelt sein Konzept des "integralen Staates". Dieser umfasst einerseits die "politische Gesellschaft", womit alle explizit staatlichen Strukturen und Institutionen gemeint sind, also das Parlament, die Beamtenapparate, die Repressionsorgane, die staatlichen Bildungseinrichtungen etc. Andererseits betrachtet Gramsci aber auch die "Zivilgesellschaft" als Teil der bürgerlichen Staatlichkeit. Gemeint sind damit alle Strukturen außerhalb der Staatsapparate, über die die Bourgeoisie ihre Herrschaft absichert, also private Medien, Bildungsstätten, Institute, Stiftungen, Clubs, Thinktanks etc. Mit Blick auf den Sieg der Oktoberrevolution in Russland und die darauffolgenden Niederlagen der Revolutionsversuche in Westeuropa schrieb Gramsci: "Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand;" (H. 7, §16., S. 873-874) An anderer Stelle heißt es: "zumindest was die fortgeschrittenen Staaten angeht, wo die 'Zivilgesellschaft' eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften 'Durchbrüchen' des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg." (H. 13, §14, S. 1553-1554) Die Stabilität der bürgerlichen Herrschaft hängt demnach also wesentlich davon ab, inwieweit die Zivilgesellschaft herausgebildet und die "Hegemonie" der Bourgeoisie enwickelt ist. <br />
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Mit dem Begriff der Hegemonie versucht Gramsci der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass sich die Macht der Bourgeoisie nicht nur auf das Staatliche Gewaltmonopol und die Repressionsapparate stützt, sondern wesentlich über ideologische Integration und die Erzeugung von "Konsens" abgesichert wird. Hegemonie bezeichnet also die politisch-ideologische Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über eine andere. "Die 'normale' Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne daß der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt, sondern im Gegenteil sogar versucht wird, zu erreichen, daß der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint […]" (H. 13, §37, S. 1607-1613). Konsens bezeichnet hier einen Zustand, in dem die Beherrschten die Herrschaft zumindest passiv ertragen oder sogar aktiv die Sichtweise übernehmen, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse entsprächen auch ihren Interessen und seien die bestmöglichen. Gramsci schreibt, dass "eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. […] Die politische Führung wird zu einem Aspekt der Herrschaft, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Klassen zur Enthauptung derselben und zu ihrer Machtlosigkeit führt. Es kann und muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben." (H. 1, §44, S. 101-113) <br />
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Heute wird der Begriff der Hegemonie fast ausschließlich Gramsci zugeschrieben, dabei war er zu dessen Lebzeiten unter den Theoretikern der Kommunistischen Internationale weit verbreitet und wurde breit diskutiert. Wie Buci-Glucksmann bemerkt, war er "im gesamten Marxismus der Dritten Internationale überaus geläufig. Man findet ihn vor allem unter der Feder Lenins vor 1917, aber auch später. Man finet ihn ebenso oft bei Bela Kun, Varga, Stalin, und vor allem Bucharin, der ihn in einer Weise benutzte, die der Gramscis nahezustehen scheinen könnte". <ref>Buci-Glicksmann, Gramsci und der Staat, S. 17.</ref> <br />
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Die "führende Klasse" oder Klassenfraktion ist laut Gramsci in ihrem Ringen um Hegemonie also in der Regel darum bemührt, alle anderen Fraktionen ihrer Klasse und ihrer "verbündeten Klassen" in ihren "Block an der Macht" zu integrieren. Das gelingt nur, indem sie mit diesen anderen Fraktionen ein Komprimissprogramm aushandelt, das bestmöglich das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse zusammenfasst und deren innere Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Der Ort, an dem diese Kompromisse ausgehandelt und schließlich in politische Praxis übersetzt werden, ist der bürgerliche Staat selbst. Gegenüber den "feindlichen Klassen" (also dem Proletariat und den anderen Werktätigen) tritt die Bourgeoisie als "herrschend" auf, sie übt ihre Hegemonie einerseits durch integration ihrer ideologischen Führer und andererseits durch materielle Zugeständnisse aus: "Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, daß sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, daß also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, daß solche Opfer und ein solcher Kompromiß nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt." (H. 13, §18, S. 1565-1573) Gramsci beschreibt in dieser Formulierung den grundsätzlichen Klassencharakter des Staates. Die Kompromisse können nie "das Wesentliche" betreffen - also die kapitalistische Produktionsweise - sondern sich nur in deren Rahmen Bewegen. <br />
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Gramscis Staatstheorie knüpft eindeutig an die Auffassung des Staats als "ideeller Gesamtkapitalist" (s.o.) an, indem sie einerseits die Integration der gesamten herrschenden Klasse in einem "historischen Block" betont und andererseits die zumindest passive Einbindung der Beherrschten im Rahmen der Hegemonie betont. Mit einer Staatsauffassung, die den bürgerlichen Staat im Monopolkapitalismus als "alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole" (s.o.) versteht, ist Gramscis Ansatz kaum zu vereinbaren. <br />
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Mit Blick auf den Staat schreibt Gramsci außerdem, dieser sei "das Instrument zur Anpassung der Zivilgesellschaft an die ökonomische Struktur". (H. 10.II, §15, S. 1267) Dabei spielen Medien und andere ideologische Apparate eine entscheidende Rolle: "Was 'öffentliche Meinung' genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der 'Zivilgesellschaft' und der 'politischen Gesellschaft', zwischen dem Konsens und der Gewalt. Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft. […] die öffentliche Meinung, wie sie heute Verstanden wird, ist am Vorabend des Untergangs der absolutistischen Staaten entstanden, das heißt in der Zeit des Kampfes der neuen bürgerlichen Klasse um die politische Hegemonie und die Erlangung der Macht. […] [Es entbrennt ein] Kampf ums Monopol der Organe der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, Parlament". (H. 7, §83, S. 916-917)<br />
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Verliert die herrschende Klasse ihre Hegemonie so kommt es zur "Hegemonie-" bzw. "Autoritätskrise": "Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr 'führend', sondern einzig 'herrschend' ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die große Masse sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann". (H. 3, §34, S. 354-355) Der Verlust der Hegemonie darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem automatischen Verlust der Macht, schließlich verfügt die herrschende Klasse auch bei schwindendem Konsens noch immer über die Mittel des Zwangs. <br />
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Zu den strategischen Schlussfolgerungen, die Gramsci aus seiner Staatstheorie ableitete, siehe den Dissens-Artikel zu [[Staat und Revolution]] und dort den Abschnitt "Bewegungs- und Stellungskrieg". <br />
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Einige offene Fragen zu Gramsci und seiner Staatstheorie werden von unserer AG tiefergehend behandelt werden: Handelt es sich dabei um einen wegweisenden Beitrag zur marxistischen Staatstheorie im Zeitalter des Imperialismus und des entwickelten bürgerlichen Staats, an den die Kommunisten anknüpfen und den sie weiterentwickeln müssen? Oder enthält Gramscis Theorie bereits wesentliche revisionistische Abweichungen, die es den verschiedenen opportunistischen Strömungen, die sich heute auf ihn berufen, leicht machten, seine Theorie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?<br />
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==="Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas)===<br />
Nicos Poulantzas war ein griechischer Theoretiker, der in den 1960er und 70er Jahren eine Reihe an marxistischen Studien verfasste. Er sympathisierte nach 1968 mit der eurokommunistischen griechischen kommunistischen Partei des Inlands (KKE-Inland) und stand – in Frankreich lebend - in kritischer Distanz zur Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). In seinen klassen- und staatstheoretischen Schriften ist der Einfluss u.a. von Louis Althussers Strukturalismus sowie [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #"Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci) | Antonio Gramscis Hegemonietheorie]] sichtbar. In der marxistischen Debatte um den Staat hat Poulantzas tiefe Spuren hinterlassen, was primär zurückgeführt werden kann auf seine Konzeption des Staates als „Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“. Historisch bedeutsam war dabei zunächst die Auseinandersetzung mit Ralph Miliband; im deutschsprachigen Raum wurde seine Theorie u.a. über Joachim Hirsch und Alex Demirovic wieder in die Diskussion eingebracht.<br />
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Poulantzas formuliert in der Einleitung zur „Staatstheorie“ den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Es ist nicht der Klassencharakter des Staates, der zur Debatte steht: „Jeder Staat ist ein Klassenstaat; jede politische Herrschaft ist Klassendiktatur; der kapitalistische Staat ist ein Staat der Bourgeoisie; der kapitalistische Staat im Allgemeinen und jeder kapitalistische Staat im Besonderen sind Diktaturen der Bourgeoisie“ (Staatstheorie S. 155), all dies sind für ihn „Banalitäten“ - zwar richtig, aber nicht weiter ausführenswert. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, vielmehr stellt es sich hier neu: „[W]arum greift die Bourgeoisie in ihrer Herrschaft auf diesen nationalen Volksstaat zurück, diesen modernen Repräsentativ-Staat mit seinen spezifischen Institutionen, und nicht auf einen anderen? Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich genau diesen Staat aussuchen würden, wenn sie den Staat komplett selbst und nach ihrem Geschmack aufbauen würden.“ (Staatstheorie, S. 40). Eine verwandte Frage hatte bereits der sowjetische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis knapp 50 Jahre, vorher gestellt: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“1 Poulantzas gibt in der Einleitung auch eine vorläufige, knappe Antwort auf die von ihm formulierte Frage: „Der Staat stellt ein materielles Gerüst dar, das in keiner Weise auf die politische Herrschaft reduziert werden kann. Der Staatsapparat, dieses besondere und furchterregende Etwas, erschöpft sich nicht in der Staatsmacht. [...] Wenn der Staat nicht einfach ein vollständiges Produkt der herrschenden Klassen ist, so haben sie sich seiner auch nicht einfach bemächtigt: Die Macht des Staates (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) hat in dieser Materialität ihre Spuren hinterlassen. Die Handlungen des Staates reduzieren sich nicht auf die politische Herrschaft, sie sind jedoch konstitutiv von ihr gezeichnet.“ (Staatstheorie, S. 42)<br />
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Eine wichtige Aufgabe des Staates sieht Poulantzas in der Repräsentation und Organisation der herrschenden und der Desorganisation der beherrschten Klassen. Die Bourgeoisie ist keine widerspruchsfreie Einheit. Sie verfolgt zwar zwangsläufig als Klasse einheitlich das Ziel der Kapitalverwertung, dieses Ziel bringt sie aber auch in direkte Konkurrenz untereinander, weshalb, wie Engels sagt, der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert. Poulantzas zufolge ist die Kapitalistenklasse in Klassenfraktionen gespalten, die unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Interessen verfolgen. Diese Klassenfraktionen formieren sich unter der Hegemonie einer Fraktion zu einem „Block an der Macht“, in welchen auch andere herrschende Klassen miteinbezogen werden. Die Hegemonie einer Fraktion bedeutet dabei, dass diese die äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Sinne optimieren kann; und diese Hegemonie erst ermöglicht die Einheit dieses Blocks gegenüber den beherrschten Klassen. Poulantzas betont, dass nicht nur Teile der Bourgeoisie (etwa das Monopolkapital) den Machtblock stemmen: „Diese bürgerlichen Fraktionen sind in ihrer Gesamtheit, obwohl in unterschiedlichem Maße, auf dem Terrain der politischen Herrschaft angesiedelt, und gehören somit immer zum Block an der Macht“ (Staatstheorie S. 159). Dieser Machtblock ist aber konfliktdurchzogen, er stellt ein umkämpftes, instabiles Kompromissgleichgewicht dar: „Der Machtblock stellt eine von inneren Widersprüchen gekennzeichnete Einheit von politisch herrschenden Klassen und Fraktionen unter dem Schutz der hegemonialen Fraktion dar. Der Klassenkampf, die Interessenrivalitäten zwischen den gesellschaftlichen Kräften sind darin ständig gegenwärtig, wobei diese Interessen ihren spezifischen Antagonismus bewahren“ (PMGK, S. 239). In diesem Sinne ist die konkrete Politik des Staates und die Hegemonie im Machtblock immer umkämpft, und dieser Kampf wird im Staat, in seinen ideologischen (Medien, Think Tanks, …) aber auch repressiven Apparaten (Polizei, Armee, …) ausgetragen.<br />
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Um die „Rolle der Vereinheitlichung und Organisierung der Bourgeoisie und des Blocks an der Macht“ (Staatstheorie, S. 158) zu erfüllen, muss der Staat laut Poulantzas eine „relative Autonomie“ gegenüber den einzelnen Bestandteilen des Blocks bewahren: „Unter relativer Autonomie dieses Staatstyps verstehe ich […] das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Feld des Klassenkampfes, insbesondere seine relative Autonomie gegenüber den Klassen oder Fraktionen des Machtblocks und in erweiterter Form auch gegenüber seinen Verbündeten oder Stützen […] Ich hoffe, damit klar genug die Distanz auszudrücken, die diese Auffassung des Staats von einer simplifizierten und vulgarisierten Auffassung des Staats trennt, die in ihm das Werkzeug oder Instrument der herrschenden Klasse sieht“ (PMGK S. 256).<br />
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Der Staat als Instrument (siehe auch die Abschnitte zum Staat als [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als klassenneutrales Instrument | klassenneutrales Instrument]] und als [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole | alleiniges Instrument der Monopole]]) und der [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt) | Staat als Subjekt]]: dies beides sind aus Poulantzas‘ Sicht falsche Staatsverständnisse, die er umschiffen will mit dem Verständnis des Staates als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses. Der Staat als Instrument/Werkzeug/Sache unterstellt eine Passivität oder Neutralität des Staates. Dieser wird als ein Apparat verstanden, der zur Ausübung der politischen Macht von der herrschenden Klasse oder auch einer Klassenfraktion verwendet wird, der aber eben auch so wie er ist übernommen werden kann, um gegen die herrschende Klasse gewendet zu werden. Eine Autonomie des Staates ist ausgeschlossen. Eine solche instrumentalistische Konzeption des Staates sieht Poulantzas in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der eurokommunistischen PCF in den 1970ern: „An dieser Konzeption kritisierte ich vor allem, dass sie zu der Vorstellung des mit dem Monopolkapital »fusionierten« Staates führt, einem Staat der im Dienste der Monopole steht und keinerlei Autonomie besitzt“ (Staatstheorie S. 160). Der Staat als Subjekt wiederum lässt ihn vollständig autonom werden, er steht als Akteur außerhalb der Klassen. Er agiert, koordiniert, verwaltet, reguliert selbstständig. Seine Autonomie bezieht sich „auf die angebliche Macht des Staates und auf die Träger dieser Macht und der staatlichen Rationalität: auf die Bürokratie und speziell auf die politische Elite“ (Staatstheorie S. 160). <br />
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Poulantzas schlägt vor, die „Sackgassen des ewigen Pseudodilemmas der Diskussion zwischen der Konzeption des Staates als einer Sache bzw. einem Instrument und der Konzeption des Staates als einem Subjekt“ (Staatstheorie S. 159f) zu vermeiden, indem der Staat über den Klassenkampf selbst verstanden wird, genauer: „ … indem ich sage, dass der Staat […] nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden darf, sondern, wie auch das »Kapital«, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ Der Staat spiegelt also nicht einfach ein gesellschaftliches Verhältnis wider, er selber konstituiert dieses Verhältnis. In der Vielzahl seiner Institutionen findet die ständige Austarierung zwischen Klassen und Klassenfraktionen statt. Diese Austarierung entspricht aber nicht direkt dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, beispielsweise sind die beherrschten Klassen nicht in den Staatsapparaten anwesend: „Sie organisieren und vereinheitlichen den Block an der Macht, indem sie die beherrschten Klassen ständig desorganisieren und spalten. Sie polarisieren sie gegenüber dem Block an der Macht und schließen ihre politischen Organisationen aus.“ (Staatstheorie S. 171)<br />
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Bei Poulantzas bleibt unklar, wie der Begriff der Verdichtung genau zu verstehen ist, wohingegen er ausführt, was es mit der Materialität hier auf sich hat. Mit Blick auf die Staatstheorie in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der PCF wendet er ein, dass diese „die eigenständige Materialität des Staates übersieht. Diese Materialität eines Staates, der als Werkzeug oder Instrument angesehen wird, hat keine eigene politische Bedeutung. Diese Bedeutung wird auf die Staatsmacht beschränkt, d.h. auf die Klasse, die dieses Instrument manipuliert. Das würde im Extremfall implizieren, dass das gleiche Instrument (das verschiedenen, allerdings zweitrangigen Modifikationen unterliegt) durch eine Veränderung der Staatsmacht, also durch die Macht der Arbeiterklasse, für den Übergang zum Sozialismus anders eingesetzt werden könnte“ (Staatstheorie S. 160). Dieses Defizit meint er zu beheben: „Das materielle Gerüst seiner [des Staates] Institutionen wird durch die Beziehung des Staates zu den Produktionsverhältnissen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung konstituiert, die sich in der kapitalistischen Trennung des Staates von diesen Verhältnissen konzentriert. […] Der Staat hat eine eigene Dichte und Widerstandskraft und reduziert sich nicht auf ein Kräfteverhältnis. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Klassen hat sicherlich immer Auswirkungen innerhalb des Staates, sie überträgt sich jedoch nicht direkt und unmittelbar. Sie passt sich der Materialität der verschiedenen Apparate an und kristallisiert sich im Staat nur in gebrochener und differenzierter, den Apparaten entsprechender Form. Eine Veränderung der Staatsmacht allein transformiert die Materialität des Staates nicht“ (Staatstheorie S. 161f). Als Beispiele für die Materialität führt Poulantzas u.a. die Organisierung kapitalistischen Wissens an: „Die geistige Arbeit (Wissen/Macht) ist in den Apparaten konzentriert und steht im Gegensatz zur tendenziell in den Volksmassen konzentrierten manuellen Arbeit, die von den organisatorischen Funktionen ausgeschlossen und getrennt sind“ (Staatstheorie S. 83).<br />
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==="Akkumulationsregime" (Regulationsschule)===<br />
Hier sollen die offenen Fragen und Aufgaben ausformuliert werden, die sich aus der Staatstheorie der "Regulationsschule" und deren Theorie der "Akkumulationsregime" ergeben. Handelt es sich bei dieser Theorie um einen wesentlichen Beitrag zur marxistischen Staatstheorie, die eine vertiefende Analyse der verschiedenen Formen der bürgerlichen Herrschaft seit der Entstehung des Kapitalismus erlaubt (z.B. durch die Unterscheidung eines "keynesianischen" und eines "neoliberalen Akkumulationsregimes")? Wie wird aus Perspektive der der Regulationsschule der Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt? Enthält diese Theorietradition wesentliche Abweichungen von den Grundannahmen der marxistischen Staatstheorie? Welche Verbinndung gibt es zu den Theorien von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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'''Vertreter:''' Zu den prominentesten Vertretern der Regulationsschule gehören heute die Staatstheoretiker Joachim Hirsch und Bob Jessop.<br />
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===Staat = Repressionsapparate / "neue Demokratie" (Maoismus)===<br />
Innerhalb des maoistischen Spektrums lässt sich als tendenzielle Gemeinsamkeit in der Staatsfrage ein besonderer Fokus auf die „bewaffneten Apparate“ des bürgerlichen Staats und eine weitgehende Vernachlässigung der Analyse anderer, nicht unmittelbar gewaltförmiger Herrschaftstechniken der Bourgeoisie (Integrationsideologien, ökonomischer Zwang, etc.) feststellen. Dies steht im engen Zusammenhang mit der Strategie des "Volkskriegs". Dieser Strategie liegt eine Perspektive auf den Staat zugrunde, die den Kampf um die politische Macht weitgehend auf den unmittelbaren militärischen Kampf und die Zerschlagung der bewaffneten Staatsapparate zuspitzt. Die maoistische Theorie der "neuen Demokratie" enthält außerdem die These einer möglichen dritten Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats.<br />
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Von einer einheitlichen und systematisch ausgearbeiteten "maoistischen Staatstheorie" kann genauso wenig die Rede sein, wie von einer homogenen maoistischen Strömung innerhalb des Marxismus. In den klassischen Texten von Mao Tse-Tung findet sich vor allem keine eigene, systematisch ausgearbeitete Analyse des bürgerlichen Staats im Imperialismus. Die chinesischen Revolutionäre kämpften nicht gegen einen entwickelten bürgerlichen Staat, wie er sich in den imperialistischen Zentren herausgebildet hatte, sondern gegen einen agrarischen Feudalstaat mit kolonialen Elementen. Der Großteil von Maos Äußerungen über den Staat sind in diesem Kontext zu sehen, so zum Beispiel die oft zitierte Losung: "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 74.</ref> An anderer Stelle führt Mao diese Zuspitzung auf die Frage der militärischen Macht und der bewaffneten Apparate weiter aus und verallgemeinert sie als die aus seiner Sicht wichtigste Kernaussage der marxistischen Lehre vom Staat: "Vom Standpunkt der marxistischen Lehre vom Staat ist die Armee die Hauptkomponente der Staatsmacht. Wer die Staatsmacht ergreifen und behalten will, der muß eine starke Armee haben. Manche Leute bezeichnen uns höhnisch als Anhänger der ‚Theorie von der Allmacht des Krieges‘; jawohl, wir sind Anhänger der Theorie von der Allmacht des revolutionären Krieges, und das ist nicht schlecht, sondern gut, das ist marxistisch. [...] Die Erfahrungen des Klassenkampfes im Zeitalter des Imperialismus lehren uns: Die Arbeiterklasse und die übrigen Werktätigen Massen können nur mit der Macht der Gewehre die bewaffneten Bourgeois und Grundherren besiegen; in diesem Sinne können wir sagen, daß die ganze Welt nur mit Hilfe der Gewehre umgestaltet werden kann."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 75-76.</ref><br />
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In genau diesem Sinne wird die Staatsfrage auch in Teilen der zeitgenössischen maoistischen Strömungen behandelt. Viele zeitgenössische Mao-Gruppen beziehen sich dabei auf die Traditionslinie der peruanischen Guerillabewegung „Leuchtender Pfad“ bzw. der KP Perus (Vollständiger Name: ''Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui'') und ihres politischen und ideologischen Anführers „Presidente Gonzalo“ (Abiamel Guzmán). (''Anmerkung: Alle Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen sich auf die Broschüre „Einheitsbasis der Kommunistischen Partei Perus – angenommen auf dem I. Parteitag 1988“<ref>http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/gonzalo/1439-die-einheitsbasis-der-kommunistischen-partei-perus-auf-deutsch</ref>, die leider zahlreiche Übersetzungsfehler enthält.'')<br />
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Der Staat erscheint auch hier vor allem als bewaffneter Apparat, der militärisch bekämpft und zerschlagen werden muss:<br />
"die revolutionäre Gewalt ist ausnahmslos ein universelles Gesetz; die Revolution ist die gewaltsame Ersetzung einer Klasse durch eine andere. Er [Mao Tse-Tung] legte seine große These fest: ‚Die Macht kommt aus den Gewehrläufen!‘" (Über den Marxismus-Leninismus-Maoismus, S. 7) "[der] Volkskrieg, der durch eine revolutionäre Armee neuen Typs, unter der absoluten Führung der Partei, Stück für Stück die alte Macht zerstört, hauptsächlich seine bewaffneten und repressiven Kräfte." (Programm und Statuten der KP Perus, S. 16-17.)<br />
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Unter dem Begriff der „neue demokratische Revolution“ vertreten die Maoisten der KP Perus ein spezifisches Etappenmodell, das die Stufen der Revolution festlegt, die die unterdrückten Länder auf dem Weg zum Sozialismus durchlaufen müssen. Der Klasseninhalt der Revolution und der jeweiligen Staatsformen, die diese hervorbringen, ändert sich jedoch je nach Entwicklungsstand des jeweiligen Landes: "Um unser Endziel, den Kommunismus, zu erreichen, müssen wir Marxisten-Leninisten-Maoisten in Perspektive drei Typen von Revolutionen durchführen: 1) Die demokratische Revolution, das ist die bürgerliche Revolution neuen Typs in den rückständigen Ländern, unter der Führung des Proletariats, in deren Verlauf eine gemeinsame Diktatur des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und unter bestimmten Bedingungen der Mittelbourgeoisie unter der Führung des Proletariats errichtet wird; 2) Die sozialistische Revolution in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern, die die Diktatur des Proletariats errichtet; 3) Kulturrevolutionen, sie werden gemacht um die Revolution unter der Diktatur des Proletariats fortzusetzen, um jede Generierung des Kapitalismus zu unterwerfen und zu eliminieren und auch mit den Waffen gegen jedes streben nach Restauration des Kapitalismus zu kämpfen" (Allgemeine politische Linie, S. 19)<br />
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Mit der Theorie der „neuen demokratischen Revolution“ sind spezifische staatstheoretische Grundannahmen verbunden. Die „Neuen Demokratie“ gilt aus maoistischer Sicht als dritte Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats - ihr Klassencharakter ist wesentlich durch einen Klassenkompromiss bzw. ein Klassenbündnis bestimmt: "Die Neue Demokratie. In erster Stelle ist es eine Entwicklung der marxistischen Staatstheorie mit der Festlegung der drei Typen der Diktatur: 1. die Diktatur der Bourgeoisie, in den alten bürgerlichen Demokratien wie in den Vereinigten Staaten, dazu zählen auch die Diktaturen, die in unterdrückten Nationen, wie den lateinamerikanischen existieren, 2. die Diktatur des Proletariats wie in der Sowjetunion oder in China vor der Usurpation der Macht durch die Revisionisten und 3. die Neue Demokratie als gemeinsame Diktatur, die auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern basiert, geführt vom Proletariat mit der Kommunistischen Partei an der Spitze […]." (Über den Marxismus-Leninismus, S. 8) Im Anschluss an Mao und Gonzalo geht die KP Perus davon aus, dass die "Staatssysteme der Welt" auf „drei Grundtypen reduziert werden können, laut ihres Klassencharakters: Republik unter der Diktatur der Bourgeoisie, die auch die Staaten der alten Demokratie ausmachen und die Republik der gemeinsamen Diktatur der Grundbesitzer und Großbourgeoisie; Republiken unter der Diktatur des Proletariats; und Republik unter der gemeinsamen Diktatur der revolutionären Klassen […]." (Allgemeine politische Linie, S. 33.)<br />
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Andere Grundsätzlichere Fragen zum Thema Maoismus, wie die Strategie des „langfristigen Volkskriegs“, die Etappe der "neuen demokratischen Revolution" oder die Theorie des „Zweilinienkampfs“ werden perspektivisch durch die [[AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei]] bearbeitet. Fragen zur Polemik zwischen der Sowjetunion und China über die „friedliche Koexistenz“, die „Kulturrevolution“ und die maoistische Position, die Sowjetunion sei „sozialimperialistisch“ gewesen, gehören zum Arbeitsbereich der [[AG Sozialismus]].<br />
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Eine längere Version dieses Artikels (befindet sich noch in Bearbeitung) findet ihr hier: '''[[Die Staatsfrage im Maoismus]]'''<br />
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Vertreten werden solche oder ähnliche Positionen in Deutschland zum Beispiel von der Sozialistischen Linken (SoL) oder dem mittlerweile aufgelösten Jugendwiderstand (JW).<br />
===Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt)===<br />
Der ''Gegenstandpunkt'' (GSP, früher ''Marxistische Gruppe'') vertritt eine eigene Staatstheorie, die davon ausgeht, der bürgerliche Staat könne aus den abstrakten Kategorien der politischen Ökonomie "abgeleitet" werden. Den Ausgangspunkt dieser Ableitung bildet die einfache Warenzirkulation, in welcher die Warenbesitzer sich wechselseitig als "freie" und "gleiche" Privateigentümer anerkennen. Die Autoren des GSP sehen drei gemeinsame Interessen bei allen Privateigentümern: Die Erhaltung der Revenue, eine möglichst hohe Revenue und den kontinuierliche Fluss der Revenue. Daraus schlussfolgern sie, dass Schutz und Sicherung des Privateigentums, die Sicherung des Wirtschaftswachstums und ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft dem Gesamtinteresse aller Privateigentümer entsprechen, wozu als viertes das Interesse an gleichen Konkurrenzvoraussetzungen hinzutritt. Weil die Privateigentümer aber in der Verfolgung ihrer besonderen Interessen nicht die allgemeinen Interessen durchsetzen können, bedarf es des Staates: "Das besondere Dasein des Staates neben und außer der Gesellschaft der konkurrierenden Privaten – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit – ist das Resultat dieses Widerspruchs zwischen besonderem und allgemeinem Interesse in seinen verschiedenen Existenzweisen. Der Staat verkörpert die Loslösung der allgemeinen Interessen aus der Sphäre der Privaten und ihre Verwaltung in der Sphäre des Staates. Mit der Besonderung des Staates werden die allgemeinen Interessen zu seinen besonderen, deren Verwaltung allein ihm obliegt. <ref> von Flatow, Sybille / Huisken, Freerk: Zum Problem der Ableitung des bürgerlichen Staates, in: Prokla, 7 (1973), S. 121 </ref><br />
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Fertig ausformuliert und in den Reihen des GSP kanonisiert wurde diese "Staatsableitung" von Karl Held in ''Der bürgerliche Staat''. In Helds Analyse wird aus der „Besonderung des Staates“ letztendlich der „Staat als Subjekt“: "Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit und Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert.<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Staat hält hier nicht nur die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Reproduktion aufrecht, er wird zum eigenständigen Subjekt mit eigenen Interessen: "Der souveräne Staat ist eine von den Bürgern getrennte, selbständige Instanz, die mit keinem besonderen Interesse identisch ist und gerade und nur deswegen von allen anerkannte Gewalt ist, weil er sein Interesse, das Allgemeinwohl, gegen die Privatsubjekte durchsetzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref> "In der Unterordnung aller Aufgaben, um deren Erfüllung willen er sich als politisches Subjekt der Ökonomie betätigt, unter das Kriterium des wirtschaftlichen Wachstums, in der Relativierung aller Funktionen entsprechend dieser Zielsetzung der Wirtschaftspolitik fällt der Grund des bürgerlichen Staates – die freie Konkurrenz – unmittelbar zusammen mit seinem Zweck: er ist bewußter Agent des Inhalts der Konkurrenz, die bekanntlich nicht die Individuen, sondern das Kapital in Freiheit setzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates besteht daher beim GSP auch zuallererst darin, dass er nicht im Interesse der einen Klasse eine andere, sondern alle Individuen gleichermaßen unterwirft: "Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, daß er Klassenstaat ist: Durch die gleiche Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der Nutzen aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben." <ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat, URL: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat (29.12.2018) </ref><br />
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Der Staat wird dadurch also wesentlich (und nicht nur oberflächlich) zu einem (klassen)neutralen Subjekt erklärt, welches die äußeren Bedingungen der Konkurrenz organisiert und diese Bedingungen den Warenbesitzern unterschiedslos aufzwingt. <br />
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'''Vertreter:''' Neben dem ''Gegenstandpunkt'', dessen Aktivitäten sich fast auschließlich auf das akademische Milieu konzentrieren, werden diese Positionen auch von vielen studentischen Jugendgruppen in der "linksradikalen" und Antifa-Szene vertreten. Dies hat häufig damit zu tun, dass Leute aus der Szene ihre eigene theoretische Bildung über Lesekreise und Seminare des Gegenstandpunkt erwerben. Besonders in Teilen der ''Sozialistischen Jugend - Die Falken'' lässt sich ein starker ideologischer Einfluss des GSP feststellen, das gleiche Phänomen taucht aber auch immer wieder in Gewerkschaftsjugenden oder ''solid SDS''-Gruppen auf. Besonders stark ist zudem die Überschneidung zu "antinationalen" Gruppen, wie etwa bei der Dortmunder ''Gruppe K''.<br />
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Einen Text zur ausführlicheren Einbettung in den Kontext der "Staatsableitungsdebatte" findet ihr hier: [[Der Staat als Subjekt (Staatsableitungsdebatte)]]<br />
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Einen Hintergrundartikel zum Gegenstandpunkt hier: [https://kommunistische.org/diskussion/standpunkt-gegen-den-marxismus/ Standpunkt gegen den Marxismus (Thanasis Spanidis)]<br />
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===Anarchistische Staatskritik===<br />
Der "Anarchismus" (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) umfasst ein sehr diffuses und heterogenes Spektrum, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Dennoch lassen sich grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Anarchisten vertreten eine politische Haltung, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbstbestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammenschließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. Im Mittelpunkt stehen die Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, und Selbstverwirklichung der Individuen im Rahmen der kollektiven Selbstverwaltung („Autonomie“) möglichst kleiner Organisationseinheiten. Im Anarchismus fließen die Traditionen des bürgerlichen Liberalismus (individuelle Freiheit) und der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen (Kollektivität und Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Heute wird häufig das Adjektiv "libertär" (deutsch: freiheitlich) als Synonym für „anarchistisch“ benutzt.<br />
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An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich aus Sicht der Anarchisten auch schon die Bewegung selbst messen lassen, die für die „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Position so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren, geschweige denn nach der siegreichen Revolution einen eigenen Staat zur Niederhaltung der Unterdrücker und zum Aufbau und zur Verteidigung der Revolution schaffen darf. In Abgrenzung zu solchen individual-anarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen.<br />
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Die anarchistische Staatskritik richtet sich nicht hauptsächlich gegen den bürgerlichen Staat als Klassenstaat der Bourgeoise, sondern lehnt jede Form der Macht, der Autorität und der Staatlichkeit überhaupt als Grundübel der Gesellschaft ab. Der Anarchismus vertritt also in letzter Konsequenz einen klassenneutralen Machtbegriff – er lehnt die Macht nicht als Klassenmacht der Ausbeuter ab, sondern als abstraktes Ding an sich, das aus der Welt geschafft werden soll. <br />
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'''Marx und Engels vs. Bakunin:''' Die erste ausführliche theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. <br />
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Engels fasste die Kritik an der Staatsauffassung Michael Bakunins und der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen: "Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. [...]<br />
Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll,[...] so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität <nowiki>=</nowiki> Staat <nowiki>=</nowiki> absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!" <ref>Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33;Dietz-Verlag; S. 388-389.</ref><br />
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Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der politische Ausdruck dieser Widersprüche ist nicht die Klassenherrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter und alle anderen Werktätigen, sondern die Macht und Autorität des Staates überhaupt. Diese Auffassung hat weitreichende taktische und strategische Konsequenzen (siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]]).<br />
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'''Heutige Vertreter:''' Der Anarchismus in seiner klassischen Form, also als politische Ideologie und Bewegung mit realer Verankerung in der Arbeiterbewegung (wie ihn Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder die spanischen Anarchosyndikalisten vertraten) ist heute kaum mehr präsent. Vulgarisierte Formen des Anarchismus sind dagegen in der "autonomen" Szene und linken Subkulturen nach wie vor sehr weit verbreitet. Neben zahlreichen Splittergruppen, die in der BRD heute ein gemeinsames, hauptsächlich kleinbürgerlich geprägtes Milieu bilden und von der Arbeiterbewegung meist isoliert sind, bildet die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) eine gewisse Ausnahme. Diese Organisation versucht im Rahmen einer kleinen anarchistischen Richtungsgewerkschaft außerhalb der DGB-Gewerkschaften Klassenkämpfe und Streiks zu organisieren.<br />
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Verschiedene "anarchokommunistische" Gruppen und Zusammenschlüsse in Deutschland versuchen Aspekte des Marxismus (gewerkschaftliche Organisation, Klassenkampf, Vergesellschaftung der Produktionsmittel) mit Standpunkten des Anarchismus (Ablehnung von Hierarchien, zentralistischer Organisationsformen und der Diktatur des Proletariats) zu vereinen. Seit Dezember 2018 existiert mit der Initiative [https://www.dieplattform.org/wir/ "die Plattform"] z.B. ein Versuch, einen bundesweiten "plattformistischen" anarchakommunistischen Organisationszusammenhang aufzubauen und im Rahmen einer eigenen Schriftenreihe eine theoretische Debatte anzustoßen.<br />
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Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxistismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff. Die Rojava-Solidarität vereint heute ein politisches Spektrum, dass von der MLPD über die verschiedenen roten Gruppen, die iL, die Linkspartei und bis zu den antinationalen und antideutschen Zusammenhängen reicht.<br />
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==Bezug zu unseren Grundannahmen==<br />
==Wie wollen wir den Dissens klären?==<br />
==Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?==</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Der_Klassencharakter_des_b%C3%BCrgerlichen_Staats&diff=6892Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats2019-12-21T09:08:07Z<p>Dio: /* Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise" */</p>
<hr />
<div>Zurück zur [[AG Formen bürgerlicher Herrschaft]]<br />
==Überblick==<br />
Dieser Artikel soll einen ersten groben Überblick über die verschiedenen Auffassungen zum Klassencharakter des bürgerlichen Staats innerhalb des kommunistischen und im weiteren Sinne "linken" Spektrums geben. Ist der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" die organisierte politische Macht der gesamten Bourgeosie und damit das Instrument ihrer Klassenherrschaft? Oder ist der Staat an sich ein klassenneutraler Apparat, der sowohl für die Zwecke der Kapitalistenklasse, als auch im Interesse der Arbeiter in Bewegung gesetzt werden kann? Ist der Staat im Stadium des Imperialismus nur noch das Herrschaftsinstrument eines kleinen Teils der Kapitalisten, der Monopolbourgeoisie, die ihre Macht mit Hilfe des Staats auch gegen die "kleine und mittlere Bourgeoisie" durchsetzt? Oder ist der bürgerliche Staat nach 1945 gar zu einer "echten Demokratie" geworden, in der die politische Macht nicht mehr von den besitzenden Klassen ausgeht, sondern von der demokratischen Mehrheit?<br />
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Die Unterschiede in der Analyse und die Einschätzung des Klassencharakters des bürgerlichen Staats haben weitreichende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung. Die sich daraus ergebenden Dissense werden an anderer Stelle unter dem Stichwort "'''[[Staat und Revolution]]'''" dargestellt.<br />
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===Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise"===<br />
Die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus (Marx, Engels, Lenin) bestimmten den bürgerlichen Staat als "ideellen Gesamtkapitalisten" und als Instrument der "Diktatur der Bourgeosie". <br />
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Schon im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 schrieben Marx und Engels: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. […] Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." (MEW 4, S. 464, 482) Diese Definition des Staates als „Ausschuss“ zur Regelung der „gemeinschaftlichen Geschäfte“ der Bourgeoisie deckt sich mit der späteren Formulierung von Engels, in der er den bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnete: "Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten […] nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. (Engels, Zur Wohnungsfrage MEW 18, S.257-258) Der Staat schützt die kapitalistische Produktionsweise sowohl gegen den Widerstand der Arbeiter als auch gegen die sich widersprechenden Einzelinteressen individueller Kapitalisten. Laut Engels setzt der „ideelle Gesamtkapitalist“ also das Interesse der gesamten herrschenden Klasse nicht nur gegenüber dem Proletariat, sondern auch gegenüber ihrer einzelnen Klassenindividuen durch: "der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." (Engels, Anti-Dühring (1877), MEW 20, S. 260) <br />
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Der Staat ist also einerseits Instrument zur Unterdrückung der Arbeiter und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse, gleichzeitig ist er notwendig, um die Bourgeoisie über die kapitalistische Konkurrenz hinweg zu Kompromissen zu zwingen und sie so erst als herrschende Klasse zu organisieren.<br />
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Lenin führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine scharfe Polemik gegen die Revisionisten und Reformisten in der deutschen und russichen Sozialdemokratie. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fasste er die Staatsauffassung von Marx und Engels in seiner Schrift ''Staat und Revolution'' (1917) zusammen: "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen 'Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. (LW 25, S. 399) Der Staat ist demnach eine Macht, "die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben. Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt ‚nicht mehr unmittelbar zusammenfällt‘ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer ‚selbsttätigen bewaffneten Organisation‘. [...] Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?" (LW 25, S. 401)<br />
Abschließend fasste Lenin seine Studien zur marxschen Staatsauffasung schließlich in der Bestimmung des bürgerlichen Staats als „Diktatur der Bourgeoisie“ zusammen: "Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist […]. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie." (LW 25, S. 425)<br />
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Von dieser Analyse ausgehend formulierten die Klassiker die strategische Orientierung auf die "Zerschlagung des bürgerlichen Staats" und die Errichtung der "Diktatur des Proletariats". Siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]].<br />
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Für eine ausführliche Aufstellung der hier zitierten Quellen siehe: [[Grundannahmen Staat]]<br />
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===Der Staat als klassenneutrales Instrument===<br />
Vertreter dieser Auffassung gehen davon aus, dass der bürgerliche Staat und seine Organisationsapparate an sich klassenneutrale Instrumente sind. Das heißt sie werden unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen zwar von der Bourgeoisie benutzt, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen, die Arbeiterklasse niederzuhalten und die Bedingungen der Kapitalakkumulation möglichts günstig zu gestalten, könnten unter anderen Bedingungen, zum Beispiel nach dem Wahlsieg einer Arbeiterpartei, aber genausogut im Interese des Proletariats in Bewegung gesetzt werden, zum beispiel um den Kapitalismus durch Sozialreformen allmählich in den Sozialismus zu überführen. Die Instrumente selbst, also die Staatsorganisationen vom Parlament über die Verwaltungs- bis hin zu den Repressionsorganen, verhalten sich dieser Auffassung nach also neutral zu den Zwecken ihrer Anwendung. Weder ihre konkrete Organisationsform noch das Personal, aus dem sie bestehen, tragen demnach Klassencharakter. Diese Auffassung steht im Widerspruch zu der Position, der bürgerliche Staat sei seiner Form und seinem Klasseninhalt nach "ideeller Gesamtkapitalist" und Ausdruck der "Diktatur der Bourgeoisie" (s.o.).<br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):'''<br />
Die klassischen Vertreter einer solchen Staatsauffassung waren die „Revisionisten“ in der deutschen Sozialdemokratie, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen und zentrale Annahmen des wissenschaftlichen Sozialismus zu "revidieren" begannen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Eduard Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. <br />
<br />
Bernstein bestritt in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899) die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Aufhebung des bürgerlichen Staats und schlug stattdessen einen friedlichen und demokratischen Reformweg zum Sozialismus vor. Bernstein argumentiert, die bisherige Ausrichtung der Sozialdemokratie auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus sei durch die Realität überholt. Das kapitalistische System habe sich als weitgehend krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, ein „Zusammenbruch“ des Kapitalismus bzw. eine revolutionäre Situation sei nicht mehr zu erwarten. Die Aufgabe der SPD sei es nun, im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch „Sozialreformen“ Verbesserungen für die Arbeiterklasse und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards zwischen den Klassen durchzusetzen. Den Weg, um diese Ziele zu erreichen, sah Bernstein in der schrittweisen Ausdehnung des parlamentarischen Einflusses der Sozialdemokratie bis hin zur Übernahme der Regierung. Diese würde dann weitreichende Reformen im Sinne der Arbeiterklasse und des Sozialismus durchsetzen. Das entsprechende Credo des Reformismus lautete: „der Weg ist alles, das Ziel ist nichts.“<br />
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Der klassische Reformismus setzt notwendig eine bestimmte Auffassung über den bürgerlichen Staat voraus. Wenn es möglich sein soll, den Kapitalismus allmählich durch Sozialreformen zu überwinden, so muss es auch möglich sein, dass die Arbeiterklasse diese Reformen im Staatsapparat gegen den Willen der Bourgeoisie durchsetzt oder diese zumindest zu Kompromissen zwingt – und zwar so weit, dass die Gesellschaft immer mehr sozialistische Züge annimmt und der Staat letztlich aufhört, bürgerlicher Staat zu sein und allmählich zu einem Instrument in den Händen der Arbeiterklasse wird. Dieses Instrument an sich muss also „klassenneutral“ sein und je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse sich entwickeln, kann es sowohl von der einen, als auch von der anderen Klasse kontrolliert und im eigenen Interesse eingesetzt werden. Der Staat steht in dieser rein instrumentalistischen Sichtweise der ihm zugrunde liegenden Produktionsweise also äußerlich gegenüber, er besitzt keine innere Verbindung zu ihr. Der Überbau scheint unabhängig von seiner ökonomischen Basis agieren zu können. Der bürgerliche Staat wird aus dieser Sichtweise nicht als spezifisches, den Klasseninteressen der Bourgeoisie entsprechend geformtes Werkzeug verstanden. Ergo kann das Proletariat dieses Werkzeug unverändert übernehmen, anstatt sich einen eigenen Apparat zu schaffen, der den spezifischen Erfordernissen und Klasseninteressen der Arbeitermacht entspricht.<br />
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'''Eurokommunismus:'''<br />
Ab den 1970er Jahren knüpften die sogenannten "Eurokommunisten" mit vielen ihrer Positionen an die theoretische Tradition des klassischen Revisionismus an, begründeten ihre Haltung aber damit, dass die Kräfteverhältnisse und somit auch der Charakter des bürgerlichen Staats sich nach 1945 grundlegend geändert hätten. Daher seien der „sowjetische Weg zum Sozialismus“ und die Diktatur des Proletariats als historischer Sonderfall überholt und Europa mittlerweile in eine Epoche der demokratischen Übergänge eingetreten. Sie vertraten die Einschätzung, die bürgerliche Demokratie sei nach dem Sieg über den Faschismus im Westen zu sehr gefestigt, als dass die Herrschenden gewaltsam gegen einen demokratischen Übergang zum Sozialismus vorgehen könnten. Die Hauptvertreter des Eurokommunismus waren die kommunistischen Parteien Frankreichs (PCF), Italiens (PCI) und Spaniens (PCE).<br />
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Die eurokommunistische Strategie des friedlichen, parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus ging mehr oder weniger offen davon aus, dass der Staat als ein „Feld im Klassenkampf" aufzufassen sei, auf dem sich zwar die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen widerspiegeln, das an sich aber klassenneutral sei. Durch Veränderungen der politischen Mehrheiten sollten der Staat und seine Institutionen durch die Kommunisten kontrolliert und im Sinne der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden. Die Regierung sollte ein Reformprogramm umsetzen, das die Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung Sozialismus entwickeln würde. Auch im Sozialismus sollte der bürgerlich-liberale Parlamentarismus als politische Herrschaftsform bruchlos beibehalten werden: „Die repräsentative Demokratie, kombiniert mit Formen der direkten Demokratie, kann ohne weiteres auch die Form des sozialistischen Systems sein.“<ref>zitiert nach: Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen, 1977.</ref> In Teilen der eurokommunistischen Strömung wurde sogar die Notwendigkeit der Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Länder in imperialistischen Staatenbündnissen wie der EG und der NATO offen verteidigt. Ausführlich dargelegt ist das Staatsverständnis der Eurokommunisten in Santiago Carrillos ''Eurokommunismus und Staat''<ref>Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.</ref>. <br />
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Ausführlicherer Artikel: [[Eurokommunistische Staatsauffassung]]<br />
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'''Andere Vertreter:'''<br />
Auch heute gibt es zahlreiche "linke" Vertreter dieser Auffassung. Die Annahme, der bürgerliche Staat sei ein grundsätzlich klassenneutrales Instrument, bildet die Voraussetzung jeder Strategie, die auf den Eintritt in die bürgerliche Regierung zum Zweck der Umsetzung von Reformen abzielt. Das gilt eindeutig für die deutsche ''Linkspartei'' und ihre europäischen Geschwisterorganisationen, allen voran die einflussreiche griechische ''SYRIZA''. Auch die "antimonopolistische Strategie" der DKP unterstellt letztlich eine Klassenneutralität des Staats der Monopole (s.u.). In unterschiedlichen Abstufungen wird diese Auffassung auch von den "bolivarischen Bewegungen" bzw. den Vertretern eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien etc. vertreten.<br />
<br />
===Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole===<br />
Eine seit 1945 weit verbreitete Position geht davon aus, dass der bürgerliche Staat im Monopolkapitalismus nicht mehr das Interesse der gesamten herrschenden Klasse vertritt, sondern sich zum alleinigen Herrschaftsinstrument der Monopole entwickelt. Diese Vorstellung beruft sich häufig auf die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (s.o.) und ist eng verbunden mit den verschiedenen Varianten der [[Strategie der Übergänge]]. <br />
<br />
'''Deutsche Kommunistische Partei (DKP):'''<br />
Die DKP vertritt seit ihrer Gründung eine Strategie der "antimonopolistischen Demokratie" (AMD). Diese wurde erstmals im Programm von 1978 explizit ausformuliert und beschlossen. Auch im Programm von 2006 bildet die AMD, von einigen kleineren Relativierungen abgesehen, noch immer den Kern der strategischen Vorstellungen der DKP. <br />
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Zu den wichtigsten Grundannahmen der AMD gehört, dass der bürgerliche Staat zu einem Instrument in den Händen der Monopole, also einer Handvoll Finanzoligarchen innerhalb der Bourgeoisie, geworden ist. Der Staat, so die These, setzt deren Profitinteressen rigoros gegen alle „nicht-monopolistischen Schichten“, also nicht nur gegen die Arbeiterklasse und alle anderen Werktätigen, sondern auch gegen die „kleine und mittlere Bourgeoisie“ durch. Der bürgerliche Staat vernachlässigt aus dieser Sicht also gewissermaßen seine Aufgabe als „ideeller Gesamtkapitalist“ und verkörpert gegenüber der gesamten Gesellschaft (und einem Großteil der Bourgeoisie) nicht mehr das langfristige Gesamtinteresse aller Kapitalisten, sondern einseitig das Partikularinteresse des Monopolkapitals. <br />
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Im DKP-Programm von 2006 heißt es dazu: "Als Machtinstrument der Monopolbourgeoisie setzt er [der Staat] immer unverblümter eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durch. An die Stelle der sozialen Integration tritt die Konfrontation. Der bürgerliche Staat verliert tendenziell seine Fähigkeit zur sozialen und politischen Vermittlung, weil die Basis für die Organisierung stabilerer sozialer Kompromisse, die größere Teile der Gesellschaft einbeziehen, verloren geht. So wird die bürgerliche Demokratie ausgehöhlt und verliert ihren Inhalt. Bei Beibehaltung formaler Demokratie vollzieht sich der Übergang vom 'Sozialstaat' zum autoritären 'Sicherheitsstaat'." (S. 12) <br />
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Damit wird zwar der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht geleugnet, aber eine neue strategische Bruchlinie zwischen den Monopolen und allen „nicht-monopolistischen“ Schichten aufgemacht, die aus dieser Sicht nun in Opposition zum "Staat der Monopole" geraten. Entlang dieser Linie soll sich ein „antimonopolistisches Bündnis“ formieren, das neben der Arbeiterklasse nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch bedeutende Teile der „nicht-monopolistischen“ Bourgeoisie umfassen soll (siehe dazu das Programm von 2006, S. 33). Dieses Bündnis hat zwar nicht den Sozialismus zum Ziel, wohl aber eine Zwischenetappe der „antimonopolistischen Übergänge“, in deren Rahmen die Kommunisten sich an der Regierungsmacht beteiligen und zunächst im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise eine politische „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ durchsetzen sollen.<br />
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Diese Vorstellung eines weitgehend bruchlosen Übergangs des Staatsapparats aus den Händen der einen in die Hände der anderen Klasse unterstellt eine instrumentalistische Sicht auf den Staat und behandelt diesen in letzter Konsequenz als ''klassenneutrales Werkzeug'' (s.o.). Zugespitzt formuliert: Der Klassencharakter des Staates scheint sich aus Sicht der Vertreter der antimonopolistischen Strategie nicht aus seiner Funktionsweise und seinem Wesen, sondern aus den politischen Kräfteverhältnissen zu ergeben. Ändert die Regierung ihren Klassencharakter von „monopolistisch“ zu „nicht-monopolistisch“, so ändert sich demzufolge auch der Klassencharakter des Staates. <br />
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Hier geht es zu einer längeren Version dieses Artikels: [http://%E2%80%9EAntimonopolistische_Demokratie%E2%80%9C_(DKP) Antimonopolistische Demokratie]<br />
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'''Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD):'''<br />
Zu den wichtigsten Alleinstellungsmerkmalen der Theorie und Programmatik der MLPD gehört der Begriff der „Übermonopole“ (siehe dazu den Entsprechendne Artikel [[Imperialismus_als_Weltsystem|"Imperialismus als Weltsystem"]] der AG Politische Ökonomie], der auch ihre Analyse des bürgerlichen Staats der Gegenwart wesentlich prägt: "Die hier ansässigen internationalen Übermonopole, die zum allein herrschenden internationalen Finanzkapital gehören, haben sich den Staat vollkommen untergeordnet, und die Organe des Monopolkapitals sind mit den Organen des Staatsapparats verschmolzen. Sie haben ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft, auch über andere Monopole und die nicht monopolisierten Kapitalisten, errichtet. Über die Organe der EU nehmen sie Einfluss auf andere europäische Staaten." (Programm der MLPD)<br />
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Die MLPD geht also davon aus, dass sich diese „Übermonopole“ den bürgerlichen Staat „vollkommen untergeordnet“ haben – aus dieser Formulierung kann geschlussfolgert werden, dass der Staat nicht mehr als „ideeller Gesamtkapitalist“ das Gesamtinteresse des Kapitals vertritt, sondern von der Fraktion der „Übermonopole“ bzw. des „allein herrschenden Finanzkapitals“ allen anderen Teilen der Bourgeoisie gegenüber als Herrschaftsinstrument benutzt wird. Zudem geht die MLPD davon aus, dass die „Organe des Monopolkapitals“, die im vorangegangenen Stadium des Kapitalismus scheinbar noch unabhängig vom und außerhalb des Staatsapparates existierten, heute vollständig mit diesem „verschmolzen“ sind. <br />
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Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Programmatik der MLPD findet sich hier: [https://kommunistische.org/diskussion/einschaetzung-der-programmatik-der-mlpd/ Philipp Kissel, Einschätzung der Programmatik der MLPD].<br />
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Die Positionen der MLPD zum bürgerlichen Staat entnehmen wir ihrem zuletzt 2016 überarbeiteten Parteiprogramm.<ref>https://www.mlpd.de/parteiprogramm</ref><br />
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===Staatsmonopolistischer Kapitalismus===<br />
Hier soll kurz dargestellt werden, wie die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus den klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt. In welchem Verhältnis stehen Staat und Monopole? Ist der Staat alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole oder auch "ideeller Gesamtkapitalist", also Ausdruck der Herrschaft der gesamten Bourgeoisie?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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Siehe hierzu den Dissens [[Monopole und Staat]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus.<br />
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===Der Staat als "echte Demokratie"===<br />
Die Position, der bürgerliche Parlamentarismus auf der ökonomischen Basis der kapitalistischen Produktionsweise sei eine "echte Demokratie" läuft letztlich auf die Position hinaus, die gesellschaftlichen Verhältnisse würden nicht von der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie, sondern von der politischen Mehrheit bestimmt. Die Frage des Klassencharakters der Staats wird also reduziert auf eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Je nach dem, ob die Bourgeoisie oder die Arbeiterklasse im demokratischen Prozess mehr Kontrolle über den Staatsapparat ausübt, verschiebt sich auch dessen Klassencharakter. Diese Auffassung setzt zugleich ein Verständnis des Staates als ''klassenneutrale Instrument'' voraus (siehe oben). <br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):''' <br />
Die Vorstellung einer fortschreitenden Demokratisierung des bürgerlichen Staats und einer damit einhergehenden Verwandlung seines Klassencharakters spielten eine zentrale Rolle im Denken des klassischen Revisionismus. Rosa Luxemburg polemisierte schon 1899 gegen Eduard Bernstein: „die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie [sei] eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie.“ <ref> Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), Zweiter Teil </ref> Bürgerliche Demokratie und Parlamentarismus waren für Bernstein nicht taktische Mittel im Klassenkampf, sondern tatsächlicher Ausdruck der Herrshaft durch das Volk bzw. die Mehrheit, also der Arbeiterklasse: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. […] Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“<ref>Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.154-156.</ref> Für die Strategie der Arbeiterbewegung heißt das: „die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.“<ref>Ebd., S. 154-156.</ref> Die Arbeiterbewegung soll sich also darauf beschränken, im legalen Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus für Reformen und schrittweise Verbesserungen zu kämpfen. Der bürgerliche Staat ist dabei nicht ihr Gegner, sondern ihr Werkzeug. Die taktische Herausforderung besteht demnach einzig darin, auf demokratischem Weg in die Position zu gelangen, dieses Werkzeug für die eigenen Zwecke nutzen zu können.<br />
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'''Position von SYRIZA:''' <br />
Die griechische "Linkspartei" SYRIZA argumentiert in ihrem Regierungsprogramm, „der Staat [sei] keine Festung, sondern ein Netzwerk, ein Verhältnis und eine strategische Arena für den politischen Kampf. Er verändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, im Gegenteil, seine notwendige Transformation hat konstante und kontinuierliche Kämpfe zur Voraussetzung, die Einbeziehung des Volkes, ständige Demokratisierung.“ (Quelle: S''YRIZAs Regierungsprogramm''<ref>Zitiert nach einem auf Englisch erschienenen Artikel der KKE, ins Deutsche Übersetzt. URL: https://inter.kke.gr/en/articles/Criticism-of-certain-contemporary-opportunist-views-on-the-state/ (9.1.2019)</ref>) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der bürgerliche Staat von SYRIZA nicht seinem Wesen nach als ein Organ der bürgerlichen Klassenherrschaft angesehen, sondern als eine Ansammlung von Institutionen, die im Interesse des Volkes „transformiert“ werden können. Auf Grundlage dieser Sichtweise wird argumentiert, dass der Charakter des bürgerlichen Staats durch die richtigen politischen Kräfteverhältnisse geformt oder gar "transformiert" werden kann, solange sich nur „linke Regierungen“ durchsetzen können. <br />
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'''Position der DKP:''' <br />
Die DKP bleibt in ihrer Einschätzung der bürgerlichen Demokratie widersprüchlich. Einerseits ist in ihrem Programm von 2006 zwar die Rede davon, dass sich durch die "Globalisierung" die "Tendenz zur Reaktion" verschärft, dass die Demokratie untergraben wird (siehe S. 12) und dass letztlich eine "revolutionäre Überwindung" (S. 28) des Kapitalismus nötig sei. Andererseits gehört es jedoch zu den Kernthesen ihrer "antimonopolistischen Startegie", dass noch auf dem Boden der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und innerhalb des institutionellen Rahmens des bürgerlichen Staats umfassende Reformen und sogar eine "antimonopolistisch-demokratische Umgestaltung" (S. 32) möglich seien: "Je mehr es dabei gelingt, Veränderungen im Sinne von Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, von demokratischer Kontrolle, von Entmilitarisierung und Demokratisierung in Staat und Gesellschaft zu erreichen, je größer der Einfluss der demokratischen und sozialistischen Kräfte überall dort ist, wo Meinungsbildung stattfindet, desto besser sind die Chancen im Kampf um die Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und für die Öffnung des Weges zum Sozialismus. [...] Es geht um die [...] demokratische Einflussnahme auf den staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus im nationalen Rahmen wie im Rahmen der Europäischen Union und anderer internationaler staatsmonopolistischer Institutionen". (S. 30) Diese Vorstellung läuft letztlich also darauf hinaus, die Kommunisten und „Demokraten“ könnten den ideellen Gesamtkapitalisten dem Einfluss der Klasseninteressen der Bourgeoisie entreißen und ihrem eigenen politischen Willen unterwerfen.<br />
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'''Andere Vertreter:''' Ebenfalls weit verbreitet sind Vorstellungen über den demokratischen Charakter des bürgerlichen Staats in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dort gehört der Begriff der „Mitbestimmung“ nicht umsonst zum ideologischen Kernrepertoire. Die Vorstellung, im Betrieb ließe sich zwischen Kapital und Arbeit auf Augenhöhe eine demokratische Mitbestimmung und dadurch ein Interessenausgleich verwirklichen, bildet das Herzstück der Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Ähnliche Sichtweisen werden heute außerdem in einer Reihe lateinamerikanischer Länder gepflegt. Verschiedene „fortschrittliche“ und „linke“ Regierungen versuchen unter dem Banner des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bzw. der „bolivarischen Revolution“ das bürgerliche Staatsystem durch Gesetzesreformen und Volksabstimmungen grundlegend zu veränden.<br />
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==="Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci)===<br />
Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, verfasste in den 1920er und 30er Jahren in faschistischer Gefangenschaft seine „Gefängnishefte“, ein umfangreiches theoretisches Werk, dessen einzelne Bestandteile Gramsci unter den Bedingungen seiner Haft leider nicht mehr zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen konnte. Zu den wichtigsten Aspekten dieses Werks gehören Gramscis Überlegungen zur besonderen Form der Herrschaft der Bourgeoisie in den entwickelten imperialistischen Ländern und die daraus abgeleiteten Weiterentwicklungen der marxistischen Staatstheorie.<br />
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In den Gefängnisheften bringt Gramsci den Staat und die Herrschaft der Bourgeoisie auf die kurze Formel: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang" (H. 6, §88., S. 783)<ref>Antonio Gramsci, Gefängnisgefte. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1991. Im Folgenden wird aus den Gefängnisheften nur noch in Klammern nach Heft Nr., Paragraph und Seitenzahl zitiert.</ref><br />
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Gramsci weitet den Staatsbegriff damit aus und entwickelt sein Konzept des "integralen Staates". Dieser umfasst einerseits die "politische Gesellschaft", womit alle explizit staatlichen Strukturen und Institutionen gemeint sind, also das Parlament, die Beamtenapparate, die Repressionsorgane, die staatlichen Bildungseinrichtungen etc. Andererseits betrachtet Gramsci aber auch die "Zivilgesellschaft" als Teil der bürgerlichen Staatlichkeit. Gemeint sind damit alle Strukturen außerhalb der Staatsapparate, über die die Bourgeoisie ihre Herrschaft absichert, also private Medien, Bildungsstätten, Institute, Stiftungen, Clubs, Thinktanks etc. Mit Blick auf den Sieg der Oktoberrevolution in Russland und die darauffolgenden Niederlagen der Revolutionsversuche in Westeuropa schrieb Gramsci: "Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand;" (H. 7, §16., S. 873-874) An anderer Stelle heißt es: "zumindest was die fortgeschrittenen Staaten angeht, wo die 'Zivilgesellschaft' eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften 'Durchbrüchen' des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg." (H. 13, §14, S. 1553-1554) Die Stabilität der bürgerlichen Herrschaft hängt demnach also wesentlich davon ab, inwieweit die Zivilgesellschaft herausgebildet und die "Hegemonie" der Bourgeoisie enwickelt ist. <br />
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Mit dem Begriff der Hegemonie versucht Gramsci der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass sich die Macht der Bourgeoisie nicht nur auf das Staatliche Gewaltmonopol und die Repressionsapparate stützt, sondern wesentlich über ideologische Integration und die Erzeugung von "Konsens" abgesichert wird. Hegemonie bezeichnet also die politisch-ideologische Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über eine andere. "Die 'normale' Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne daß der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt, sondern im Gegenteil sogar versucht wird, zu erreichen, daß der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint […]" (H. 13, §37, S. 1607-1613). Konsens bezeichnet hier einen Zustand, in dem die Beherrschten die Herrschaft zumindest passiv ertragen oder sogar aktiv die Sichtweise übernehmen, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse entsprächen auch ihren Interessen und seien die bestmöglichen. Gramsci schreibt, dass "eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. […] Die politische Führung wird zu einem Aspekt der Herrschaft, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Klassen zur Enthauptung derselben und zu ihrer Machtlosigkeit führt. Es kann und muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben." (H. 1, §44, S. 101-113) <br />
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Heute wird der Begriff der Hegemonie fast ausschließlich Gramsci zugeschrieben, dabei war er zu dessen Lebzeiten unter den Theoretikern der Kommunistischen Internationale weit verbreitet und wurde breit diskutiert. Wie Buci-Glucksmann bemerkt, war er "im gesamten Marxismus der Dritten Internationale überaus geläufig. Man findet ihn vor allem unter der Feder Lenins vor 1917, aber auch später. Man finet ihn ebenso oft bei Bela Kun, Varga, Stalin, und vor allem Bucharin, der ihn in einer Weise benutzte, die der Gramscis nahezustehen scheinen könnte". <ref>Buci-Glicksmann, Gramsci und der Staat, S. 17.</ref> <br />
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Die "führende Klasse" oder Klassenfraktion ist laut Gramsci in ihrem Ringen um Hegemonie also in der Regel darum bemührt, alle anderen Fraktionen ihrer Klasse und ihrer "verbündeten Klassen" in ihren "Block an der Macht" zu integrieren. Das gelingt nur, indem sie mit diesen anderen Fraktionen ein Komprimissprogramm aushandelt, das bestmöglich das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse zusammenfasst und deren innere Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Der Ort, an dem diese Kompromisse ausgehandelt und schließlich in politische Praxis übersetzt werden, ist der bürgerliche Staat selbst. Gegenüber den "feindlichen Klassen" (also dem Proletariat und den anderen Werktätigen) tritt die Bourgeoisie als "herrschend" auf, sie übt ihre Hegemonie einerseits durch integration ihrer ideologischen Führer und andererseits durch materielle Zugeständnisse aus: "Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, daß sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, daß also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, daß solche Opfer und ein solcher Kompromiß nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt." (H. 13, §18, S. 1565-1573) Gramsci beschreibt in dieser Formulierung den grundsätzlichen Klassencharakter des Staates. Die Kompromisse können nie "das Wesentliche" betreffen - also die kapitalistische Produktionsweise - sondern sich nur in deren Rahmen Bewegen. <br />
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Gramscis Staatstheorie knüpft eindeutig an die Auffassung des Staats als "ideeller Gesamtkapitalist" (s.o.) an, indem sie einerseits die Integration der gesamten herrschenden Klasse in einem "historischen Block" betont und andererseits die zumindest passive Einbindung der Beherrschten im Rahmen der Hegemonie betont. Mit einer Staatsauffassung, die den bürgerlichen Staat im Monopolkapitalismus als "alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole" (s.o.) versteht, ist Gramscis Ansatz kaum zu vereinbaren. <br />
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Mit Blick auf den Staat schreibt Gramsci außerdem, dieser sei "das Instrument zur Anpassung der Zivilgesellschaft an die ökonomische Struktur". (H. 10.II, §15, S. 1267) Dabei spielen Medien und andere ideologische Apparate eine entscheidende Rolle: "Was 'öffentliche Meinung' genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der 'Zivilgesellschaft' und der 'politischen Gesellschaft', zwischen dem Konsens und der Gewalt. Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft. […] die öffentliche Meinung, wie sie heute Verstanden wird, ist am Vorabend des Untergangs der absolutistischen Staaten entstanden, das heißt in der Zeit des Kampfes der neuen bürgerlichen Klasse um die politische Hegemonie und die Erlangung der Macht. […] [Es entbrennt ein] Kampf ums Monopol der Organe der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, Parlament". (H. 7, §83, S. 916-917)<br />
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Verliert die herrschende Klasse ihre Hegemonie so kommt es zur "Hegemonie-" bzw. "Autoritätskrise": "Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr 'führend', sondern einzig 'herrschend' ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die große Masse sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann". (H. 3, §34, S. 354-355) Der Verlust der Hegemonie darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem automatischen Verlust der Macht, schließlich verfügt die herrschende Klasse auch bei schwindendem Konsens noch immer über die Mittel des Zwangs. <br />
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Zu den strategischen Schlussfolgerungen, die Gramsci aus seiner Staatstheorie ableitete, siehe den Dissens-Artikel zu [[Staat und Revolution]] und dort den Abschnitt "Bewegungs- und Stellungskrieg". <br />
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Einige offene Fragen zu Gramsci und seiner Staatstheorie werden von unserer AG tiefergehend behandelt werden: Handelt es sich dabei um einen wegweisenden Beitrag zur marxistischen Staatstheorie im Zeitalter des Imperialismus und des entwickelten bürgerlichen Staats, an den die Kommunisten anknüpfen und den sie weiterentwickeln müssen? Oder enthält Gramscis Theorie bereits wesentliche revisionistische Abweichungen, die es den verschiedenen opportunistischen Strömungen, die sich heute auf ihn berufen, leicht machten, seine Theorie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?<br />
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==="Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas)===<br />
Nicos Poulantzas war ein griechischer Theoretiker, der in den 1960er und 70er Jahren eine Reihe an marxistischen Studien verfasste. Er sympathisierte nach 1968 mit der eurokommunistischen griechischen kommunistischen Partei des Inlands (KKE-Inland) und stand – in Frankreich lebend - in kritischer Distanz zur Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). In seinen klassen- und staatstheoretischen Schriften ist der Einfluss u.a. von Louis Althussers Strukturalismus sowie [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #"Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci) | Antonio Gramscis Hegemonietheorie]] sichtbar. In der marxistischen Debatte um den Staat hat Poulantzas tiefe Spuren hinterlassen, was primär zurückgeführt werden kann auf seine Konzeption des Staates als „Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“. Historisch bedeutsam war dabei zunächst die Auseinandersetzung mit Ralph Miliband; im deutschsprachigen Raum wurde seine Theorie u.a. über Joachim Hirsch und Alex Demirovic wieder in die Diskussion eingebracht.<br />
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Poulantzas formuliert in der Einleitung zur „Staatstheorie“ den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Es ist nicht der Klassencharakter des Staates, der zur Debatte steht: „Jeder Staat ist ein Klassenstaat; jede politische Herrschaft ist Klassendiktatur; der kapitalistische Staat ist ein Staat der Bourgeoisie; der kapitalistische Staat im Allgemeinen und jeder kapitalistische Staat im Besonderen sind Diktaturen der Bourgeoisie“ (Staatstheorie S. 155), all dies sind für ihn „Banalitäten“ - zwar richtig, aber nicht weiter ausführenswert. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, vielmehr stellt es sich hier neu: „[W]arum greift die Bourgeoisie in ihrer Herrschaft auf diesen nationalen Volksstaat zurück, diesen modernen Repräsentativ-Staat mit seinen spezifischen Institutionen, und nicht auf einen anderen? Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich genau diesen Staat aussuchen würden, wenn sie den Staat komplett selbst und nach ihrem Geschmack aufbauen würden.“ (Staatstheorie, S. 40). Eine verwandte Frage hatte bereits der sowjetische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis knapp 50 Jahre, vorher gestellt: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“1 Poulantzas gibt in der Einleitung auch eine vorläufige, knappe Antwort auf die von ihm formulierte Frage: „Der Staat stellt ein materielles Gerüst dar, das in keiner Weise auf die politische Herrschaft reduziert werden kann. Der Staatsapparat, dieses besondere und furchterregende Etwas, erschöpft sich nicht in der Staatsmacht. [...] Wenn der Staat nicht einfach ein vollständiges Produkt der herrschenden Klassen ist, so haben sie sich seiner auch nicht einfach bemächtigt: Die Macht des Staates (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) hat in dieser Materialität ihre Spuren hinterlassen. Die Handlungen des Staates reduzieren sich nicht auf die politische Herrschaft, sie sind jedoch konstitutiv von ihr gezeichnet.“ (Staatstheorie, S. 42)<br />
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Eine wichtige Aufgabe des Staates sieht Poulantzas in der Repräsentation und Organisation der herrschenden und der Desorganisation der beherrschten Klassen. Die Bourgeoisie ist keine widerspruchsfreie Einheit. Sie verfolgt zwar zwangsläufig als Klasse einheitlich das Ziel der Kapitalverwertung, dieses Ziel bringt sie aber auch in direkte Konkurrenz untereinander, weshalb, wie Engels sagt, der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert. Poulantzas zufolge ist die Kapitalistenklasse in Klassenfraktionen gespalten, die unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Interessen verfolgen. Diese Klassenfraktionen formieren sich unter der Hegemonie einer Fraktion zu einem „Block an der Macht“, in welchen auch andere herrschende Klassen miteinbezogen werden. Die Hegemonie einer Fraktion bedeutet dabei, dass diese die äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Sinne optimieren kann; und diese Hegemonie erst ermöglicht die Einheit dieses Blocks gegenüber den beherrschten Klassen. Poulantzas betont, dass nicht nur Teile der Bourgeoisie (etwa das Monopolkapital) den Machtblock stemmen: „Diese bürgerlichen Fraktionen sind in ihrer Gesamtheit, obwohl in unterschiedlichem Maße, auf dem Terrain der politischen Herrschaft angesiedelt, und gehören somit immer zum Block an der Macht“ (Staatstheorie S. 159). Dieser Machtblock ist aber konfliktdurchzogen, er stellt ein umkämpftes, instabiles Kompromissgleichgewicht dar: „Der Machtblock stellt eine von inneren Widersprüchen gekennzeichnete Einheit von politisch herrschenden Klassen und Fraktionen unter dem Schutz der hegemonialen Fraktion dar. Der Klassenkampf, die Interessenrivalitäten zwischen den gesellschaftlichen Kräften sind darin ständig gegenwärtig, wobei diese Interessen ihren spezifischen Antagonismus bewahren“ (PMGK, S. 239). In diesem Sinne ist die konkrete Politik des Staates und die Hegemonie im Machtblock immer umkämpft, und dieser Kampf wird im Staat, in seinen ideologischen (Medien, Think Tanks, …) aber auch repressiven Apparaten (Polizei, Armee, …) ausgetragen.<br />
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Um die „Rolle der Vereinheitlichung und Organisierung der Bourgeoisie und des Blocks an der Macht“ (Staatstheorie, S. 158) zu erfüllen, muss der Staat laut Poulantzas eine „relative Autonomie“ gegenüber den einzelnen Bestandteilen des Blocks bewahren: „Unter relativer Autonomie dieses Staatstyps verstehe ich […] das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Feld des Klassenkampfes, insbesondere seine relative Autonomie gegenüber den Klassen oder Fraktionen des Machtblocks und in erweiterter Form auch gegenüber seinen Verbündeten oder Stützen […] Ich hoffe, damit klar genug die Distanz auszudrücken, die diese Auffassung des Staats von einer simplifizierten und vulgarisierten Auffassung des Staats trennt, die in ihm das Werkzeug oder Instrument der herrschenden Klasse sieht“ (PMGK S. 256).<br />
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Der Staat als Instrument (siehe auch die Abschnitte zum Staat als [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als klassenneutrales Instrument | klassenneutrales Instrument]] und als [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole | alleiniges Instrument der Monopole]]) und der [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt) | Staat als Subjekt]]: dies beides sind aus Poulantzas‘ Sicht falsche Staatsverständnisse, die er umschiffen will mit dem Verständnis des Staates als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses. Der Staat als Instrument/Werkzeug/Sache unterstellt eine Passivität oder Neutralität des Staates. Dieser wird als ein Apparat verstanden, der zur Ausübung der politischen Macht von der herrschenden Klasse oder auch einer Klassenfraktion verwendet wird, der aber eben auch so wie er ist übernommen werden kann, um gegen die herrschende Klasse gewendet zu werden. Eine Autonomie des Staates ist ausgeschlossen. Eine solche instrumentalistische Konzeption des Staates sieht Poulantzas in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der eurokommunistischen PCF in den 1970ern: „An dieser Konzeption kritisierte ich vor allem, dass sie zu der Vorstellung des mit dem Monopolkapital »fusionierten« Staates führt, einem Staat der im Dienste der Monopole steht und keinerlei Autonomie besitzt“ (Staatstheorie S. 160). Der Staat als Subjekt wiederum lässt ihn vollständig autonom werden, er steht als Akteur außerhalb der Klassen. Er agiert, koordiniert, verwaltet, reguliert selbstständig. Seine Autonomie bezieht sich „auf die angebliche Macht des Staates und auf die Träger dieser Macht und der staatlichen Rationalität: auf die Bürokratie und speziell auf die politische Elite“ (Staatstheorie S. 160). <br />
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Poulantzas schlägt vor, die „Sackgassen des ewigen Pseudodilemmas der Diskussion zwischen der Konzeption des Staates als einer Sache bzw. einem Instrument und der Konzeption des Staates als einem Subjekt“ (Staatstheorie S. 159f) zu vermeiden, indem der Staat über den Klassenkampf selbst verstanden wird, genauer: „ … indem ich sage, dass der Staat […] nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden darf, sondern, wie auch das »Kapital«, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ Der Staat spiegelt also nicht einfach ein gesellschaftliches Verhältnis wider, er selber konstituiert dieses Verhältnis. In der Vielzahl seiner Institutionen findet die ständige Austarierung zwischen Klassen und Klassenfraktionen statt. Diese Austarierung entspricht aber nicht direkt dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, beispielsweise sind die beherrschten Klassen nicht in den Staatsapparaten anwesend: „Sie organisieren und vereinheitlichen den Block an der Macht, indem sie die beherrschten Klassen ständig desorganisieren und spalten. Sie polarisieren sie gegenüber dem Block an der Macht und schließen ihre politischen Organisationen aus.“ (Staatstheorie S. 171)<br />
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Bei Poulantzas bleibt unklar, wie der Begriff der Verdichtung genau zu verstehen ist, wohingegen er ausführt, was es mit der Materialität hier auf sich hat. Mit Blick auf die Staatstheorie in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der PCF wendet er ein, dass diese „die eigenständige Materialität des Staates übersieht. Diese Materialität eines Staates, der als Werkzeug oder Instrument angesehen wird, hat keine eigene politische Bedeutung. Diese Bedeutung wird auf die Staatsmacht beschränkt, d.h. auf die Klasse, die dieses Instrument manipuliert. Das würde im Extremfall implizieren, dass das gleiche Instrument (das verschiedenen, allerdings zweitrangigen Modifikationen unterliegt) durch eine Veränderung der Staatsmacht, also durch die Macht der Arbeiterklasse, für den Übergang zum Sozialismus anders eingesetzt werden könnte“ (Staatstheorie S. 160). Dieses Defizit meint er zu beheben: „Das materielle Gerüst seiner [des Staates] Institutionen wird durch die Beziehung des Staates zu den Produktionsverhältnissen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung konstituiert, die sich in der kapitalistischen Trennung des Staates von diesen Verhältnissen konzentriert. […] Der Staat hat eine eigene Dichte und Widerstandskraft und reduziert sich nicht auf ein Kräfteverhältnis. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Klassen hat sicherlich immer Auswirkungen innerhalb des Staates, sie überträgt sich jedoch nicht direkt und unmittelbar. Sie passt sich der Materialität der verschiedenen Apparate an und kristallisiert sich im Staat nur in gebrochener und differenzierter, den Apparaten entsprechender Form. Eine Veränderung der Staatsmacht allein transformiert die Materialität des Staates nicht“ (Staatstheorie S. 161f). Als Beispiele für die Materialität führt Poulantzas u.a. die Organisierung kapitalistischen Wissens an: „Die geistige Arbeit (Wissen/Macht) ist in den Apparaten konzentriert und steht im Gegensatz zur tendenziell in den Volksmassen konzentrierten manuellen Arbeit, die von den organisatorischen Funktionen ausgeschlossen und getrennt sind“ (Staatstheorie S. 83).<br />
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==="Akkumulationsregime" (Regulationsschule)===<br />
Hier sollen die offenen Fragen und Aufgaben ausformuliert werden, die sich aus der Staatstheorie der "Regulationsschule" und deren Theorie der "Akkumulationsregime" ergeben. Handelt es sich bei dieser Theorie um einen wesentlichen Beitrag zur marxistischen Staatstheorie, die eine vertiefende Analyse der verschiedenen Formen der bürgerlichen Herrschaft seit der Entstehung des Kapitalismus erlaubt (z.B. durch die Unterscheidung eines "keynesianischen" und eines "neoliberalen Akkumulationsregimes")? Wie wird aus Perspektive der der Regulationsschule der Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt? Enthält diese Theorietradition wesentliche Abweichungen von den Grundannahmen der marxistischen Staatstheorie? Welche Verbinndung gibt es zu den Theorien von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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'''Vertreter:''' Zu den prominentesten Vertretern der Regulationsschule gehören heute die Staatstheoretiker Joachim Hirsch und Bob Jessop.<br />
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===Staat = Repressionsapparate / "neue Demokratie" (Maoismus)===<br />
Innerhalb des maoistischen Spektrums lässt sich als tendenzielle Gemeinsamkeit in der Staatsfrage ein besonderer Fokus auf die „bewaffneten Apparate“ des bürgerlichen Staats und eine weitgehende Vernachlässigung der Analyse anderer, nicht unmittelbar gewaltförmiger Herrschaftstechniken der Bourgeoisie (Integrationsideologien, ökonomischer Zwang, etc.) feststellen. Dies steht im engen Zusammenhang mit der Strategie des "Volkskriegs". Dieser Strategie liegt eine Perspektive auf den Staat zugrunde, die den Kampf um die politische Macht weitgehend auf den unmittelbaren militärischen Kampf und die Zerschlagung der bewaffneten Staatsapparate zuspitzt. Die maoistische Theorie der "neuen Demokratie" enthält außerdem die These einer möglichen dritten Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats.<br />
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Von einer einheitlichen und systematisch ausgearbeiteten "maoistischen Staatstheorie" kann genauso wenig die Rede sein, wie von einer homogenen maoistischen Strömung innerhalb des Marxismus. In den klassischen Texten von Mao Tse-Tung findet sich vor allem keine eigene, systematisch ausgearbeitete Analyse des bürgerlichen Staats im Imperialismus. Die chinesischen Revolutionäre kämpften nicht gegen einen entwickelten bürgerlichen Staat, wie er sich in den imperialistischen Zentren herausgebildet hatte, sondern gegen einen agrarischen Feudalstaat mit kolonialen Elementen. Der Großteil von Maos Äußerungen über den Staat sind in diesem Kontext zu sehen, so zum Beispiel die oft zitierte Losung: "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 74.</ref> An anderer Stelle führt Mao diese Zuspitzung auf die Frage der militärischen Macht und der bewaffneten Apparate weiter aus und verallgemeinert sie als die aus seiner Sicht wichtigste Kernaussage der marxistischen Lehre vom Staat: "Vom Standpunkt der marxistischen Lehre vom Staat ist die Armee die Hauptkomponente der Staatsmacht. Wer die Staatsmacht ergreifen und behalten will, der muß eine starke Armee haben. Manche Leute bezeichnen uns höhnisch als Anhänger der ‚Theorie von der Allmacht des Krieges‘; jawohl, wir sind Anhänger der Theorie von der Allmacht des revolutionären Krieges, und das ist nicht schlecht, sondern gut, das ist marxistisch. [...] Die Erfahrungen des Klassenkampfes im Zeitalter des Imperialismus lehren uns: Die Arbeiterklasse und die übrigen Werktätigen Massen können nur mit der Macht der Gewehre die bewaffneten Bourgeois und Grundherren besiegen; in diesem Sinne können wir sagen, daß die ganze Welt nur mit Hilfe der Gewehre umgestaltet werden kann."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 75-76.</ref><br />
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In genau diesem Sinne wird die Staatsfrage auch in Teilen der zeitgenössischen maoistischen Strömungen behandelt. Viele zeitgenössische Mao-Gruppen beziehen sich dabei auf die Traditionslinie der peruanischen Guerillabewegung „Leuchtender Pfad“ bzw. der KP Perus (Vollständiger Name: ''Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui'') und ihres politischen und ideologischen Anführers „Presidente Gonzalo“ (Abiamel Guzmán). (''Anmerkung: Alle Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen sich auf die Broschüre „Einheitsbasis der Kommunistischen Partei Perus – angenommen auf dem I. Parteitag 1988“<ref>http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/gonzalo/1439-die-einheitsbasis-der-kommunistischen-partei-perus-auf-deutsch</ref>, die leider zahlreiche Übersetzungsfehler enthält.'')<br />
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Der Staat erscheint auch hier vor allem als bewaffneter Apparat, der militärisch bekämpft und zerschlagen werden muss:<br />
"die revolutionäre Gewalt ist ausnahmslos ein universelles Gesetz; die Revolution ist die gewaltsame Ersetzung einer Klasse durch eine andere. Er [Mao Tse-Tung] legte seine große These fest: ‚Die Macht kommt aus den Gewehrläufen!‘" (Über den Marxismus-Leninismus-Maoismus, S. 7) "[der] Volkskrieg, der durch eine revolutionäre Armee neuen Typs, unter der absoluten Führung der Partei, Stück für Stück die alte Macht zerstört, hauptsächlich seine bewaffneten und repressiven Kräfte." (Programm und Statuten der KP Perus, S. 16-17.)<br />
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Unter dem Begriff der „neue demokratische Revolution“ vertreten die Maoisten der KP Perus ein spezifisches Etappenmodell, das die Stufen der Revolution festlegt, die die unterdrückten Länder auf dem Weg zum Sozialismus durchlaufen müssen. Der Klasseninhalt der Revolution und der jeweiligen Staatsformen, die diese hervorbringen, ändert sich jedoch je nach Entwicklungsstand des jeweiligen Landes: "Um unser Endziel, den Kommunismus, zu erreichen, müssen wir Marxisten-Leninisten-Maoisten in Perspektive drei Typen von Revolutionen durchführen: 1) Die demokratische Revolution, das ist die bürgerliche Revolution neuen Typs in den rückständigen Ländern, unter der Führung des Proletariats, in deren Verlauf eine gemeinsame Diktatur des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und unter bestimmten Bedingungen der Mittelbourgeoisie unter der Führung des Proletariats errichtet wird; 2) Die sozialistische Revolution in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern, die die Diktatur des Proletariats errichtet; 3) Kulturrevolutionen, sie werden gemacht um die Revolution unter der Diktatur des Proletariats fortzusetzen, um jede Generierung des Kapitalismus zu unterwerfen und zu eliminieren und auch mit den Waffen gegen jedes streben nach Restauration des Kapitalismus zu kämpfen" (Allgemeine politische Linie, S. 19)<br />
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Mit der Theorie der „neuen demokratischen Revolution“ sind spezifische staatstheoretische Grundannahmen verbunden. Die „Neuen Demokratie“ gilt aus maoistischer Sicht als dritte Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats - ihr Klassencharakter ist wesentlich durch einen Klassenkompromiss bzw. ein Klassenbündnis bestimmt: "Die Neue Demokratie. In erster Stelle ist es eine Entwicklung der marxistischen Staatstheorie mit der Festlegung der drei Typen der Diktatur: 1. die Diktatur der Bourgeoisie, in den alten bürgerlichen Demokratien wie in den Vereinigten Staaten, dazu zählen auch die Diktaturen, die in unterdrückten Nationen, wie den lateinamerikanischen existieren, 2. die Diktatur des Proletariats wie in der Sowjetunion oder in China vor der Usurpation der Macht durch die Revisionisten und 3. die Neue Demokratie als gemeinsame Diktatur, die auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern basiert, geführt vom Proletariat mit der Kommunistischen Partei an der Spitze […]." (Über den Marxismus-Leninismus, S. 8) Im Anschluss an Mao und Gonzalo geht die KP Perus davon aus, dass die "Staatssysteme der Welt" auf „drei Grundtypen reduziert werden können, laut ihres Klassencharakters: Republik unter der Diktatur der Bourgeoisie, die auch die Staaten der alten Demokratie ausmachen und die Republik der gemeinsamen Diktatur der Grundbesitzer und Großbourgeoisie; Republiken unter der Diktatur des Proletariats; und Republik unter der gemeinsamen Diktatur der revolutionären Klassen […]." (Allgemeine politische Linie, S. 33.)<br />
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Andere Grundsätzlichere Fragen zum Thema Maoismus, wie die Strategie des „langfristigen Volkskriegs“, die Etappe der "neuen demokratischen Revolution" oder die Theorie des „Zweilinienkampfs“ werden perspektivisch durch die [[AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei]] bearbeitet. Fragen zur Polemik zwischen der Sowjetunion und China über die „friedliche Koexistenz“, die „Kulturrevolution“ und die maoistische Position, die Sowjetunion sei „sozialimperialistisch“ gewesen, gehören zum Arbeitsbereich der [[AG Sozialismus]].<br />
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Eine längere Version dieses Artikels (befindet sich noch in Bearbeitung) findet ihr hier: '''[[Die Staatsfrage im Maoismus]]'''<br />
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Vertreten werden solche oder ähnliche Positionen in Deutschland zum Beispiel von der Sozialistischen Linken (SoL) oder dem mittlerweile aufgelösten Jugendwiderstand (JW).<br />
===Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt)===<br />
Der ''Gegenstandpunkt'' (GSP, früher ''Marxistische Gruppe'') vertritt eine eigene Staatstheorie, die davon ausgeht, der bürgerliche Staat könne aus den abstrakten Kategorien der politischen Ökonomie "abgeleitet" werden. Den Ausgangspunkt dieser Ableitung bildet die einfache Warenzirkulation, in welcher die Warenbesitzer sich wechselseitig als "freie" und "gleiche" Privateigentümer anerkennen. Die Autoren des GSP sehen drei gemeinsame Interessen bei allen Privateigentümern: Die Erhaltung der Revenue, eine möglichst hohe Revenue und den kontinuierliche Fluss der Revenue. Daraus schlussfolgern sie, dass Schutz und Sicherung des Privateigentums, die Sicherung des Wirtschaftswachstums und ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft dem Gesamtinteresse aller Privateigentümer entsprechen, wozu als viertes das Interesse an gleichen Konkurrenzvoraussetzungen hinzutritt. Weil die Privateigentümer aber in der Verfolgung ihrer besonderen Interessen nicht die allgemeinen Interessen durchsetzen können, bedarf es des Staates: "Das besondere Dasein des Staates neben und außer der Gesellschaft der konkurrierenden Privaten – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit – ist das Resultat dieses Widerspruchs zwischen besonderem und allgemeinem Interesse in seinen verschiedenen Existenzweisen. Der Staat verkörpert die Loslösung der allgemeinen Interessen aus der Sphäre der Privaten und ihre Verwaltung in der Sphäre des Staates. Mit der Besonderung des Staates werden die allgemeinen Interessen zu seinen besonderen, deren Verwaltung allein ihm obliegt. <ref> von Flatow, Sybille / Huisken, Freerk: Zum Problem der Ableitung des bürgerlichen Staates, in: Prokla, 7 (1973), S. 121 </ref><br />
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Fertig ausformuliert und in den Reihen des GSP kanonisiert wurde diese "Staatsableitung" von Karl Held in ''Der bürgerliche Staat''. In Helds Analyse wird aus der „Besonderung des Staates“ letztendlich der „Staat als Subjekt“: "Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit und Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert.<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Staat hält hier nicht nur die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Reproduktion aufrecht, er wird zum eigenständigen Subjekt mit eigenen Interessen: "Der souveräne Staat ist eine von den Bürgern getrennte, selbständige Instanz, die mit keinem besonderen Interesse identisch ist und gerade und nur deswegen von allen anerkannte Gewalt ist, weil er sein Interesse, das Allgemeinwohl, gegen die Privatsubjekte durchsetzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref> "In der Unterordnung aller Aufgaben, um deren Erfüllung willen er sich als politisches Subjekt der Ökonomie betätigt, unter das Kriterium des wirtschaftlichen Wachstums, in der Relativierung aller Funktionen entsprechend dieser Zielsetzung der Wirtschaftspolitik fällt der Grund des bürgerlichen Staates – die freie Konkurrenz – unmittelbar zusammen mit seinem Zweck: er ist bewußter Agent des Inhalts der Konkurrenz, die bekanntlich nicht die Individuen, sondern das Kapital in Freiheit setzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates besteht daher beim GSP auch zuallererst darin, dass er nicht im Interesse der einen Klasse eine andere, sondern alle Individuen gleichermaßen unterwirft: "Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, daß er Klassenstaat ist: Durch die gleiche Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der Nutzen aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben." <ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat, URL: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat (29.12.2018) </ref><br />
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Der Staat wird dadurch also wesentlich (und nicht nur oberflächlich) zu einem (klassen)neutralen Subjekt erklärt, welches die äußeren Bedingungen der Konkurrenz organisiert und diese Bedingungen den Warenbesitzern unterschiedslos aufzwingt. <br />
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'''Vertreter:''' Neben dem ''Gegenstandpunkt'', dessen Aktivitäten sich fast auschließlich auf das akademische Milieu konzentrieren, werden diese Positionen auch von vielen studentischen Jugendgruppen in der "linksradikalen" und Antifa-Szene vertreten. Dies hat häufig damit zu tun, dass Leute aus der Szene ihre eigene theoretische Bildung über Lesekreise und Seminare des Gegenstandpunkt erwerben. Besonders in Teilen der ''Sozialistischen Jugend - Die Falken'' lässt sich ein starker ideologischer Einfluss des GSP feststellen, das gleiche Phänomen taucht aber auch immer wieder in Gewerkschaftsjugenden oder ''solid SDS''-Gruppen auf. Besonders stark ist zudem die Überschneidung zu "antinationalen" Gruppen, wie etwa bei der Dortmunder ''Gruppe K''.<br />
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Einen Text zur ausführlicheren Einbettung in den Kontext der "Staatsableitungsdebatte" findet ihr hier: [[Der Staat als Subjekt (Staatsableitungsdebatte)]]<br />
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Einen Hintergrundartikel zum Gegenstandpunkt hier: [https://kommunistische.org/diskussion/standpunkt-gegen-den-marxismus/ Standpunkt gegen den Marxismus (Thanasis Spanidis)]<br />
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===Anarchistische Staatskritik===<br />
Der "Anarchismus" (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) umfasst ein sehr diffuses und heterogenes Spektrum, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Dennoch lassen sich grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Anarchisten vertreten eine politische Haltung, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbstbestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammenschließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. Im Mittelpunkt stehen die Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, und Selbstverwirklichung der Individuen im Rahmen der kollektiven Selbstverwaltung („Autonomie“) möglichst kleiner Organisationseinheiten. Im Anarchismus fließen die Traditionen des bürgerlichen Liberalismus (individuelle Freiheit) und der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen (Kollektivität und Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Heute wird häufig das Adjektiv "libertär" (deutsch: freiheitlich) als Synonym für „anarchistisch“ benutzt.<br />
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An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich aus Sicht der Anarchisten auch schon die Bewegung selbst messen lassen, die für die „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Position so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren, geschweige denn nach der siegreichen Revolution einen eigenen Staat zur Niederhaltung der Unterdrücker und zum Aufbau und zur Verteidigung der Revolution schaffen darf. In Abgrenzung zu solchen individual-anarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen.<br />
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Die anarchistische Staatskritik richtet sich nicht hauptsächlich gegen den bürgerlichen Staat als Klassenstaat der Bourgeoise, sondern lehnt jede Form der Macht, der Autorität und der Staatlichkeit überhaupt als Grundübel der Gesellschaft ab. Der Anarchismus vertritt also in letzter Konsequenz einen klassenneutralen Machtbegriff – er lehnt die Macht nicht als Klassenmacht der Ausbeuter ab, sondern als abstraktes Ding an sich, das aus der Welt geschafft werden soll. <br />
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'''Marx und Engels vs. Bakunin:''' Die erste ausführliche theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. <br />
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Engels fasste die Kritik an der Staatsauffassung Michael Bakunins und der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen: "Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. [...]<br />
Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll,[...] so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität <nowiki>=</nowiki> Staat <nowiki>=</nowiki> absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!" <ref>Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33;Dietz-Verlag; S. 388-389.</ref><br />
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Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der politische Ausdruck dieser Widersprüche ist nicht die Klassenherrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter und alle anderen Werktätigen, sondern die Macht und Autorität des Staates überhaupt. Diese Auffassung hat weitreichende taktische und strategische Konsequenzen (siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]]).<br />
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'''Heutige Vertreter:''' Der Anarchismus in seiner klassischen Form, also als politische Ideologie und Bewegung mit realer Verankerung in der Arbeiterbewegung (wie ihn Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder die spanischen Anarchosyndikalisten vertraten) ist heute kaum mehr präsent. Vulgarisierte Formen des Anarchismus sind dagegen in der "autonomen" Szene und linken Subkulturen nach wie vor sehr weit verbreitet. Neben zahlreichen Splittergruppen, die in der BRD heute ein gemeinsames, hauptsächlich kleinbürgerlich geprägtes Milieu bilden und von der Arbeiterbewegung meist isoliert sind, bildet die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) eine gewisse Ausnahme. Diese Organisation versucht im Rahmen einer kleinen anarchistischen Richtungsgewerkschaft außerhalb der DGB-Gewerkschaften Klassenkämpfe und Streiks zu organisieren.<br />
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Verschiedene "anarchokommunistische" Gruppen und Zusammenschlüsse in Deutschland versuchen Aspekte des Marxismus (gewerkschaftliche Organisation, Klassenkampf, Vergesellschaftung der Produktionsmittel) mit Standpunkten des Anarchismus (Ablehnung von Hierarchien, zentralistischer Organisationsformen und der Diktatur des Proletariats) zu vereinen. Seit Dezember 2018 existiert mit der Initiative [https://www.dieplattform.org/wir/ "die Plattform"] z.B. ein Versuch, einen bundesweiten "plattformistischen" anarchakommunistischen Organisationszusammenhang aufzubauen und im Rahmen einer eigenen Schriftenreihe eine theoretische Debatte anzustoßen.<br />
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Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxistismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff. Die Rojava-Solidarität vereint heute ein politisches Spektrum, dass von der MLPD über die verschiedenen roten Gruppen, die iL, die Linkspartei und bis zu den antinationalen und antideutschen Zusammenhängen reicht.<br />
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==Bezug zu unseren Grundannahmen==<br />
==Wie wollen wir den Dissens klären?==<br />
==Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?==</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Der_Klassencharakter_des_b%C3%BCrgerlichen_Staats&diff=6891Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats2019-12-21T09:05:08Z<p>Dio: /* Überblick */</p>
<hr />
<div>Zurück zur [[AG Formen bürgerlicher Herrschaft]]<br />
==Überblick==<br />
Dieser Artikel soll einen ersten groben Überblick über die verschiedenen Auffassungen zum Klassencharakter des bürgerlichen Staats innerhalb des kommunistischen und im weiteren Sinne "linken" Spektrums geben. Ist der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" die organisierte politische Macht der gesamten Bourgeosie und damit das Instrument ihrer Klassenherrschaft? Oder ist der Staat an sich ein klassenneutraler Apparat, der sowohl für die Zwecke der Kapitalistenklasse, als auch im Interesse der Arbeiter in Bewegung gesetzt werden kann? Ist der Staat im Stadium des Imperialismus nur noch das Herrschaftsinstrument eines kleinen Teils der Kapitalisten, der Monopolbourgeoisie, die ihre Macht mit Hilfe des Staats auch gegen die "kleine und mittlere Bourgeoisie" durchsetzt? Oder ist der bürgerliche Staat nach 1945 gar zu einer "echten Demokratie" geworden, in der die politische Macht nicht mehr von den besitzenden Klassen ausgeht, sondern von der demokratischen Mehrheit?<br />
<br />
Die Unterschiede in der Analyse und die Einschätzung des Klassencharakters des bürgerlichen Staats haben weitreichende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung. Die sich daraus ergebenden Dissense werden an anderer Stelle unter dem Stichwort "'''[[Staat und Revolution]]'''" dargestellt.<br />
<br />
===Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise"===<br />
Die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus (Marx, Engels, Lenin) bestimmten den bürgerlichen Staat als "ideellen Gesamtkapitalisten" und als Instrument der "Diktatur der Bourgeosie". <br />
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Schon im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 schrieben Marx und Engels: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. […] Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." (MEW 4, S. 464, 482) Diese Definition des Staates als „Ausschuss“ zur Regelung der „gemeinschaftlichen Geschäfte“ der Bourgeoisie deckt sich mit der späteren Formulierung von Engels, in der er den bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnete: "Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten […] nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. (Engels, Zur Wohnungsfrage MEW 18, S.257-258) Der Staat schützt die kapitalistische Produktionsweise sowohl gegen den Widerstand der Arbeiter als auch gegen die sich widersprechenden Einzelinteressen individueller Kapitalisten Laut Engels setzt der „ideelle Gesamtkapitalist“ also das Interesse der gesamten Herrschenden Klasse nicht nur gegenüber dem Proletariat, sondern auch gegenüber ihrer einzelnen Klassenindividuen durch: "der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." (Engels, Anti-Dühring (1877), MEW 20, S. 260) <br />
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Der Staat ist also einerseits Instrument zur Unterdrückung der Arbeiter und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse, gleichzeitig ist er notwendig, um die Bourgeoisie über die kapitalistische Konkurrenz hinweg zu Kompromissen zu zwingen und sie so erst als herrschende Klasse zu organisieren.<br />
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Lenin führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine scharfe Polemik gegen die Revisionisten und Reformisten in der deutschen und russichen Sozialdemokratie. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fasste er die Staatsauffassung von Marx und Engels in seiner Schrift ''Staat und Revolution'' (1917) zusammen: "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen 'Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. (LW 25, S. 399) Der Staat ist demnach eine Macht, "die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben. Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt ‚nicht mehr unmittelbar zusammenfällt‘ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer ‚selbsttätigen bewaffneten Organisation‘. [...] Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?" (LW 25, S. 401)<br />
Abschließend fasste Lenin seine Studien zur marxschen Staatsauffasung schließlich in der Bestimmung des bürgerlichen Staats als „Diktatur der Bourgeoisie“ zusammen: "Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist […]. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie." (LW 25, S. 425)<br />
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Von dieser Analyse ausgehend formulierten die Klassiker die strategische Orientierung auf die "Zerschlagung des bürgerlichen Staats" und die Errichtung der "Diktatur des Proletariats". Siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]].<br />
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Für eine ausführliche Aufstellung der hier zitierten Quellen siehe: [[Grundannahmen Staat]]<br />
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===Der Staat als klassenneutrales Instrument===<br />
Vertreter dieser Auffassung gehen davon aus, dass der bürgerliche Staat und seine Organisationsapparate an sich klassenneutrale Instrumente sind. Das heißt sie werden unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen zwar von der Bourgeoisie benutzt, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen, die Arbeiterklasse niederzuhalten und die Bedingungen der Kapitalakkumulation möglichts günstig zu gestalten, könnten unter anderen Bedingungen, zum Beispiel nach dem Wahlsieg einer Arbeiterpartei, aber genausogut im Interese des Proletariats in Bewegung gesetzt werden, zum beispiel um den Kapitalismus durch Sozialreformen allmählich in den Sozialismus zu überführen. Die Instrumente selbst, also die Staatsorganisationen vom Parlament über die Verwaltungs- bis hin zu den Repressionsorganen, verhalten sich dieser Auffassung nach also neutral zu den Zwecken ihrer Anwendung. Weder ihre konkrete Organisationsform noch das Personal, aus dem sie bestehen, tragen demnach Klassencharakter. Diese Auffassung steht im Widerspruch zu der Position, der bürgerliche Staat sei seiner Form und seinem Klasseninhalt nach "ideeller Gesamtkapitalist" und Ausdruck der "Diktatur der Bourgeoisie" (s.o.).<br />
<br />
'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):'''<br />
Die klassischen Vertreter einer solchen Staatsauffassung waren die „Revisionisten“ in der deutschen Sozialdemokratie, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen und zentrale Annahmen des wissenschaftlichen Sozialismus zu "revidieren" begannen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Eduard Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. <br />
<br />
Bernstein bestritt in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899) die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Aufhebung des bürgerlichen Staats und schlug stattdessen einen friedlichen und demokratischen Reformweg zum Sozialismus vor. Bernstein argumentiert, die bisherige Ausrichtung der Sozialdemokratie auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus sei durch die Realität überholt. Das kapitalistische System habe sich als weitgehend krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, ein „Zusammenbruch“ des Kapitalismus bzw. eine revolutionäre Situation sei nicht mehr zu erwarten. Die Aufgabe der SPD sei es nun, im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch „Sozialreformen“ Verbesserungen für die Arbeiterklasse und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards zwischen den Klassen durchzusetzen. Den Weg, um diese Ziele zu erreichen, sah Bernstein in der schrittweisen Ausdehnung des parlamentarischen Einflusses der Sozialdemokratie bis hin zur Übernahme der Regierung. Diese würde dann weitreichende Reformen im Sinne der Arbeiterklasse und des Sozialismus durchsetzen. Das entsprechende Credo des Reformismus lautete: „der Weg ist alles, das Ziel ist nichts.“<br />
<br />
Der klassische Reformismus setzt notwendig eine bestimmte Auffassung über den bürgerlichen Staat voraus. Wenn es möglich sein soll, den Kapitalismus allmählich durch Sozialreformen zu überwinden, so muss es auch möglich sein, dass die Arbeiterklasse diese Reformen im Staatsapparat gegen den Willen der Bourgeoisie durchsetzt oder diese zumindest zu Kompromissen zwingt – und zwar so weit, dass die Gesellschaft immer mehr sozialistische Züge annimmt und der Staat letztlich aufhört, bürgerlicher Staat zu sein und allmählich zu einem Instrument in den Händen der Arbeiterklasse wird. Dieses Instrument an sich muss also „klassenneutral“ sein und je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse sich entwickeln, kann es sowohl von der einen, als auch von der anderen Klasse kontrolliert und im eigenen Interesse eingesetzt werden. Der Staat steht in dieser rein instrumentalistischen Sichtweise der ihm zugrunde liegenden Produktionsweise also äußerlich gegenüber, er besitzt keine innere Verbindung zu ihr. Der Überbau scheint unabhängig von seiner ökonomischen Basis agieren zu können. Der bürgerliche Staat wird aus dieser Sichtweise nicht als spezifisches, den Klasseninteressen der Bourgeoisie entsprechend geformtes Werkzeug verstanden. Ergo kann das Proletariat dieses Werkzeug unverändert übernehmen, anstatt sich einen eigenen Apparat zu schaffen, der den spezifischen Erfordernissen und Klasseninteressen der Arbeitermacht entspricht.<br />
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'''Eurokommunismus:'''<br />
Ab den 1970er Jahren knüpften die sogenannten "Eurokommunisten" mit vielen ihrer Positionen an die theoretische Tradition des klassischen Revisionismus an, begründeten ihre Haltung aber damit, dass die Kräfteverhältnisse und somit auch der Charakter des bürgerlichen Staats sich nach 1945 grundlegend geändert hätten. Daher seien der „sowjetische Weg zum Sozialismus“ und die Diktatur des Proletariats als historischer Sonderfall überholt und Europa mittlerweile in eine Epoche der demokratischen Übergänge eingetreten. Sie vertraten die Einschätzung, die bürgerliche Demokratie sei nach dem Sieg über den Faschismus im Westen zu sehr gefestigt, als dass die Herrschenden gewaltsam gegen einen demokratischen Übergang zum Sozialismus vorgehen könnten. Die Hauptvertreter des Eurokommunismus waren die kommunistischen Parteien Frankreichs (PCF), Italiens (PCI) und Spaniens (PCE).<br />
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Die eurokommunistische Strategie des friedlichen, parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus ging mehr oder weniger offen davon aus, dass der Staat als ein „Feld im Klassenkampf" aufzufassen sei, auf dem sich zwar die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen widerspiegeln, das an sich aber klassenneutral sei. Durch Veränderungen der politischen Mehrheiten sollten der Staat und seine Institutionen durch die Kommunisten kontrolliert und im Sinne der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden. Die Regierung sollte ein Reformprogramm umsetzen, das die Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung Sozialismus entwickeln würde. Auch im Sozialismus sollte der bürgerlich-liberale Parlamentarismus als politische Herrschaftsform bruchlos beibehalten werden: „Die repräsentative Demokratie, kombiniert mit Formen der direkten Demokratie, kann ohne weiteres auch die Form des sozialistischen Systems sein.“<ref>zitiert nach: Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen, 1977.</ref> In Teilen der eurokommunistischen Strömung wurde sogar die Notwendigkeit der Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Länder in imperialistischen Staatenbündnissen wie der EG und der NATO offen verteidigt. Ausführlich dargelegt ist das Staatsverständnis der Eurokommunisten in Santiago Carrillos ''Eurokommunismus und Staat''<ref>Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.</ref>. <br />
<br />
Ausführlicherer Artikel: [[Eurokommunistische Staatsauffassung]]<br />
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'''Andere Vertreter:'''<br />
Auch heute gibt es zahlreiche "linke" Vertreter dieser Auffassung. Die Annahme, der bürgerliche Staat sei ein grundsätzlich klassenneutrales Instrument, bildet die Voraussetzung jeder Strategie, die auf den Eintritt in die bürgerliche Regierung zum Zweck der Umsetzung von Reformen abzielt. Das gilt eindeutig für die deutsche ''Linkspartei'' und ihre europäischen Geschwisterorganisationen, allen voran die einflussreiche griechische ''SYRIZA''. Auch die "antimonopolistische Strategie" der DKP unterstellt letztlich eine Klassenneutralität des Staats der Monopole (s.u.). In unterschiedlichen Abstufungen wird diese Auffassung auch von den "bolivarischen Bewegungen" bzw. den Vertretern eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien etc. vertreten.<br />
<br />
===Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole===<br />
Eine seit 1945 weit verbreitete Position geht davon aus, dass der bürgerliche Staat im Monopolkapitalismus nicht mehr das Interesse der gesamten herrschenden Klasse vertritt, sondern sich zum alleinigen Herrschaftsinstrument der Monopole entwickelt. Diese Vorstellung beruft sich häufig auf die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (s.o.) und ist eng verbunden mit den verschiedenen Varianten der [[Strategie der Übergänge]]. <br />
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'''Deutsche Kommunistische Partei (DKP):'''<br />
Die DKP vertritt seit ihrer Gründung eine Strategie der "antimonopolistischen Demokratie" (AMD). Diese wurde erstmals im Programm von 1978 explizit ausformuliert und beschlossen. Auch im Programm von 2006 bildet die AMD, von einigen kleineren Relativierungen abgesehen, noch immer den Kern der strategischen Vorstellungen der DKP. <br />
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Zu den wichtigsten Grundannahmen der AMD gehört, dass der bürgerliche Staat zu einem Instrument in den Händen der Monopole, also einer Handvoll Finanzoligarchen innerhalb der Bourgeoisie, geworden ist. Der Staat, so die These, setzt deren Profitinteressen rigoros gegen alle „nicht-monopolistischen Schichten“, also nicht nur gegen die Arbeiterklasse und alle anderen Werktätigen, sondern auch gegen die „kleine und mittlere Bourgeoisie“ durch. Der bürgerliche Staat vernachlässigt aus dieser Sicht also gewissermaßen seine Aufgabe als „ideeller Gesamtkapitalist“ und verkörpert gegenüber der gesamten Gesellschaft (und einem Großteil der Bourgeoisie) nicht mehr das langfristige Gesamtinteresse aller Kapitalisten, sondern einseitig das Partikularinteresse des Monopolkapitals. <br />
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Im DKP-Programm von 2006 heißt es dazu: "Als Machtinstrument der Monopolbourgeoisie setzt er [der Staat] immer unverblümter eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durch. An die Stelle der sozialen Integration tritt die Konfrontation. Der bürgerliche Staat verliert tendenziell seine Fähigkeit zur sozialen und politischen Vermittlung, weil die Basis für die Organisierung stabilerer sozialer Kompromisse, die größere Teile der Gesellschaft einbeziehen, verloren geht. So wird die bürgerliche Demokratie ausgehöhlt und verliert ihren Inhalt. Bei Beibehaltung formaler Demokratie vollzieht sich der Übergang vom 'Sozialstaat' zum autoritären 'Sicherheitsstaat'." (S. 12) <br />
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Damit wird zwar der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht geleugnet, aber eine neue strategische Bruchlinie zwischen den Monopolen und allen „nicht-monopolistischen“ Schichten aufgemacht, die aus dieser Sicht nun in Opposition zum "Staat der Monopole" geraten. Entlang dieser Linie soll sich ein „antimonopolistisches Bündnis“ formieren, das neben der Arbeiterklasse nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch bedeutende Teile der „nicht-monopolistischen“ Bourgeoisie umfassen soll (siehe dazu das Programm von 2006, S. 33). Dieses Bündnis hat zwar nicht den Sozialismus zum Ziel, wohl aber eine Zwischenetappe der „antimonopolistischen Übergänge“, in deren Rahmen die Kommunisten sich an der Regierungsmacht beteiligen und zunächst im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise eine politische „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ durchsetzen sollen.<br />
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Diese Vorstellung eines weitgehend bruchlosen Übergangs des Staatsapparats aus den Händen der einen in die Hände der anderen Klasse unterstellt eine instrumentalistische Sicht auf den Staat und behandelt diesen in letzter Konsequenz als ''klassenneutrales Werkzeug'' (s.o.). Zugespitzt formuliert: Der Klassencharakter des Staates scheint sich aus Sicht der Vertreter der antimonopolistischen Strategie nicht aus seiner Funktionsweise und seinem Wesen, sondern aus den politischen Kräfteverhältnissen zu ergeben. Ändert die Regierung ihren Klassencharakter von „monopolistisch“ zu „nicht-monopolistisch“, so ändert sich demzufolge auch der Klassencharakter des Staates. <br />
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Hier geht es zu einer längeren Version dieses Artikels: [http://%E2%80%9EAntimonopolistische_Demokratie%E2%80%9C_(DKP) Antimonopolistische Demokratie]<br />
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'''Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD):'''<br />
Zu den wichtigsten Alleinstellungsmerkmalen der Theorie und Programmatik der MLPD gehört der Begriff der „Übermonopole“ (siehe dazu den Entsprechendne Artikel [[Imperialismus_als_Weltsystem|"Imperialismus als Weltsystem"]] der AG Politische Ökonomie], der auch ihre Analyse des bürgerlichen Staats der Gegenwart wesentlich prägt: "Die hier ansässigen internationalen Übermonopole, die zum allein herrschenden internationalen Finanzkapital gehören, haben sich den Staat vollkommen untergeordnet, und die Organe des Monopolkapitals sind mit den Organen des Staatsapparats verschmolzen. Sie haben ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft, auch über andere Monopole und die nicht monopolisierten Kapitalisten, errichtet. Über die Organe der EU nehmen sie Einfluss auf andere europäische Staaten." (Programm der MLPD)<br />
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Die MLPD geht also davon aus, dass sich diese „Übermonopole“ den bürgerlichen Staat „vollkommen untergeordnet“ haben – aus dieser Formulierung kann geschlussfolgert werden, dass der Staat nicht mehr als „ideeller Gesamtkapitalist“ das Gesamtinteresse des Kapitals vertritt, sondern von der Fraktion der „Übermonopole“ bzw. des „allein herrschenden Finanzkapitals“ allen anderen Teilen der Bourgeoisie gegenüber als Herrschaftsinstrument benutzt wird. Zudem geht die MLPD davon aus, dass die „Organe des Monopolkapitals“, die im vorangegangenen Stadium des Kapitalismus scheinbar noch unabhängig vom und außerhalb des Staatsapparates existierten, heute vollständig mit diesem „verschmolzen“ sind. <br />
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Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Programmatik der MLPD findet sich hier: [https://kommunistische.org/diskussion/einschaetzung-der-programmatik-der-mlpd/ Philipp Kissel, Einschätzung der Programmatik der MLPD].<br />
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Die Positionen der MLPD zum bürgerlichen Staat entnehmen wir ihrem zuletzt 2016 überarbeiteten Parteiprogramm.<ref>https://www.mlpd.de/parteiprogramm</ref><br />
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===Staatsmonopolistischer Kapitalismus===<br />
Hier soll kurz dargestellt werden, wie die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus den klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt. In welchem Verhältnis stehen Staat und Monopole? Ist der Staat alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole oder auch "ideeller Gesamtkapitalist", also Ausdruck der Herrschaft der gesamten Bourgeoisie?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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Siehe hierzu den Dissens [[Monopole und Staat]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus.<br />
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===Der Staat als "echte Demokratie"===<br />
Die Position, der bürgerliche Parlamentarismus auf der ökonomischen Basis der kapitalistischen Produktionsweise sei eine "echte Demokratie" läuft letztlich auf die Position hinaus, die gesellschaftlichen Verhältnisse würden nicht von der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie, sondern von der politischen Mehrheit bestimmt. Die Frage des Klassencharakters der Staats wird also reduziert auf eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Je nach dem, ob die Bourgeoisie oder die Arbeiterklasse im demokratischen Prozess mehr Kontrolle über den Staatsapparat ausübt, verschiebt sich auch dessen Klassencharakter. Diese Auffassung setzt zugleich ein Verständnis des Staates als ''klassenneutrale Instrument'' voraus (siehe oben). <br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):''' <br />
Die Vorstellung einer fortschreitenden Demokratisierung des bürgerlichen Staats und einer damit einhergehenden Verwandlung seines Klassencharakters spielten eine zentrale Rolle im Denken des klassischen Revisionismus. Rosa Luxemburg polemisierte schon 1899 gegen Eduard Bernstein: „die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie [sei] eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie.“ <ref> Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), Zweiter Teil </ref> Bürgerliche Demokratie und Parlamentarismus waren für Bernstein nicht taktische Mittel im Klassenkampf, sondern tatsächlicher Ausdruck der Herrshaft durch das Volk bzw. die Mehrheit, also der Arbeiterklasse: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. […] Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“<ref>Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.154-156.</ref> Für die Strategie der Arbeiterbewegung heißt das: „die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.“<ref>Ebd., S. 154-156.</ref> Die Arbeiterbewegung soll sich also darauf beschränken, im legalen Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus für Reformen und schrittweise Verbesserungen zu kämpfen. Der bürgerliche Staat ist dabei nicht ihr Gegner, sondern ihr Werkzeug. Die taktische Herausforderung besteht demnach einzig darin, auf demokratischem Weg in die Position zu gelangen, dieses Werkzeug für die eigenen Zwecke nutzen zu können.<br />
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'''Position von SYRIZA:''' <br />
Die griechische "Linkspartei" SYRIZA argumentiert in ihrem Regierungsprogramm, „der Staat [sei] keine Festung, sondern ein Netzwerk, ein Verhältnis und eine strategische Arena für den politischen Kampf. Er verändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, im Gegenteil, seine notwendige Transformation hat konstante und kontinuierliche Kämpfe zur Voraussetzung, die Einbeziehung des Volkes, ständige Demokratisierung.“ (Quelle: S''YRIZAs Regierungsprogramm''<ref>Zitiert nach einem auf Englisch erschienenen Artikel der KKE, ins Deutsche Übersetzt. URL: https://inter.kke.gr/en/articles/Criticism-of-certain-contemporary-opportunist-views-on-the-state/ (9.1.2019)</ref>) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der bürgerliche Staat von SYRIZA nicht seinem Wesen nach als ein Organ der bürgerlichen Klassenherrschaft angesehen, sondern als eine Ansammlung von Institutionen, die im Interesse des Volkes „transformiert“ werden können. Auf Grundlage dieser Sichtweise wird argumentiert, dass der Charakter des bürgerlichen Staats durch die richtigen politischen Kräfteverhältnisse geformt oder gar "transformiert" werden kann, solange sich nur „linke Regierungen“ durchsetzen können. <br />
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'''Position der DKP:''' <br />
Die DKP bleibt in ihrer Einschätzung der bürgerlichen Demokratie widersprüchlich. Einerseits ist in ihrem Programm von 2006 zwar die Rede davon, dass sich durch die "Globalisierung" die "Tendenz zur Reaktion" verschärft, dass die Demokratie untergraben wird (siehe S. 12) und dass letztlich eine "revolutionäre Überwindung" (S. 28) des Kapitalismus nötig sei. Andererseits gehört es jedoch zu den Kernthesen ihrer "antimonopolistischen Startegie", dass noch auf dem Boden der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und innerhalb des institutionellen Rahmens des bürgerlichen Staats umfassende Reformen und sogar eine "antimonopolistisch-demokratische Umgestaltung" (S. 32) möglich seien: "Je mehr es dabei gelingt, Veränderungen im Sinne von Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, von demokratischer Kontrolle, von Entmilitarisierung und Demokratisierung in Staat und Gesellschaft zu erreichen, je größer der Einfluss der demokratischen und sozialistischen Kräfte überall dort ist, wo Meinungsbildung stattfindet, desto besser sind die Chancen im Kampf um die Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und für die Öffnung des Weges zum Sozialismus. [...] Es geht um die [...] demokratische Einflussnahme auf den staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus im nationalen Rahmen wie im Rahmen der Europäischen Union und anderer internationaler staatsmonopolistischer Institutionen". (S. 30) Diese Vorstellung läuft letztlich also darauf hinaus, die Kommunisten und „Demokraten“ könnten den ideellen Gesamtkapitalisten dem Einfluss der Klasseninteressen der Bourgeoisie entreißen und ihrem eigenen politischen Willen unterwerfen.<br />
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'''Andere Vertreter:''' Ebenfalls weit verbreitet sind Vorstellungen über den demokratischen Charakter des bürgerlichen Staats in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dort gehört der Begriff der „Mitbestimmung“ nicht umsonst zum ideologischen Kernrepertoire. Die Vorstellung, im Betrieb ließe sich zwischen Kapital und Arbeit auf Augenhöhe eine demokratische Mitbestimmung und dadurch ein Interessenausgleich verwirklichen, bildet das Herzstück der Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Ähnliche Sichtweisen werden heute außerdem in einer Reihe lateinamerikanischer Länder gepflegt. Verschiedene „fortschrittliche“ und „linke“ Regierungen versuchen unter dem Banner des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bzw. der „bolivarischen Revolution“ das bürgerliche Staatsystem durch Gesetzesreformen und Volksabstimmungen grundlegend zu veränden.<br />
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==="Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci)===<br />
Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, verfasste in den 1920er und 30er Jahren in faschistischer Gefangenschaft seine „Gefängnishefte“, ein umfangreiches theoretisches Werk, dessen einzelne Bestandteile Gramsci unter den Bedingungen seiner Haft leider nicht mehr zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen konnte. Zu den wichtigsten Aspekten dieses Werks gehören Gramscis Überlegungen zur besonderen Form der Herrschaft der Bourgeoisie in den entwickelten imperialistischen Ländern und die daraus abgeleiteten Weiterentwicklungen der marxistischen Staatstheorie.<br />
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In den Gefängnisheften bringt Gramsci den Staat und die Herrschaft der Bourgeoisie auf die kurze Formel: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang" (H. 6, §88., S. 783)<ref>Antonio Gramsci, Gefängnisgefte. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1991. Im Folgenden wird aus den Gefängnisheften nur noch in Klammern nach Heft Nr., Paragraph und Seitenzahl zitiert.</ref><br />
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Gramsci weitet den Staatsbegriff damit aus und entwickelt sein Konzept des "integralen Staates". Dieser umfasst einerseits die "politische Gesellschaft", womit alle explizit staatlichen Strukturen und Institutionen gemeint sind, also das Parlament, die Beamtenapparate, die Repressionsorgane, die staatlichen Bildungseinrichtungen etc. Andererseits betrachtet Gramsci aber auch die "Zivilgesellschaft" als Teil der bürgerlichen Staatlichkeit. Gemeint sind damit alle Strukturen außerhalb der Staatsapparate, über die die Bourgeoisie ihre Herrschaft absichert, also private Medien, Bildungsstätten, Institute, Stiftungen, Clubs, Thinktanks etc. Mit Blick auf den Sieg der Oktoberrevolution in Russland und die darauffolgenden Niederlagen der Revolutionsversuche in Westeuropa schrieb Gramsci: "Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand;" (H. 7, §16., S. 873-874) An anderer Stelle heißt es: "zumindest was die fortgeschrittenen Staaten angeht, wo die 'Zivilgesellschaft' eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften 'Durchbrüchen' des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg." (H. 13, §14, S. 1553-1554) Die Stabilität der bürgerlichen Herrschaft hängt demnach also wesentlich davon ab, inwieweit die Zivilgesellschaft herausgebildet und die "Hegemonie" der Bourgeoisie enwickelt ist. <br />
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Mit dem Begriff der Hegemonie versucht Gramsci der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass sich die Macht der Bourgeoisie nicht nur auf das Staatliche Gewaltmonopol und die Repressionsapparate stützt, sondern wesentlich über ideologische Integration und die Erzeugung von "Konsens" abgesichert wird. Hegemonie bezeichnet also die politisch-ideologische Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über eine andere. "Die 'normale' Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne daß der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt, sondern im Gegenteil sogar versucht wird, zu erreichen, daß der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint […]" (H. 13, §37, S. 1607-1613). Konsens bezeichnet hier einen Zustand, in dem die Beherrschten die Herrschaft zumindest passiv ertragen oder sogar aktiv die Sichtweise übernehmen, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse entsprächen auch ihren Interessen und seien die bestmöglichen. Gramsci schreibt, dass "eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. […] Die politische Führung wird zu einem Aspekt der Herrschaft, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Klassen zur Enthauptung derselben und zu ihrer Machtlosigkeit führt. Es kann und muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben." (H. 1, §44, S. 101-113) <br />
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Heute wird der Begriff der Hegemonie fast ausschließlich Gramsci zugeschrieben, dabei war er zu dessen Lebzeiten unter den Theoretikern der Kommunistischen Internationale weit verbreitet und wurde breit diskutiert. Wie Buci-Glucksmann bemerkt, war er "im gesamten Marxismus der Dritten Internationale überaus geläufig. Man findet ihn vor allem unter der Feder Lenins vor 1917, aber auch später. Man finet ihn ebenso oft bei Bela Kun, Varga, Stalin, und vor allem Bucharin, der ihn in einer Weise benutzte, die der Gramscis nahezustehen scheinen könnte". <ref>Buci-Glicksmann, Gramsci und der Staat, S. 17.</ref> <br />
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Die "führende Klasse" oder Klassenfraktion ist laut Gramsci in ihrem Ringen um Hegemonie also in der Regel darum bemührt, alle anderen Fraktionen ihrer Klasse und ihrer "verbündeten Klassen" in ihren "Block an der Macht" zu integrieren. Das gelingt nur, indem sie mit diesen anderen Fraktionen ein Komprimissprogramm aushandelt, das bestmöglich das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse zusammenfasst und deren innere Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Der Ort, an dem diese Kompromisse ausgehandelt und schließlich in politische Praxis übersetzt werden, ist der bürgerliche Staat selbst. Gegenüber den "feindlichen Klassen" (also dem Proletariat und den anderen Werktätigen) tritt die Bourgeoisie als "herrschend" auf, sie übt ihre Hegemonie einerseits durch integration ihrer ideologischen Führer und andererseits durch materielle Zugeständnisse aus: "Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, daß sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, daß also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, daß solche Opfer und ein solcher Kompromiß nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt." (H. 13, §18, S. 1565-1573) Gramsci beschreibt in dieser Formulierung den grundsätzlichen Klassencharakter des Staates. Die Kompromisse können nie "das Wesentliche" betreffen - also die kapitalistische Produktionsweise - sondern sich nur in deren Rahmen Bewegen. <br />
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Gramscis Staatstheorie knüpft eindeutig an die Auffassung des Staats als "ideeller Gesamtkapitalist" (s.o.) an, indem sie einerseits die Integration der gesamten herrschenden Klasse in einem "historischen Block" betont und andererseits die zumindest passive Einbindung der Beherrschten im Rahmen der Hegemonie betont. Mit einer Staatsauffassung, die den bürgerlichen Staat im Monopolkapitalismus als "alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole" (s.o.) versteht, ist Gramscis Ansatz kaum zu vereinbaren. <br />
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Mit Blick auf den Staat schreibt Gramsci außerdem, dieser sei "das Instrument zur Anpassung der Zivilgesellschaft an die ökonomische Struktur". (H. 10.II, §15, S. 1267) Dabei spielen Medien und andere ideologische Apparate eine entscheidende Rolle: "Was 'öffentliche Meinung' genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der 'Zivilgesellschaft' und der 'politischen Gesellschaft', zwischen dem Konsens und der Gewalt. Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft. […] die öffentliche Meinung, wie sie heute Verstanden wird, ist am Vorabend des Untergangs der absolutistischen Staaten entstanden, das heißt in der Zeit des Kampfes der neuen bürgerlichen Klasse um die politische Hegemonie und die Erlangung der Macht. […] [Es entbrennt ein] Kampf ums Monopol der Organe der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, Parlament". (H. 7, §83, S. 916-917)<br />
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Verliert die herrschende Klasse ihre Hegemonie so kommt es zur "Hegemonie-" bzw. "Autoritätskrise": "Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr 'führend', sondern einzig 'herrschend' ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die große Masse sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann". (H. 3, §34, S. 354-355) Der Verlust der Hegemonie darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem automatischen Verlust der Macht, schließlich verfügt die herrschende Klasse auch bei schwindendem Konsens noch immer über die Mittel des Zwangs. <br />
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Zu den strategischen Schlussfolgerungen, die Gramsci aus seiner Staatstheorie ableitete, siehe den Dissens-Artikel zu [[Staat und Revolution]] und dort den Abschnitt "Bewegungs- und Stellungskrieg". <br />
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Einige offene Fragen zu Gramsci und seiner Staatstheorie werden von unserer AG tiefergehend behandelt werden: Handelt es sich dabei um einen wegweisenden Beitrag zur marxistischen Staatstheorie im Zeitalter des Imperialismus und des entwickelten bürgerlichen Staats, an den die Kommunisten anknüpfen und den sie weiterentwickeln müssen? Oder enthält Gramscis Theorie bereits wesentliche revisionistische Abweichungen, die es den verschiedenen opportunistischen Strömungen, die sich heute auf ihn berufen, leicht machten, seine Theorie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?<br />
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==="Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas)===<br />
Nicos Poulantzas war ein griechischer Theoretiker, der in den 1960er und 70er Jahren eine Reihe an marxistischen Studien verfasste. Er sympathisierte nach 1968 mit der eurokommunistischen griechischen kommunistischen Partei des Inlands (KKE-Inland) und stand – in Frankreich lebend - in kritischer Distanz zur Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). In seinen klassen- und staatstheoretischen Schriften ist der Einfluss u.a. von Louis Althussers Strukturalismus sowie [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #"Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci) | Antonio Gramscis Hegemonietheorie]] sichtbar. In der marxistischen Debatte um den Staat hat Poulantzas tiefe Spuren hinterlassen, was primär zurückgeführt werden kann auf seine Konzeption des Staates als „Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“. Historisch bedeutsam war dabei zunächst die Auseinandersetzung mit Ralph Miliband; im deutschsprachigen Raum wurde seine Theorie u.a. über Joachim Hirsch und Alex Demirovic wieder in die Diskussion eingebracht.<br />
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Poulantzas formuliert in der Einleitung zur „Staatstheorie“ den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Es ist nicht der Klassencharakter des Staates, der zur Debatte steht: „Jeder Staat ist ein Klassenstaat; jede politische Herrschaft ist Klassendiktatur; der kapitalistische Staat ist ein Staat der Bourgeoisie; der kapitalistische Staat im Allgemeinen und jeder kapitalistische Staat im Besonderen sind Diktaturen der Bourgeoisie“ (Staatstheorie S. 155), all dies sind für ihn „Banalitäten“ - zwar richtig, aber nicht weiter ausführenswert. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, vielmehr stellt es sich hier neu: „[W]arum greift die Bourgeoisie in ihrer Herrschaft auf diesen nationalen Volksstaat zurück, diesen modernen Repräsentativ-Staat mit seinen spezifischen Institutionen, und nicht auf einen anderen? Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich genau diesen Staat aussuchen würden, wenn sie den Staat komplett selbst und nach ihrem Geschmack aufbauen würden.“ (Staatstheorie, S. 40). Eine verwandte Frage hatte bereits der sowjetische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis knapp 50 Jahre, vorher gestellt: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“1 Poulantzas gibt in der Einleitung auch eine vorläufige, knappe Antwort auf die von ihm formulierte Frage: „Der Staat stellt ein materielles Gerüst dar, das in keiner Weise auf die politische Herrschaft reduziert werden kann. Der Staatsapparat, dieses besondere und furchterregende Etwas, erschöpft sich nicht in der Staatsmacht. [...] Wenn der Staat nicht einfach ein vollständiges Produkt der herrschenden Klassen ist, so haben sie sich seiner auch nicht einfach bemächtigt: Die Macht des Staates (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) hat in dieser Materialität ihre Spuren hinterlassen. Die Handlungen des Staates reduzieren sich nicht auf die politische Herrschaft, sie sind jedoch konstitutiv von ihr gezeichnet.“ (Staatstheorie, S. 42)<br />
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Eine wichtige Aufgabe des Staates sieht Poulantzas in der Repräsentation und Organisation der herrschenden und der Desorganisation der beherrschten Klassen. Die Bourgeoisie ist keine widerspruchsfreie Einheit. Sie verfolgt zwar zwangsläufig als Klasse einheitlich das Ziel der Kapitalverwertung, dieses Ziel bringt sie aber auch in direkte Konkurrenz untereinander, weshalb, wie Engels sagt, der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert. Poulantzas zufolge ist die Kapitalistenklasse in Klassenfraktionen gespalten, die unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Interessen verfolgen. Diese Klassenfraktionen formieren sich unter der Hegemonie einer Fraktion zu einem „Block an der Macht“, in welchen auch andere herrschende Klassen miteinbezogen werden. Die Hegemonie einer Fraktion bedeutet dabei, dass diese die äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Sinne optimieren kann; und diese Hegemonie erst ermöglicht die Einheit dieses Blocks gegenüber den beherrschten Klassen. Poulantzas betont, dass nicht nur Teile der Bourgeoisie (etwa das Monopolkapital) den Machtblock stemmen: „Diese bürgerlichen Fraktionen sind in ihrer Gesamtheit, obwohl in unterschiedlichem Maße, auf dem Terrain der politischen Herrschaft angesiedelt, und gehören somit immer zum Block an der Macht“ (Staatstheorie S. 159). Dieser Machtblock ist aber konfliktdurchzogen, er stellt ein umkämpftes, instabiles Kompromissgleichgewicht dar: „Der Machtblock stellt eine von inneren Widersprüchen gekennzeichnete Einheit von politisch herrschenden Klassen und Fraktionen unter dem Schutz der hegemonialen Fraktion dar. Der Klassenkampf, die Interessenrivalitäten zwischen den gesellschaftlichen Kräften sind darin ständig gegenwärtig, wobei diese Interessen ihren spezifischen Antagonismus bewahren“ (PMGK, S. 239). In diesem Sinne ist die konkrete Politik des Staates und die Hegemonie im Machtblock immer umkämpft, und dieser Kampf wird im Staat, in seinen ideologischen (Medien, Think Tanks, …) aber auch repressiven Apparaten (Polizei, Armee, …) ausgetragen.<br />
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Um die „Rolle der Vereinheitlichung und Organisierung der Bourgeoisie und des Blocks an der Macht“ (Staatstheorie, S. 158) zu erfüllen, muss der Staat laut Poulantzas eine „relative Autonomie“ gegenüber den einzelnen Bestandteilen des Blocks bewahren: „Unter relativer Autonomie dieses Staatstyps verstehe ich […] das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Feld des Klassenkampfes, insbesondere seine relative Autonomie gegenüber den Klassen oder Fraktionen des Machtblocks und in erweiterter Form auch gegenüber seinen Verbündeten oder Stützen […] Ich hoffe, damit klar genug die Distanz auszudrücken, die diese Auffassung des Staats von einer simplifizierten und vulgarisierten Auffassung des Staats trennt, die in ihm das Werkzeug oder Instrument der herrschenden Klasse sieht“ (PMGK S. 256).<br />
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Der Staat als Instrument (siehe auch die Abschnitte zum Staat als [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als klassenneutrales Instrument | klassenneutrales Instrument]] und als [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole | alleiniges Instrument der Monopole]]) und der [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt) | Staat als Subjekt]]: dies beides sind aus Poulantzas‘ Sicht falsche Staatsverständnisse, die er umschiffen will mit dem Verständnis des Staates als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses. Der Staat als Instrument/Werkzeug/Sache unterstellt eine Passivität oder Neutralität des Staates. Dieser wird als ein Apparat verstanden, der zur Ausübung der politischen Macht von der herrschenden Klasse oder auch einer Klassenfraktion verwendet wird, der aber eben auch so wie er ist übernommen werden kann, um gegen die herrschende Klasse gewendet zu werden. Eine Autonomie des Staates ist ausgeschlossen. Eine solche instrumentalistische Konzeption des Staates sieht Poulantzas in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der eurokommunistischen PCF in den 1970ern: „An dieser Konzeption kritisierte ich vor allem, dass sie zu der Vorstellung des mit dem Monopolkapital »fusionierten« Staates führt, einem Staat der im Dienste der Monopole steht und keinerlei Autonomie besitzt“ (Staatstheorie S. 160). Der Staat als Subjekt wiederum lässt ihn vollständig autonom werden, er steht als Akteur außerhalb der Klassen. Er agiert, koordiniert, verwaltet, reguliert selbstständig. Seine Autonomie bezieht sich „auf die angebliche Macht des Staates und auf die Träger dieser Macht und der staatlichen Rationalität: auf die Bürokratie und speziell auf die politische Elite“ (Staatstheorie S. 160). <br />
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Poulantzas schlägt vor, die „Sackgassen des ewigen Pseudodilemmas der Diskussion zwischen der Konzeption des Staates als einer Sache bzw. einem Instrument und der Konzeption des Staates als einem Subjekt“ (Staatstheorie S. 159f) zu vermeiden, indem der Staat über den Klassenkampf selbst verstanden wird, genauer: „ … indem ich sage, dass der Staat […] nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden darf, sondern, wie auch das »Kapital«, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ Der Staat spiegelt also nicht einfach ein gesellschaftliches Verhältnis wider, er selber konstituiert dieses Verhältnis. In der Vielzahl seiner Institutionen findet die ständige Austarierung zwischen Klassen und Klassenfraktionen statt. Diese Austarierung entspricht aber nicht direkt dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, beispielsweise sind die beherrschten Klassen nicht in den Staatsapparaten anwesend: „Sie organisieren und vereinheitlichen den Block an der Macht, indem sie die beherrschten Klassen ständig desorganisieren und spalten. Sie polarisieren sie gegenüber dem Block an der Macht und schließen ihre politischen Organisationen aus.“ (Staatstheorie S. 171)<br />
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Bei Poulantzas bleibt unklar, wie der Begriff der Verdichtung genau zu verstehen ist, wohingegen er ausführt, was es mit der Materialität hier auf sich hat. Mit Blick auf die Staatstheorie in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der PCF wendet er ein, dass diese „die eigenständige Materialität des Staates übersieht. Diese Materialität eines Staates, der als Werkzeug oder Instrument angesehen wird, hat keine eigene politische Bedeutung. Diese Bedeutung wird auf die Staatsmacht beschränkt, d.h. auf die Klasse, die dieses Instrument manipuliert. Das würde im Extremfall implizieren, dass das gleiche Instrument (das verschiedenen, allerdings zweitrangigen Modifikationen unterliegt) durch eine Veränderung der Staatsmacht, also durch die Macht der Arbeiterklasse, für den Übergang zum Sozialismus anders eingesetzt werden könnte“ (Staatstheorie S. 160). Dieses Defizit meint er zu beheben: „Das materielle Gerüst seiner [des Staates] Institutionen wird durch die Beziehung des Staates zu den Produktionsverhältnissen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung konstituiert, die sich in der kapitalistischen Trennung des Staates von diesen Verhältnissen konzentriert. […] Der Staat hat eine eigene Dichte und Widerstandskraft und reduziert sich nicht auf ein Kräfteverhältnis. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Klassen hat sicherlich immer Auswirkungen innerhalb des Staates, sie überträgt sich jedoch nicht direkt und unmittelbar. Sie passt sich der Materialität der verschiedenen Apparate an und kristallisiert sich im Staat nur in gebrochener und differenzierter, den Apparaten entsprechender Form. Eine Veränderung der Staatsmacht allein transformiert die Materialität des Staates nicht“ (Staatstheorie S. 161f). Als Beispiele für die Materialität führt Poulantzas u.a. die Organisierung kapitalistischen Wissens an: „Die geistige Arbeit (Wissen/Macht) ist in den Apparaten konzentriert und steht im Gegensatz zur tendenziell in den Volksmassen konzentrierten manuellen Arbeit, die von den organisatorischen Funktionen ausgeschlossen und getrennt sind“ (Staatstheorie S. 83).<br />
<br />
==="Akkumulationsregime" (Regulationsschule)===<br />
Hier sollen die offenen Fragen und Aufgaben ausformuliert werden, die sich aus der Staatstheorie der "Regulationsschule" und deren Theorie der "Akkumulationsregime" ergeben. Handelt es sich bei dieser Theorie um einen wesentlichen Beitrag zur marxistischen Staatstheorie, die eine vertiefende Analyse der verschiedenen Formen der bürgerlichen Herrschaft seit der Entstehung des Kapitalismus erlaubt (z.B. durch die Unterscheidung eines "keynesianischen" und eines "neoliberalen Akkumulationsregimes")? Wie wird aus Perspektive der der Regulationsschule der Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt? Enthält diese Theorietradition wesentliche Abweichungen von den Grundannahmen der marxistischen Staatstheorie? Welche Verbinndung gibt es zu den Theorien von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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'''Vertreter:''' Zu den prominentesten Vertretern der Regulationsschule gehören heute die Staatstheoretiker Joachim Hirsch und Bob Jessop.<br />
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===Staat = Repressionsapparate / "neue Demokratie" (Maoismus)===<br />
Innerhalb des maoistischen Spektrums lässt sich als tendenzielle Gemeinsamkeit in der Staatsfrage ein besonderer Fokus auf die „bewaffneten Apparate“ des bürgerlichen Staats und eine weitgehende Vernachlässigung der Analyse anderer, nicht unmittelbar gewaltförmiger Herrschaftstechniken der Bourgeoisie (Integrationsideologien, ökonomischer Zwang, etc.) feststellen. Dies steht im engen Zusammenhang mit der Strategie des "Volkskriegs". Dieser Strategie liegt eine Perspektive auf den Staat zugrunde, die den Kampf um die politische Macht weitgehend auf den unmittelbaren militärischen Kampf und die Zerschlagung der bewaffneten Staatsapparate zuspitzt. Die maoistische Theorie der "neuen Demokratie" enthält außerdem die These einer möglichen dritten Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats.<br />
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Von einer einheitlichen und systematisch ausgearbeiteten "maoistischen Staatstheorie" kann genauso wenig die Rede sein, wie von einer homogenen maoistischen Strömung innerhalb des Marxismus. In den klassischen Texten von Mao Tse-Tung findet sich vor allem keine eigene, systematisch ausgearbeitete Analyse des bürgerlichen Staats im Imperialismus. Die chinesischen Revolutionäre kämpften nicht gegen einen entwickelten bürgerlichen Staat, wie er sich in den imperialistischen Zentren herausgebildet hatte, sondern gegen einen agrarischen Feudalstaat mit kolonialen Elementen. Der Großteil von Maos Äußerungen über den Staat sind in diesem Kontext zu sehen, so zum Beispiel die oft zitierte Losung: "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 74.</ref> An anderer Stelle führt Mao diese Zuspitzung auf die Frage der militärischen Macht und der bewaffneten Apparate weiter aus und verallgemeinert sie als die aus seiner Sicht wichtigste Kernaussage der marxistischen Lehre vom Staat: "Vom Standpunkt der marxistischen Lehre vom Staat ist die Armee die Hauptkomponente der Staatsmacht. Wer die Staatsmacht ergreifen und behalten will, der muß eine starke Armee haben. Manche Leute bezeichnen uns höhnisch als Anhänger der ‚Theorie von der Allmacht des Krieges‘; jawohl, wir sind Anhänger der Theorie von der Allmacht des revolutionären Krieges, und das ist nicht schlecht, sondern gut, das ist marxistisch. [...] Die Erfahrungen des Klassenkampfes im Zeitalter des Imperialismus lehren uns: Die Arbeiterklasse und die übrigen Werktätigen Massen können nur mit der Macht der Gewehre die bewaffneten Bourgeois und Grundherren besiegen; in diesem Sinne können wir sagen, daß die ganze Welt nur mit Hilfe der Gewehre umgestaltet werden kann."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 75-76.</ref><br />
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In genau diesem Sinne wird die Staatsfrage auch in Teilen der zeitgenössischen maoistischen Strömungen behandelt. Viele zeitgenössische Mao-Gruppen beziehen sich dabei auf die Traditionslinie der peruanischen Guerillabewegung „Leuchtender Pfad“ bzw. der KP Perus (Vollständiger Name: ''Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui'') und ihres politischen und ideologischen Anführers „Presidente Gonzalo“ (Abiamel Guzmán). (''Anmerkung: Alle Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen sich auf die Broschüre „Einheitsbasis der Kommunistischen Partei Perus – angenommen auf dem I. Parteitag 1988“<ref>http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/gonzalo/1439-die-einheitsbasis-der-kommunistischen-partei-perus-auf-deutsch</ref>, die leider zahlreiche Übersetzungsfehler enthält.'')<br />
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Der Staat erscheint auch hier vor allem als bewaffneter Apparat, der militärisch bekämpft und zerschlagen werden muss:<br />
"die revolutionäre Gewalt ist ausnahmslos ein universelles Gesetz; die Revolution ist die gewaltsame Ersetzung einer Klasse durch eine andere. Er [Mao Tse-Tung] legte seine große These fest: ‚Die Macht kommt aus den Gewehrläufen!‘" (Über den Marxismus-Leninismus-Maoismus, S. 7) "[der] Volkskrieg, der durch eine revolutionäre Armee neuen Typs, unter der absoluten Führung der Partei, Stück für Stück die alte Macht zerstört, hauptsächlich seine bewaffneten und repressiven Kräfte." (Programm und Statuten der KP Perus, S. 16-17.)<br />
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Unter dem Begriff der „neue demokratische Revolution“ vertreten die Maoisten der KP Perus ein spezifisches Etappenmodell, das die Stufen der Revolution festlegt, die die unterdrückten Länder auf dem Weg zum Sozialismus durchlaufen müssen. Der Klasseninhalt der Revolution und der jeweiligen Staatsformen, die diese hervorbringen, ändert sich jedoch je nach Entwicklungsstand des jeweiligen Landes: "Um unser Endziel, den Kommunismus, zu erreichen, müssen wir Marxisten-Leninisten-Maoisten in Perspektive drei Typen von Revolutionen durchführen: 1) Die demokratische Revolution, das ist die bürgerliche Revolution neuen Typs in den rückständigen Ländern, unter der Führung des Proletariats, in deren Verlauf eine gemeinsame Diktatur des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und unter bestimmten Bedingungen der Mittelbourgeoisie unter der Führung des Proletariats errichtet wird; 2) Die sozialistische Revolution in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern, die die Diktatur des Proletariats errichtet; 3) Kulturrevolutionen, sie werden gemacht um die Revolution unter der Diktatur des Proletariats fortzusetzen, um jede Generierung des Kapitalismus zu unterwerfen und zu eliminieren und auch mit den Waffen gegen jedes streben nach Restauration des Kapitalismus zu kämpfen" (Allgemeine politische Linie, S. 19)<br />
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Mit der Theorie der „neuen demokratischen Revolution“ sind spezifische staatstheoretische Grundannahmen verbunden. Die „Neuen Demokratie“ gilt aus maoistischer Sicht als dritte Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats - ihr Klassencharakter ist wesentlich durch einen Klassenkompromiss bzw. ein Klassenbündnis bestimmt: "Die Neue Demokratie. In erster Stelle ist es eine Entwicklung der marxistischen Staatstheorie mit der Festlegung der drei Typen der Diktatur: 1. die Diktatur der Bourgeoisie, in den alten bürgerlichen Demokratien wie in den Vereinigten Staaten, dazu zählen auch die Diktaturen, die in unterdrückten Nationen, wie den lateinamerikanischen existieren, 2. die Diktatur des Proletariats wie in der Sowjetunion oder in China vor der Usurpation der Macht durch die Revisionisten und 3. die Neue Demokratie als gemeinsame Diktatur, die auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern basiert, geführt vom Proletariat mit der Kommunistischen Partei an der Spitze […]." (Über den Marxismus-Leninismus, S. 8) Im Anschluss an Mao und Gonzalo geht die KP Perus davon aus, dass die "Staatssysteme der Welt" auf „drei Grundtypen reduziert werden können, laut ihres Klassencharakters: Republik unter der Diktatur der Bourgeoisie, die auch die Staaten der alten Demokratie ausmachen und die Republik der gemeinsamen Diktatur der Grundbesitzer und Großbourgeoisie; Republiken unter der Diktatur des Proletariats; und Republik unter der gemeinsamen Diktatur der revolutionären Klassen […]." (Allgemeine politische Linie, S. 33.)<br />
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Andere Grundsätzlichere Fragen zum Thema Maoismus, wie die Strategie des „langfristigen Volkskriegs“, die Etappe der "neuen demokratischen Revolution" oder die Theorie des „Zweilinienkampfs“ werden perspektivisch durch die [[AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei]] bearbeitet. Fragen zur Polemik zwischen der Sowjetunion und China über die „friedliche Koexistenz“, die „Kulturrevolution“ und die maoistische Position, die Sowjetunion sei „sozialimperialistisch“ gewesen, gehören zum Arbeitsbereich der [[AG Sozialismus]].<br />
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Eine längere Version dieses Artikels (befindet sich noch in Bearbeitung) findet ihr hier: '''[[Die Staatsfrage im Maoismus]]'''<br />
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Vertreten werden solche oder ähnliche Positionen in Deutschland zum Beispiel von der Sozialistischen Linken (SoL) oder dem mittlerweile aufgelösten Jugendwiderstand (JW).<br />
===Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt)===<br />
Der ''Gegenstandpunkt'' (GSP, früher ''Marxistische Gruppe'') vertritt eine eigene Staatstheorie, die davon ausgeht, der bürgerliche Staat könne aus den abstrakten Kategorien der politischen Ökonomie "abgeleitet" werden. Den Ausgangspunkt dieser Ableitung bildet die einfache Warenzirkulation, in welcher die Warenbesitzer sich wechselseitig als "freie" und "gleiche" Privateigentümer anerkennen. Die Autoren des GSP sehen drei gemeinsame Interessen bei allen Privateigentümern: Die Erhaltung der Revenue, eine möglichst hohe Revenue und den kontinuierliche Fluss der Revenue. Daraus schlussfolgern sie, dass Schutz und Sicherung des Privateigentums, die Sicherung des Wirtschaftswachstums und ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft dem Gesamtinteresse aller Privateigentümer entsprechen, wozu als viertes das Interesse an gleichen Konkurrenzvoraussetzungen hinzutritt. Weil die Privateigentümer aber in der Verfolgung ihrer besonderen Interessen nicht die allgemeinen Interessen durchsetzen können, bedarf es des Staates: "Das besondere Dasein des Staates neben und außer der Gesellschaft der konkurrierenden Privaten – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit – ist das Resultat dieses Widerspruchs zwischen besonderem und allgemeinem Interesse in seinen verschiedenen Existenzweisen. Der Staat verkörpert die Loslösung der allgemeinen Interessen aus der Sphäre der Privaten und ihre Verwaltung in der Sphäre des Staates. Mit der Besonderung des Staates werden die allgemeinen Interessen zu seinen besonderen, deren Verwaltung allein ihm obliegt. <ref> von Flatow, Sybille / Huisken, Freerk: Zum Problem der Ableitung des bürgerlichen Staates, in: Prokla, 7 (1973), S. 121 </ref><br />
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Fertig ausformuliert und in den Reihen des GSP kanonisiert wurde diese "Staatsableitung" von Karl Held in ''Der bürgerliche Staat''. In Helds Analyse wird aus der „Besonderung des Staates“ letztendlich der „Staat als Subjekt“: "Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit und Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert.<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Staat hält hier nicht nur die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Reproduktion aufrecht, er wird zum eigenständigen Subjekt mit eigenen Interessen: "Der souveräne Staat ist eine von den Bürgern getrennte, selbständige Instanz, die mit keinem besonderen Interesse identisch ist und gerade und nur deswegen von allen anerkannte Gewalt ist, weil er sein Interesse, das Allgemeinwohl, gegen die Privatsubjekte durchsetzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref> "In der Unterordnung aller Aufgaben, um deren Erfüllung willen er sich als politisches Subjekt der Ökonomie betätigt, unter das Kriterium des wirtschaftlichen Wachstums, in der Relativierung aller Funktionen entsprechend dieser Zielsetzung der Wirtschaftspolitik fällt der Grund des bürgerlichen Staates – die freie Konkurrenz – unmittelbar zusammen mit seinem Zweck: er ist bewußter Agent des Inhalts der Konkurrenz, die bekanntlich nicht die Individuen, sondern das Kapital in Freiheit setzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
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Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates besteht daher beim GSP auch zuallererst darin, dass er nicht im Interesse der einen Klasse eine andere, sondern alle Individuen gleichermaßen unterwirft: "Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, daß er Klassenstaat ist: Durch die gleiche Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der Nutzen aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben." <ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat, URL: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat (29.12.2018) </ref><br />
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Der Staat wird dadurch also wesentlich (und nicht nur oberflächlich) zu einem (klassen)neutralen Subjekt erklärt, welches die äußeren Bedingungen der Konkurrenz organisiert und diese Bedingungen den Warenbesitzern unterschiedslos aufzwingt. <br />
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'''Vertreter:''' Neben dem ''Gegenstandpunkt'', dessen Aktivitäten sich fast auschließlich auf das akademische Milieu konzentrieren, werden diese Positionen auch von vielen studentischen Jugendgruppen in der "linksradikalen" und Antifa-Szene vertreten. Dies hat häufig damit zu tun, dass Leute aus der Szene ihre eigene theoretische Bildung über Lesekreise und Seminare des Gegenstandpunkt erwerben. Besonders in Teilen der ''Sozialistischen Jugend - Die Falken'' lässt sich ein starker ideologischer Einfluss des GSP feststellen, das gleiche Phänomen taucht aber auch immer wieder in Gewerkschaftsjugenden oder ''solid SDS''-Gruppen auf. Besonders stark ist zudem die Überschneidung zu "antinationalen" Gruppen, wie etwa bei der Dortmunder ''Gruppe K''.<br />
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Einen Text zur ausführlicheren Einbettung in den Kontext der "Staatsableitungsdebatte" findet ihr hier: [[Der Staat als Subjekt (Staatsableitungsdebatte)]]<br />
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Einen Hintergrundartikel zum Gegenstandpunkt hier: [https://kommunistische.org/diskussion/standpunkt-gegen-den-marxismus/ Standpunkt gegen den Marxismus (Thanasis Spanidis)]<br />
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===Anarchistische Staatskritik===<br />
Der "Anarchismus" (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) umfasst ein sehr diffuses und heterogenes Spektrum, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Dennoch lassen sich grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Anarchisten vertreten eine politische Haltung, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbstbestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammenschließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. Im Mittelpunkt stehen die Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, und Selbstverwirklichung der Individuen im Rahmen der kollektiven Selbstverwaltung („Autonomie“) möglichst kleiner Organisationseinheiten. Im Anarchismus fließen die Traditionen des bürgerlichen Liberalismus (individuelle Freiheit) und der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen (Kollektivität und Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Heute wird häufig das Adjektiv "libertär" (deutsch: freiheitlich) als Synonym für „anarchistisch“ benutzt.<br />
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An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich aus Sicht der Anarchisten auch schon die Bewegung selbst messen lassen, die für die „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Position so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren, geschweige denn nach der siegreichen Revolution einen eigenen Staat zur Niederhaltung der Unterdrücker und zum Aufbau und zur Verteidigung der Revolution schaffen darf. In Abgrenzung zu solchen individual-anarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen.<br />
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Die anarchistische Staatskritik richtet sich nicht hauptsächlich gegen den bürgerlichen Staat als Klassenstaat der Bourgeoise, sondern lehnt jede Form der Macht, der Autorität und der Staatlichkeit überhaupt als Grundübel der Gesellschaft ab. Der Anarchismus vertritt also in letzter Konsequenz einen klassenneutralen Machtbegriff – er lehnt die Macht nicht als Klassenmacht der Ausbeuter ab, sondern als abstraktes Ding an sich, das aus der Welt geschafft werden soll. <br />
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'''Marx und Engels vs. Bakunin:''' Die erste ausführliche theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. <br />
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Engels fasste die Kritik an der Staatsauffassung Michael Bakunins und der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen: "Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. [...]<br />
Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll,[...] so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität <nowiki>=</nowiki> Staat <nowiki>=</nowiki> absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!" <ref>Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33;Dietz-Verlag; S. 388-389.</ref><br />
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Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der politische Ausdruck dieser Widersprüche ist nicht die Klassenherrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter und alle anderen Werktätigen, sondern die Macht und Autorität des Staates überhaupt. Diese Auffassung hat weitreichende taktische und strategische Konsequenzen (siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]]).<br />
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'''Heutige Vertreter:''' Der Anarchismus in seiner klassischen Form, also als politische Ideologie und Bewegung mit realer Verankerung in der Arbeiterbewegung (wie ihn Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder die spanischen Anarchosyndikalisten vertraten) ist heute kaum mehr präsent. Vulgarisierte Formen des Anarchismus sind dagegen in der "autonomen" Szene und linken Subkulturen nach wie vor sehr weit verbreitet. Neben zahlreichen Splittergruppen, die in der BRD heute ein gemeinsames, hauptsächlich kleinbürgerlich geprägtes Milieu bilden und von der Arbeiterbewegung meist isoliert sind, bildet die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) eine gewisse Ausnahme. Diese Organisation versucht im Rahmen einer kleinen anarchistischen Richtungsgewerkschaft außerhalb der DGB-Gewerkschaften Klassenkämpfe und Streiks zu organisieren.<br />
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Verschiedene "anarchokommunistische" Gruppen und Zusammenschlüsse in Deutschland versuchen Aspekte des Marxismus (gewerkschaftliche Organisation, Klassenkampf, Vergesellschaftung der Produktionsmittel) mit Standpunkten des Anarchismus (Ablehnung von Hierarchien, zentralistischer Organisationsformen und der Diktatur des Proletariats) zu vereinen. Seit Dezember 2018 existiert mit der Initiative [https://www.dieplattform.org/wir/ "die Plattform"] z.B. ein Versuch, einen bundesweiten "plattformistischen" anarchakommunistischen Organisationszusammenhang aufzubauen und im Rahmen einer eigenen Schriftenreihe eine theoretische Debatte anzustoßen.<br />
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Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxistismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff. Die Rojava-Solidarität vereint heute ein politisches Spektrum, dass von der MLPD über die verschiedenen roten Gruppen, die iL, die Linkspartei und bis zu den antinationalen und antideutschen Zusammenhängen reicht.<br />
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==Bezug zu unseren Grundannahmen==<br />
==Wie wollen wir den Dissens klären?==<br />
==Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?==</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Der_Klassencharakter_des_b%C3%BCrgerlichen_Staats&diff=6889Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats2019-12-16T18:53:34Z<p>Dio: /* Überblick */</p>
<hr />
<div>Zurück zur [[AG Formen bürgerlicher Herrschaft]]<br />
==Überblick==<br />
Dieser Artikel soll einen ersten groben Überblick über die verschiedenen Auffassungen zum Klassencharakter des bürgerlichen Staats innerhalb des kommunistischen und im weiteren Sinne "linken" Spektrums geben. Ist der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" die organisierte politische Macht der gesamten Bourgeosie und damit das Instrument ihrer Klassenherrschaft? Oder ist der Staat an sich ein klassenneutraler Apparat, der sowohl für die Zwecke der Kapitalistenklasse, als auch im Interesse der Arbeiter in Bewegung gesetzt werden kann? Ist der Staat im Stadium des Imperialismus nur noch das Herrschaftsinstrument eines kleinen Teils der Kapitalisten, der Monopolbourgeoisie, die ihre Macht mit Hilfe des Staats auch gegen die "kleine und mittlere Bourgeoisie" durchsetzt? Oder ist der bürgerliche Staat nach 1945 gar zu einer "echten Demokratie" geworden, in der die politische Macht nicht mehr von den besitzenden Klassen ausgeht, sondern von der demokratische Mehrheit?<br />
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Die Unterschiede in der Analyse und die Einschätzung des Klassencharakters des bürgerlichen Staats haben weitreichende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung. Die sich daraus ergebenden Dissense werden an anderer Stelle unter dem Stichwort "'''[[Staat und Revolution]]'''" dargestellt.<br />
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===Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise"===<br />
Die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus (Marx, Engels, Lenin) bestimmten den bürgerlichen Staat als "ideellen Gesamtkapitalisten" und als Instrument der "Diktatur der Bourgeosie". <br />
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Schon im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 schrieben Marx und Engels: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. […] Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." (MEW 4, S. 464, 482) Diese Definition des Staates als „Ausschuss“ zur Regelung der „gemeinschaftlichen Geschäfte“ der Bourgeoisie deckt sich mit der späteren Formulierung von Engels, in der er den bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnete: "Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten […] nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. (Engels, Zur Wohnungsfrage MEW 18, S.257-258) Der Staat schützt die kapitalistische Produktionsweise sowohl gegen den Widerstand der Arbeiter als auch gegen die sich widersprechenden Einzelinteressen individueller Kapitalisten Laut Engels setzt der „ideelle Gesamtkapitalist“ also das Interesse der gesamten Herrschenden Klasse nicht nur gegenüber dem Proletariat, sondern auch gegenüber ihrer einzelnen Klassenindividuen durch: "der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." (Engels, Anti-Dühring (1877), MEW 20, S. 260) <br />
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Der Staat ist also einerseits Instrument zur Unterdrückung der Arbeiter und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse, gleichzeitig ist er notwendig, um die Bourgeoisie über die kapitalistische Konkurrenz hinweg zu Kompromissen zu zwingen und sie so erst als herrschende Klasse zu organisieren.<br />
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Lenin führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine scharfe Polemik gegen die Revisionisten und Reformisten in der deutschen und russichen Sozialdemokratie. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fasste er die Staatsauffassung von Marx und Engels in seiner Schrift ''Staat und Revolution'' (1917) zusammen: "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen 'Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. (LW 25, S. 399) Der Staat ist demnach eine Macht, "die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben. Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt ‚nicht mehr unmittelbar zusammenfällt‘ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer ‚selbsttätigen bewaffneten Organisation‘. [...] Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?" (LW 25, S. 401)<br />
Abschließend fasste Lenin seine Studien zur marxschen Staatsauffasung schließlich in der Bestimmung des bürgerlichen Staats als „Diktatur der Bourgeoisie“ zusammen: "Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist […]. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie." (LW 25, S. 425)<br />
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Von dieser Analyse ausgehend formulierten die Klassiker die strategische Orientierung auf die "Zerschlagung des bürgerlichen Staats" und die Errichtung der "Diktatur des Proletariats". Siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]].<br />
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Für eine ausführliche Aufstellung der hier zitierten Quellen siehe: [[Grundannahmen Staat]]<br />
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===Der Staat als klassenneutrales Instrument===<br />
Vertreter dieser Auffassung gehen davon aus, dass der bürgerliche Staat und seine Organisationsapparate an sich klassenneutrale Instrumente sind. Das heißt sie werden unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen zwar von der Bourgeoisie benutzt, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen, die Arbeiterklasse niederzuhalten und die Bedingungen der Kapitalakkumulation möglichts günstig zu gestalten, könnten unter anderen Bedingungen, zum Beispiel nach dem Wahlsieg einer Arbeiterpartei, aber genausogut im Interese des Proletariats in Bewegung gesetzt werden, zum beispiel um den Kapitalismus durch Sozialreformen allmählich in den Sozialismus zu überführen. Die Instrumente selbst, also die Staatsorganisationen vom Parlament über die Verwaltungs- bis hin zu den Repressionsorganen, verhalten sich dieser Auffassung nach also neutral zu den Zwecken ihrer Anwendung. Weder ihre konkrete Organisationsform noch das Personal, aus dem sie bestehen, tragen demnach Klassencharakter. Diese Auffassung steht im Widerspruch zu der Position, der bürgerliche Staat sei seiner Form und seinem Klasseninhalt nach "ideeller Gesamtkapitalist" und Ausdruck der "Diktatur der Bourgeoisie" (s.o.).<br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):'''<br />
Die klassischen Vertreter einer solchen Staatsauffassung waren die „Revisionisten“ in der deutschen Sozialdemokratie, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen und zentrale Annahmen des wissenschaftlichen Sozialismus zu "revidieren" begannen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Eduard Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. <br />
<br />
Bernstein bestritt in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899) die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Aufhebung des bürgerlichen Staats und schlug stattdessen einen friedlichen und demokratischen Reformweg zum Sozialismus vor. Bernstein argumentiert, die bisherige Ausrichtung der Sozialdemokratie auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus sei durch die Realität überholt. Das kapitalistische System habe sich als weitgehend krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, ein „Zusammenbruch“ des Kapitalismus bzw. eine revolutionäre Situation sei nicht mehr zu erwarten. Die Aufgabe der SPD sei es nun, im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch „Sozialreformen“ Verbesserungen für die Arbeiterklasse und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards zwischen den Klassen durchzusetzen. Den Weg, um diese Ziele zu erreichen, sah Bernstein in der schrittweisen Ausdehnung des parlamentarischen Einflusses der Sozialdemokratie bis hin zur Übernahme der Regierung. Diese würde dann weitreichende Reformen im Sinne der Arbeiterklasse und des Sozialismus durchsetzen. Das entsprechende Credo des Reformismus lautete: „der Weg ist alles, das Ziel ist nichts.“<br />
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Der klassische Reformismus setzt notwendig eine bestimmte Auffassung über den bürgerlichen Staat voraus. Wenn es möglich sein soll, den Kapitalismus allmählich durch Sozialreformen zu überwinden, so muss es auch möglich sein, dass die Arbeiterklasse diese Reformen im Staatsapparat gegen den Willen der Bourgeoisie durchsetzt oder diese zumindest zu Kompromissen zwingt – und zwar so weit, dass die Gesellschaft immer mehr sozialistische Züge annimmt und der Staat letztlich aufhört, bürgerlicher Staat zu sein und allmählich zu einem Instrument in den Händen der Arbeiterklasse wird. Dieses Instrument an sich muss also „klassenneutral“ sein und je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse sich entwickeln, kann es sowohl von der einen, als auch von der anderen Klasse kontrolliert und im eigenen Interesse eingesetzt werden. Der Staat steht in dieser rein instrumentalistischen Sichtweise der ihm zugrunde liegenden Produktionsweise also äußerlich gegenüber, er besitzt keine innere Verbindung zu ihr. Der Überbau scheint unabhängig von seiner ökonomischen Basis agieren zu können. Der bürgerliche Staat wird aus dieser Sichtweise nicht als spezifisches, den Klasseninteressen der Bourgeoisie entsprechend geformtes Werkzeug verstanden. Ergo kann das Proletariat dieses Werkzeug unverändert übernehmen, anstatt sich einen eigenen Apparat zu schaffen, der den spezifischen Erfordernissen und Klasseninteressen der Arbeitermacht entspricht.<br />
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'''Eurokommunismus:'''<br />
Ab den 1970er Jahren knüpften die sogenannten "Eurokommunisten" mit vielen ihrer Positionen an die theoretische Tradition des klassischen Revisionismus an, begründeten ihre Haltung aber damit, dass die Kräfteverhältnisse und somit auch der Charakter des bürgerlichen Staats sich nach 1945 grundlegend geändert hätten. Daher seien der „sowjetische Weg zum Sozialismus“ und die Diktatur des Proletariats als historischer Sonderfall überholt und Europa mittlerweile in eine Epoche der demokratischen Übergänge eingetreten. Sie vertraten die Einschätzung, die bürgerliche Demokratie sei nach dem Sieg über den Faschismus im Westen zu sehr gefestigt, als dass die Herrschenden gewaltsam gegen einen demokratischen Übergang zum Sozialismus vorgehen könnten. Die Hauptvertreter des Eurokommunismus waren die kommunistischen Parteien Frankreichs (PCF), Italiens (PCI) und Spaniens (PCE).<br />
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Die eurokommunistische Strategie des friedlichen, parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus ging mehr oder weniger offen davon aus, dass der Staat als ein „Feld im Klassenkampf" aufzufassen sei, auf dem sich zwar die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen widerspiegeln, das an sich aber klassenneutral sei. Durch Veränderungen der politischen Mehrheiten sollten der Staat und seine Institutionen durch die Kommunisten kontrolliert und im Sinne der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden. Die Regierung sollte ein Reformprogramm umsetzen, das die Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung Sozialismus entwickeln würde. Auch im Sozialismus sollte der bürgerlich-liberale Parlamentarismus als politische Herrschaftsform bruchlos beibehalten werden: „Die repräsentative Demokratie, kombiniert mit Formen der direkten Demokratie, kann ohne weiteres auch die Form des sozialistischen Systems sein.“<ref>zitiert nach: Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen, 1977.</ref> In Teilen der eurokommunistischen Strömung wurde sogar die Notwendigkeit der Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Länder in imperialistischen Staatenbündnissen wie der EG und der NATO offen verteidigt. Ausführlich dargelegt ist das Staatsverständnis der Eurokommunisten in Santiago Carrillos ''Eurokommunismus und Staat''<ref>Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.</ref>. <br />
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Ausführlicherer Artikel: [[Eurokommunistische Staatsauffassung]]<br />
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'''Andere Vertreter:'''<br />
Auch heute gibt es zahlreiche "linke" Vertreter dieser Auffassung. Die Annahme, der bürgerliche Staat sei ein grundsätzlich klassenneutrales Instrument, bildet die Voraussetzung jeder Strategie, die auf den Eintritt in die bürgerliche Regierung zum Zweck der Umsetzung von Reformen abzielt. Das gilt eindeutig für die deutsche ''Linkspartei'' und ihre europäischen Geschwisterorganisationen, allen voran die einflussreiche griechische ''SYRIZA''. Auch die "antimonopolistische Strategie" der DKP unterstellt letztlich eine Klassenneutralität des Staats der Monopole (s.u.). In unterschiedlichen Abstufungen wird diese Auffassung auch von den "bolivarischen Bewegungen" bzw. den Vertretern eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien etc. vertreten.<br />
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===Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole===<br />
Eine seit 1945 weit verbreitete Position geht davon aus, dass der bürgerliche Staat im Monopolkapitalismus nicht mehr das Interesse der gesamten herrschenden Klasse vertritt, sondern sich zum alleinigen Herrschaftsinstrument der Monopole entwickelt. Diese Vorstellung beruft sich häufig auf die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (s.o.) und ist eng verbunden mit den verschiedenen Varianten der [[Strategie der Übergänge]]. <br />
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'''Deutsche Kommunistische Partei (DKP):'''<br />
Die DKP vertritt seit ihrer Gründung eine Strategie der "antimonopolistischen Demokratie" (AMD). Diese wurde erstmals im Programm von 1978 explizit ausformuliert und beschlossen. Auch im Programm von 2006 bildet die AMD, von einigen kleineren Relativierungen abgesehen, noch immer den Kern der strategischen Vorstellungen der DKP. <br />
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Zu den wichtigsten Grundannahmen der AMD gehört, dass der bürgerliche Staat zu einem Instrument in den Händen der Monopole, also einer Handvoll Finanzoligarchen innerhalb der Bourgeoisie, geworden ist. Der Staat, so die These, setzt deren Profitinteressen rigoros gegen alle „nicht-monopolistischen Schichten“, also nicht nur gegen die Arbeiterklasse und alle anderen Werktätigen, sondern auch gegen die „kleine und mittlere Bourgeoisie“ durch. Der bürgerliche Staat vernachlässigt aus dieser Sicht also gewissermaßen seine Aufgabe als „ideeller Gesamtkapitalist“ und verkörpert gegenüber der gesamten Gesellschaft (und einem Großteil der Bourgeoisie) nicht mehr das langfristige Gesamtinteresse aller Kapitalisten, sondern einseitig das Partikularinteresse des Monopolkapitals. <br />
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Im DKP-Programm von 2006 heißt es dazu: "Als Machtinstrument der Monopolbourgeoisie setzt er [der Staat] immer unverblümter eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durch. An die Stelle der sozialen Integration tritt die Konfrontation. Der bürgerliche Staat verliert tendenziell seine Fähigkeit zur sozialen und politischen Vermittlung, weil die Basis für die Organisierung stabilerer sozialer Kompromisse, die größere Teile der Gesellschaft einbeziehen, verloren geht. So wird die bürgerliche Demokratie ausgehöhlt und verliert ihren Inhalt. Bei Beibehaltung formaler Demokratie vollzieht sich der Übergang vom 'Sozialstaat' zum autoritären 'Sicherheitsstaat'." (S. 12) <br />
<br />
Damit wird zwar der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht geleugnet, aber eine neue strategische Bruchlinie zwischen den Monopolen und allen „nicht-monopolistischen“ Schichten aufgemacht, die aus dieser Sicht nun in Opposition zum "Staat der Monopole" geraten. Entlang dieser Linie soll sich ein „antimonopolistisches Bündnis“ formieren, das neben der Arbeiterklasse nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch bedeutende Teile der „nicht-monopolistischen“ Bourgeoisie umfassen soll (siehe dazu das Programm von 2006, S. 33). Dieses Bündnis hat zwar nicht den Sozialismus zum Ziel, wohl aber eine Zwischenetappe der „antimonopolistischen Übergänge“, in deren Rahmen die Kommunisten sich an der Regierungsmacht beteiligen und zunächst im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise eine politische „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ durchsetzen sollen.<br />
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Diese Vorstellung eines weitgehend bruchlosen Übergangs des Staatsapparats aus den Händen der einen in die Hände der anderen Klasse unterstellt eine instrumentalistische Sicht auf den Staat und behandelt diesen in letzter Konsequenz als ''klassenneutrales Werkzeug'' (s.o.). Zugespitzt formuliert: Der Klassencharakter des Staates scheint sich aus Sicht der Vertreter der antimonopolistischen Strategie nicht aus seiner Funktionsweise und seinem Wesen, sondern aus den politischen Kräfteverhältnissen zu ergeben. Ändert die Regierung ihren Klassencharakter von „monopolistisch“ zu „nicht-monopolistisch“, so ändert sich demzufolge auch der Klassencharakter des Staates. <br />
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Hier geht es zu einer längeren Version dieses Artikels: [http://%E2%80%9EAntimonopolistische_Demokratie%E2%80%9C_(DKP) Antimonopolistische Demokratie]<br />
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'''Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD):'''<br />
Zu den wichtigsten Alleinstellungsmerkmalen der Theorie und Programmatik der MLPD gehört der Begriff der „Übermonopole“ (siehe dazu den Entsprechendne Artikel [[Imperialismus_als_Weltsystem|"Imperialismus als Weltsystem"]] der AG Politische Ökonomie], der auch ihre Analyse des bürgerlichen Staats der Gegenwart wesentlich prägt: "Die hier ansässigen internationalen Übermonopole, die zum allein herrschenden internationalen Finanzkapital gehören, haben sich den Staat vollkommen untergeordnet, und die Organe des Monopolkapitals sind mit den Organen des Staatsapparats verschmolzen. Sie haben ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft, auch über andere Monopole und die nicht monopolisierten Kapitalisten, errichtet. Über die Organe der EU nehmen sie Einfluss auf andere europäische Staaten." (Programm der MLPD)<br />
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Die MLPD geht also davon aus, dass sich diese „Übermonopole“ den bürgerlichen Staat „vollkommen untergeordnet“ haben – aus dieser Formulierung kann geschlussfolgert werden, dass der Staat nicht mehr als „ideeller Gesamtkapitalist“ das Gesamtinteresse des Kapitals vertritt, sondern von der Fraktion der „Übermonopole“ bzw. des „allein herrschenden Finanzkapitals“ allen anderen Teilen der Bourgeoisie gegenüber als Herrschaftsinstrument benutzt wird. Zudem geht die MLPD davon aus, dass die „Organe des Monopolkapitals“, die im vorangegangenen Stadium des Kapitalismus scheinbar noch unabhängig vom und außerhalb des Staatsapparates existierten, heute vollständig mit diesem „verschmolzen“ sind. <br />
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Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Programmatik der MLPD findet sich hier: [https://kommunistische.org/diskussion/einschaetzung-der-programmatik-der-mlpd/ Philipp Kissel, Einschätzung der Programmatik der MLPD].<br />
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Die Positionen der MLPD zum bürgerlichen Staat entnehmen wir ihrem zuletzt 2016 überarbeiteten Parteiprogramm.<ref>https://www.mlpd.de/parteiprogramm</ref><br />
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===Staatsmonopolistischer Kapitalismus===<br />
Hier soll kurz dargestellt werden, wie die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus den klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt. In welchem Verhältnis stehen Staat und Monopole? Ist der Staat alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole oder auch "ideeller Gesamtkapitalist", also Ausdruck der Herrschaft der gesamten Bourgeoisie?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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Siehe hierzu den Dissens [[Monopole und Staat]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus.<br />
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===Der Staat als "echte Demokratie"===<br />
Die Position, der bürgerliche Parlamentarismus auf der ökonomischen Basis der kapitalistischen Produktionsweise sei eine "echte Demokratie" läuft letztlich auf die Position hinaus, die gesellschaftlichen Verhältnisse würden nicht von der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie, sondern von der politischen Mehrheit bestimmt. Die Frage des Klassencharakters der Staats wird also reduziert auf eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Je nach dem, ob die Bourgeoisie oder die Arbeiterklasse im demokratischen Prozess mehr Kontrolle über den Staatsapparat ausübt, verschiebt sich auch dessen Klassencharakter. Diese Auffassung setzt zugleich ein Verständnis des Staates als ''klassenneutrale Instrument'' voraus (siehe oben). <br />
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'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):''' <br />
Die Vorstellung einer fortschreitenden Demokratisierung des bürgerlichen Staats und einer damit einhergehenden Verwandlung seines Klassencharakters spielten eine zentrale Rolle im Denken des klassischen Revisionismus. Rosa Luxemburg polemisierte schon 1899 gegen Eduard Bernstein: „die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie [sei] eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie.“ <ref> Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), Zweiter Teil </ref> Bürgerliche Demokratie und Parlamentarismus waren für Bernstein nicht taktische Mittel im Klassenkampf, sondern tatsächlicher Ausdruck der Herrshaft durch das Volk bzw. die Mehrheit, also der Arbeiterklasse: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. […] Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“<ref>Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.154-156.</ref> Für die Strategie der Arbeiterbewegung heißt das: „die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.“<ref>Ebd., S. 154-156.</ref> Die Arbeiterbewegung soll sich also darauf beschränken, im legalen Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus für Reformen und schrittweise Verbesserungen zu kämpfen. Der bürgerliche Staat ist dabei nicht ihr Gegner, sondern ihr Werkzeug. Die taktische Herausforderung besteht demnach einzig darin, auf demokratischem Weg in die Position zu gelangen, dieses Werkzeug für die eigenen Zwecke nutzen zu können.<br />
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'''Position von SYRIZA:''' <br />
Die griechische "Linkspartei" SYRIZA argumentiert in ihrem Regierungsprogramm, „der Staat [sei] keine Festung, sondern ein Netzwerk, ein Verhältnis und eine strategische Arena für den politischen Kampf. Er verändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, im Gegenteil, seine notwendige Transformation hat konstante und kontinuierliche Kämpfe zur Voraussetzung, die Einbeziehung des Volkes, ständige Demokratisierung.“ (Quelle: S''YRIZAs Regierungsprogramm''<ref>Zitiert nach einem auf Englisch erschienenen Artikel der KKE, ins Deutsche Übersetzt. URL: https://inter.kke.gr/en/articles/Criticism-of-certain-contemporary-opportunist-views-on-the-state/ (9.1.2019)</ref>) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der bürgerliche Staat von SYRIZA nicht seinem Wesen nach als ein Organ der bürgerlichen Klassenherrschaft angesehen, sondern als eine Ansammlung von Institutionen, die im Interesse des Volkes „transformiert“ werden können. Auf Grundlage dieser Sichtweise wird argumentiert, dass der Charakter des bürgerlichen Staats durch die richtigen politischen Kräfteverhältnisse geformt oder gar "transformiert" werden kann, solange sich nur „linke Regierungen“ durchsetzen können. <br />
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'''Position der DKP:''' <br />
Die DKP bleibt in ihrer Einschätzung der bürgerlichen Demokratie widersprüchlich. Einerseits ist in ihrem Programm von 2006 zwar die Rede davon, dass sich durch die "Globalisierung" die "Tendenz zur Reaktion" verschärft, dass die Demokratie untergraben wird (siehe S. 12) und dass letztlich eine "revolutionäre Überwindung" (S. 28) des Kapitalismus nötig sei. Andererseits gehört es jedoch zu den Kernthesen ihrer "antimonopolistischen Startegie", dass noch auf dem Boden der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und innerhalb des institutionellen Rahmens des bürgerlichen Staats umfassende Reformen und sogar eine "antimonopolistisch-demokratische Umgestaltung" (S. 32) möglich seien: "Je mehr es dabei gelingt, Veränderungen im Sinne von Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, von demokratischer Kontrolle, von Entmilitarisierung und Demokratisierung in Staat und Gesellschaft zu erreichen, je größer der Einfluss der demokratischen und sozialistischen Kräfte überall dort ist, wo Meinungsbildung stattfindet, desto besser sind die Chancen im Kampf um die Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und für die Öffnung des Weges zum Sozialismus. [...] Es geht um die [...] demokratische Einflussnahme auf den staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus im nationalen Rahmen wie im Rahmen der Europäischen Union und anderer internationaler staatsmonopolistischer Institutionen". (S. 30) Diese Vorstellung läuft letztlich also darauf hinaus, die Kommunisten und „Demokraten“ könnten den ideellen Gesamtkapitalisten dem Einfluss der Klasseninteressen der Bourgeoisie entreißen und ihrem eigenen politischen Willen unterwerfen.<br />
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'''Andere Vertreter:''' Ebenfalls weit verbreitet sind Vorstellungen über den demokratischen Charakter des bürgerlichen Staats in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dort gehört der Begriff der „Mitbestimmung“ nicht umsonst zum ideologischen Kernrepertoire. Die Vorstellung, im Betrieb ließe sich zwischen Kapital und Arbeit auf Augenhöhe eine demokratische Mitbestimmung und dadurch ein Interessenausgleich verwirklichen, bildet das Herzstück der Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Ähnliche Sichtweisen werden heute außerdem in einer Reihe lateinamerikanischer Länder gepflegt. Verschiedene „fortschrittliche“ und „linke“ Regierungen versuchen unter dem Banner des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bzw. der „bolivarischen Revolution“ das bürgerliche Staatsystem durch Gesetzesreformen und Volksabstimmungen grundlegend zu veränden.<br />
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==="Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci)===<br />
Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, verfasste in den 1920er und 30er Jahren in faschistischer Gefangenschaft seine „Gefängnishefte“, ein umfangreiches theoretisches Werk, dessen einzelne Bestandteile Gramsci unter den Bedingungen seiner Haft leider nicht mehr zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen konnte. Zu den wichtigsten Aspekten dieses Werks gehören Gramscis Überlegungen zur besonderen Form der Herrschaft der Bourgeoisie in den entwickelten imperialistischen Ländern und die daraus abgeleiteten Weiterentwicklungen der marxistischen Staatstheorie.<br />
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In den Gefängnisheften bringt Gramsci den Staat und die Herrschaft der Bourgeoisie auf die kurze Formel: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang" (H. 6, §88., S. 783)<ref>Antonio Gramsci, Gefängnisgefte. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1991. Im Folgenden wird aus den Gefängnisheften nur noch in Klammern nach Heft Nr., Paragraph und Seitenzahl zitiert.</ref><br />
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Gramsci weitet den Staatsbegriff damit aus und entwickelt sein Konzept des "integralen Staates". Dieser umfasst einerseits die "politische Gesellschaft", womit alle explizit staatlichen Strukturen und Institutionen gemeint sind, also das Parlament, die Beamtenapparate, die Repressionsorgane, die staatlichen Bildungseinrichtungen etc. Andererseits betrachtet Gramsci aber auch die "Zivilgesellschaft" als Teil der bürgerlichen Staatlichkeit. Gemeint sind damit alle Strukturen außerhalb der Staatsapparate, über die die Bourgeoisie ihre Herrschaft absichert, also private Medien, Bildungsstätten, Institute, Stiftungen, Clubs, Thinktanks etc. Mit Blick auf den Sieg der Oktoberrevolution in Russland und die darauffolgenden Niederlagen der Revolutionsversuche in Westeuropa schrieb Gramsci: "Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand;" (H. 7, §16., S. 873-874) An anderer Stelle heißt es: "zumindest was die fortgeschrittenen Staaten angeht, wo die 'Zivilgesellschaft' eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften 'Durchbrüchen' des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg." (H. 13, §14, S. 1553-1554) Die Stabilität der bürgerlichen Herrschaft hängt demnach also wesentlich davon ab, inwieweit die Zivilgesellschaft herausgebildet und die "Hegemonie" der Bourgeoisie enwickelt ist. <br />
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Mit dem Begriff der Hegemonie versucht Gramsci der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass sich die Macht der Bourgeoisie nicht nur auf das Staatliche Gewaltmonopol und die Repressionsapparate stützt, sondern wesentlich über ideologische Integration und die Erzeugung von "Konsens" abgesichert wird. Hegemonie bezeichnet also die politisch-ideologische Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über eine andere. "Die 'normale' Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne daß der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt, sondern im Gegenteil sogar versucht wird, zu erreichen, daß der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint […]" (H. 13, §37, S. 1607-1613). Konsens bezeichnet hier einen Zustand, in dem die Beherrschten die Herrschaft zumindest passiv ertragen oder sogar aktiv die Sichtweise übernehmen, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse entsprächen auch ihren Interessen und seien die bestmöglichen. Gramsci schreibt, dass "eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. […] Die politische Führung wird zu einem Aspekt der Herrschaft, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Klassen zur Enthauptung derselben und zu ihrer Machtlosigkeit führt. Es kann und muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben." (H. 1, §44, S. 101-113) <br />
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Heute wird der Begriff der Hegemonie fast ausschließlich Gramsci zugeschrieben, dabei war er zu dessen Lebzeiten unter den Theoretikern der Kommunistischen Internationale weit verbreitet und wurde breit diskutiert. Wie Buci-Glucksmann bemerkt, war er "im gesamten Marxismus der Dritten Internationale überaus geläufig. Man findet ihn vor allem unter der Feder Lenins vor 1917, aber auch später. Man finet ihn ebenso oft bei Bela Kun, Varga, Stalin, und vor allem Bucharin, der ihn in einer Weise benutzte, die der Gramscis nahezustehen scheinen könnte". <ref>Buci-Glicksmann, Gramsci und der Staat, S. 17.</ref> <br />
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Die "führende Klasse" oder Klassenfraktion ist laut Gramsci in ihrem Ringen um Hegemonie also in der Regel darum bemührt, alle anderen Fraktionen ihrer Klasse und ihrer "verbündeten Klassen" in ihren "Block an der Macht" zu integrieren. Das gelingt nur, indem sie mit diesen anderen Fraktionen ein Komprimissprogramm aushandelt, das bestmöglich das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse zusammenfasst und deren innere Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Der Ort, an dem diese Kompromisse ausgehandelt und schließlich in politische Praxis übersetzt werden, ist der bürgerliche Staat selbst. Gegenüber den "feindlichen Klassen" (also dem Proletariat und den anderen Werktätigen) tritt die Bourgeoisie als "herrschend" auf, sie übt ihre Hegemonie einerseits durch integration ihrer ideologischen Führer und andererseits durch materielle Zugeständnisse aus: "Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, daß sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, daß also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, daß solche Opfer und ein solcher Kompromiß nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt." (H. 13, §18, S. 1565-1573) Gramsci beschreibt in dieser Formulierung den grundsätzlichen Klassencharakter des Staates. Die Kompromisse können nie "das Wesentliche" betreffen - also die kapitalistische Produktionsweise - sondern sich nur in deren Rahmen Bewegen. <br />
<br />
Gramscis Staatstheorie knüpft eindeutig an die Auffassung des Staats als "ideeller Gesamtkapitalist" (s.o.) an, indem sie einerseits die Integration der gesamten herrschenden Klasse in einem "historischen Block" betont und andererseits die zumindest passive Einbindung der Beherrschten im Rahmen der Hegemonie betont. Mit einer Staatsauffassung, die den bürgerlichen Staat im Monopolkapitalismus als "alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole" (s.o.) versteht, ist Gramscis Ansatz kaum zu vereinbaren. <br />
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Mit Blick auf den Staat schreibt Gramsci außerdem, dieser sei "das Instrument zur Anpassung der Zivilgesellschaft an die ökonomische Struktur". (H. 10.II, §15, S. 1267) Dabei spielen Medien und andere ideologische Apparate eine entscheidende Rolle: "Was 'öffentliche Meinung' genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der 'Zivilgesellschaft' und der 'politischen Gesellschaft', zwischen dem Konsens und der Gewalt. Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft. […] die öffentliche Meinung, wie sie heute Verstanden wird, ist am Vorabend des Untergangs der absolutistischen Staaten entstanden, das heißt in der Zeit des Kampfes der neuen bürgerlichen Klasse um die politische Hegemonie und die Erlangung der Macht. […] [Es entbrennt ein] Kampf ums Monopol der Organe der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, Parlament". (H. 7, §83, S. 916-917)<br />
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Verliert die herrschende Klasse ihre Hegemonie so kommt es zur "Hegemonie-" bzw. "Autoritätskrise": "Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr 'führend', sondern einzig 'herrschend' ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die große Masse sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann". (H. 3, §34, S. 354-355) Der Verlust der Hegemonie darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem automatischen Verlust der Macht, schließlich verfügt die herrschende Klasse auch bei schwindendem Konsens noch immer über die Mittel des Zwangs. <br />
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Zu den strategischen Schlussfolgerungen, die Gramsci aus seiner Staatstheorie ableitete, siehe den Dissens-Artikel zu [[Staat und Revolution]] und dort den Abschnitt "Bewegungs- und Stellungskrieg". <br />
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Einige offene Fragen zu Gramsci und seiner Staatstheorie werden von unserer AG tiefergehend behandelt werden: Handelt es sich dabei um einen wegweisenden Beitrag zur marxistischen Staatstheorie im Zeitalter des Imperialismus und des entwickelten bürgerlichen Staats, an den die Kommunisten anknüpfen und den sie weiterentwickeln müssen? Oder enthält Gramscis Theorie bereits wesentliche revisionistische Abweichungen, die es den verschiedenen opportunistischen Strömungen, die sich heute auf ihn berufen, leicht machten, seine Theorie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?<br />
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==="Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas)===<br />
Nicos Poulantzas war ein griechischer Theoretiker, der in den 1960er und 70er Jahren eine Reihe an marxistischen Studien verfasste. Er sympathisierte nach 1968 mit der eurokommunistischen griechischen kommunistischen Partei des Inlands (KKE-Inland) und stand – in Frankreich lebend - in kritischer Distanz zur Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). In seinen klassen- und staatstheoretischen Schriften ist der Einfluss u.a. von Louis Althussers Strukturalismus sowie [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #"Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci) | Antonio Gramscis Hegemonietheorie]] sichtbar. In der marxistischen Debatte um den Staat hat Poulantzas tiefe Spuren hinterlassen, was primär zurückgeführt werden kann auf seine Konzeption des Staates als „Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“. Historisch bedeutsam war dabei zunächst die Auseinandersetzung mit Ralph Miliband; im deutschsprachigen Raum wurde seine Theorie u.a. über Joachim Hirsch und Alex Demirovic wieder in die Diskussion eingebracht.<br />
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Poulantzas formuliert in der Einleitung zur „Staatstheorie“ den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Es ist nicht der Klassencharakter des Staates, der zur Debatte steht: „Jeder Staat ist ein Klassenstaat; jede politische Herrschaft ist Klassendiktatur; der kapitalistische Staat ist ein Staat der Bourgeoisie; der kapitalistische Staat im Allgemeinen und jeder kapitalistische Staat im Besonderen sind Diktaturen der Bourgeoisie“ (Staatstheorie S. 155), all dies sind für ihn „Banalitäten“ - zwar richtig, aber nicht weiter ausführenswert. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, vielmehr stellt es sich hier neu: „[W]arum greift die Bourgeoisie in ihrer Herrschaft auf diesen nationalen Volksstaat zurück, diesen modernen Repräsentativ-Staat mit seinen spezifischen Institutionen, und nicht auf einen anderen? Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich genau diesen Staat aussuchen würden, wenn sie den Staat komplett selbst und nach ihrem Geschmack aufbauen würden.“ (Staatstheorie, S. 40). Eine verwandte Frage hatte bereits der sowjetische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis knapp 50 Jahre, vorher gestellt: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“1 Poulantzas gibt in der Einleitung auch eine vorläufige, knappe Antwort auf die von ihm formulierte Frage: „Der Staat stellt ein materielles Gerüst dar, das in keiner Weise auf die politische Herrschaft reduziert werden kann. Der Staatsapparat, dieses besondere und furchterregende Etwas, erschöpft sich nicht in der Staatsmacht. [...] Wenn der Staat nicht einfach ein vollständiges Produkt der herrschenden Klassen ist, so haben sie sich seiner auch nicht einfach bemächtigt: Die Macht des Staates (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) hat in dieser Materialität ihre Spuren hinterlassen. Die Handlungen des Staates reduzieren sich nicht auf die politische Herrschaft, sie sind jedoch konstitutiv von ihr gezeichnet.“ (Staatstheorie, S. 42)<br />
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Eine wichtige Aufgabe des Staates sieht Poulantzas in der Repräsentation und Organisation der herrschenden und der Desorganisation der beherrschten Klassen. Die Bourgeoisie ist keine widerspruchsfreie Einheit. Sie verfolgt zwar zwangsläufig als Klasse einheitlich das Ziel der Kapitalverwertung, dieses Ziel bringt sie aber auch in direkte Konkurrenz untereinander, weshalb, wie Engels sagt, der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert. Poulantzas zufolge ist die Kapitalistenklasse in Klassenfraktionen gespalten, die unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Interessen verfolgen. Diese Klassenfraktionen formieren sich unter der Hegemonie einer Fraktion zu einem „Block an der Macht“, in welchen auch andere herrschende Klassen miteinbezogen werden. Die Hegemonie einer Fraktion bedeutet dabei, dass diese die äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Sinne optimieren kann; und diese Hegemonie erst ermöglicht die Einheit dieses Blocks gegenüber den beherrschten Klassen. Poulantzas betont, dass nicht nur Teile der Bourgeoisie (etwa das Monopolkapital) den Machtblock stemmen: „Diese bürgerlichen Fraktionen sind in ihrer Gesamtheit, obwohl in unterschiedlichem Maße, auf dem Terrain der politischen Herrschaft angesiedelt, und gehören somit immer zum Block an der Macht“ (Staatstheorie S. 159). Dieser Machtblock ist aber konfliktdurchzogen, er stellt ein umkämpftes, instabiles Kompromissgleichgewicht dar: „Der Machtblock stellt eine von inneren Widersprüchen gekennzeichnete Einheit von politisch herrschenden Klassen und Fraktionen unter dem Schutz der hegemonialen Fraktion dar. Der Klassenkampf, die Interessenrivalitäten zwischen den gesellschaftlichen Kräften sind darin ständig gegenwärtig, wobei diese Interessen ihren spezifischen Antagonismus bewahren“ (PMGK, S. 239). In diesem Sinne ist die konkrete Politik des Staates und die Hegemonie im Machtblock immer umkämpft, und dieser Kampf wird im Staat, in seinen ideologischen (Medien, Think Tanks, …) aber auch repressiven Apparaten (Polizei, Armee, …) ausgetragen.<br />
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Um die „Rolle der Vereinheitlichung und Organisierung der Bourgeoisie und des Blocks an der Macht“ (Staatstheorie, S. 158) zu erfüllen, muss der Staat laut Poulantzas eine „relative Autonomie“ gegenüber den einzelnen Bestandteilen des Blocks bewahren: „Unter relativer Autonomie dieses Staatstyps verstehe ich […] das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Feld des Klassenkampfes, insbesondere seine relative Autonomie gegenüber den Klassen oder Fraktionen des Machtblocks und in erweiterter Form auch gegenüber seinen Verbündeten oder Stützen […] Ich hoffe, damit klar genug die Distanz auszudrücken, die diese Auffassung des Staats von einer simplifizierten und vulgarisierten Auffassung des Staats trennt, die in ihm das Werkzeug oder Instrument der herrschenden Klasse sieht“ (PMGK S. 256).<br />
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Der Staat als Instrument (siehe auch die Abschnitte zum Staat als [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als klassenneutrales Instrument | klassenneutrales Instrument]] und als [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole | alleiniges Instrument der Monopole]]) und der [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt) | Staat als Subjekt]]: dies beides sind aus Poulantzas‘ Sicht falsche Staatsverständnisse, die er umschiffen will mit dem Verständnis des Staates als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses. Der Staat als Instrument/Werkzeug/Sache unterstellt eine Passivität oder Neutralität des Staates. Dieser wird als ein Apparat verstanden, der zur Ausübung der politischen Macht von der herrschenden Klasse oder auch einer Klassenfraktion verwendet wird, der aber eben auch so wie er ist übernommen werden kann, um gegen die herrschende Klasse gewendet zu werden. Eine Autonomie des Staates ist ausgeschlossen. Eine solche instrumentalistische Konzeption des Staates sieht Poulantzas in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der eurokommunistischen PCF in den 1970ern: „An dieser Konzeption kritisierte ich vor allem, dass sie zu der Vorstellung des mit dem Monopolkapital »fusionierten« Staates führt, einem Staat der im Dienste der Monopole steht und keinerlei Autonomie besitzt“ (Staatstheorie S. 160). Der Staat als Subjekt wiederum lässt ihn vollständig autonom werden, er steht als Akteur außerhalb der Klassen. Er agiert, koordiniert, verwaltet, reguliert selbstständig. Seine Autonomie bezieht sich „auf die angebliche Macht des Staates und auf die Träger dieser Macht und der staatlichen Rationalität: auf die Bürokratie und speziell auf die politische Elite“ (Staatstheorie S. 160). <br />
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Poulantzas schlägt vor, die „Sackgassen des ewigen Pseudodilemmas der Diskussion zwischen der Konzeption des Staates als einer Sache bzw. einem Instrument und der Konzeption des Staates als einem Subjekt“ (Staatstheorie S. 159f) zu vermeiden, indem der Staat über den Klassenkampf selbst verstanden wird, genauer: „ … indem ich sage, dass der Staat […] nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden darf, sondern, wie auch das »Kapital«, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ Der Staat spiegelt also nicht einfach ein gesellschaftliches Verhältnis wider, er selber konstituiert dieses Verhältnis. In der Vielzahl seiner Institutionen findet die ständige Austarierung zwischen Klassen und Klassenfraktionen statt. Diese Austarierung entspricht aber nicht direkt dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, beispielsweise sind die beherrschten Klassen nicht in den Staatsapparaten anwesend: „Sie organisieren und vereinheitlichen den Block an der Macht, indem sie die beherrschten Klassen ständig desorganisieren und spalten. Sie polarisieren sie gegenüber dem Block an der Macht und schließen ihre politischen Organisationen aus.“ (Staatstheorie S. 171)<br />
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Bei Poulantzas bleibt unklar, wie der Begriff der Verdichtung genau zu verstehen ist, wohingegen er ausführt, was es mit der Materialität hier auf sich hat. Mit Blick auf die Staatstheorie in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der PCF wendet er ein, dass diese „die eigenständige Materialität des Staates übersieht. Diese Materialität eines Staates, der als Werkzeug oder Instrument angesehen wird, hat keine eigene politische Bedeutung. Diese Bedeutung wird auf die Staatsmacht beschränkt, d.h. auf die Klasse, die dieses Instrument manipuliert. Das würde im Extremfall implizieren, dass das gleiche Instrument (das verschiedenen, allerdings zweitrangigen Modifikationen unterliegt) durch eine Veränderung der Staatsmacht, also durch die Macht der Arbeiterklasse, für den Übergang zum Sozialismus anders eingesetzt werden könnte“ (Staatstheorie S. 160). Dieses Defizit meint er zu beheben: „Das materielle Gerüst seiner [des Staates] Institutionen wird durch die Beziehung des Staates zu den Produktionsverhältnissen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung konstituiert, die sich in der kapitalistischen Trennung des Staates von diesen Verhältnissen konzentriert. […] Der Staat hat eine eigene Dichte und Widerstandskraft und reduziert sich nicht auf ein Kräfteverhältnis. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Klassen hat sicherlich immer Auswirkungen innerhalb des Staates, sie überträgt sich jedoch nicht direkt und unmittelbar. Sie passt sich der Materialität der verschiedenen Apparate an und kristallisiert sich im Staat nur in gebrochener und differenzierter, den Apparaten entsprechender Form. Eine Veränderung der Staatsmacht allein transformiert die Materialität des Staates nicht“ (Staatstheorie S. 161f). Als Beispiele für die Materialität führt Poulantzas u.a. die Organisierung kapitalistischen Wissens an: „Die geistige Arbeit (Wissen/Macht) ist in den Apparaten konzentriert und steht im Gegensatz zur tendenziell in den Volksmassen konzentrierten manuellen Arbeit, die von den organisatorischen Funktionen ausgeschlossen und getrennt sind“ (Staatstheorie S. 83).<br />
<br />
==="Akkumulationsregime" (Regulationsschule)===<br />
Hier sollen die offenen Fragen und Aufgaben ausformuliert werden, die sich aus der Staatstheorie der "Regulationsschule" und deren Theorie der "Akkumulationsregime" ergeben. Handelt es sich bei dieser Theorie um einen wesentlichen Beitrag zur marxistischen Staatstheorie, die eine vertiefende Analyse der verschiedenen Formen der bürgerlichen Herrschaft seit der Entstehung des Kapitalismus erlaubt (z.B. durch die Unterscheidung eines "keynesianischen" und eines "neoliberalen Akkumulationsregimes")? Wie wird aus Perspektive der der Regulationsschule der Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt? Enthält diese Theorietradition wesentliche Abweichungen von den Grundannahmen der marxistischen Staatstheorie? Welche Verbinndung gibt es zu den Theorien von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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'''Vertreter:''' Zu den prominentesten Vertretern der Regulationsschule gehören heute die Staatstheoretiker Joachim Hirsch und Bob Jessop.<br />
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===Staat = Repressionsapparate / "neue Demokratie" (Maoismus)===<br />
Innerhalb des maoistischen Spektrums lässt sich als tendenzielle Gemeinsamkeit in der Staatsfrage ein besonderer Fokus auf die „bewaffneten Apparate“ des bürgerlichen Staats und eine weitgehende Vernachlässigung der Analyse anderer, nicht unmittelbar gewaltförmiger Herrschaftstechniken der Bourgeoisie (Integrationsideologien, ökonomischer Zwang, etc.) feststellen. Dies steht im engen Zusammenhang mit der Strategie des "Volkskriegs". Dieser Strategie liegt eine Perspektive auf den Staat zugrunde, die den Kampf um die politische Macht weitgehend auf den unmittelbaren militärischen Kampf und die Zerschlagung der bewaffneten Staatsapparate zuspitzt. Die maoistische Theorie der "neuen Demokratie" enthält außerdem die These einer möglichen dritten Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats.<br />
<br />
Von einer einheitlichen und systematisch ausgearbeiteten "maoistischen Staatstheorie" kann genauso wenig die Rede sein, wie von einer homogenen maoistischen Strömung innerhalb des Marxismus. In den klassischen Texten von Mao Tse-Tung findet sich vor allem keine eigene, systematisch ausgearbeitete Analyse des bürgerlichen Staats im Imperialismus. Die chinesischen Revolutionäre kämpften nicht gegen einen entwickelten bürgerlichen Staat, wie er sich in den imperialistischen Zentren herausgebildet hatte, sondern gegen einen agrarischen Feudalstaat mit kolonialen Elementen. Der Großteil von Maos Äußerungen über den Staat sind in diesem Kontext zu sehen, so zum Beispiel die oft zitierte Losung: "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 74.</ref> An anderer Stelle führt Mao diese Zuspitzung auf die Frage der militärischen Macht und der bewaffneten Apparate weiter aus und verallgemeinert sie als die aus seiner Sicht wichtigste Kernaussage der marxistischen Lehre vom Staat: "Vom Standpunkt der marxistischen Lehre vom Staat ist die Armee die Hauptkomponente der Staatsmacht. Wer die Staatsmacht ergreifen und behalten will, der muß eine starke Armee haben. Manche Leute bezeichnen uns höhnisch als Anhänger der ‚Theorie von der Allmacht des Krieges‘; jawohl, wir sind Anhänger der Theorie von der Allmacht des revolutionären Krieges, und das ist nicht schlecht, sondern gut, das ist marxistisch. [...] Die Erfahrungen des Klassenkampfes im Zeitalter des Imperialismus lehren uns: Die Arbeiterklasse und die übrigen Werktätigen Massen können nur mit der Macht der Gewehre die bewaffneten Bourgeois und Grundherren besiegen; in diesem Sinne können wir sagen, daß die ganze Welt nur mit Hilfe der Gewehre umgestaltet werden kann."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 75-76.</ref><br />
<br />
In genau diesem Sinne wird die Staatsfrage auch in Teilen der zeitgenössischen maoistischen Strömungen behandelt. Viele zeitgenössische Mao-Gruppen beziehen sich dabei auf die Traditionslinie der peruanischen Guerillabewegung „Leuchtender Pfad“ bzw. der KP Perus (Vollständiger Name: ''Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui'') und ihres politischen und ideologischen Anführers „Presidente Gonzalo“ (Abiamel Guzmán). (''Anmerkung: Alle Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen sich auf die Broschüre „Einheitsbasis der Kommunistischen Partei Perus – angenommen auf dem I. Parteitag 1988“<ref>http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/gonzalo/1439-die-einheitsbasis-der-kommunistischen-partei-perus-auf-deutsch</ref>, die leider zahlreiche Übersetzungsfehler enthält.'')<br />
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Der Staat erscheint auch hier vor allem als bewaffneter Apparat, der militärisch bekämpft und zerschlagen werden muss:<br />
"die revolutionäre Gewalt ist ausnahmslos ein universelles Gesetz; die Revolution ist die gewaltsame Ersetzung einer Klasse durch eine andere. Er [Mao Tse-Tung] legte seine große These fest: ‚Die Macht kommt aus den Gewehrläufen!‘" (Über den Marxismus-Leninismus-Maoismus, S. 7) "[der] Volkskrieg, der durch eine revolutionäre Armee neuen Typs, unter der absoluten Führung der Partei, Stück für Stück die alte Macht zerstört, hauptsächlich seine bewaffneten und repressiven Kräfte." (Programm und Statuten der KP Perus, S. 16-17.)<br />
<br />
Unter dem Begriff der „neue demokratische Revolution“ vertreten die Maoisten der KP Perus ein spezifisches Etappenmodell, das die Stufen der Revolution festlegt, die die unterdrückten Länder auf dem Weg zum Sozialismus durchlaufen müssen. Der Klasseninhalt der Revolution und der jeweiligen Staatsformen, die diese hervorbringen, ändert sich jedoch je nach Entwicklungsstand des jeweiligen Landes: "Um unser Endziel, den Kommunismus, zu erreichen, müssen wir Marxisten-Leninisten-Maoisten in Perspektive drei Typen von Revolutionen durchführen: 1) Die demokratische Revolution, das ist die bürgerliche Revolution neuen Typs in den rückständigen Ländern, unter der Führung des Proletariats, in deren Verlauf eine gemeinsame Diktatur des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und unter bestimmten Bedingungen der Mittelbourgeoisie unter der Führung des Proletariats errichtet wird; 2) Die sozialistische Revolution in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern, die die Diktatur des Proletariats errichtet; 3) Kulturrevolutionen, sie werden gemacht um die Revolution unter der Diktatur des Proletariats fortzusetzen, um jede Generierung des Kapitalismus zu unterwerfen und zu eliminieren und auch mit den Waffen gegen jedes streben nach Restauration des Kapitalismus zu kämpfen" (Allgemeine politische Linie, S. 19)<br />
<br />
Mit der Theorie der „neuen demokratischen Revolution“ sind spezifische staatstheoretische Grundannahmen verbunden. Die „Neuen Demokratie“ gilt aus maoistischer Sicht als dritte Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats - ihr Klassencharakter ist wesentlich durch einen Klassenkompromiss bzw. ein Klassenbündnis bestimmt: "Die Neue Demokratie. In erster Stelle ist es eine Entwicklung der marxistischen Staatstheorie mit der Festlegung der drei Typen der Diktatur: 1. die Diktatur der Bourgeoisie, in den alten bürgerlichen Demokratien wie in den Vereinigten Staaten, dazu zählen auch die Diktaturen, die in unterdrückten Nationen, wie den lateinamerikanischen existieren, 2. die Diktatur des Proletariats wie in der Sowjetunion oder in China vor der Usurpation der Macht durch die Revisionisten und 3. die Neue Demokratie als gemeinsame Diktatur, die auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern basiert, geführt vom Proletariat mit der Kommunistischen Partei an der Spitze […]." (Über den Marxismus-Leninismus, S. 8) Im Anschluss an Mao und Gonzalo geht die KP Perus davon aus, dass die "Staatssysteme der Welt" auf „drei Grundtypen reduziert werden können, laut ihres Klassencharakters: Republik unter der Diktatur der Bourgeoisie, die auch die Staaten der alten Demokratie ausmachen und die Republik der gemeinsamen Diktatur der Grundbesitzer und Großbourgeoisie; Republiken unter der Diktatur des Proletariats; und Republik unter der gemeinsamen Diktatur der revolutionären Klassen […]." (Allgemeine politische Linie, S. 33.)<br />
<br />
Andere Grundsätzlichere Fragen zum Thema Maoismus, wie die Strategie des „langfristigen Volkskriegs“, die Etappe der "neuen demokratischen Revolution" oder die Theorie des „Zweilinienkampfs“ werden perspektivisch durch die [[AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei]] bearbeitet. Fragen zur Polemik zwischen der Sowjetunion und China über die „friedliche Koexistenz“, die „Kulturrevolution“ und die maoistische Position, die Sowjetunion sei „sozialimperialistisch“ gewesen, gehören zum Arbeitsbereich der [[AG Sozialismus]].<br />
<br />
Eine längere Version dieses Artikels (befindet sich noch in Bearbeitung) findet ihr hier: '''[[Die Staatsfrage im Maoismus]]'''<br />
<br />
Vertreten werden solche oder ähnliche Positionen in Deutschland zum Beispiel von der Sozialistischen Linken (SoL) oder dem mittlerweile aufgelösten Jugendwiderstand (JW).<br />
===Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt)===<br />
Der ''Gegenstandpunkt'' (GSP, früher ''Marxistische Gruppe'') vertritt eine eigene Staatstheorie, die davon ausgeht, der bürgerliche Staat könne aus den abstrakten Kategorien der politischen Ökonomie "abgeleitet" werden. Den Ausgangspunkt dieser Ableitung bildet die einfache Warenzirkulation, in welcher die Warenbesitzer sich wechselseitig als "freie" und "gleiche" Privateigentümer anerkennen. Die Autoren des GSP sehen drei gemeinsame Interessen bei allen Privateigentümern: Die Erhaltung der Revenue, eine möglichst hohe Revenue und den kontinuierliche Fluss der Revenue. Daraus schlussfolgern sie, dass Schutz und Sicherung des Privateigentums, die Sicherung des Wirtschaftswachstums und ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft dem Gesamtinteresse aller Privateigentümer entsprechen, wozu als viertes das Interesse an gleichen Konkurrenzvoraussetzungen hinzutritt. Weil die Privateigentümer aber in der Verfolgung ihrer besonderen Interessen nicht die allgemeinen Interessen durchsetzen können, bedarf es des Staates: "Das besondere Dasein des Staates neben und außer der Gesellschaft der konkurrierenden Privaten – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit – ist das Resultat dieses Widerspruchs zwischen besonderem und allgemeinem Interesse in seinen verschiedenen Existenzweisen. Der Staat verkörpert die Loslösung der allgemeinen Interessen aus der Sphäre der Privaten und ihre Verwaltung in der Sphäre des Staates. Mit der Besonderung des Staates werden die allgemeinen Interessen zu seinen besonderen, deren Verwaltung allein ihm obliegt. <ref> von Flatow, Sybille / Huisken, Freerk: Zum Problem der Ableitung des bürgerlichen Staates, in: Prokla, 7 (1973), S. 121 </ref><br />
<br />
Fertig ausformuliert und in den Reihen des GSP kanonisiert wurde diese "Staatsableitung" von Karl Held in ''Der bürgerliche Staat''. In Helds Analyse wird aus der „Besonderung des Staates“ letztendlich der „Staat als Subjekt“: "Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit und Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert.<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
<br />
Der Staat hält hier nicht nur die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Reproduktion aufrecht, er wird zum eigenständigen Subjekt mit eigenen Interessen: "Der souveräne Staat ist eine von den Bürgern getrennte, selbständige Instanz, die mit keinem besonderen Interesse identisch ist und gerade und nur deswegen von allen anerkannte Gewalt ist, weil er sein Interesse, das Allgemeinwohl, gegen die Privatsubjekte durchsetzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref> "In der Unterordnung aller Aufgaben, um deren Erfüllung willen er sich als politisches Subjekt der Ökonomie betätigt, unter das Kriterium des wirtschaftlichen Wachstums, in der Relativierung aller Funktionen entsprechend dieser Zielsetzung der Wirtschaftspolitik fällt der Grund des bürgerlichen Staates – die freie Konkurrenz – unmittelbar zusammen mit seinem Zweck: er ist bewußter Agent des Inhalts der Konkurrenz, die bekanntlich nicht die Individuen, sondern das Kapital in Freiheit setzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
<br />
Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates besteht daher beim GSP auch zuallererst darin, dass er nicht im Interesse der einen Klasse eine andere, sondern alle Individuen gleichermaßen unterwirft: "Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, daß er Klassenstaat ist: Durch die gleiche Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der Nutzen aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben." <ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat, URL: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat (29.12.2018) </ref><br />
<br />
Der Staat wird dadurch also wesentlich (und nicht nur oberflächlich) zu einem (klassen)neutralen Subjekt erklärt, welches die äußeren Bedingungen der Konkurrenz organisiert und diese Bedingungen den Warenbesitzern unterschiedslos aufzwingt. <br />
<br />
'''Vertreter:''' Neben dem ''Gegenstandpunkt'', dessen Aktivitäten sich fast auschließlich auf das akademische Milieu konzentrieren, werden diese Positionen auch von vielen studentischen Jugendgruppen in der "linksradikalen" und Antifa-Szene vertreten. Dies hat häufig damit zu tun, dass Leute aus der Szene ihre eigene theoretische Bildung über Lesekreise und Seminare des Gegenstandpunkt erwerben. Besonders in Teilen der ''Sozialistischen Jugend - Die Falken'' lässt sich ein starker ideologischer Einfluss des GSP feststellen, das gleiche Phänomen taucht aber auch immer wieder in Gewerkschaftsjugenden oder ''solid SDS''-Gruppen auf. Besonders stark ist zudem die Überschneidung zu "antinationalen" Gruppen, wie etwa bei der Dortmunder ''Gruppe K''.<br />
<br />
Einen Text zur ausführlicheren Einbettung in den Kontext der "Staatsableitungsdebatte" findet ihr hier: [[Der Staat als Subjekt (Staatsableitungsdebatte)]]<br />
<br />
Einen Hintergrundartikel zum Gegenstandpunkt hier: [https://kommunistische.org/diskussion/standpunkt-gegen-den-marxismus/ Standpunkt gegen den Marxismus (Thanasis Spanidis)]<br />
<br />
===Anarchistische Staatskritik===<br />
Der "Anarchismus" (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) umfasst ein sehr diffuses und heterogenes Spektrum, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Dennoch lassen sich grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Anarchisten vertreten eine politische Haltung, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbstbestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammenschließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. Im Mittelpunkt stehen die Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, und Selbstverwirklichung der Individuen im Rahmen der kollektiven Selbstverwaltung („Autonomie“) möglichst kleiner Organisationseinheiten. Im Anarchismus fließen die Traditionen des bürgerlichen Liberalismus (individuelle Freiheit) und der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen (Kollektivität und Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Heute wird häufig das Adjektiv "libertär" (deutsch: freiheitlich) als Synonym für „anarchistisch“ benutzt.<br />
<br />
An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich aus Sicht der Anarchisten auch schon die Bewegung selbst messen lassen, die für die „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Position so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren, geschweige denn nach der siegreichen Revolution einen eigenen Staat zur Niederhaltung der Unterdrücker und zum Aufbau und zur Verteidigung der Revolution schaffen darf. In Abgrenzung zu solchen individual-anarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen.<br />
<br />
Die anarchistische Staatskritik richtet sich nicht hauptsächlich gegen den bürgerlichen Staat als Klassenstaat der Bourgeoise, sondern lehnt jede Form der Macht, der Autorität und der Staatlichkeit überhaupt als Grundübel der Gesellschaft ab. Der Anarchismus vertritt also in letzter Konsequenz einen klassenneutralen Machtbegriff – er lehnt die Macht nicht als Klassenmacht der Ausbeuter ab, sondern als abstraktes Ding an sich, das aus der Welt geschafft werden soll. <br />
<br />
'''Marx und Engels vs. Bakunin:''' Die erste ausführliche theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. <br />
<br />
Engels fasste die Kritik an der Staatsauffassung Michael Bakunins und der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen: "Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. [...]<br />
Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll,[...] so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität <nowiki>=</nowiki> Staat <nowiki>=</nowiki> absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!" <ref>Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33;Dietz-Verlag; S. 388-389.</ref><br />
<br />
Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der politische Ausdruck dieser Widersprüche ist nicht die Klassenherrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter und alle anderen Werktätigen, sondern die Macht und Autorität des Staates überhaupt. Diese Auffassung hat weitreichende taktische und strategische Konsequenzen (siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]]).<br />
<br />
'''Heutige Vertreter:''' Der Anarchismus in seiner klassischen Form, also als politische Ideologie und Bewegung mit realer Verankerung in der Arbeiterbewegung (wie ihn Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder die spanischen Anarchosyndikalisten vertraten) ist heute kaum mehr präsent. Vulgarisierte Formen des Anarchismus sind dagegen in der "autonomen" Szene und linken Subkulturen nach wie vor sehr weit verbreitet. Neben zahlreichen Splittergruppen, die in der BRD heute ein gemeinsames, hauptsächlich kleinbürgerlich geprägtes Milieu bilden und von der Arbeiterbewegung meist isoliert sind, bildet die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) eine gewisse Ausnahme. Diese Organisation versucht im Rahmen einer kleinen anarchistischen Richtungsgewerkschaft außerhalb der DGB-Gewerkschaften Klassenkämpfe und Streiks zu organisieren.<br />
<br />
Verschiedene "anarchokommunistische" Gruppen und Zusammenschlüsse in Deutschland versuchen Aspekte des Marxismus (gewerkschaftliche Organisation, Klassenkampf, Vergesellschaftung der Produktionsmittel) mit Standpunkten des Anarchismus (Ablehnung von Hierarchien, zentralistischer Organisationsformen und der Diktatur des Proletariats) zu vereinen. Seit Dezember 2018 existiert mit der Initiative [https://www.dieplattform.org/wir/ "die Plattform"] z.B. ein Versuch, einen bundesweiten "plattformistischen" anarchakommunistischen Organisationszusammenhang aufzubauen und im Rahmen einer eigenen Schriftenreihe eine theoretische Debatte anzustoßen.<br />
<br />
Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxistismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff. Die Rojava-Solidarität vereint heute ein politisches Spektrum, dass von der MLPD über die verschiedenen roten Gruppen, die iL, die Linkspartei und bis zu den antinationalen und antideutschen Zusammenhängen reicht.<br />
<br />
==Bezug zu unseren Grundannahmen==<br />
==Wie wollen wir den Dissens klären?==<br />
==Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?==</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Der_Klassencharakter_des_b%C3%BCrgerlichen_Staats&diff=6888Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats2019-12-16T18:52:48Z<p>Dio: /* Überblick */</p>
<hr />
<div>Zurück zur [[AG Formen bürgerlicher Herrschaft]]<br />
==Überblick==<br />
Dieser Artikel soll einen ersten groben Überblick über die verschiedenen Auffassungen zum Klassencharakter des bürgerlichen Staats innerhalb des kommunistischen und im weiteren Sinne "linken" Spektrums geben. Ist der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" die organisierte politische Macht der gesamten Bourgeosie und damit das Instrument ihrer Klassenherrschaft? Oder ist der Staat an sich ein klassenneutraler Apparat, der sowohl für die Zwecke der Kapitalistenklasse, als auch im Interesse der Arbeiter in Bewegung gesetzt werden kann? Ist der Staat im Stadium des Imperialismus nur noch das Herrschaftsinstrument eines kleinen Teils der Kapitalisten, der Monopolbourgeoisie, die ihre Macht mit Hilfe des Staats auch gegen die "kleine und mittlere Bourgeoisie" durchsetzt? Oder ist der bürgerliche Staat nach 1945 gar zu einer "echten Demokratie" geworden, in der die politische Macht nicht mehr von den besitzenden Klassen ausgeht, sondern von der demokratische Mehrheit?<br />
<br />
Die Unterschiede in der Analyse und die Einschätzung des Klassencharakters des bürgerlichen Staats haben weitreichende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung. Die sich daraus ergebenden Dissense diesbezüglich werden an anderer Stelle unter dem Stichwort "'''[[Staat und Revolution]]'''" dargestellt.<br />
<br />
===Der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" und "Diktatur der Bourgeoise"===<br />
Die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus (Marx, Engels, Lenin) bestimmten den bürgerlichen Staat als "ideellen Gesamtkapitalisten" und als Instrument der "Diktatur der Bourgeosie". <br />
<br />
Schon im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 schrieben Marx und Engels: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. […] Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen." (MEW 4, S. 464, 482) Diese Definition des Staates als „Ausschuss“ zur Regelung der „gemeinschaftlichen Geschäfte“ der Bourgeoisie deckt sich mit der späteren Formulierung von Engels, in der er den bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnete: "Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten […] nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. (Engels, Zur Wohnungsfrage MEW 18, S.257-258) Der Staat schützt die kapitalistische Produktionsweise sowohl gegen den Widerstand der Arbeiter als auch gegen die sich widersprechenden Einzelinteressen individueller Kapitalisten Laut Engels setzt der „ideelle Gesamtkapitalist“ also das Interesse der gesamten Herrschenden Klasse nicht nur gegenüber dem Proletariat, sondern auch gegenüber ihrer einzelnen Klassenindividuen durch: "der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." (Engels, Anti-Dühring (1877), MEW 20, S. 260) <br />
<br />
Der Staat ist also einerseits Instrument zur Unterdrückung der Arbeiter und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse, gleichzeitig ist er notwendig, um die Bourgeoisie über die kapitalistische Konkurrenz hinweg zu Kompromissen zu zwingen und sie so erst als herrschende Klasse zu organisieren.<br />
<br />
Lenin führte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine scharfe Polemik gegen die Revisionisten und Reformisten in der deutschen und russichen Sozialdemokratie. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fasste er die Staatsauffassung von Marx und Engels in seiner Schrift ''Staat und Revolution'' (1917) zusammen: "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen 'Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. (LW 25, S. 399) Der Staat ist demnach eine Macht, "die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben. Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt ‚nicht mehr unmittelbar zusammenfällt‘ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer ‚selbsttätigen bewaffneten Organisation‘. [...] Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?" (LW 25, S. 401)<br />
Abschließend fasste Lenin seine Studien zur marxschen Staatsauffasung schließlich in der Bestimmung des bürgerlichen Staats als „Diktatur der Bourgeoisie“ zusammen: "Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist […]. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie." (LW 25, S. 425)<br />
<br />
Von dieser Analyse ausgehend formulierten die Klassiker die strategische Orientierung auf die "Zerschlagung des bürgerlichen Staats" und die Errichtung der "Diktatur des Proletariats". Siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]].<br />
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Für eine ausführliche Aufstellung der hier zitierten Quellen siehe: [[Grundannahmen Staat]]<br />
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===Der Staat als klassenneutrales Instrument===<br />
Vertreter dieser Auffassung gehen davon aus, dass der bürgerliche Staat und seine Organisationsapparate an sich klassenneutrale Instrumente sind. Das heißt sie werden unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen zwar von der Bourgeoisie benutzt, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen, die Arbeiterklasse niederzuhalten und die Bedingungen der Kapitalakkumulation möglichts günstig zu gestalten, könnten unter anderen Bedingungen, zum Beispiel nach dem Wahlsieg einer Arbeiterpartei, aber genausogut im Interese des Proletariats in Bewegung gesetzt werden, zum beispiel um den Kapitalismus durch Sozialreformen allmählich in den Sozialismus zu überführen. Die Instrumente selbst, also die Staatsorganisationen vom Parlament über die Verwaltungs- bis hin zu den Repressionsorganen, verhalten sich dieser Auffassung nach also neutral zu den Zwecken ihrer Anwendung. Weder ihre konkrete Organisationsform noch das Personal, aus dem sie bestehen, tragen demnach Klassencharakter. Diese Auffassung steht im Widerspruch zu der Position, der bürgerliche Staat sei seiner Form und seinem Klasseninhalt nach "ideeller Gesamtkapitalist" und Ausdruck der "Diktatur der Bourgeoisie" (s.o.).<br />
<br />
'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):'''<br />
Die klassischen Vertreter einer solchen Staatsauffassung waren die „Revisionisten“ in der deutschen Sozialdemokratie, die nach dem Tod von Marx und Engels von der bisherigen Programmatik und den marxistischen Grundpositionen der Partei abwichen und zentrale Annahmen des wissenschaftlichen Sozialismus zu "revidieren" begannen. Der Hauptvertreter dieser Richtung war zunächst Eduard Bernstein, der sich während der Zeit der Sozialistengesetze im englischen Exil den reformistischen Positionen der dortigen „Fabian Society“ angenähert hatte. <br />
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Bernstein bestritt in seinem theoretischen Hauptwerk ''Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie'' (1899) die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Aufhebung des bürgerlichen Staats und schlug stattdessen einen friedlichen und demokratischen Reformweg zum Sozialismus vor. Bernstein argumentiert, die bisherige Ausrichtung der Sozialdemokratie auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus sei durch die Realität überholt. Das kapitalistische System habe sich als weitgehend krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, ein „Zusammenbruch“ des Kapitalismus bzw. eine revolutionäre Situation sei nicht mehr zu erwarten. Die Aufgabe der SPD sei es nun, im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch „Sozialreformen“ Verbesserungen für die Arbeiterklasse und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards zwischen den Klassen durchzusetzen. Den Weg, um diese Ziele zu erreichen, sah Bernstein in der schrittweisen Ausdehnung des parlamentarischen Einflusses der Sozialdemokratie bis hin zur Übernahme der Regierung. Diese würde dann weitreichende Reformen im Sinne der Arbeiterklasse und des Sozialismus durchsetzen. Das entsprechende Credo des Reformismus lautete: „der Weg ist alles, das Ziel ist nichts.“<br />
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Der klassische Reformismus setzt notwendig eine bestimmte Auffassung über den bürgerlichen Staat voraus. Wenn es möglich sein soll, den Kapitalismus allmählich durch Sozialreformen zu überwinden, so muss es auch möglich sein, dass die Arbeiterklasse diese Reformen im Staatsapparat gegen den Willen der Bourgeoisie durchsetzt oder diese zumindest zu Kompromissen zwingt – und zwar so weit, dass die Gesellschaft immer mehr sozialistische Züge annimmt und der Staat letztlich aufhört, bürgerlicher Staat zu sein und allmählich zu einem Instrument in den Händen der Arbeiterklasse wird. Dieses Instrument an sich muss also „klassenneutral“ sein und je nachdem, wie die politischen Kräfteverhältnisse sich entwickeln, kann es sowohl von der einen, als auch von der anderen Klasse kontrolliert und im eigenen Interesse eingesetzt werden. Der Staat steht in dieser rein instrumentalistischen Sichtweise der ihm zugrunde liegenden Produktionsweise also äußerlich gegenüber, er besitzt keine innere Verbindung zu ihr. Der Überbau scheint unabhängig von seiner ökonomischen Basis agieren zu können. Der bürgerliche Staat wird aus dieser Sichtweise nicht als spezifisches, den Klasseninteressen der Bourgeoisie entsprechend geformtes Werkzeug verstanden. Ergo kann das Proletariat dieses Werkzeug unverändert übernehmen, anstatt sich einen eigenen Apparat zu schaffen, der den spezifischen Erfordernissen und Klasseninteressen der Arbeitermacht entspricht.<br />
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'''Eurokommunismus:'''<br />
Ab den 1970er Jahren knüpften die sogenannten "Eurokommunisten" mit vielen ihrer Positionen an die theoretische Tradition des klassischen Revisionismus an, begründeten ihre Haltung aber damit, dass die Kräfteverhältnisse und somit auch der Charakter des bürgerlichen Staats sich nach 1945 grundlegend geändert hätten. Daher seien der „sowjetische Weg zum Sozialismus“ und die Diktatur des Proletariats als historischer Sonderfall überholt und Europa mittlerweile in eine Epoche der demokratischen Übergänge eingetreten. Sie vertraten die Einschätzung, die bürgerliche Demokratie sei nach dem Sieg über den Faschismus im Westen zu sehr gefestigt, als dass die Herrschenden gewaltsam gegen einen demokratischen Übergang zum Sozialismus vorgehen könnten. Die Hauptvertreter des Eurokommunismus waren die kommunistischen Parteien Frankreichs (PCF), Italiens (PCI) und Spaniens (PCE).<br />
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Die eurokommunistische Strategie des friedlichen, parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus ging mehr oder weniger offen davon aus, dass der Staat als ein „Feld im Klassenkampf" aufzufassen sei, auf dem sich zwar die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen widerspiegeln, das an sich aber klassenneutral sei. Durch Veränderungen der politischen Mehrheiten sollten der Staat und seine Institutionen durch die Kommunisten kontrolliert und im Sinne der Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt werden. Die Regierung sollte ein Reformprogramm umsetzen, das die Gesellschaft Schritt für Schritt in Richtung Sozialismus entwickeln würde. Auch im Sozialismus sollte der bürgerlich-liberale Parlamentarismus als politische Herrschaftsform bruchlos beibehalten werden: „Die repräsentative Demokratie, kombiniert mit Formen der direkten Demokratie, kann ohne weiteres auch die Form des sozialistischen Systems sein.“<ref>zitiert nach: Bieber, Horst: Der Häretiker aus Asturien. Spaniens Kommunistenchef Santiago Carrillo hat den Bruch mit Moskau vollzogen, 1977.</ref> In Teilen der eurokommunistischen Strömung wurde sogar die Notwendigkeit der Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Länder in imperialistischen Staatenbündnissen wie der EG und der NATO offen verteidigt. Ausführlich dargelegt ist das Staatsverständnis der Eurokommunisten in Santiago Carrillos ''Eurokommunismus und Staat''<ref>Carrillo, Santiago: Eurokommunismus und Staat, Hamburg 1977.</ref>. <br />
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Ausführlicherer Artikel: [[Eurokommunistische Staatsauffassung]]<br />
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'''Andere Vertreter:'''<br />
Auch heute gibt es zahlreiche "linke" Vertreter dieser Auffassung. Die Annahme, der bürgerliche Staat sei ein grundsätzlich klassenneutrales Instrument, bildet die Voraussetzung jeder Strategie, die auf den Eintritt in die bürgerliche Regierung zum Zweck der Umsetzung von Reformen abzielt. Das gilt eindeutig für die deutsche ''Linkspartei'' und ihre europäischen Geschwisterorganisationen, allen voran die einflussreiche griechische ''SYRIZA''. Auch die "antimonopolistische Strategie" der DKP unterstellt letztlich eine Klassenneutralität des Staats der Monopole (s.u.). In unterschiedlichen Abstufungen wird diese Auffassung auch von den "bolivarischen Bewegungen" bzw. den Vertretern eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" in Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien etc. vertreten.<br />
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===Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole===<br />
Eine seit 1945 weit verbreitete Position geht davon aus, dass der bürgerliche Staat im Monopolkapitalismus nicht mehr das Interesse der gesamten herrschenden Klasse vertritt, sondern sich zum alleinigen Herrschaftsinstrument der Monopole entwickelt. Diese Vorstellung beruft sich häufig auf die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (s.o.) und ist eng verbunden mit den verschiedenen Varianten der [[Strategie der Übergänge]]. <br />
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'''Deutsche Kommunistische Partei (DKP):'''<br />
Die DKP vertritt seit ihrer Gründung eine Strategie der "antimonopolistischen Demokratie" (AMD). Diese wurde erstmals im Programm von 1978 explizit ausformuliert und beschlossen. Auch im Programm von 2006 bildet die AMD, von einigen kleineren Relativierungen abgesehen, noch immer den Kern der strategischen Vorstellungen der DKP. <br />
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Zu den wichtigsten Grundannahmen der AMD gehört, dass der bürgerliche Staat zu einem Instrument in den Händen der Monopole, also einer Handvoll Finanzoligarchen innerhalb der Bourgeoisie, geworden ist. Der Staat, so die These, setzt deren Profitinteressen rigoros gegen alle „nicht-monopolistischen Schichten“, also nicht nur gegen die Arbeiterklasse und alle anderen Werktätigen, sondern auch gegen die „kleine und mittlere Bourgeoisie“ durch. Der bürgerliche Staat vernachlässigt aus dieser Sicht also gewissermaßen seine Aufgabe als „ideeller Gesamtkapitalist“ und verkörpert gegenüber der gesamten Gesellschaft (und einem Großteil der Bourgeoisie) nicht mehr das langfristige Gesamtinteresse aller Kapitalisten, sondern einseitig das Partikularinteresse des Monopolkapitals. <br />
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Im DKP-Programm von 2006 heißt es dazu: "Als Machtinstrument der Monopolbourgeoisie setzt er [der Staat] immer unverblümter eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit durch. An die Stelle der sozialen Integration tritt die Konfrontation. Der bürgerliche Staat verliert tendenziell seine Fähigkeit zur sozialen und politischen Vermittlung, weil die Basis für die Organisierung stabilerer sozialer Kompromisse, die größere Teile der Gesellschaft einbeziehen, verloren geht. So wird die bürgerliche Demokratie ausgehöhlt und verliert ihren Inhalt. Bei Beibehaltung formaler Demokratie vollzieht sich der Übergang vom 'Sozialstaat' zum autoritären 'Sicherheitsstaat'." (S. 12) <br />
<br />
Damit wird zwar der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht geleugnet, aber eine neue strategische Bruchlinie zwischen den Monopolen und allen „nicht-monopolistischen“ Schichten aufgemacht, die aus dieser Sicht nun in Opposition zum "Staat der Monopole" geraten. Entlang dieser Linie soll sich ein „antimonopolistisches Bündnis“ formieren, das neben der Arbeiterklasse nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch bedeutende Teile der „nicht-monopolistischen“ Bourgeoisie umfassen soll (siehe dazu das Programm von 2006, S. 33). Dieses Bündnis hat zwar nicht den Sozialismus zum Ziel, wohl aber eine Zwischenetappe der „antimonopolistischen Übergänge“, in deren Rahmen die Kommunisten sich an der Regierungsmacht beteiligen und zunächst im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise eine politische „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ durchsetzen sollen.<br />
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Diese Vorstellung eines weitgehend bruchlosen Übergangs des Staatsapparats aus den Händen der einen in die Hände der anderen Klasse unterstellt eine instrumentalistische Sicht auf den Staat und behandelt diesen in letzter Konsequenz als ''klassenneutrales Werkzeug'' (s.o.). Zugespitzt formuliert: Der Klassencharakter des Staates scheint sich aus Sicht der Vertreter der antimonopolistischen Strategie nicht aus seiner Funktionsweise und seinem Wesen, sondern aus den politischen Kräfteverhältnissen zu ergeben. Ändert die Regierung ihren Klassencharakter von „monopolistisch“ zu „nicht-monopolistisch“, so ändert sich demzufolge auch der Klassencharakter des Staates. <br />
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Hier geht es zu einer längeren Version dieses Artikels: [http://%E2%80%9EAntimonopolistische_Demokratie%E2%80%9C_(DKP) Antimonopolistische Demokratie]<br />
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'''Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD):'''<br />
Zu den wichtigsten Alleinstellungsmerkmalen der Theorie und Programmatik der MLPD gehört der Begriff der „Übermonopole“ (siehe dazu den Entsprechendne Artikel [[Imperialismus_als_Weltsystem|"Imperialismus als Weltsystem"]] der AG Politische Ökonomie], der auch ihre Analyse des bürgerlichen Staats der Gegenwart wesentlich prägt: "Die hier ansässigen internationalen Übermonopole, die zum allein herrschenden internationalen Finanzkapital gehören, haben sich den Staat vollkommen untergeordnet, und die Organe des Monopolkapitals sind mit den Organen des Staatsapparats verschmolzen. Sie haben ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft, auch über andere Monopole und die nicht monopolisierten Kapitalisten, errichtet. Über die Organe der EU nehmen sie Einfluss auf andere europäische Staaten." (Programm der MLPD)<br />
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Die MLPD geht also davon aus, dass sich diese „Übermonopole“ den bürgerlichen Staat „vollkommen untergeordnet“ haben – aus dieser Formulierung kann geschlussfolgert werden, dass der Staat nicht mehr als „ideeller Gesamtkapitalist“ das Gesamtinteresse des Kapitals vertritt, sondern von der Fraktion der „Übermonopole“ bzw. des „allein herrschenden Finanzkapitals“ allen anderen Teilen der Bourgeoisie gegenüber als Herrschaftsinstrument benutzt wird. Zudem geht die MLPD davon aus, dass die „Organe des Monopolkapitals“, die im vorangegangenen Stadium des Kapitalismus scheinbar noch unabhängig vom und außerhalb des Staatsapparates existierten, heute vollständig mit diesem „verschmolzen“ sind. <br />
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Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Programmatik der MLPD findet sich hier: [https://kommunistische.org/diskussion/einschaetzung-der-programmatik-der-mlpd/ Philipp Kissel, Einschätzung der Programmatik der MLPD].<br />
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Die Positionen der MLPD zum bürgerlichen Staat entnehmen wir ihrem zuletzt 2016 überarbeiteten Parteiprogramm.<ref>https://www.mlpd.de/parteiprogramm</ref><br />
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===Staatsmonopolistischer Kapitalismus===<br />
Hier soll kurz dargestellt werden, wie die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus den klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt. In welchem Verhältnis stehen Staat und Monopole? Ist der Staat alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole oder auch "ideeller Gesamtkapitalist", also Ausdruck der Herrschaft der gesamten Bourgeoisie?<br />
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'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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Siehe hierzu den Dissens [[Monopole und Staat]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus.<br />
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===Der Staat als "echte Demokratie"===<br />
Die Position, der bürgerliche Parlamentarismus auf der ökonomischen Basis der kapitalistischen Produktionsweise sei eine "echte Demokratie" läuft letztlich auf die Position hinaus, die gesellschaftlichen Verhältnisse würden nicht von der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie, sondern von der politischen Mehrheit bestimmt. Die Frage des Klassencharakters der Staats wird also reduziert auf eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Je nach dem, ob die Bourgeoisie oder die Arbeiterklasse im demokratischen Prozess mehr Kontrolle über den Staatsapparat ausübt, verschiebt sich auch dessen Klassencharakter. Diese Auffassung setzt zugleich ein Verständnis des Staates als ''klassenneutrale Instrument'' voraus (siehe oben). <br />
<br />
'''Klassischer Revisionismus (Bernstein/Kautsky):''' <br />
Die Vorstellung einer fortschreitenden Demokratisierung des bürgerlichen Staats und einer damit einhergehenden Verwandlung seines Klassencharakters spielten eine zentrale Rolle im Denken des klassischen Revisionismus. Rosa Luxemburg polemisierte schon 1899 gegen Eduard Bernstein: „die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie [sei] eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie.“ <ref> Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution (1899), Zweiter Teil </ref> Bürgerliche Demokratie und Parlamentarismus waren für Bernstein nicht taktische Mittel im Klassenkampf, sondern tatsächlicher Ausdruck der Herrshaft durch das Volk bzw. die Mehrheit, also der Arbeiterklasse: „Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. […] Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“<ref>Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.154-156.</ref> Für die Strategie der Arbeiterbewegung heißt das: „die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.“<ref>Ebd., S. 154-156.</ref> Die Arbeiterbewegung soll sich also darauf beschränken, im legalen Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus für Reformen und schrittweise Verbesserungen zu kämpfen. Der bürgerliche Staat ist dabei nicht ihr Gegner, sondern ihr Werkzeug. Die taktische Herausforderung besteht demnach einzig darin, auf demokratischem Weg in die Position zu gelangen, dieses Werkzeug für die eigenen Zwecke nutzen zu können.<br />
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'''Position von SYRIZA:''' <br />
Die griechische "Linkspartei" SYRIZA argumentiert in ihrem Regierungsprogramm, „der Staat [sei] keine Festung, sondern ein Netzwerk, ein Verhältnis und eine strategische Arena für den politischen Kampf. Er verändert sich nicht von einem Tag auf den anderen, im Gegenteil, seine notwendige Transformation hat konstante und kontinuierliche Kämpfe zur Voraussetzung, die Einbeziehung des Volkes, ständige Demokratisierung.“ (Quelle: S''YRIZAs Regierungsprogramm''<ref>Zitiert nach einem auf Englisch erschienenen Artikel der KKE, ins Deutsche Übersetzt. URL: https://inter.kke.gr/en/articles/Criticism-of-certain-contemporary-opportunist-views-on-the-state/ (9.1.2019)</ref>) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wird der bürgerliche Staat von SYRIZA nicht seinem Wesen nach als ein Organ der bürgerlichen Klassenherrschaft angesehen, sondern als eine Ansammlung von Institutionen, die im Interesse des Volkes „transformiert“ werden können. Auf Grundlage dieser Sichtweise wird argumentiert, dass der Charakter des bürgerlichen Staats durch die richtigen politischen Kräfteverhältnisse geformt oder gar "transformiert" werden kann, solange sich nur „linke Regierungen“ durchsetzen können. <br />
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'''Position der DKP:''' <br />
Die DKP bleibt in ihrer Einschätzung der bürgerlichen Demokratie widersprüchlich. Einerseits ist in ihrem Programm von 2006 zwar die Rede davon, dass sich durch die "Globalisierung" die "Tendenz zur Reaktion" verschärft, dass die Demokratie untergraben wird (siehe S. 12) und dass letztlich eine "revolutionäre Überwindung" (S. 28) des Kapitalismus nötig sei. Andererseits gehört es jedoch zu den Kernthesen ihrer "antimonopolistischen Startegie", dass noch auf dem Boden der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und innerhalb des institutionellen Rahmens des bürgerlichen Staats umfassende Reformen und sogar eine "antimonopolistisch-demokratische Umgestaltung" (S. 32) möglich seien: "Je mehr es dabei gelingt, Veränderungen im Sinne von Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, von demokratischer Kontrolle, von Entmilitarisierung und Demokratisierung in Staat und Gesellschaft zu erreichen, je größer der Einfluss der demokratischen und sozialistischen Kräfte überall dort ist, wo Meinungsbildung stattfindet, desto besser sind die Chancen im Kampf um die Zurückdrängung der Macht des Monopolkapitals und für die Öffnung des Weges zum Sozialismus. [...] Es geht um die [...] demokratische Einflussnahme auf den staatsmonopolistischen Regulierungsmechanismus im nationalen Rahmen wie im Rahmen der Europäischen Union und anderer internationaler staatsmonopolistischer Institutionen". (S. 30) Diese Vorstellung läuft letztlich also darauf hinaus, die Kommunisten und „Demokraten“ könnten den ideellen Gesamtkapitalisten dem Einfluss der Klasseninteressen der Bourgeoisie entreißen und ihrem eigenen politischen Willen unterwerfen.<br />
<br />
'''Andere Vertreter:''' Ebenfalls weit verbreitet sind Vorstellungen über den demokratischen Charakter des bürgerlichen Staats in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Dort gehört der Begriff der „Mitbestimmung“ nicht umsonst zum ideologischen Kernrepertoire. Die Vorstellung, im Betrieb ließe sich zwischen Kapital und Arbeit auf Augenhöhe eine demokratische Mitbestimmung und dadurch ein Interessenausgleich verwirklichen, bildet das Herzstück der Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Ähnliche Sichtweisen werden heute außerdem in einer Reihe lateinamerikanischer Länder gepflegt. Verschiedene „fortschrittliche“ und „linke“ Regierungen versuchen unter dem Banner des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bzw. der „bolivarischen Revolution“ das bürgerliche Staatsystem durch Gesetzesreformen und Volksabstimmungen grundlegend zu veränden.<br />
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==="Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci)===<br />
Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, verfasste in den 1920er und 30er Jahren in faschistischer Gefangenschaft seine „Gefängnishefte“, ein umfangreiches theoretisches Werk, dessen einzelne Bestandteile Gramsci unter den Bedingungen seiner Haft leider nicht mehr zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen konnte. Zu den wichtigsten Aspekten dieses Werks gehören Gramscis Überlegungen zur besonderen Form der Herrschaft der Bourgeoisie in den entwickelten imperialistischen Ländern und die daraus abgeleiteten Weiterentwicklungen der marxistischen Staatstheorie.<br />
<br />
In den Gefängnisheften bringt Gramsci den Staat und die Herrschaft der Bourgeoisie auf die kurze Formel: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang" (H. 6, §88., S. 783)<ref>Antonio Gramsci, Gefängnisgefte. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg 1991. Im Folgenden wird aus den Gefängnisheften nur noch in Klammern nach Heft Nr., Paragraph und Seitenzahl zitiert.</ref><br />
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Gramsci weitet den Staatsbegriff damit aus und entwickelt sein Konzept des "integralen Staates". Dieser umfasst einerseits die "politische Gesellschaft", womit alle explizit staatlichen Strukturen und Institutionen gemeint sind, also das Parlament, die Beamtenapparate, die Repressionsorgane, die staatlichen Bildungseinrichtungen etc. Andererseits betrachtet Gramsci aber auch die "Zivilgesellschaft" als Teil der bürgerlichen Staatlichkeit. Gemeint sind damit alle Strukturen außerhalb der Staatsapparate, über die die Bourgeoisie ihre Herrschaft absichert, also private Medien, Bildungsstätten, Institute, Stiftungen, Clubs, Thinktanks etc. Mit Blick auf den Sieg der Oktoberrevolution in Russland und die darauffolgenden Niederlagen der Revolutionsversuche in Westeuropa schrieb Gramsci: "Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand;" (H. 7, §16., S. 873-874) An anderer Stelle heißt es: "zumindest was die fortgeschrittenen Staaten angeht, wo die 'Zivilgesellschaft' eine sehr komplexe und gegenüber den katastrophenhaften 'Durchbrüchen' des unmittelbaren ökonomischen Elements (Krisen, Depressionen usw.) widerstandsfähige Struktur geworden ist; die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg." (H. 13, §14, S. 1553-1554) Die Stabilität der bürgerlichen Herrschaft hängt demnach also wesentlich davon ab, inwieweit die Zivilgesellschaft herausgebildet und die "Hegemonie" der Bourgeoisie enwickelt ist. <br />
<br />
Mit dem Begriff der Hegemonie versucht Gramsci der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass sich die Macht der Bourgeoisie nicht nur auf das Staatliche Gewaltmonopol und die Repressionsapparate stützt, sondern wesentlich über ideologische Integration und die Erzeugung von "Konsens" abgesichert wird. Hegemonie bezeichnet also die politisch-ideologische Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über eine andere. "Die 'normale' Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne daß der Zwang zu sehr gegenüber dem Konsens überwiegt, sondern im Gegenteil sogar versucht wird, zu erreichen, daß der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint […]" (H. 13, §37, S. 1607-1613). Konsens bezeichnet hier einen Zustand, in dem die Beherrschten die Herrschaft zumindest passiv ertragen oder sogar aktiv die Sichtweise übernehmen, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse entsprächen auch ihren Interessen und seien die bestmöglichen. Gramsci schreibt, dass "eine Klasse auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen. […] Die politische Führung wird zu einem Aspekt der Herrschaft, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Klassen zur Enthauptung derselben und zu ihrer Machtlosigkeit führt. Es kann und muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben." (H. 1, §44, S. 101-113) <br />
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Heute wird der Begriff der Hegemonie fast ausschließlich Gramsci zugeschrieben, dabei war er zu dessen Lebzeiten unter den Theoretikern der Kommunistischen Internationale weit verbreitet und wurde breit diskutiert. Wie Buci-Glucksmann bemerkt, war er "im gesamten Marxismus der Dritten Internationale überaus geläufig. Man findet ihn vor allem unter der Feder Lenins vor 1917, aber auch später. Man finet ihn ebenso oft bei Bela Kun, Varga, Stalin, und vor allem Bucharin, der ihn in einer Weise benutzte, die der Gramscis nahezustehen scheinen könnte". <ref>Buci-Glicksmann, Gramsci und der Staat, S. 17.</ref> <br />
<br />
Die "führende Klasse" oder Klassenfraktion ist laut Gramsci in ihrem Ringen um Hegemonie also in der Regel darum bemührt, alle anderen Fraktionen ihrer Klasse und ihrer "verbündeten Klassen" in ihren "Block an der Macht" zu integrieren. Das gelingt nur, indem sie mit diesen anderen Fraktionen ein Komprimissprogramm aushandelt, das bestmöglich das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse zusammenfasst und deren innere Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Der Ort, an dem diese Kompromisse ausgehandelt und schließlich in politische Praxis übersetzt werden, ist der bürgerliche Staat selbst. Gegenüber den "feindlichen Klassen" (also dem Proletariat und den anderen Werktätigen) tritt die Bourgeoisie als "herrschend" auf, sie übt ihre Hegemonie einerseits durch integration ihrer ideologischen Führer und andererseits durch materielle Zugeständnisse aus: "Die Tatsache der Hegemonie setzt zweifellos voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, daß sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet, daß also die führende Gruppe Opfer korporativ-ökonomischer Art bringt, aber es besteht auch kein Zweifel, daß solche Opfer und ein solcher Kompromiß nicht das Wesentliche betreffen können, denn wenn die Hegemonie politisch-ethisch ist, dann kann sie nicht umhin, auch ökonomisch zu sein, kann nicht umhin, ihre materielle Grundlage in der entscheidenden Funktion zu haben, welche die führende Gruppe im entscheidenden Kernbereich der ökonomischen Aktivität ausübt." (H. 13, §18, S. 1565-1573) Gramsci beschreibt in dieser Formulierung den grundsätzlichen Klassencharakter des Staates. Die Kompromisse können nie "das Wesentliche" betreffen - also die kapitalistische Produktionsweise - sondern sich nur in deren Rahmen Bewegen. <br />
<br />
Gramscis Staatstheorie knüpft eindeutig an die Auffassung des Staats als "ideeller Gesamtkapitalist" (s.o.) an, indem sie einerseits die Integration der gesamten herrschenden Klasse in einem "historischen Block" betont und andererseits die zumindest passive Einbindung der Beherrschten im Rahmen der Hegemonie betont. Mit einer Staatsauffassung, die den bürgerlichen Staat im Monopolkapitalismus als "alleiniges Herrschaftsinstrument der Monopole" (s.o.) versteht, ist Gramscis Ansatz kaum zu vereinbaren. <br />
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Mit Blick auf den Staat schreibt Gramsci außerdem, dieser sei "das Instrument zur Anpassung der Zivilgesellschaft an die ökonomische Struktur". (H. 10.II, §15, S. 1267) Dabei spielen Medien und andere ideologische Apparate eine entscheidende Rolle: "Was 'öffentliche Meinung' genannt wird, ist aufs engste mit der politischen Hegemonie verknüpft, es ist nämlich der Berührungspunkt zwischen der 'Zivilgesellschaft' und der 'politischen Gesellschaft', zwischen dem Konsens und der Gewalt. Der Staat schafft, wenn er eine wenig populäre Aktion starten will, vorbeugend die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert bestimmte Elemente der Zivilgesellschaft. […] die öffentliche Meinung, wie sie heute Verstanden wird, ist am Vorabend des Untergangs der absolutistischen Staaten entstanden, das heißt in der Zeit des Kampfes der neuen bürgerlichen Klasse um die politische Hegemonie und die Erlangung der Macht. […] [Es entbrennt ein] Kampf ums Monopol der Organe der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, Parlament". (H. 7, §83, S. 916-917)<br />
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Verliert die herrschende Klasse ihre Hegemonie so kommt es zur "Hegemonie-" bzw. "Autoritätskrise": "Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr 'führend', sondern einzig 'herrschend' ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die große Masse sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann". (H. 3, §34, S. 354-355) Der Verlust der Hegemonie darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem automatischen Verlust der Macht, schließlich verfügt die herrschende Klasse auch bei schwindendem Konsens noch immer über die Mittel des Zwangs. <br />
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Zu den strategischen Schlussfolgerungen, die Gramsci aus seiner Staatstheorie ableitete, siehe den Dissens-Artikel zu [[Staat und Revolution]] und dort den Abschnitt "Bewegungs- und Stellungskrieg". <br />
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Einige offene Fragen zu Gramsci und seiner Staatstheorie werden von unserer AG tiefergehend behandelt werden: Handelt es sich dabei um einen wegweisenden Beitrag zur marxistischen Staatstheorie im Zeitalter des Imperialismus und des entwickelten bürgerlichen Staats, an den die Kommunisten anknüpfen und den sie weiterentwickeln müssen? Oder enthält Gramscis Theorie bereits wesentliche revisionistische Abweichungen, die es den verschiedenen opportunistischen Strömungen, die sich heute auf ihn berufen, leicht machten, seine Theorie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?<br />
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==="Relative Autonomie" und "Staat als Kräfteverhältnis" (Poulantzas)===<br />
Nicos Poulantzas war ein griechischer Theoretiker, der in den 1960er und 70er Jahren eine Reihe an marxistischen Studien verfasste. Er sympathisierte nach 1968 mit der eurokommunistischen griechischen kommunistischen Partei des Inlands (KKE-Inland) und stand – in Frankreich lebend - in kritischer Distanz zur Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). In seinen klassen- und staatstheoretischen Schriften ist der Einfluss u.a. von Louis Althussers Strukturalismus sowie [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #"Hegemonie" und "integraler Staat" (Gramsci) | Antonio Gramscis Hegemonietheorie]] sichtbar. In der marxistischen Debatte um den Staat hat Poulantzas tiefe Spuren hinterlassen, was primär zurückgeführt werden kann auf seine Konzeption des Staates als „Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“. Historisch bedeutsam war dabei zunächst die Auseinandersetzung mit Ralph Miliband; im deutschsprachigen Raum wurde seine Theorie u.a. über Joachim Hirsch und Alex Demirovic wieder in die Diskussion eingebracht.<br />
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Poulantzas formuliert in der Einleitung zur „Staatstheorie“ den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Es ist nicht der Klassencharakter des Staates, der zur Debatte steht: „Jeder Staat ist ein Klassenstaat; jede politische Herrschaft ist Klassendiktatur; der kapitalistische Staat ist ein Staat der Bourgeoisie; der kapitalistische Staat im Allgemeinen und jeder kapitalistische Staat im Besonderen sind Diktaturen der Bourgeoisie“ (Staatstheorie S. 155), all dies sind für ihn „Banalitäten“ - zwar richtig, aber nicht weiter ausführenswert. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, vielmehr stellt es sich hier neu: „[W]arum greift die Bourgeoisie in ihrer Herrschaft auf diesen nationalen Volksstaat zurück, diesen modernen Repräsentativ-Staat mit seinen spezifischen Institutionen, und nicht auf einen anderen? Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich genau diesen Staat aussuchen würden, wenn sie den Staat komplett selbst und nach ihrem Geschmack aufbauen würden.“ (Staatstheorie, S. 40). Eine verwandte Frage hatte bereits der sowjetische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis knapp 50 Jahre, vorher gestellt: „Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, das heißt die faktische Unterwerfung eines Teiles der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“1 Poulantzas gibt in der Einleitung auch eine vorläufige, knappe Antwort auf die von ihm formulierte Frage: „Der Staat stellt ein materielles Gerüst dar, das in keiner Weise auf die politische Herrschaft reduziert werden kann. Der Staatsapparat, dieses besondere und furchterregende Etwas, erschöpft sich nicht in der Staatsmacht. [...] Wenn der Staat nicht einfach ein vollständiges Produkt der herrschenden Klassen ist, so haben sie sich seiner auch nicht einfach bemächtigt: Die Macht des Staates (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) hat in dieser Materialität ihre Spuren hinterlassen. Die Handlungen des Staates reduzieren sich nicht auf die politische Herrschaft, sie sind jedoch konstitutiv von ihr gezeichnet.“ (Staatstheorie, S. 42)<br />
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Eine wichtige Aufgabe des Staates sieht Poulantzas in der Repräsentation und Organisation der herrschenden und der Desorganisation der beherrschten Klassen. Die Bourgeoisie ist keine widerspruchsfreie Einheit. Sie verfolgt zwar zwangsläufig als Klasse einheitlich das Ziel der Kapitalverwertung, dieses Ziel bringt sie aber auch in direkte Konkurrenz untereinander, weshalb, wie Engels sagt, der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert. Poulantzas zufolge ist die Kapitalistenklasse in Klassenfraktionen gespalten, die unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Interessen verfolgen. Diese Klassenfraktionen formieren sich unter der Hegemonie einer Fraktion zu einem „Block an der Macht“, in welchen auch andere herrschende Klassen miteinbezogen werden. Die Hegemonie einer Fraktion bedeutet dabei, dass diese die äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Sinne optimieren kann; und diese Hegemonie erst ermöglicht die Einheit dieses Blocks gegenüber den beherrschten Klassen. Poulantzas betont, dass nicht nur Teile der Bourgeoisie (etwa das Monopolkapital) den Machtblock stemmen: „Diese bürgerlichen Fraktionen sind in ihrer Gesamtheit, obwohl in unterschiedlichem Maße, auf dem Terrain der politischen Herrschaft angesiedelt, und gehören somit immer zum Block an der Macht“ (Staatstheorie S. 159). Dieser Machtblock ist aber konfliktdurchzogen, er stellt ein umkämpftes, instabiles Kompromissgleichgewicht dar: „Der Machtblock stellt eine von inneren Widersprüchen gekennzeichnete Einheit von politisch herrschenden Klassen und Fraktionen unter dem Schutz der hegemonialen Fraktion dar. Der Klassenkampf, die Interessenrivalitäten zwischen den gesellschaftlichen Kräften sind darin ständig gegenwärtig, wobei diese Interessen ihren spezifischen Antagonismus bewahren“ (PMGK, S. 239). In diesem Sinne ist die konkrete Politik des Staates und die Hegemonie im Machtblock immer umkämpft, und dieser Kampf wird im Staat, in seinen ideologischen (Medien, Think Tanks, …) aber auch repressiven Apparaten (Polizei, Armee, …) ausgetragen.<br />
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Um die „Rolle der Vereinheitlichung und Organisierung der Bourgeoisie und des Blocks an der Macht“ (Staatstheorie, S. 158) zu erfüllen, muss der Staat laut Poulantzas eine „relative Autonomie“ gegenüber den einzelnen Bestandteilen des Blocks bewahren: „Unter relativer Autonomie dieses Staatstyps verstehe ich […] das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Feld des Klassenkampfes, insbesondere seine relative Autonomie gegenüber den Klassen oder Fraktionen des Machtblocks und in erweiterter Form auch gegenüber seinen Verbündeten oder Stützen […] Ich hoffe, damit klar genug die Distanz auszudrücken, die diese Auffassung des Staats von einer simplifizierten und vulgarisierten Auffassung des Staats trennt, die in ihm das Werkzeug oder Instrument der herrschenden Klasse sieht“ (PMGK S. 256).<br />
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Der Staat als Instrument (siehe auch die Abschnitte zum Staat als [[Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als klassenneutrales Instrument | klassenneutrales Instrument]] und als [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als alleiniges Instrument der Monopole | alleiniges Instrument der Monopole]]) und der [[ Der Klassencharakter des bürgerlichen Staats #Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt) | Staat als Subjekt]]: dies beides sind aus Poulantzas‘ Sicht falsche Staatsverständnisse, die er umschiffen will mit dem Verständnis des Staates als Verdichtung eines Kräfteverhältnisses. Der Staat als Instrument/Werkzeug/Sache unterstellt eine Passivität oder Neutralität des Staates. Dieser wird als ein Apparat verstanden, der zur Ausübung der politischen Macht von der herrschenden Klasse oder auch einer Klassenfraktion verwendet wird, der aber eben auch so wie er ist übernommen werden kann, um gegen die herrschende Klasse gewendet zu werden. Eine Autonomie des Staates ist ausgeschlossen. Eine solche instrumentalistische Konzeption des Staates sieht Poulantzas in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der eurokommunistischen PCF in den 1970ern: „An dieser Konzeption kritisierte ich vor allem, dass sie zu der Vorstellung des mit dem Monopolkapital »fusionierten« Staates führt, einem Staat der im Dienste der Monopole steht und keinerlei Autonomie besitzt“ (Staatstheorie S. 160). Der Staat als Subjekt wiederum lässt ihn vollständig autonom werden, er steht als Akteur außerhalb der Klassen. Er agiert, koordiniert, verwaltet, reguliert selbstständig. Seine Autonomie bezieht sich „auf die angebliche Macht des Staates und auf die Träger dieser Macht und der staatlichen Rationalität: auf die Bürokratie und speziell auf die politische Elite“ (Staatstheorie S. 160). <br />
<br />
Poulantzas schlägt vor, die „Sackgassen des ewigen Pseudodilemmas der Diskussion zwischen der Konzeption des Staates als einer Sache bzw. einem Instrument und der Konzeption des Staates als einem Subjekt“ (Staatstheorie S. 159f) zu vermeiden, indem der Staat über den Klassenkampf selbst verstanden wird, genauer: „ … indem ich sage, dass der Staat […] nicht als ein in sich abgeschlossenes Wesen begriffen werden darf, sondern, wie auch das »Kapital«, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ Der Staat spiegelt also nicht einfach ein gesellschaftliches Verhältnis wider, er selber konstituiert dieses Verhältnis. In der Vielzahl seiner Institutionen findet die ständige Austarierung zwischen Klassen und Klassenfraktionen statt. Diese Austarierung entspricht aber nicht direkt dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, beispielsweise sind die beherrschten Klassen nicht in den Staatsapparaten anwesend: „Sie organisieren und vereinheitlichen den Block an der Macht, indem sie die beherrschten Klassen ständig desorganisieren und spalten. Sie polarisieren sie gegenüber dem Block an der Macht und schließen ihre politischen Organisationen aus.“ (Staatstheorie S. 171)<br />
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Bei Poulantzas bleibt unklar, wie der Begriff der Verdichtung genau zu verstehen ist, wohingegen er ausführt, was es mit der Materialität hier auf sich hat. Mit Blick auf die Staatstheorie in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der PCF wendet er ein, dass diese „die eigenständige Materialität des Staates übersieht. Diese Materialität eines Staates, der als Werkzeug oder Instrument angesehen wird, hat keine eigene politische Bedeutung. Diese Bedeutung wird auf die Staatsmacht beschränkt, d.h. auf die Klasse, die dieses Instrument manipuliert. Das würde im Extremfall implizieren, dass das gleiche Instrument (das verschiedenen, allerdings zweitrangigen Modifikationen unterliegt) durch eine Veränderung der Staatsmacht, also durch die Macht der Arbeiterklasse, für den Übergang zum Sozialismus anders eingesetzt werden könnte“ (Staatstheorie S. 160). Dieses Defizit meint er zu beheben: „Das materielle Gerüst seiner [des Staates] Institutionen wird durch die Beziehung des Staates zu den Produktionsverhältnissen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung konstituiert, die sich in der kapitalistischen Trennung des Staates von diesen Verhältnissen konzentriert. […] Der Staat hat eine eigene Dichte und Widerstandskraft und reduziert sich nicht auf ein Kräfteverhältnis. Eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Klassen hat sicherlich immer Auswirkungen innerhalb des Staates, sie überträgt sich jedoch nicht direkt und unmittelbar. Sie passt sich der Materialität der verschiedenen Apparate an und kristallisiert sich im Staat nur in gebrochener und differenzierter, den Apparaten entsprechender Form. Eine Veränderung der Staatsmacht allein transformiert die Materialität des Staates nicht“ (Staatstheorie S. 161f). Als Beispiele für die Materialität führt Poulantzas u.a. die Organisierung kapitalistischen Wissens an: „Die geistige Arbeit (Wissen/Macht) ist in den Apparaten konzentriert und steht im Gegensatz zur tendenziell in den Volksmassen konzentrierten manuellen Arbeit, die von den organisatorischen Funktionen ausgeschlossen und getrennt sind“ (Staatstheorie S. 83).<br />
<br />
==="Akkumulationsregime" (Regulationsschule)===<br />
Hier sollen die offenen Fragen und Aufgaben ausformuliert werden, die sich aus der Staatstheorie der "Regulationsschule" und deren Theorie der "Akkumulationsregime" ergeben. Handelt es sich bei dieser Theorie um einen wesentlichen Beitrag zur marxistischen Staatstheorie, die eine vertiefende Analyse der verschiedenen Formen der bürgerlichen Herrschaft seit der Entstehung des Kapitalismus erlaubt (z.B. durch die Unterscheidung eines "keynesianischen" und eines "neoliberalen Akkumulationsregimes")? Wie wird aus Perspektive der der Regulationsschule der Klassencharakter des bürgerlichen Staats bestimmt? Enthält diese Theorietradition wesentliche Abweichungen von den Grundannahmen der marxistischen Staatstheorie? Welche Verbinndung gibt es zu den Theorien von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas?<br />
<br />
'''[Dieser Abschnitt ist noch in Arbeit]'''<br />
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'''Vertreter:''' Zu den prominentesten Vertretern der Regulationsschule gehören heute die Staatstheoretiker Joachim Hirsch und Bob Jessop.<br />
<br />
===Staat = Repressionsapparate / "neue Demokratie" (Maoismus)===<br />
Innerhalb des maoistischen Spektrums lässt sich als tendenzielle Gemeinsamkeit in der Staatsfrage ein besonderer Fokus auf die „bewaffneten Apparate“ des bürgerlichen Staats und eine weitgehende Vernachlässigung der Analyse anderer, nicht unmittelbar gewaltförmiger Herrschaftstechniken der Bourgeoisie (Integrationsideologien, ökonomischer Zwang, etc.) feststellen. Dies steht im engen Zusammenhang mit der Strategie des "Volkskriegs". Dieser Strategie liegt eine Perspektive auf den Staat zugrunde, die den Kampf um die politische Macht weitgehend auf den unmittelbaren militärischen Kampf und die Zerschlagung der bewaffneten Staatsapparate zuspitzt. Die maoistische Theorie der "neuen Demokratie" enthält außerdem die These einer möglichen dritten Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats.<br />
<br />
Von einer einheitlichen und systematisch ausgearbeiteten "maoistischen Staatstheorie" kann genauso wenig die Rede sein, wie von einer homogenen maoistischen Strömung innerhalb des Marxismus. In den klassischen Texten von Mao Tse-Tung findet sich vor allem keine eigene, systematisch ausgearbeitete Analyse des bürgerlichen Staats im Imperialismus. Die chinesischen Revolutionäre kämpften nicht gegen einen entwickelten bürgerlichen Staat, wie er sich in den imperialistischen Zentren herausgebildet hatte, sondern gegen einen agrarischen Feudalstaat mit kolonialen Elementen. Der Großteil von Maos Äußerungen über den Staat sind in diesem Kontext zu sehen, so zum Beispiel die oft zitierte Losung: "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 74.</ref> An anderer Stelle führt Mao diese Zuspitzung auf die Frage der militärischen Macht und der bewaffneten Apparate weiter aus und verallgemeinert sie als die aus seiner Sicht wichtigste Kernaussage der marxistischen Lehre vom Staat: "Vom Standpunkt der marxistischen Lehre vom Staat ist die Armee die Hauptkomponente der Staatsmacht. Wer die Staatsmacht ergreifen und behalten will, der muß eine starke Armee haben. Manche Leute bezeichnen uns höhnisch als Anhänger der ‚Theorie von der Allmacht des Krieges‘; jawohl, wir sind Anhänger der Theorie von der Allmacht des revolutionären Krieges, und das ist nicht schlecht, sondern gut, das ist marxistisch. [...] Die Erfahrungen des Klassenkampfes im Zeitalter des Imperialismus lehren uns: Die Arbeiterklasse und die übrigen Werktätigen Massen können nur mit der Macht der Gewehre die bewaffneten Bourgeois und Grundherren besiegen; in diesem Sinne können wir sagen, daß die ganze Welt nur mit Hilfe der Gewehre umgestaltet werden kann."<ref>Mao Tse-Tung, „Probleme des Krieges und der Strategie“ (6. November 1938), Ausgewählte Werke Mao Tse-Tungs, Bd. II, zitiert nach: Worte des Vorsitzenden, S. 75-76.</ref><br />
<br />
In genau diesem Sinne wird die Staatsfrage auch in Teilen der zeitgenössischen maoistischen Strömungen behandelt. Viele zeitgenössische Mao-Gruppen beziehen sich dabei auf die Traditionslinie der peruanischen Guerillabewegung „Leuchtender Pfad“ bzw. der KP Perus (Vollständiger Name: ''Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui'') und ihres politischen und ideologischen Anführers „Presidente Gonzalo“ (Abiamel Guzmán). (''Anmerkung: Alle Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen sich auf die Broschüre „Einheitsbasis der Kommunistischen Partei Perus – angenommen auf dem I. Parteitag 1988“<ref>http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/gonzalo/1439-die-einheitsbasis-der-kommunistischen-partei-perus-auf-deutsch</ref>, die leider zahlreiche Übersetzungsfehler enthält.'')<br />
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Der Staat erscheint auch hier vor allem als bewaffneter Apparat, der militärisch bekämpft und zerschlagen werden muss:<br />
"die revolutionäre Gewalt ist ausnahmslos ein universelles Gesetz; die Revolution ist die gewaltsame Ersetzung einer Klasse durch eine andere. Er [Mao Tse-Tung] legte seine große These fest: ‚Die Macht kommt aus den Gewehrläufen!‘" (Über den Marxismus-Leninismus-Maoismus, S. 7) "[der] Volkskrieg, der durch eine revolutionäre Armee neuen Typs, unter der absoluten Führung der Partei, Stück für Stück die alte Macht zerstört, hauptsächlich seine bewaffneten und repressiven Kräfte." (Programm und Statuten der KP Perus, S. 16-17.)<br />
<br />
Unter dem Begriff der „neue demokratische Revolution“ vertreten die Maoisten der KP Perus ein spezifisches Etappenmodell, das die Stufen der Revolution festlegt, die die unterdrückten Länder auf dem Weg zum Sozialismus durchlaufen müssen. Der Klasseninhalt der Revolution und der jeweiligen Staatsformen, die diese hervorbringen, ändert sich jedoch je nach Entwicklungsstand des jeweiligen Landes: "Um unser Endziel, den Kommunismus, zu erreichen, müssen wir Marxisten-Leninisten-Maoisten in Perspektive drei Typen von Revolutionen durchführen: 1) Die demokratische Revolution, das ist die bürgerliche Revolution neuen Typs in den rückständigen Ländern, unter der Führung des Proletariats, in deren Verlauf eine gemeinsame Diktatur des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und unter bestimmten Bedingungen der Mittelbourgeoisie unter der Führung des Proletariats errichtet wird; 2) Die sozialistische Revolution in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern, die die Diktatur des Proletariats errichtet; 3) Kulturrevolutionen, sie werden gemacht um die Revolution unter der Diktatur des Proletariats fortzusetzen, um jede Generierung des Kapitalismus zu unterwerfen und zu eliminieren und auch mit den Waffen gegen jedes streben nach Restauration des Kapitalismus zu kämpfen" (Allgemeine politische Linie, S. 19)<br />
<br />
Mit der Theorie der „neuen demokratischen Revolution“ sind spezifische staatstheoretische Grundannahmen verbunden. Die „Neuen Demokratie“ gilt aus maoistischer Sicht als dritte Staatsform zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats - ihr Klassencharakter ist wesentlich durch einen Klassenkompromiss bzw. ein Klassenbündnis bestimmt: "Die Neue Demokratie. In erster Stelle ist es eine Entwicklung der marxistischen Staatstheorie mit der Festlegung der drei Typen der Diktatur: 1. die Diktatur der Bourgeoisie, in den alten bürgerlichen Demokratien wie in den Vereinigten Staaten, dazu zählen auch die Diktaturen, die in unterdrückten Nationen, wie den lateinamerikanischen existieren, 2. die Diktatur des Proletariats wie in der Sowjetunion oder in China vor der Usurpation der Macht durch die Revisionisten und 3. die Neue Demokratie als gemeinsame Diktatur, die auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern basiert, geführt vom Proletariat mit der Kommunistischen Partei an der Spitze […]." (Über den Marxismus-Leninismus, S. 8) Im Anschluss an Mao und Gonzalo geht die KP Perus davon aus, dass die "Staatssysteme der Welt" auf „drei Grundtypen reduziert werden können, laut ihres Klassencharakters: Republik unter der Diktatur der Bourgeoisie, die auch die Staaten der alten Demokratie ausmachen und die Republik der gemeinsamen Diktatur der Grundbesitzer und Großbourgeoisie; Republiken unter der Diktatur des Proletariats; und Republik unter der gemeinsamen Diktatur der revolutionären Klassen […]." (Allgemeine politische Linie, S. 33.)<br />
<br />
Andere Grundsätzlichere Fragen zum Thema Maoismus, wie die Strategie des „langfristigen Volkskriegs“, die Etappe der "neuen demokratischen Revolution" oder die Theorie des „Zweilinienkampfs“ werden perspektivisch durch die [[AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei]] bearbeitet. Fragen zur Polemik zwischen der Sowjetunion und China über die „friedliche Koexistenz“, die „Kulturrevolution“ und die maoistische Position, die Sowjetunion sei „sozialimperialistisch“ gewesen, gehören zum Arbeitsbereich der [[AG Sozialismus]].<br />
<br />
Eine längere Version dieses Artikels (befindet sich noch in Bearbeitung) findet ihr hier: '''[[Die Staatsfrage im Maoismus]]'''<br />
<br />
Vertreten werden solche oder ähnliche Positionen in Deutschland zum Beispiel von der Sozialistischen Linken (SoL) oder dem mittlerweile aufgelösten Jugendwiderstand (JW).<br />
===Der Staat als Subjekt (Gegenstandpunkt)===<br />
Der ''Gegenstandpunkt'' (GSP, früher ''Marxistische Gruppe'') vertritt eine eigene Staatstheorie, die davon ausgeht, der bürgerliche Staat könne aus den abstrakten Kategorien der politischen Ökonomie "abgeleitet" werden. Den Ausgangspunkt dieser Ableitung bildet die einfache Warenzirkulation, in welcher die Warenbesitzer sich wechselseitig als "freie" und "gleiche" Privateigentümer anerkennen. Die Autoren des GSP sehen drei gemeinsame Interessen bei allen Privateigentümern: Die Erhaltung der Revenue, eine möglichst hohe Revenue und den kontinuierliche Fluss der Revenue. Daraus schlussfolgern sie, dass Schutz und Sicherung des Privateigentums, die Sicherung des Wirtschaftswachstums und ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft dem Gesamtinteresse aller Privateigentümer entsprechen, wozu als viertes das Interesse an gleichen Konkurrenzvoraussetzungen hinzutritt. Weil die Privateigentümer aber in der Verfolgung ihrer besonderen Interessen nicht die allgemeinen Interessen durchsetzen können, bedarf es des Staates: "Das besondere Dasein des Staates neben und außer der Gesellschaft der konkurrierenden Privaten – jetzt nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit – ist das Resultat dieses Widerspruchs zwischen besonderem und allgemeinem Interesse in seinen verschiedenen Existenzweisen. Der Staat verkörpert die Loslösung der allgemeinen Interessen aus der Sphäre der Privaten und ihre Verwaltung in der Sphäre des Staates. Mit der Besonderung des Staates werden die allgemeinen Interessen zu seinen besonderen, deren Verwaltung allein ihm obliegt. <ref> von Flatow, Sybille / Huisken, Freerk: Zum Problem der Ableitung des bürgerlichen Staates, in: Prokla, 7 (1973), S. 121 </ref><br />
<br />
Fertig ausformuliert und in den Reihen des GSP kanonisiert wurde diese "Staatsableitung" von Karl Held in ''Der bürgerliche Staat''. In Helds Analyse wird aus der „Besonderung des Staates“ letztendlich der „Staat als Subjekt“: "Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit und Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert.<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
<br />
Der Staat hält hier nicht nur die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Reproduktion aufrecht, er wird zum eigenständigen Subjekt mit eigenen Interessen: "Der souveräne Staat ist eine von den Bürgern getrennte, selbständige Instanz, die mit keinem besonderen Interesse identisch ist und gerade und nur deswegen von allen anerkannte Gewalt ist, weil er sein Interesse, das Allgemeinwohl, gegen die Privatsubjekte durchsetzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref> "In der Unterordnung aller Aufgaben, um deren Erfüllung willen er sich als politisches Subjekt der Ökonomie betätigt, unter das Kriterium des wirtschaftlichen Wachstums, in der Relativierung aller Funktionen entsprechend dieser Zielsetzung der Wirtschaftspolitik fällt der Grund des bürgerlichen Staates – die freie Konkurrenz – unmittelbar zusammen mit seinem Zweck: er ist bewußter Agent des Inhalts der Konkurrenz, die bekanntlich nicht die Individuen, sondern das Kapital in Freiheit setzt."<ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat</ref><br />
<br />
Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates besteht daher beim GSP auch zuallererst darin, dass er nicht im Interesse der einen Klasse eine andere, sondern alle Individuen gleichermaßen unterwirft: "Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, daß er Klassenstaat ist: Durch die gleiche Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der Nutzen aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben." <ref> Held, Karl: Der bürgerliche Staat, URL: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat (29.12.2018) </ref><br />
<br />
Der Staat wird dadurch also wesentlich (und nicht nur oberflächlich) zu einem (klassen)neutralen Subjekt erklärt, welches die äußeren Bedingungen der Konkurrenz organisiert und diese Bedingungen den Warenbesitzern unterschiedslos aufzwingt. <br />
<br />
'''Vertreter:''' Neben dem ''Gegenstandpunkt'', dessen Aktivitäten sich fast auschließlich auf das akademische Milieu konzentrieren, werden diese Positionen auch von vielen studentischen Jugendgruppen in der "linksradikalen" und Antifa-Szene vertreten. Dies hat häufig damit zu tun, dass Leute aus der Szene ihre eigene theoretische Bildung über Lesekreise und Seminare des Gegenstandpunkt erwerben. Besonders in Teilen der ''Sozialistischen Jugend - Die Falken'' lässt sich ein starker ideologischer Einfluss des GSP feststellen, das gleiche Phänomen taucht aber auch immer wieder in Gewerkschaftsjugenden oder ''solid SDS''-Gruppen auf. Besonders stark ist zudem die Überschneidung zu "antinationalen" Gruppen, wie etwa bei der Dortmunder ''Gruppe K''.<br />
<br />
Einen Text zur ausführlicheren Einbettung in den Kontext der "Staatsableitungsdebatte" findet ihr hier: [[Der Staat als Subjekt (Staatsableitungsdebatte)]]<br />
<br />
Einen Hintergrundartikel zum Gegenstandpunkt hier: [https://kommunistische.org/diskussion/standpunkt-gegen-den-marxismus/ Standpunkt gegen den Marxismus (Thanasis Spanidis)]<br />
<br />
===Anarchistische Staatskritik===<br />
Der "Anarchismus" (abgeleitet aus dem griech. Begriff für „Herrschaftslosigkeit“) umfasst ein sehr diffuses und heterogenes Spektrum, das sich kaum als zusammenhängende politische Bewegung oder Ideologie beschreiben lässt. Dennoch lassen sich grobe Gemeinsamkeiten herausarbeiten: Anarchisten vertreten eine politische Haltung, die jede Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie ablehnt. Angestrebt wird eine Gesellschaft, in der sich Individuen auf freiwilliger Basis selbstbestimmt und föderal in Kommunen, Genossenschaften und Syndikaten als Basis der Produktion zusammenschließen. Anarchisten treten in der Regel für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ein, lehnen zentrale Planung aber häufig als „hierarchisch“ ab. Im Mittelpunkt stehen die Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, und Selbstverwirklichung der Individuen im Rahmen der kollektiven Selbstverwaltung („Autonomie“) möglichst kleiner Organisationseinheiten. Im Anarchismus fließen die Traditionen des bürgerlichen Liberalismus (individuelle Freiheit) und der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen (Kollektivität und Vergesellschaftung der Produktionsmittel). Heute wird häufig das Adjektiv "libertär" (deutsch: freiheitlich) als Synonym für „anarchistisch“ benutzt.<br />
<br />
An den hohen Idealen der Herrschaftsfreiheit muss sich aus Sicht der Anarchisten auch schon die Bewegung selbst messen lassen, die für die „befreite Gesellschaft“ kämpft. Im extremsten Fall geht diese Position so weit, dass sich die revolutionäre (Arbeiter-)Bewegung im Kampf gegen den bürgerlichen Staat selbst weder hierarchisch oder militärisch organisieren, geschweige denn nach der siegreichen Revolution einen eigenen Staat zur Niederhaltung der Unterdrücker und zum Aufbau und zur Verteidigung der Revolution schaffen darf. In Abgrenzung zu solchen individual-anarchistischen Ansätzen hat der in der Arbeiterbewegung verankerte Anarchosyndikalismus stets an der Notwendigkeit der Organisation festgehalten und zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg auch militärische Organisationsformen angenommen.<br />
<br />
Die anarchistische Staatskritik richtet sich nicht hauptsächlich gegen den bürgerlichen Staat als Klassenstaat der Bourgeoise, sondern lehnt jede Form der Macht, der Autorität und der Staatlichkeit überhaupt als Grundübel der Gesellschaft ab. Der Anarchismus vertritt also in letzter Konsequenz einen klassenneutralen Machtbegriff – er lehnt die Macht nicht als Klassenmacht der Ausbeuter ab, sondern als abstraktes Ding an sich, das aus der Welt geschafft werden soll. <br />
<br />
'''Marx und Engels vs. Bakunin:''' Die erste ausführliche theoretische und politische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus fand in der Ersten Internationale statt, in der Marx und Engels den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) und dessen Anhängerschaft bekämpften. <br />
<br />
Engels fasste die Kritik an der Staatsauffassung Michael Bakunins und der Anarchisten 1872 in einem Brief wie folgt zusammen: "Während die große Masse der sozialdemokratischen Arbeiter mit uns der Ansicht sind, daß die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen – Grundbesitzer und Kapitalisten – gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. [...]<br />
Da nun die Internationale nach Bak[unin] nicht für den politischen Kampf geschaffen sein soll,[...] so muß sie dem Bakuninschen Ideal der zukünftigen Gesellschaft so nahekommen wie möglich. In dieser Gesellschaft existiert vor allem keine Autorität, denn Autorität <nowiki>=</nowiki> Staat <nowiki>=</nowiki> absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. Jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das Verschweigt Bakunin abermals. [...] Selbst wenn diese Autorität freiwillig übertragen ist, muß sie aufhören, eben weil sie Autorität ist!" <ref>Friedrich Engels; 1872; Brief an Theodor Cuno, 24. Januar 1872, in: MEW 33;Dietz-Verlag; S. 388-389.</ref><br />
<br />
Der zentrale Dissens zwischen der marxistischen und der anarchistischen Staatsauffassung lässt sich also knapp zusammenfassen: Die Anarchisten gehen davon aus, dass nicht das Kapitalverhältnis, sondern der Staat die Ursache der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Der politische Ausdruck dieser Widersprüche ist nicht die Klassenherrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiter und alle anderen Werktätigen, sondern die Macht und Autorität des Staates überhaupt. Diese Auffassung hat weitreichende taktische und strategische Konsequenzen (siehe dazu den Dissens [[Staat und Revolution]]).<br />
<br />
'''Heutige Vertreter:''' Der Anarchismus in seiner klassischen Form, also als politische Ideologie und Bewegung mit realer Verankerung in der Arbeiterbewegung (wie ihn Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder die spanischen Anarchosyndikalisten vertraten) ist heute kaum mehr präsent. Vulgarisierte Formen des Anarchismus sind dagegen in der "autonomen" Szene und linken Subkulturen nach wie vor sehr weit verbreitet. Neben zahlreichen Splittergruppen, die in der BRD heute ein gemeinsames, hauptsächlich kleinbürgerlich geprägtes Milieu bilden und von der Arbeiterbewegung meist isoliert sind, bildet die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union (FAU) eine gewisse Ausnahme. Diese Organisation versucht im Rahmen einer kleinen anarchistischen Richtungsgewerkschaft außerhalb der DGB-Gewerkschaften Klassenkämpfe und Streiks zu organisieren.<br />
<br />
Verschiedene "anarchokommunistische" Gruppen und Zusammenschlüsse in Deutschland versuchen Aspekte des Marxismus (gewerkschaftliche Organisation, Klassenkampf, Vergesellschaftung der Produktionsmittel) mit Standpunkten des Anarchismus (Ablehnung von Hierarchien, zentralistischer Organisationsformen und der Diktatur des Proletariats) zu vereinen. Seit Dezember 2018 existiert mit der Initiative [https://www.dieplattform.org/wir/ "die Plattform"] z.B. ein Versuch, einen bundesweiten "plattformistischen" anarchakommunistischen Organisationszusammenhang aufzubauen und im Rahmen einer eigenen Schriftenreihe eine theoretische Debatte anzustoßen.<br />
<br />
Auf internationaler Ebene (aber mit starkem Einfluss auf die deutsche Linke) vertritt vor allem die kurdische Bewegung seit dem Abschied der PKK vom Marxistismus-Leninismus mit Öcalans „demokratischem Konföderalismus“ einen anarchistischen Staatsbegriff. Die Rojava-Solidarität vereint heute ein politisches Spektrum, dass von der MLPD über die verschiedenen roten Gruppen, die iL, die Linkspartei und bis zu den antinationalen und antideutschen Zusammenhängen reicht.<br />
<br />
==Bezug zu unseren Grundannahmen==<br />
==Wie wollen wir den Dissens klären?==<br />
==Was steht zu diesem Dissens in den Programmatischen Thesen?==</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Grundannahmen_Staat&diff=6887Grundannahmen Staat2019-12-16T18:44:03Z<p>Dio: /* Der bürgerliche Staat als „scheinbar über den Klassen stehende Macht“ */</p>
<hr />
<div>Zurück zu [[AG Formen bürgerlicher Herrschaft]]<br />
<br />
== Historischer Materialismus, Basis und Überbau ==<br />
<br />
<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Historischer Materialismus, Basis, Überbau, Staat, Produktivkräfte, Produktionsweise, Produktionsverhältnisse, Ideologie<br />
<br />
''' Annahme 1 '''<br />
* Die Produktionsverhältnisse bilden die „reale Basis des Staates“ – sie schaffen den Staat, nicht umgekehrt<br />
* Die herrschende Klasse konstituiert ihre Macht als Staat<br />
* Im Gesetz drückt sich die „Durchschnittsherrschaft“ der herrschenden Klasse (nicht der Gesellschaft) aus<br />
<br />
'''Einordnung:''' In der ''Deutschen Ideologie'' (damals nicht publiziert) verständigten sich Marx und Engels erstmals über ihre Auffassungen zur „reellen Basis“, also der ökonomischen Struktur der Gesellschaft als Grundlage des Staates und begründeten damit ihre historisch-materialistische Staatstheorie:<br />
{{Zitat |Das materielle Leben der Individuen, welches keineswegs von ihrem bloßen „Willen" abhängt, ihre Produktionsweise und die Verkehrsform, die sich wechselseitig bedingen, ist die reelle Basis des Staats und bleibt es auf allen Stufen, auf denen die Teilung der Arbeit und das Privateigentum noch nötig sind, ganz unabhängig vom Willen der Individuen. Diese wirklichen Verhältnisse sind keineswegs von der Staatsmacht geschaffen, sie sind vielmehr die sie schaffende Macht. Die unter diesen Verhältnissen herrschenden Individuen müssen, abgesehen davon, daß ihre Macht sich als Staat konstituieren muß, ihrem durch diese bestimmten Verhältnisse bedingten Willen einen allgemeinen Ausdruck als Staatswillen geben, als Gesetz – einen Ausdruck, dessen Inhalt immer durch die Verhältnisse dieser Klasse gegeben ist, [...] Ihre persönliche Herrschaft muß sich zugleich als eine Durchschnittsherrschaft konstituieren. […] Der Ausdruck dieses durch ihre gemeinschaftlichen Interessen bedingten Willens ist das Gesetz. | <br />
Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie (1845-1846), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 3, Berlin/DDR 1969, S. 311.}}<br />
<br />
''' Annahme 2 '''<br />
* Basis = Gesamtheit der Produktionsverhältnisse<br />
* Überbau = Staat, Recht, Ideologie, etc.<br />
* Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein<br />
* Triebkraft der Geschichte = Entwicklung der Produktivkräfte gerät in Widerspruch zu den Produktions- bzw. Eigentumsverhältnissen<br />
* Die ökonomische Basis gerät in Konflikt mit dem Überbau und wälzt diesen um (Revolutionen)<br />
* Revolutionen, politische Bewegungen, Ideologien etc. müssen durch Analyse der Basis bestimmt werden<br />
<br />
'''Einordnung:''' Die klassische Ausformulierung der Theorie von Basis und Überbau findet sich in Marx berühmter Einleitung zur ''Kritik der politischen Ökonomie'' von 1859:<br />
{{Zitat|In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.|<br />
Marx, Karl: Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 13, Berlin/DDR 1971, S. 8-9.}}<br />
<br />
== Wechselwirkung zwischen Basis und Überbau: „relative Selbständigkeit“ ==<br />
<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Historischer Materialismus, Basis und Überbau, Wechselwirkung, Dialektik, relative Selbständigkeit, Zufall, Notwendigkeit, Ideologie<br />
<br />
''' Annahme 1 '''<br />
* Wechselwirkung zwischen Basis und Überbau – ökonomische Notwendigkeit wirkt in „letzte Instanz“<br />
* Der Staat wirkt durch (Wirtschafts-)Politik auf die Basis zurück<br />
* In der scheinbaren Zufälligkeit setzt sich in der Geschichte die (ökonomische) Notwendigkeit durch<br />
* Ideologie ist, auch wenn abstrakt und weit von konkret-ökonomischen Fragen entfernt, Ausdruck der ökonomischen Verhältnisse<br />
Noch zu Lebzeiten von Marx und Engels wurden der historische Materialismus und die Lehre von Basis und Überbau als „deterministisch“ oder „mechanistisch“ kritisiert. In seinen letzten Lebensjahren nahm Engels wiederholt Stellung zu dieser Kritik und betonte das dialektische Verhältnis zwischen Basis und Überbau. In einem Brief an W. Borgius von 1894 stellte er die falsche Vorstellung richtig, es handle sich beim Verhältnis zwischen Basis und Überbau um ein einseitig-deterministisches:<br />
{{Zitat|Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, daß die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit. Der Staat z.B. wirkt ein durch Schutzzölle, Freihandel, gute oder schlechte Fiskalität [...] Es ist also nicht, wie man sich hier und da bequemerweise vorstellen will, eine automatische Wirkung der ökonomischen Lage, sondern die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber in einem gegebenen, sie bedingenden Milieu, auf Grundlage vorgefundener tatsächlicher Verhältnisse, unter denen die ökonomischen, sosehr sie auch von den übrigen politischen und ideologischen beeinflußt werden mögen, doch in letzter Instanz die entscheidenden sind [...] <br /> <br />Ihre Bestrebungen durchkreuzen sich, und in allen solchen Gesellschaften herrscht ebendeswegen die Notwendigkeit, deren Ergänzung und Erscheinungsform die Zufälligkeit ist. Die Notwendigkeit, die hier durch alle Zufälligkeit sich durchsetzt, ist wieder schließlich die ökonomische. [...]<br /> <br />Je weiter das Gebiet, das wir grade untersuchen, sich vom Ökonomischen entfernt und sich dem reinen abstrakt Ideologischen nähert, desto mehr werden wir finden, daß es in seiner Entwicklung Zufälligkeiten aufweist, desto mehr im Zickzack verläuft seine Kurve. Zeichnen Sie aber die Durchschnittsachse der Kurve, so werden Sie finden, daß, je länger die betrachtete Periode und je größer das so behandelte Gebiet ist, daß diese Achse der Achse der ökonomischen Entwicklung umso mehr annähernd parallel läuft. | <br />
Engels, Friedrich: Brief an W. Borgius in Breslau (25. Januar 1894), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 39, Berlin/DDR 1968, S. 206-207.}}<br />
<br />
''' Annahme 2 '''<br />
* Der Staat wirkt durch seine „relative Selbständigkeit“ zurück auf die ökonomische Basis<br />
* Die Staatsmacht kann 1. in Richtung und 2. gegen die Richtung der ökonomischen Entwicklung wirken. Letzteres aber nur bei Strafe ihres Untergangs<br />
* Die Staatsmacht (bzw. der Überbau) ist auch eine ökonomische Potenz (Basis)<br />
<br />
In einem Brief an Conrad Schmidt beschrieb Engels 1890 die konkrete Wechselwirkung zwischen Basis und Überbau und sprach von einer „relativen Selbständigkeit“ des letzteren:<br />
{{Zitat|Die neue selbständige Macht [der Staat] hat zwar im ganzen und großen der Bewegung der Produktion zu folgen, reagiert aber auch, kraft der ihr innewohnenden, d. h. ihr einmal übertragnen und allmählich weiterentwickelten relativen Selbständigkeit, wiederum auf die Bedingungen und den Gang der Produktion. Es ist Wechselwirkung zweier ungleicher Kräfte, der ökonomischen Bewegung auf der einen, der nach möglichster Selbständigkeit strebenden und, weil einmal eingesetzten, auch mit einer Eigenbewegung begabten neuen politischen Macht; die ökonomische Bewegung setzt sich im ganzen und großen durch, aber sie muß auch Rückwirkung erleiden von der durch sie selbst eingesetzten und mit relativer Selbständigkeit begabten politischen Bewegung, der Bewegung einerseits der Staatsmacht, andrerseits der mit ihr gleichzeitig erzeugten Opposition. […] <br /> <br />Die Rückwirkung der Staatsmacht auf die ökonomische Entwicklung kann dreierlei Art sein: Sie kann in derselben Richtung vorgehn, dann geht's rascher, sie kann dagegen angehn, dann geht sie heutzutage auf die Dauer in jedem großen Volk kaputt, oder sie kann der ökonomischen Entwicklung bestimmte Richtungen abschneiden und andre vorschreiben – dieser Fall reduziert sich schließlich auf einen der beiden vorhergehenden. Es ist aber klar, daß in den Fällen II und III die politische Macht der ökonomischen Entwicklung großen Schaden tun und Kraft- und Stoffvergeudung in Massen erzeugen kann. […] <br /> <br /> Wenn also Barth meint, wir leugneten alle und jede Rückwirkung der politischen usw. Reflexe der ökonomischen Bewegung auf diese Bewegung selbst, so kämpft er einfach gegen Windmühlen. Er soll sich doch nur den „18.Brumaire" von Marx ansehn, wo es sich doch fast nur um die besondre Rolle handelt, die die politischen Kämpfe und Ereignisse spielen, natürlich innerhalb ihrer allgemeinen Abhängigkeit von ökonomischen Bedingungen. Oder das „Kapital", den Abschnitt z.B. über den Arbeitstag, wo die Gesetzgebung, die doch ein politischer Akt ist, so einschneidend wirkt. Oder den Abschnitt über die Geschichte der Bourgeoisie (24. Kapitel).4 Oder warum kämpfen wir denn um die politische Diktatur des Proletariats, wenn die politische Macht ökonomisch ohnmächtig ist? Die Gewalt (d.h. die Staatsmacht) ist auch eine ökonomische Potenz!|<br />
Engels, Friedrich: Engels an Conrad Schmidt in Berlin (27. Oktober 1890), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 37, Berlin/DDR 1967, S. 490-493.}}<br />
<br />
== Ursprung, Geschichte und Wesen des (Klassen-)Staats ==<br />
<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Staat, Historischer Materialismus, Klassen, Staat (Definition), antiker Staat, Feudalstaat, bürgerlicher Staat, öffentliche Gewalt, Beamte, Steuern <br />
<br />
''' Annahme 1 '''<br />
* Der Staat muss in seinem historischen Zusammenhang und seinen Entwicklungsetappen betrachtet werden<br />
Lenin betonte in seiner Vorlesung ''Über den Staat'', dass der Staat unbedingt historisch, also mit Blick auf seinen Ursprung und seine Entwicklung, untersucht werden muss:<br />
{{Zitat|…das Allerwichtigste, um an diese Frage vom wissenschaftlichen Standpunkt heranzugehen, besteht darin, den grundlegenden historischen Zusammenhang nicht außer Acht zu lassen, jede Frage von dem Standpunkt aus zu betrachten, wie eine bestimmte Erscheinung in der Geschichte entstanden ist, welche Hauptetappen diese Erscheinung in ihrer Entwicklung durchlaufen hat, und vom Standpunkt dieser ihrer Entwicklung aus zu untersuchen, was aus der betreffenden Sache jetzt geworden ist.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Über den Staat (1919), in: Bd. 29: Lenin Werke, Berlin/DDR 1984, S. 463.}}<br />
<br />
''' Annahme 2 '''<br />
* Der Staat entsteht erst mit der Teilung der Gesellschaft in Klassen<br />
{{Zitat|Die Geschichte zeigt, daß der Staat als besonderer Apparat der Zwangsanwendung gegen Menschen erst dort und dann entstand, wo und wann die Teilung der Gesellschaft in Klassen in Erscheinung trat – also eine Teilung in Gruppen von Menschen, von denen die einen sich ständig die Arbeit der anderen aneignen können, wo der eine den anderen ausbeutet.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Über den Staat (1919), in: Bd. 29: Lenin Werke, Berlin/DDR 1984, S. 465.}}<br />
<br />
* Der Staat wird notwendig aufgrund unlösbarer Klassenwidersprüche<br />
{{Zitat|[Der Staat] ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der „Ordnung" halten soll|<br />
Engels, Friedrich: Ursprung der Familie des Privateigentums und des Staats (1884), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 21, Berlin/DDR 1962, S. 165.}}<br />
<br />
''' Annahme 3 '''<br />
* Allgemeine Eigenschaften des Staates:<br />
# Einteilung der Staatsangehörigen nach dem Gebiet<br />
# Einrichtung einer öffentlichen Gewalt (Armee, Polizei, Beamte). Die Gendarmerie (Polizei) wird nötig, um Bürger in Zaum zu halten<br />
# Jeder Staat erhebt Steuern<br />
* Die Beamten bilden notwendig eine privilegierte Schicht<br />
* Die mächtigste ökonomische Klasse einer Epoche setzt jeweils durch den Staat ihre politische Herrschaft durch<br />
Engels gab in seiner Schrift ''Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staas'' eine grundlegende Definition des Klassenstaates (Sklavenhalter-, Feudal- und bürgerlicher Staat) in Abgrenzung von der Gentilorganisation der Urgesellschaft:<br />
{{Zitat|Gegenüber der alten Gentilorganisation kennzeichnet sich der Staat erstens durch die Einteilung der Staatsangehörigen nach dem Gebiet. […] Diese Organisation der Staatsangehörigen nach der Ortsangehörigkeit ist allen Staaten gemeinsam. Uns kommt sie daher natürlich vor; wir haben aber gesehn, wie harte und langwierige Kämpfe erfordert waren, bis sie in Athen und Rom sich an die Stelle der alten Organisation nach Geschlechtern setzen konnte.<br />Das zweite ist die Einrichtung einer öffentlichen Gewalt, welche nicht mehr unmittelbar zusammenfällt mit der sich selbst als bewaffnete Macht organisierenden Bevölkerung. Diese besondre, öffentliche Gewalt ist nötig, weil eine selbsttätige bewaffnete Organisation der Bevölkerung unmöglich geworden seit der Spaltung in Klassen. Die Sklaven gehören auch zur Bevölkerung; die 90 000 athenischen Bürger bilden gegenüber den 365 000 Sklaven nur eine bevorrechtete Klasse. Das Volksheer der athenischen Demokratie war eine aristokratische öffentliche Gewalt gegenüber den Sklaven und hielt sie im Zaum; aber auch um die Bürger im Zaum zu halten, wurde eine Gendarmerie nötig, wie oben erzählt. Diese öffentliche Gewalt existiert in jedem Staat; sie besteht nicht bloß aus bewaffneten Menschen, sondern auch aus sachlichen Anhängseln, Gefängnissen und Zwangsanstalten aller Art, von denen die Gentilgesellschaft nichts wußte. Sie kann sehr unbedeutend, fast verschwindend sein in Gesellschaften mit noch unentwickelten Klassengegensätzen und auf abgelegnen Gebieten, wie zeit- und ortsweise in den Vereinigten Staaten Amerikas. Sie verstärkt sich aber in dem Maß, wie die Klassengegensätze innerhalb des Staats sich verschärfen und wie die einander begrenzenden Staaten größer und volkreicher werden – man sehe nur unser heutiges Europa an, wo Klassenkampf und Eroberungskonkurrenz die öffentliche Macht auf eine Höhe emporgeschraubt haben, auf der sie die ganze Gesellschaft und selbst den Staat zu verschlingen droht. Um diese öffentliche Macht aufrechtzuerhalten, sind Beiträge der Staatsbürger nötig - die Steuern. [...]<br /><br />Im Besitz der öffentlichen Gewalt und des Rechts der Steuereintreibung, stehn die Beamten nun da als Organe der Gesellschaft über der Gesellschaft. Die freie, willige Achtung, die den Organen der Gentilverfassung gezollt wurde, genügt ihnen nicht, selbst wenn sie sie haben könnten; Träger einer der Gesellschaft entfremdenden Macht, müssen sie in Respekt gesetzt werden durch Ausnahmsgesetze, kraft deren sie einer besondren Heiligkeit und Unverletzlichkeit genießen. […] <br /><br />Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittelst seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse. So war der antike Staat vor allem Staat der Sklavenbesitzer zur Niederhaltung der Sklaven, wie der Feudalstaat Organ des Adels zur Niederhaltung der Leibeignen und hörigen Bauern und der moderne Repräsentativstaat Werkzeug der Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital.|<br />
Engels, Friedrich: Ursprung der Familie des Privateigentums und des Staats (1884), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 21, Berlin/DDR 1962, S. 165-167.}}<br />
<br />
== Staat, Nation, Nationalstaat ==<br />
<br />
<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Bürgerlicher Staat, Nationalstaat, Nation, politische Zentralisation <br />
<br />
''' Annahme 1 '''<br />
* Sprache und ein durch natürliche Grenzen definiertes Territorium bilden die Elemente der Nation.<br />
Engels schreibt im Hinblick auf die Zeit der Herausbildung neuer Nationen aus dem zerfallenden Römischen Imperium am Übergang von der Antike zum Mittelalter:<br />
{{Zitat|Die Elemente neuer Nationen waren überall vorhanden; die lateinischen Dialekte der verschiednen Provinzen schieden sich mehr und mehr; die natürlichen Grenzen, die Italien, Gallien, Spanien, Afrika früher zu selbständigen Gebieten gemacht hatten, waren noch vorhanden und machten sich auch noch fühlbar. Aber nirgends war die Kraft vorhanden, diese Elemente zu neuen Nationen zusammenzufassen; nirgends war noch eine Spur von Entwicklungsfähigkeit, von Widerstandskraft, geschweige von Schaffungsvermögen.|<br />
Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: MEW 21, S. 142.}}<br />
<br />
''' Annahme 2 '''<br />
* Die Kraft, die diese Elemente zur Nation zusammenfasst, liegt in der gemeinsamen ökonomischen Entwicklung sprachlich und territorial abgegrenzter Gebiete.<br />
* Niedrige industrielle, kommerzielle und landwirtschaftliche Entwicklung lässt nur provinzielle Zentralisation zu.<br />
* Die Warenproduktion führt zur Zentralisation größerer Territorien und schließlich der Nation.<br />
In seiner Schrift über den deutschen Bauernkrieg schreibt Engels über die Ursachen der territorialen Zerstückelung der deutschen Nation:<br />
{{Zitat|Wir sahen schon gleich im Anfang unserer Darstellung, wie die mangelhafte industrielle, kommerzielle und agrikole Entwicklung Deutschlands alle Zentralisation der Deutschen zur Nation unmöglich machte, wie sie nur eine lokale und provinzielle Zentralisation zuließ und wie daher die Repräsentanten dieser Zentralisation innerhalb der Zersplitterung, die Fürsten, den einzigen Stand bildeten, dem jede Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zugute kommen mußte.|<br />
Friedrich Engels, Der deutsche Bauernkrieg, in: MEW 7, S. 411.}}<br />
<br />
Lenin verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass es gerade die Warenproduktion ist, die <br />
{{Zitat|alle einzelnen Elemente und Klassen der Gesellschaft zur Vereinigung zwingt, und zwar zu einer Vereinigung nicht mehr im engen Rahmen einer Dorfgemeinde oder eines Kreises, sondern zur Vereinigung aller Angehörigen der entsprechenden Klasse in der gesamten Nation und sogar in verschiedenen Staaten. Nur ein Romantiker mit dem ihm eigenen reaktionären Standpunkt kann die Existenz dieser Beziehungen und ihre tiefere Bedeutung leugnen, die auf der Gemeinsamkeit der Rollen in der Volkswirtschaft, nicht aber auf territorialen, beruflichen, religiösen und ähnlichen Interessen beruht.|<br />
W.I. Lenin, Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik, LW 2, S. 210.}}<br />
<br />
''' Annahme 3 '''<br />
* Der erste wichtige Schritt in Richtung ökonomischer und politischer Zentralisation und Herausbildung der „modernen europäischen Nationen“ wurde durch das Königtum gemacht.<br />
{{Zitat|Das Königtum, sich stützend auf die Städtebürger, brach die Macht des Feudaladels und begründete die großen, wesentlich auf Nationalität basierten Monarchien, in denen die modernen europäischen Nationen und die moderne bürgerliche Gesellschaft zur Entwicklung kamen; und während noch Bürger und Adel sich in den Haaren lagen, wies der deutsche Bauernkrieg prophetisch hin auf zukünftige Klassenkämpfe, indem er nicht nur die empörten Bauern auf die Bühne führte – das war nichts Neues mehr –, sondern hinter ihnen die Anfänge des jetzigen Proletariats, die rote Fahne in der Hand und die Forderung der Gütergemeinschaft auf den Lippen.|<br />
Friedrich Engels, Die Dialektik der Natur, in: MEW 20, S. 311.}}<br />
<br />
''' Annahme 4 '''<br />
* Nationalsprachen entstehen auf der Grundlage der ökonomischen und politischen Konzentration.<br />
* Die Einheitlichkeit der Nation und der Nationalsprache ist ein wichtiger Faktor für die Freiheit des kapitalistischen Wirtschaftsverkehrs und die Eroberung des inneren Marktes durch die Bourgeoisie. <br />
* Der Nationalstaat ist die für die kapitalistische Periode typische Staatsform. <br />
{{Zitat|Die Naturwüchsigkeit der Sprache ist übrigens in jeder modernen ausgebildeten Sprache, teils durch die Geschichte der Sprachentwicklung aus vorgefundenem Material, wie bei den romanischen und germanischen Sprachen, teils durch die Kreuzung und Mischung von Nationen, wie im Englischen, teils durch auf ökonomischer und politischer Konzentration beruhende Konzentration der Dialekte innerhalb einer Nation zur Nationalsprache aufgehoben.|<br />
Karl Marx/Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 411.}}<br />
Zu den modernen Erfordernissen des Kapitalismus gehört, laut Lenin,<br />
{{Zitat|die Forderung größtmöglicher Einheitlichkeit in der nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung, da die Nationalität, die Gleichheit der Sprache ein wichtiger Faktor ist für die vollständige Eroberung des inneren Marktes und für die volle Freiheit des Wirtschaftsverkehrs.|<br />
W.I. Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: LW 20, S. 34.}}<br />
{{Zitat|Die ökonomische Grundlage dieser [nationalen] Bewegungen besteht darin, daß für den vollen Sieg der Warenproduktion die Eroberung des inneren Marktes durch die Bourgeoisie erforderlich, die staatliche Zusammenfassung von Territorien mit Bevölkerung gleicher Sprache notwendig ist, bei Beseitigung aller Hindernisse für die Entwicklung dieser Sprache und ihre Entfaltung in der Literatur. Die Sprache ist das wichtigste Mittel des Verkehrs der Menschen untereinander; die Einheit der Sprache und ihre ungehinderte Entwicklung bilden eine der wichtigsten Voraussetzungen für einen wirklich freien und umfassenden, dem modernen Kapitalismus entsprechenden Handel, für eine freie und umfassende Gruppierung der Bevölkerung nach jeder der einzelnen Klassen, schließlich eine Voraussetzung für die enge Verbindung des Marktes mit jedem, auch dem kleinsten Unternehmer, mit jedem Verkäufer und Käufer. Die Bildung von Nationalstaaten, die diesen Erfordernissen des modernen Kapitalismus am besten entsprechen, ist daher die Tendenz (das Bestreben) jeder nationalen Bewegung. Die grundlegenden wirtschaftlichen Faktoren drängen dazu, und in ganz Westeuropa – mehr als das: in der ganzen zivilisierten Welt – ist deshalb der Nationalstaat für die kapitalistische Periode das Typische, das Normale.|<br />
W.I. Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: LW 20, S. 398.}}<br />
<br />
''' Annahme 5 '''<br />
* Die Bourgeoisie hebt die Zersplitterung der Produktionsmittel auf und vollendet die politische Zentralisation der Nation zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum. <br />
* Die Bourgeoisie vertritt ein einheitliches nationales Klasseninteresse.<br />
* Die Bourgeoisie ersetzt die lokalen Einzelgewalten des Feudalismus durch ihre zentralisierte Staatsmacht.<br />
Im ''Kommunistischen Manifest'' beschrieben Marx und Engels den historischen Prozess der Herstellung des bürgerlichen Nationalstaats als Konsequenz der Herausbildung der ökonomischen Basis der kapitalistischen Produktionsweise und der Bourgeoisie:<br />
{{Zitat|Die Bourgeoisie hebt mehr und mehr die Zersplitterung der Produktionsmittel, des Besitzes und der Bevölkerung auf. Sie hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Die notwendige Folge hiervon war die politische Zentralisation. Unabhängige, fast nur verbündete Provinzen mit verschiedenen Interessen, Gesetzen, Regierungen und Zöllen wurden zusammengedrängt in eine Nation, eine Regierung, ein Gesetz, ein nationales Klasseninteresse, eine Douanenlinie.|<br />
Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW 4, S. 466.}}<br />
Im ''achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte'' beschreibt Marx die vor diesem Hintergrund stattfindende Transformation des feudalen in den bürgerlichen Staat und die Herstellung der Einheit der Nation: <br />
{{Zitat|Die herrschaftlichen Privilegien der Grundeigentümer und Städte verwandelten sich in ebenso viele Attribute der Staatsgewalt, die feudalen Würdenträger in bezahlte Beamte und die bunte Mustercharte der widerstreitenden mittelalterlichen Machtvollkommenheiten in den geregelten Plan einer Staatsmacht, deren Arbeit fabrikmäßig geteilt und zentralisiert ist. Die erste französische Revolution mit ihrer Aufgabe, alle lokalen, territorialen, städtischen und provinziellen Sondergewalten zu brechen, um die bürgerliche Einheit der Nation zu schaffen, mußte entwickeln, was die absolute Monarchie begonnen hatte: die Zentralisation, aber zugleich den Umfang, die Attribute und die Handlanger der Regierungsgewalt.|<br />
Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852), in: MEW Bd. 8, S. 196-197.}}<br />
<br />
''' Annahme 6 '''<br />
* Die Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise führt zur allseitigen Abhängigkeit der Nationen voneinander.<br />
{{Zitat|An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.|<br />
Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW 4, S. 466.}}<br />
<br />
''' Annahme 7 '''<br />
* Durch die Herausbildung des kapitalistischen Weltmarkts verschwinden die Absonderungen und Gegensätze der Völker mehr und mehr und die Lebensverhältnisse gleichen sich an.<br />
{{Zitat|Die moderne industrielle Arbeit, die moderne Unterjochung unter das Kapital, dieselbe in England wie in Frankreich, in Amerika wie in Deutschland, hat ihm allen nationalen Charakter abgestreift. […]<br />
Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse.|<br />
Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW 4, S. 472 und 479.}}<br />
{{Zitat|Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktion wird ein average Niveau der bürgerlichen Gesellschaft und damit der Temperamente und dispositions in den verschiedensten Völkern geschaffen.|<br />
Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, in: MEW 26.3, S. 441.}}<br />
<br />
''' Annahme 8 '''<br />
* Der Form nach ist der Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie ein nationaler, die Arbeiter müssen die Bourgeoisie besiegen und sich dadurch selbst zur nationalen Klasse erheben. <br />
* Die Arbeiter haben kein Vaterland – dennoch gehören sie zur Nation, wenn auch nicht im Sinne der Bourgeoisie.<br />
* Die Unterdrückten Klassen bilden die große Masse der Nation. Die Klassenspaltung innerhalb der Nationen ist so tief, dass Marx von „zwei Nationen“ spricht. <br />
Im ''Kommunistischen Manifest'' bestimmen Marx und Engels die Stellung des Proletariats seines Klassenkampfs zur bürgerlichen Nation: <br />
{{Zitat|Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden. […] <br />
Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben. Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie.|<br />
Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW 4, S. 473 und 479.}}<br />
{{Zitat|Die große Masse der Nation, die weder dem Adel noch der Bourgeoisie angehörte, bestand in den Städten aus der Klasse der Kleinbürger und der Arbeiterschaft, auf dem Lande aus der Bauernschaft.|<br />
Friedrich Engels, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: MEW 8, S. 9.}}<br />
{{Zitat|Der augenblickliche Triumph der brutalen Gewalt ist erkauft mit der Vernichtung aller Täuschungen und Einbildungen der Februarrevolution, mit der Auflösung der ganzen alt-republikanischen Partei, mit der Zerklüftung der französischen Nation in zwei Nationen, die Nation der Besitzer und die Nation der Arbeiter.|<br />
Karl Marx, Neue Rheinische Zeitung, in: MEW 5, S. 133.}}<br />
<br />
''' Annahme 9 '''<br />
* Die bürgerlichen Nationen stehen sich aufgrund der kapitalistischen Konkurrenz feindlich gegenüber.<br />
* Erst der Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie und die Abschaffung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse hebt die feindliche Stellung der Nationalstaaten gegeneinander auf <br />
{{Zitat|Damit die Völker sich wirklich vereinigen können, muß ihr Interesse ein gemeinschaftliches sein. Damit ihr Interesse gemeinschaftlich sein könne, müssen die jetzigen Eigentumsverhältnisse abgeschafft sein, denn die jetzigen Eigentumsverhältnisse bedingen die Exploitation der Völker unter sich: die jetzigen Eigentumsverhältnisse abzuschaffen, das ist nur das Interesse der arbeitenden Klasse. Sie allein hat auch die Mittel dazu. Der Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie ist zugleich der Sieg über die nationalen und industriellen Konflikte, die heutzutage die verschiedenen Völker feindlich einander gegenüberstellen. Der Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie ist darum zugleich das Befreiungssignal aller unterdrückten Nationen.|<br />
Karl Marx, Reden über Polen, in: MEW 4, S. 416.}}<br />
{{Zitat|In dem Maße, wie die Exploitation des einen Individuums durch das andere aufgehoben wird, wird die Exploitation einer Nation durch die andere aufgehoben. Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander.|<br />
Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW 4, S. 479.}}<br />
<br />
''' Annahme 10 '''<br />
* Dem Proletariat können die politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen innerhalb der eigenen Nation nicht gleichgültig sein.<br />
Lenin argumentiert 1908 in einer Polemik gegen die deutschen Sozialdemokraten Georg von Vollmar, und Gustav Noske und den französischen Sozialisten Gustave Hervé gegen deren Auslegung der Formulierung aus dem kommunistischen Manifest, die „Arbeiter haben kein Vaterland“:<br />
{{Zitat|Daß ‚die Arbeiter kein Vaterland haben‘, steht wirklich im ‚Kommunistischen Manifest‘; daß die Haltung von Vollmar, Noske und Co. dieser Grundthese des internationalen Sozialismus ‚ins Gesicht schlägt‘, ist ebenfalls richtig. Aber daraus folgt noch nicht, daß die Behauptung Hervés und seiner Anhänger richtig ist, es sei dem Proletariat gleichgültig, in was für einem Vaterland es lebt: ob im monarchistischen Deutschland, im republikanischen Frankreich oder in der despotischen Türkei. Das Vaterland, d. h. das gegebene politische, kulturelle und soziale Milieu, ist der stärkste Faktor im Klassenkampf des Proletariats; und ist Vollmar im Unrecht, wenn er ein ‚echtdeutsches‘ Verhältnis des Proletariats zum ‚Vaterland‘ feststellt, so hat Hervé nicht minder unrecht, der einem so wichtigen Faktor des Befreiungskampfes des Proletariats unverzeihlich unkritisch gegenübersteht. Dem Proletariat können die politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen seines Kampfes nicht gleichgültig sein, folglich können ihm auch die Geschicke seines Landes nicht gleichgültig sein.|<br />
W.I. Lenin, Der streitbare Militarismus und die antimilitaristische Taktik der Sozialdemokratie, in: LW 15, S. 189.}}<br />
<br />
''' Annahme 11 '''<br />
* 1.) Die Herausbildung der Nationalstaaten und 2.) die Niederreißung der nationalen Schranken und die Herstellung der internationalen Einheit des Kapitals, der Politik, der Wissenschaft usw. sind Weltgesetze des Kapitalismus<br />
{{Zitat|Der Kapitalismus kennt in seiner Entwicklung zwei historische Tendenzen in der nationalen Frage. Die erste Tendenz: Erwachen des nationalen Lebens und der nationalen Bewegungen, Kampf gegen jede nationale Unterdrückung, Herausbildung von Nationalstaaten. Die zweite Tendenz: Entwicklung und Vervielfachung der verschiedenartigen Beziehungen zwischen den Nationen, Niederreißung der nationalen Schranken, Herausbildung der internationalen Einheit des Kapitals, des Wirtschaftslebens überhaupt, der' Politik, der Wissenschaft usw. Beide Tendenzen sind ein Weltgesetz des Kapitalismus. Die erste überwiegt im Anfangsstadium seiner Entwicklung, die zweite kennzeichnet den reifen, seiner Umwandlung in die sozialistische Gesellschaft entgegengehenden Kapitalismus.|<br />
W.I. Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: LW 20, S. 12.}}<br />
<br />
''' Annahme 12 '''<br />
* In jeder nationalen Kultur gibt es sowohl reaktionäre als auch demokratische und sozialistische Elemente.<br />
* Die „nationale Kultur“ ist die Kultur der herrschenden Klasse(n)<br />
{{Zitat|In jeder nationalen Kultur gibt es – seien es auch unentwickelte – Elemente einer demokratischen und sozialistischen Kultur, denn in jeder Nation gibt es eine werktätige und ausgebeutete Masse, deren Lebensbedingungen unvermeidlich eine demokratische und sozialistische Ideologie erzeugen. In jeder Nation gibt es aber auch eine bürgerliche (und in den meisten Fällen noch dazu erzreaktionäre und klerikale) Kultur, und zwar nicht nur in Form von ‚Elementen‘, sondern als herrschende Kultur. Deshalb ist die ‚nationale Kultur‘ schlechthin die Kultur der Gutsbesitzer, der Pfaffen, der Bourgeoisie.|<br />
W.I. Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: LW 20, S. 8.}}<br />
<br />
''' Annahme 13 '''<br />
* Es kann in den unterdrückten Klassen einen klassenkämpferischen und revolutionären Nationalstolz geben, der sich gegen den Chauvinismus der herrschenden Klasse richtet. <br />
{{Zitat|Ist uns großrussischen klassenbewußten Proletariern das Gefühl des nationalen Stolzes fremd? Gewiß nicht! Wir lieben unsere Sprache und unsere Heimat, wir wirken am meisten dafür, daß ihre werktätigen Massen (d. h. neun Zehntel ihrer Bevölkerung) zum bewußten Leben erhoben werden, daß sie Demokraten und Sozialisten werden. Es schmerzt uns am meisten, zu sehen und zu fühlen, welchen Gewalttaten, welcher Unterdrückung und welchen Schmähungen die Zarenschergen, Gutsbesitzer und Kapitalisten unsere schöne Heimat unterwerfen. Wir sind stolz darauf, daß […] die großrussische Arbeiterklasse im Jahre 1905 eine mächtige revolutionäre Massenpartei geschaffen, daß der großrussische Bauer zur selben Zeit Demokrat zu werden und den Popen und den Gutsbesitzer davonzujagen begonnen hat. Wir haben nicht vergessen, daß vor einem halben Jahrhundert der großrussische Demokrat Tschernyschewski, der sein Leben der Sache der Revolution hingab, gesagt hat: ‚Eine erbärmliche Nation, eine Nation von Sklaven, von oben bis unten – alles Sklaven.‘ Die offenen und versteckten großrussischen Sklaven (Sklaven im Verhältnis zur Zarenmonarchie) werden nicht gern an diese Worte erinnert. Aber nach unserer Meinung waren das Worte wahrer Heimatliebe, einer Liebe, die unter dem Mangel an revolutionärem Geist bei den Massen der großrussischen Bevölkerung litt. […] Jetzt ist er, obwohl in geringem Maße, doch schon vorhanden. Wir sind erfüllt vom Gefühl nationalen Stolzes, denn die großrussische Nation hat gleichfalls eine revolutionäre Klasse hervorgebracht, hat gleichfalls bewiesen, daß sie imstande ist, der Menschheit große Vorbilder des Kampfes für die Freiheit und den Sozialismus zu geben und nicht nur große Pogrome, Galgenreihen und Folterkammern, große Hungersnöte und große Kriecherei vor den Popen, den Zaren, den Gutsbesitzern und Kapitalisten. Wir sind erfüllt vom Gefühl nationalen Stolzes, und gerade deshalb hassen wir ganz besonders unsere sklavische Vergangenheit (in der adlige Gutsbesitzer die Bauern in den Krieg führten, um die Freiheit Ungarns, Polens, Persiens und Chinas zu meucheln) und unsere sklavische Gegenwart, in der dieselben Gutsbesitzer, unterstützt von den Kapitalisten, uns in den Krieg führen, um Polen und die Ukraine zu erdrosseln, um die demokratische Bewegung in Persien und China zu ersticken und um die Bande der Romanow, Bobrinski und Purischkewitsch zu stärken, die unsere großrussische nationale Würde schänden. Niemand ist schuld daran, daß er als Sklave geboren wurde; aber ein Sklave, dem nicht nur alle Freiheitsbestrebungen fremd sind, sondern der seine Sklaverei noch rechtfertigt und beschönigt (der beispielsweise die Erdrosselung Polens, der Ukraine usw. als ‚Vaterlandsverteidigung‘ der Großrussen bezeichnet) – ein solcher Sklave ist ein Lump und ein Schuft, der ein berechtigtes Gefühl der Empörung, der Verachtung und des Ekels hervorruft.|<br />
W.I. Lenin, Der tote Chauvinismus und der lebendige Sozialismus, in: LW 21, S. 92.}}<br />
<br />
''' Annahme 14 '''<br />
* Das Proletariat unterstützt alles, was zur Verschmelzung der Nationen führt.<br />
{{Zitat|[das Proletariat] unterstützt alles, was dazu beiträgt, die nationalen Unterschiede zu verwischen, die Schranken zwischen den Nationen niederzureißen, alles, was den-Zusammenhalt zwischen den Nationalitäten immer enger gestaltet, alles, was zur Verschmelzung der Nationen führt.|<br />
W.I. Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: LW 20, S. 20.}}<br />
<br />
== „Diktatur der Bourgeoisie“: Der bürgerliche Staat als Herrschafts- und Machtinstrument des Kapitals ==<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Ideeller Gesamtkapitalist, bürgerlicher Staat, Repression, Heer, öffentliche Gewalt, ökonomischer Zwang, Staat, Feudalstaat, bürgerlicher Staat, Diktatur der Bourgeoisie, Diktatur des Proletariats<br />
<br />
''' Annahme 1 '''<br />
* Bürgerlicher Staat = Maschine zur Unterdrückung der ausgebeuteten Klasse<br />
Marx und Engels beschrieben im ''Kommunistischen Manifest'', dass der Staat seinem Wesen nach „organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen" ist (MEW 4, Berlin/DDR 1972, S. 482). Engels führte dazu im Ursprung der Familie weiter aus:<br />
{{Zitat|Die Zusammenfassung der zivilisierten Gesellschaft ist der Staat, der in allen mustergültigen Perioden ausnahmslos der Staat der herrschenden Klasse ist und in allen Fällen wesentlich Maschine zur Niederhaltung der unterdrückten, ausgebeuteten Klasse bleibt.|<br />
Engels, Friedrich: Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 21, Berlin/DDR 1975, S. 170-171.}}<br />
<br />
''' Annahme 2 '''<br />
* Staat = Organ der Klassenherrschaft<br />
* Staatsgewalt = besondere Formationen bewaffneter Menschen<br />
* Stehendes Heer und Polizei sind die Hauptwerkzeuge der staatlichen Gewaltausübung<br />
* Staat = „besondere Repressionsgewalt“<br />
* Staat = Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere<br />
* Die jeweilige Form des Klassenstaates ändert nichts an seinem Wesen<br />
* Es gibt verschiedene Staatsformen im Kapitalismus<br />
* Die demokratische Republik ist für das Proletariat die beste Staatsform<br />
<br />
Lenin fasste die Lehre von Marx und Engels in ''Staat und Revolution'' (1917) gegenüber den Verfälschungen der Revisionisten zusammen:<br />
{{Zitat|Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen „Ordnung“, die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Staat und Revolution (1918), in: Bd. 25: Lenin Werke, Berlin/DDR 1974, S. 399.}}<br />
{{Zitat|Engels entwickelt [im Ursprung der Familie...] nun den Begriff jener ‚Macht‘, die man als Staat bezeichnet, der Macht, die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben.<br />Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt ‚nicht mehr unmittelbar zusammenfällt‘ mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer ‚selbsttätigen bewaffneten Organisation‘ . [...] <br />Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber – kann denn das anders sein?|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Staat und Revolution (1918), in: Bd. 25: Lenin Werke, Berlin/DDR 1974, S. 401.}}<br />
{{Zitat|Der Staat ist ‚eine besondre Repressionsgewalt‘. Diese großartige und überaus tiefe Definition legt Engels hier ganz klar und eindeutig dar. Aus ihr folgt aber, daß die ‚besondre Repressionsgewalt‘ der Bourgeoisie gegen das Proletariat, einer Handvoll reicher Leute gegen die Millionen der Werktätigen, abgelöst werden muß durch eine ‚besondre Repressionsgewalt‘ des Proletariats gegen die Bourgeoisie (die Diktatur des Proletariats).|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Staat und Revolution (1918), in: Bd. 25: Lenin Werke, Berlin/DDR 1974, S. 408.}}<br />
{{Zitat|Der Staat ist eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere, eine Maschine, um alle unterworfenen Klassen in der Botmäßigkeit der einen Klasse zu halten. Die Form dieser Maschine ist verschieden. Im Sklavenhalterstaat haben wir die Monarchie, die aristokratische Republik oder sogar die demokratische Republik. Mochten in der Praxis die Regierungsformen außerordentlich mannigfaltig sein, das Wesen der Sache blieb das gleiche: die Sklaven hatten keinerlei Rechte und blieben eine unterdrückte Klasse, sie galten nicht als Menschen. Das gleiche sehen wir auch im Leibeigenschaftsstaat.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Über den Staat (1919), in: Bd. 29: Lenin Werke, Berlin/DDR 1984, S. 471.}}<br />
{{Zitat|Wir sind für die demokratische Republik als die für das Proletariat unter dem Kapitalismus beste Staatsform, aber wir dürfen nicht vergessen, daß auch in der allerdemokratischsten bürgerlichen Republik Lohnsklaverei das Los des Volkes ist. Ferner. Jedweder Staat ist ‚eine besondere Repressionsgewalt‘ gegen die unterdrückte Klasse. Darum ist ein jeder Staat unfrei und kein Volksstaat. Marx und Engels haben das ihren Parteigenossen in den siebziger Jahren wiederholt auseinandergesetzt.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Staat und Revolution (1918), in: Bd. 25: Lenin Werke, Berlin/DDR 1974, S. 410.}}<br />
<br />
''' Annahme 3 '''<br />
* Die bürgerliche Staatsgewalt zwingt die Arbeiter mit Gewalt zur Disziplin<br />
* Außerökonomischer Zwang kommt im entwickelten Kapitalismus immer noch zum Einsatz, wird aber zur Ausnahme, während die relativ „friedliche“ Ausübung der Klassenherrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft zur Regel wird<br />
Die Bourgeoisie herrscht, wenn sie einmal an der Macht ist, nicht nur durch den offenen Zwang der bewaffneten Staatsgewalt. Marx schrieb im ''Kapital'' (Band 1) über die Rolle der Staatsgewalt bei der Einrichtung der kapitalistischen Verhältnisse und den im fertigen Kapitalismus einsetzenden „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“:<br />
{{Zitat|[Zur Rolle des Staats in der ursprünglichen Akkumulation:] So wurde das von Grund und Boden gewaltsam expropriierte, verjagte und zum Vagabunden gemachte Landvolk durch grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, - gebrandmarkt, -gefoltert. [...] <br />Im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt. Die Organisation des ausgebildeten kapitalistischen Produktionsprozesses bricht jeden Widerstand, die beständige Erzeugung einer relativen Übervölkerung hält das Gesetz der Zufuhr von und Nachfrage nach Arbeit und daher den Arbeitslohn in einem den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals entsprechenden Gleise, der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse besiegelt die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter. Außerökonomische, unmittelbare Gewalt wird zwar immer noch angewandt, aber nur ausnahmsweise. Für den gewöhnlichen Gang der Dinge kann der Arbeiter den ‚Naturgesetzen der Produktion‘ überlassen bleiben, d.h. seiner aus den Produktionsbedingungen selbst entspringenden, durch sie garantierten und verewigten Abhängigkeit vom Kapital.|<br />
Marx, Karl: Das Kapital (1867), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 23, Berlin/DDR 1968, S. 765-766.}}<br />
<br />
''' Annahme 4 '''<br />
* Staat = Organisation der ausbeutenden Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer Produktionsbedingungen <br />
* Staat vertritt ganze Gesellschaft als Staat der herrschenden Klasse<br />
Engels schrieb im ''Anti-Dühring'', dass der Staat in jeder Klassengesellschaft immer der Staat der in dieser Gesellschaft jeweils herrschenden Klasse ist:<br />
{{Zitat|Die bisherige, sich in Klassengegensätzen bewegende Gesellschaft hatte den Staat nötig, das heißt eine Organisation der jedesmaligen ausbeutenden Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer äußern Produktionsbedingungen, also namentlich zur gewaltsamen Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse in den durch die bestehende Produktionsweise gegebnen Bedingungen der Unterdrückung (Sklaverei, Leibeigenschaft oder Hörigkeit, Lohnarbeit). Der Staat war der offizielle Repräsentant der ganzen Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einer sichtbaren Körperschaft, aber er war dies nur, insofern er der Staat derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die ganze Gesellschaft vertrat: im Altertum Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im Mittelalter des Feudaladels, in unsrer Zeit der Bourgeoisie.|<br />
Engels, Friedrich: Anti-Dühring (1877), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 20, Berlin/DDR 1962, S. 261.}}<br />
<br />
<br />
''' Annahme 5 '''<br />
* Der Form nach können sich bürgerliche Staaten unterscheiden, ihrem Wesen nach sind sie alle Diktaturen der Bourgeoisie<br />
* Die bestimmte Negation der Diktatur der Bourgeoisie ist die Diktatur des Proletariats<br />
Lenin fasste in ''Staat und Revolution'' seine Studien zur marxschen Staatsauffasung in der Bestimmung des bürgerlichen Staats als „Diktatur der Bourgeoisie“ zusammen:<br />
{{Zitat|Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist […]. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie. Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus muß natürlich eine ungeheure Fülle und Mannigfaltigkeit der politischen Formen hervorbringen, aber das Wesentliche wird dabei unbedingt das eine sein: die Diktatur des Proletariats.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Staat und Revolution (1918), in: Bd. 25: Lenin Werke, Berlin/DDR 1974, S. 425.}}<br />
<br />
== Der bürgerliche Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ ==<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Ideeller Gesamtkapitalist, bürgerlicher Staat, Fabrikgesetze<br />
<br />
''' Annahme 1 '''<br />
* Staat = Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der Bourgeoisie verwaltet<br />
* Staat = organisierte Gewalt der herrschenden Klasse<br />
<br />
Im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 bestimmten Marx und Engels den bürgerlichen Staat:<br />
{{Zitat|seit der Herstellung der großen Industrie und des Weltmarktes [erkämpfte die Bourgeoisie sich] im modernen Repräsentativstaat die ausschließliche politische Herrschaft. <br /> Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. […] Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen.|<br />
Marx, Karl/ Engels, Friedrich, Manifest der Kommunistischen Partei (1848), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, Berlin/DDR 1972, S.464/482.}}<br />
<br />
<br />
''' Annahme 2 '''<br />
* Staat = organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen<br />
* Staat = Gesamtkapitalist<br />
Inhaltlich deckt sich diese Definition des Staates als „Ausschuss“ zur Regelung der „gemeinschaftlichen Geschäfte“ der Bourgeoisie mit der späteren Formulierung von Engels, in der er den bürgerlichen Staat als „Gesamtkapitalisten“ bezeichnete:<br />
{{Zitat|Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten […] nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. Wenn also die einzelnen Kapitalisten die Wohnungsnot zwar beklagen, aber kaum zu bewegen sind, ihre erschreckendsten Konsequenzen oberflächlich zu vertuschen, so wird der Gesamtkapitalist, der Staat, auch nicht viel mehr tun. Er wird höchstens dafür sorgen, daß der einmal üblich gewordene Grad oberflächlicher Vertuschung überall gleichmäßig durchgeführt wird.|<br />
Engels, Friedrich, Zur Wohnungsfrage (1872-1873), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 18, Berlin/DDR 1973, S.257-258.}}<br />
<br />
''' Annahme 3 '''<br />
* Der Staat schützt die kapitalistische Produktionsweise sowohl gegen Arbeiter als auch gegen einzelne Kapitalisten<br />
Laut Engels setzt der „ideelle Gesamtkapitalist“ sein Interesse mit Hilfe der Staatsmacht nicht nur gegenüber dem Proletariat, sondern auch gegenüber einzelnen Kapitalisten durch:<br />
{{Zitat|Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist.|<br />
Engels, Friedrich: Anti-Dühring (1877), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 20, Berlin/DDR 1962, S. 260.}}<br />
<br />
''' Annahme 4 '''<br />
* Die Länge des Arbeitstags bedarf einer Beschränkung, welche sich die Kapitalistenklasse nur mittels des Staates als ganze auferlegen kann<br />
* Der Staat reguliert Arbeitslohn und Länge des Arbeitstags<br />
* Rolle des Staates in der ursprünglichen Akkumulation<br />
Marx zeigte in ''Das Kapital'' (Band 1) anhand konkreter Beispiele, dass der „ideelle Gesamtkapitalist“ die langfristigen Interessen der gesamten Bourgeoisie auch gegen die unmittelbaren Partikularinteressen einzelner Kapitalisten vertreten und durchsetzen muss – um nicht die Reproduktion des Kapitals und der Gesellschaft insgesamt zu gefährden:<br />
{{Zitat|[Die englischen Factory Acts] zügeln den Drang des Kapitals nach maßloser Aussaugung der Arbeitskraft durch gewaltsame Beschränkung des Arbeitstags von Staats wegen, und zwar von Seiten eines Staats, den Kapitalist und Landlord beherrschen. Von einer täglich bedrohlicher anschwellenden Arbeiterbewegung abgesehn, war die Beschränkung der Fabrikarbeit diktiert durch dieselbe Notwendigkeit, welche den Guano auf die englischen Felder ausgoß. Dieselbe blinde Raubgier, die in dem einen Fall die Erde erschöpft, hatte in dem andren die Lebenskraft der Nation an der Wurzel ergriffen. Periodische Epidemien sprachen hier ebenso deutlich als das abnehmende Soldatenmaß in Deutschland und Frankreich.|<br />
Marx, Karl: Das Kapital (1867), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 23, Berlin/DDR 1968, S. 253.}}<br />
{{Zitat|Die aufkommende Bourgeoisie braucht und verwendet die Staatsgewalt, um den Arbeitslohn zu „regulieren", d.h. innerhalb der Plusmacherei zusagender Schranken zu zwängen, um den Arbeitstag zu verlängern und den Arbeiter selbst in normalem Abhängigkeitsgrad zu erhalten. Es ist dies ein wesentliches Moment der sog. ursprünglichen Akkumulation.|<br />
Marx, Karl: Das Kapital (1867), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 23, Berlin/DDR 1962, S. 765-766.}}<br />
<br />
<br />
''' Annahme 5 '''<br />
* Der Staat baut und verwaltet die für die Akkumulation nötige Infrastruktur<br />
Der „ideelle Gesamtkapitalist“ tritt ab einer bestimmten Entwicklungsstufe des Kapitalismus nicht mehr nur als Gesetzgeber und Exekutivgewalt auf, sondern auch als konkrete ökonomische Macht, die z.B. Investitionen tätigt, die für die Reproduktion des Kapitals insgesamt unentbehrlich sind:<br />
{{Zitat|Manche dieser Produktions- und Verkehrsmittel sind von vornherein so kolossal, daß sie, wie die Eisenbahnen, jede andre Form kapitalistischer Ausbeutung ausschließen. Auf einer gewissen Entwicklungsstufe genügt auch diese Form nicht mehr: der offizielle Repräsentant der kapitalistischen Gesellschaft, der Staat, muß ihre Leitung übernehmen. Diese Notwendigkeit der Verwandlung in Staatseigentum tritt zuerst hervor bei den großen Verkehrsanstalten: Post, Telegraphen, Eisenbahnen.|<br />
Engels, Friedrich: Anti-Dühring (1877), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 20, Berlin/DDR 1975, S. 259.}}<br />
<br />
== „Bürgerliche Gleichheit“ und „bürgerliches Recht“ ==<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Bürgerliche Gleichheit und bürgerliches Recht, Gesetz, Ideologie, Wertgesetz, Mystifikation, bürgerliche Revolutionen, Illusionen in den bürgerlichen Staat<br />
<br />
''' Annahme 1 '''<br />
* Das Gesetz entsteht aus der Notwendigkeit, Produktion und Verteilung allgemein zu regeln<br />
* Das Gesetz „erscheint“ als ein selbständiges (also nicht ökonomisches) Element<br />
* Es entsteht ein eigener Stand von Rechtsgelehrten<br />
* Das Recht ist in Wirklichkeit Ausdruck der ökonomischen Verhältnisse<br />
<br />
Ab einer bestimmten Entwicklungsstufe der Gesellschaft entwickeln sich erste Formen von Recht und Gesetz heraus. Je weiter die Gesellschaft sich entwickelt, desto mehr erscheint das Recht als „selbständiges Element“, das sich scheinbar unabhängig von der Ökonomischen Basis entwickelt:<br />
{{Zitat|Auf einer gewissen, sehr ursprünglichen Entwicklungsstufe der Gesellschaft stellt sich das Bedürfnis ein, die täglich wiederkehrenden Akte der Produktion, der Verteilung und des Austausches der Produkte unter eine gemeinsame Regel zu fassen, dafür zu sorgen, daß der einzelne sich den gemeinsamen Bedingungen der Produktion und des Austausches unterwirft. Diese Regel, zuerst Sitte, wird bald Gesetz. Mit dem Gesetz entstehn notwendig Organe, die mit seiner Aufrechterhaltung betraut sind – die öffentliche Gewalt, der Staat. Mit der weitern gesellschaftlichen Entwicklung bildet sich das Gesetz fort zu einer mehr oder weniger umfangreichen Gesetzgebung. Je verwickelter diese Gesetzgebung wird, desto weiter entfernt sich ihre Ausdrucksweise von der, in welcher die gewöhnlichen ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft ausgedrückt werden. Sie erscheint als ein selbständiges Element, das nicht aus den ökonomischen Verhältnissen, sondern aus eignen, inneren Gründen, meinetwegen aus dem „Willensbegriff" die Berechtigung seiner Existenz und die Begründung seiner Fortentwicklung hernimmt. Die Menschen vergessen die Abstammung ihres Rechts aus ihren ökonomischen Lebensbedingungen, wie sie ihre eigne Abstammung aus dem Tierreich vergessen haben. Mit der Fortbildung der Gesetzgebung zu einem verwickelten, umfangreichen Ganzen tritt die Notwendigkeit einer neuen gesellschaftlichen Arbeitsteilung hervor; es bildet sich ein Stand berufsmäßiger Rechtsgelehrten, und mit diesen entsteht die Rechtswissenschaft. Diese vergleicht in ihrer weitern Entwicklung die Rechtssysteme verschiedner Völker und verschiedner Zeiten miteinander, nicht als Abdrücke der jedesmaligen ökonomischen Verhältnisse, sondern als Systeme, die ihre Begründung in sich selbst finden. [...] <br /><br />Der Maßstab aber, an dem gemessen wird, was Naturrecht ist und nicht, ist eben der abstrakteste Ausdruck des Rechts selbst: die Gerechtigkeit. Von jetzt an ist also die Entwicklung des Rechts für die Juristen und die, die ihnen aufs Wort glauben, nur noch das Bestreben, die menschlichen Zustände, soweit sie juristisch ausgedrückt werden, dem Ideal der Gerechtigkeit, der ewigen Gerechtigkeit immer wieder näherzubringen. Und diese Gerechtigkeit ist immer nur der ideologisierte, verhimmelte Ausdruck der bestehenden ökonomischen Verhältnisse, bald nach ihrer konservativen, bald nach ihrer revolutionären Seite hin. Die Gerechtigkeit der Griechen und Römer fand die Sklaverei gerecht: die Gerechtigkeit der Bourgeois von 1789 forderte die Aufhebung des Feudalismus, weil er ungerecht sei.|<br />
Engels, Friedrich: Zur Wohnungsfrage (1872-1873), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 18, Berlin/DDR 1973, S.276-277.}}<br />
<br />
''' Annahme 2 '''<br />
* Der (weltweite) Warentausch erfordert freie Warenbesitzer und gleiches Recht<br />
* Die kapitalistische Produktion erfordert „doppelt freie“ Lohnarbeiter<br />
* Das Wertgesetz bildet den ökonomischen Kern der bürgerlichen Gleichheit<br />
Die Bourgeoisie entsteht im Schoße der feudalen Gesellschaft, ihre Klasseninteressen geraten mit dem feudalen Staat in Konflikt. In einer langen Periode der bürgerlichen Revolutionen erkämpft die Bourgeoisie den bürgerlichen Staat und setzt ihr Klasseninteresse als scheinbares „Allgemeininteresse“ in Form allgemeingültiger Gesetze gesamtgesellschaftlich durch. Zum ökonomischen Inhalt der „bürgerlichen Gleichheit“ schrieb Engels:<br />
{{Zitat|Der Handel auf großer Stufenleiter, also namentlich der internationale, und noch mehr der Welthandel, fordert freie, in ihren Bewegungen ungehemmte Warenbesitzer, die als solche gleichberechtigt sind, die auf Grundlage eines, wenigstens an jedem einzelnen Ort, für sie alle gleichen Rechts austauschen. Der Übergang vom Handwerk zur Manufaktur hat zur Voraussetzung die Existenz einer Anzahl freier Arbeiter – frei einerseits von Zunftfesseln und andrerseits von den Mitteln, um ihre Arbeitskraft selbst zu verwerten die mit dem Fabrikanten wegen Vermietung ihrer Arbeitskraft kontrahieren können, also ihm als Kontrahenten gleichberechtigt gegenüberstehn. Und endlich fand die Gleichheit und gleiche Gültigkeit aller menschlichen Arbeiten, weil und insofern sie menschliche Arbeit überhaupt sind, ihren unbewußten aber stärksten Ausdruck im Wertgesetz der modernen bürgerlichen Ökonomie, wonach der Wert einer Ware gemessen wird durch die in ihr enthaltene gesellschaftlich notwendige Arbeit. – Wo aber die ökonomischen Verhältnisse Freiheit und Gleichberechtigung forderten, setzte ihnen die [feudale] politische Ordnung Zunftfesseln und Sonderprivilegien auf jedem Schritt entgegen.|<br />
Engels, Friedrich: Anti-Dühring (1877), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 20, Berlin/DDR 1975, S. 97-98.}}<br />
<br />
''' Annahme 3 '''<br />
* Die Form des Arbeitslohns verschleiert das Ausbeutungsverhältnis<br />
* Alle Arbeit des Lohnarbeiters erscheint als bezahlt<br />
* Diese mystifizierende Erscheinungsform der kapitalistischen Produktionsweise erzeugen die Illusion der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit<br />
* Der Austausch von Arbeitskraft gegen Lohn erscheint wie jeder andere Warentausch<br />
Die bürgerliche „Freiheit“ und „Gleichheit“ war also nicht die Umsetzung eines höheren moralischen Ideals, sondern eine konkrete ökonomische Notwendigkeit für die Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise und die Akkumulationsbedingungen der Bourgeoisie. Im ''Kapital'' erklärte Marx, wie die Illusionen des bürgerlichen Rechts den ökonomischen Bewegungsformen des Kapitalismus selbst entspringen – und damit das Ausbeutungsverhältnis verschleiern:<br />
{{Zitat|Die Form des Arbeitslohns löscht also jede Spur der Teilung des Arbeitstags in notwendige Arbeit und Mehrarbeit, in bezahlte und unbezahlte Arbeit aus. Alle Arbeit erscheint als bezahlte Arbeit. Bei der Fronarbeit unterscheiden sich räumlich und zeitlich, handgreiflich sinnlich, die Arbeit des Fröners für sich selbst und seine Zwangsarbeit für den Grundherrn. Bei der Sklavenarbeit erscheint selbst der Teil des Arbeitstags, worin der Sklave nur den Wert seiner eignen Lebensmittel ersetzt, den er in der Tat also für sich selbst arbeitet, als Arbeit für seinen Meister. Alle seine Arbeit erscheint als unbezahlte Arbeit. Bei der Lohnarbeit erscheint umgekehrt selbst die Mehrarbeit oder unbezahlte Arbeit als bezahlt. Dort verbirgt das Eigentumsverhältnis das Fürsichselbstarbeiten des Sklaven, hier das Geldverhältnis das Umsonstarbeiten des Lohnarbeiters.<br /><br />Man begreift daher die entscheidende Wichtigkeit der Verwandlung von Wert und Preis der Arbeitskraft in die Form des Arbeitslohns oder in Wert und Preis der Arbeit selbst. Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und grade sein Gegenteil zeigt, beruhen alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie. […] Der Austausch zwischen Kapital und Arbeit stellt sich der Wahrnehmung zunächst ganz in derselben Art dar wie der Kauf und Verkauf aller andren Waren. Der Käufer gibt eine gewisse Geldsumme, der Verkäufer einen von Geld verschiednen Artikel. Das Rechtsbewußtsein erkennt hier höchstens einen stofflichen Unterschied […]|<br />
Marx, Karl: Das Kapital (1867), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 23, Berlin/DDR 1962, S. 562-563.}}<br />
<br />
''' Annahme 4 '''<br />
* Die Bourgeoisie sah sich historisch als Vertreterin der „ewigen“ Vernunft und Gerechtigkeit und der „Menschenrechte“<br />
* Die Bourgeoisie stellt sich als Vertreterin der „ganzen leidenden Menschheit“, nicht ihrer eigenen Klasseninteressen hin<br />
Historisch trat die Bourgeoisie in ihrer revolutionären Phase immer als Vertreterin der „gesamten leidenden Menschheit“ und der „allgemeinen Vernunft“ auf:<br />
{{Zitat|Alle bisherigen Gesellschafts- und Staatsformen, alle altüberlieferten Vorstellungen wurden [durch die Aufklärung] als unvernünftig in die Rumpelkammer geworfen […]. Jetzt erst brach das Tageslicht, das Reich der Vernunft an; von nun an sollte der Aberglaube, das Unrecht, das Privilegium und die Unterdrückung verdrängt werden durch die ewige Wahrheit, die ewige Gerechtigkeit, die in der Natur begründete Gleichheit und die unveräußerlichen Menschenrechte.<br /><br />Wir wissen jetzt, daß dies Reich der Vernunft weiter nichts war als das idealisierte Reich der Bourgeoisie; daß die ewige Gerechtigkeit ihre Verwirklichung fand in der Bourgeoisjustiz; daß die Gleichheit hinauslief auf die bürgerliche Gleichheit vor dem Gesetz; daß als eines der wesentlichsten Menschenrechte proklamiert wurde – das bürgerliche Eigentum; und daß der Vernunftstaat, der Rousseausche Gesellschaftsvertrag ins Leben trat und nur ins Leben treten konnte als bürgerliche, demokratische Republik. [...] Aber neben dem Gegensatz von Feudaladel und dem als Vertreterin der gesamten übrigen Gesellschaft auftretenden Bürgertum bestand der allgemeine Gegensatz von Ausbeutern und Ausgebeuteten, von reichen Müßiggängern und arbeitenden Armen. War es doch gerade dieser Umstand, der es den Vertretern der Bourgeoisie möglich machte, sich als Vertreter nicht einer besondern Klasse, sondern der ganzen leidenden Menschheit hinzustellen.|<br />
Engels, Friedrich: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1880), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 19, Berlin/DDR 1987, S. 190.}}<br />
<br />
''' Annahme 5 '''<br />
* Die für alle geltende „Freiheit des Eigentums“ verwandelt sich im Kapitalismus für die große Mehrheit in „Freiheit vom Eigentum“<br />
* Armut und Elend der arbeitenden Massen sind die Kehrseite der bürgerlichen „Freiheit“ und „Gleichheit“<br />
Sobald aber mit der französischen Revolution die direkte Klassenherrschaft der Bourgeoisie und die ungehemmte Entwicklung des Kapitalismus Wirklichkeit geworden war, blamierten sich die heroischen Ideale der Bourgeoisie vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit:<br />
{{Zitat|Als nun die französische Revolution diese Vernunftgesellschaft und diesen Vernunftstaat verwirklicht hatte, stellten sich daher die neuen Einrichtungen, so rationell sie auch waren gegenüber den früheren Zuständen, keineswegs als absolut vernünftige heraus. Der Vernunftstaat war vollständig in die Brüche gegangen. […] Der Gegensatz von reich und arm, statt sich aufzulösen im allgemeinen Wohlergehn, war verschärft worden durch die Beseitigung der ihn überbrückenden zünftigen und andren Privilegien und der ihn mildernden kirchlichen Wohltätigkeitsanstalten; die jetzt zur Wahrheit gewordne „Freiheit des Eigentums" von feudalen Fesseln stellte sich heraus für den Kleinbürger und Kleinbauern als die Freiheit, dies von der übermächtigen Konkurrenz des Großkapitals und des Großgrundbesitzes erdrückte kleine Eigentum an eben diese großen Herren zu verkaufen und so für den Kleinbürger und Kleinbauern sich zu verwandeln in die Freiheit vom Eigentum; der Aufschwung der Industrie auf kapitalistischer Grundlage erhob Armut und Elend der arbeitenden Massen zu einer Lebensbedingung der Gesellschaft. [...]<br /><br />Kurzum, verglichen mit den prunkhaften Verheißungen der Aufklärer, erwiesen sich die durch den „Sieg der Vernunft" hergestellten gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen als bitter enttäuschende Zerrbilder.|<br />
Engels, Friedrich: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1880), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 19, Berlin/DDR 1987, S. 192-193.}}<br />
<br />
''' Annahme 6 '''<br />
* Die bürgerliche Ideologie und die Illusionen über den Staat wirken auch auf die arbeitenden Massen<br />
Obwohl die Geschichte die bürgerlichen Ideale von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ so offensichtlich blamiert hat, gehört der bürgerliche Liberalismus noch heute zum Kern der Legitimationsideologie aller bürgerlichen Republiken. Lenin beschrieb die Illusionen der Massen über den bürgerlichen Staat 1919 als eines der größten Hindernisse der sozialistischen Revolution:<br />
{{Zitat|Nicht nur bewußte Heuchler, Gelehrte und Pfaffen unterstützen und verteidigen die bürgerliche Lüge, daß der Staat frei und berufen sei, die Interessen aller zu vertreten, sondern auch Massen von Menschen, die ganz aufrichtig an den alten Vorurteilen festhalten und den Übergang von der alten, kapitalistischen Gesellschaft zum Sozialismus nicht begreifen können. Nicht nur Leute, die direkt von der Bourgeoisie abhängig sind, nicht nur diejenigen, die unter dem Druck des Kapitals stehen oder von diesem Kapital bestochen sind (im Dienst des Kapitals steht eine Menge aller möglichen Gelehrten, Künstler, Pfaffen usw.), sondern auch Leute, die einfach dem Einfluß solcher Vorurteile wie der bürgerlichen Freiheit unterliegen, sie alle sind in der ganzen Welt gegen den Bolschewismus zu Felde gezogen.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Über den Staat (1919), in: Bd. 29: Lenin Werke, Berlin/DDR 1984, S. 478.}}<br />
<br />
== Der bürgerliche Staat als „scheinbar über den Klassen stehende Macht“ ==<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Staat, Bonapartismus, Klassenherrschaft, moderner bürgerlicher Staat, Diktatur des Regierungsapparats, Staatsgewalt, ideologische Macht, feudaler Staat<br />
<br />
''' Annahme 1 '''<br />
* Im „Bonapartismus“ entsteht der Schein der Selbständigkeit des Staates<br />
Anknüpfend an den Begriff, den Marx in seiner Schrift über den ''Bürgerkrieg in Frankreich'' prägte, beschrieb Engels als „Bonapartismus“ die historische Ausnahmesituation eines vorübergehenden Klassengleichgewichts:<br />
{{Zitat|Wir finden also hier [in Preußen in den 1870ern] neben der Grundbedingung der alten absoluten Monarchie: dem Gleichgewicht zwischen Grundadel und Bourgeoisie, die Grundbedingung des modernen Bonapartismus: das Gleichgewicht zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Sowohl in der alten absoluten, wie in der modernen bonapartistischen Monarchie aber liegt die wirkliche Regierungsgewalt in den Händen einer besonderen Offiziers- und Beamtenkaste, die sich in Preußen teils aus sich selbst, teils aus dem kleinen Majoratsadel, seltener aus dem großen Adel, zum geringsten Teil aus der Bourgeoisie ergänzt. Die Selbständigkeit dieser Kaste, die außerhalb und sozusagen über der Gesellschaft zu stehen scheint, gibt dem Staat den Schein der Selbständigkeit gegenüber der Gesellschaft.|<br />
Engels, Friedrich: Zur Wohnungsfrage (1872-1873), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 18, Berlin/DDR 1973, S. 258.}}<br />
<br />
<br />
''' Annahme 2 '''<br />
* Auch im Bonapartismus steht der Staat nicht über den Klassen, sondern vertritt das Interesse einer Klasse<br />
Auch in diesem speziellen Zusammenhang wies Marx jedoch explizit darauf hin, dass es sich bei der vermeintlichen Klassenneutralität des Staates eben nur um einen „Schein“ handelt:<br />
{{Zitat|Erst unter dem zweiten Bonaparte scheint sich der Staat völlig verselbständigt zu haben. Die Staatsmaschine hat sich der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber so befestigt, daß an ihrer Spitze der Chef der Gesellschaft vom 10. Dezember genügt, ein aus der Fremde herbeigelaufener Glücksritter, auf den Schild gehoben von einer trunkenen Soldateska, die er durch Schnaps und Würste erkauft hat [...] Und dennoch schwebt die Staatsgewalt nicht in der Luft. Bonaparte vertritt eine Klasse, und zwar die zahlreichste Klasse der französischen Gesellschaft, die Parzellenbauern.|<br />
Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 8, Berlin/DDR 1960, S. 197-198.}}<br />
<br />
''' Annahme 3 '''<br />
* Der Staat entsteht aufgrund der unlösbaren Klassenwidersprüche<br />
* Der unlösbare Klassenwiderspruch muss durch eine scheinbar über den Klassen stehende Macht geregelt werden<br />
* Der Staat steht nicht über den Klassen, sondern ist Staat der ökonomisch herrschenden Klasse<br />
{{Zitat|[Der Staat] ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der „Ordnung" halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangne, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat.|<br />
Engels, Friedrich: Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 21, Berlin/DDR 1962, S. 165.}}<br />
<br />
Dass hier "über der Gesellschaft“ nicht „über den Klassen“ bedeutet, sondern in dem Sinne verwendet wird, dass eben die herrschende Klasse über den produzierenden Klassen steht, stellte Engels nur zwei Seiten später klar:<br />
{{Zitat|Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittelst seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse.|<br />
Engels, Friedrich: Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 21, Berlin/DDR 1962, S. 166-167.}}<br />
<br />
''' Annahme 4 '''<br />
* Staat = scheinbare Diktatur des Regierungsapparats über alle Klassen, in Wirklichkeit aber Diktatur der aneignenden über die hervorbringende Klasse<br />
Noch deutlicher drückte sich Marx mit Blick auf die scheinbare Klassenneutralität des modernen bürgerlichen Staats aus:<br />
{{Zitat|Der moderne bürgerliche Staat ist in zwei wichtigen Organen verkörpert, dem Parlament und der Regierung. [...] Die usurpatorische Diktatur des Regierungsapparats, die auf den ersten Blick den Anschein erweckt, daß sie über der Gesellschaft selbst steht, daß sie sich in gleicher Weise über alle Klassen erhebt und alle in gleicher Weise demütigt, ist in Wirklichkeit – wenigstens auf dem europäischen Kontinent – die einzig mögliche Staatsform geworden, in der die aneignende Klasse weiter über die hervorbringende Klasse herrschen kann.|<br />
Marx, Karl: Zweiter Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich“ (1871), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 17, Berlin/DDR 1962, S. 592.}}<br />
<br />
''' Annahme 5 ''' <br />
* Staat = erste ideologische Macht über den Menschen<br />
* Staatsgewalt = Herrschaftsorgan einer bestimmten Klasse<br />
Der Staat existiert also nicht außerhalb oder über den Klassen, sondern er ist die Organisationsform der herrschenden Klasse selbst. Engels betrachtete die „Verselbständigung“ des Staates gegenüber der Gesellschaft sogar als unmittelbares Ergebnis der Tatsache, dass dieser „Organ einer bestimmten Klasse“ ist – der Ausdruck, der Staat stünde „scheinbar über den Klassen“ bezeichnete bei Marx und Engels also das genaue Gegenteil von Klassenneutralität:<br />
{{Zitat|Im Staate stellt sich uns die erste ideologische Macht über den Menschen dar. Die Gesellschaft schafft sich ein Organ zur Wahrung ihrer gemeinsamen Interessen gegenüber inneren und äußeren Angriffen. Dies Organ ist die Staatsgewalt. Kaum entstanden, verselbständigt sich dies Organ gegenüber der Gesellschaft, und zwar um so mehr, je mehr es Organ einer bestimmten Klasse wird, die Herrschaft dieser Klasse direkt zur Geltung bringt.|<br />
Engels, Friedrich: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1886), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 21, Berlin/DDR 1962, S. 302.}}<br />
<br />
''' Annahme 6 '''<br />
* Bürgerlicher Staat = Waffe der Bourgeoisie im Kampf gegen den Feudalismus<br />
* Feudale Würdenträger werden durch bezahlte Staatsbeamte ersetzt<br />
Marx beschrieb am konkreten Beispiel des Übergangs vom feudalen zum modernen bürgerlichen Staat, was „Unabhängigkeit“ oder „Selbständigkeit gegenüber der Gesellschaft“ bedeutet. Es bedeutet gerade nicht, dass der Staat als Apparat außerhalb der Gesellschaft und als Vermittler über allen Klasseninteressen steht, sondern, dass im modernen Staat im Gegensatz zum feudalen Staat nicht mehr herrschende Klasse und Staatsorgane eine unmittelbare Personalunion bilden. (Der einzelne Grundherr setzte sein unmittelbares ökonomisches Interesse als persönliche Verkörperung der Staatsgewalt und ausgestattet mit militärischer Macht und juristischen Privilegien durch.) Der bürgerliche Staat bildet dagegen einen zentralisierten Apparat heraus, dessen Kern die organisierte herrschende Klasse bildet, der aber ein Heer von Soldaten und Beamten um sich schart und der das Gesamtinteresse der herrschenden Klasse (auch gegen einzelne Mitglieder derselben) in Form von Gesetzen als scheinbares „Allgemeininteresse“ der Gesellschaft durchsetzt – dazu bedarf es des Scheins einer über der Gesellschaft schwebenden Instanz:<br />
{{Zitat|[Der bürgerliche Staat wurde] als Waffe der entstehenden modernen Gesellschaft in ihrem Kampf um die Emanzipation vom Feudalismus geschmiedet. Die grundherrlichen Vorrechte der mittelalterlichen Feudalherren, Städte und Geistlichkeit wurden in Attribute einer einheitlichen Staatsgewalt verwandelt, die die feudalen Würdenträger durch bezahlte Staatsbeamte ersetzte und die Waffen von den mittelalterlichen Gefolgsleuten der Grundbesitzer und den Korporationen der Städtebürger an ein stehendes Heer übertrug; sie setzte an die Stelle der buntscheckigen (parteigefärbten) Anarchie sich befehdender mittelalterlicher Mächte den geregelten Plan einer Staatsmacht mit einer systematischen und hierarchischen Teilung der Arbeit. Die erste französische Revolution mit ihrer Aufgabe, die nationale Einheit zu begründen (eine Nation zu schaffen), mußte jede lokale, territoriale, städtische und provinzielle Unabhängigkeit beseitigen. Sie war daher gezwungen, das zu entwickeln, was die absolute Monarchie begonnen hatte, die Zentralisation und Organisation der Staatsmacht, und den Umfang und die Attribute der Staatsmacht, die Zahl ihrer Werkzeuge, ihre Unabhängigkeit und ihre übernatürliche Gewalt über die wirkliche Gesellschaft auszudehnen, eine Gewalt, die faktisch den Platz des mittelalterlichen übernatürlichen Himmels mit seinen Heiligen einnahm. Jedes geringfügige Einzelinteresse, das aus den Beziehungen der sozialen Gruppen hervorging, wurde von der Gesellschaft selbst getrennt, fixiert und von ihr unabhängig gemacht und ihr in der Form des Staatsinteresses, das von Staatspriestern mit genau bestimmten hierarchischen Funktionen verwaltet wird, entgegengesetzt.|<br />
Marx, Karl: Erster Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich“ (1871), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 17, Berlin/DDR 1962, S. 539.}}<br />
<br />
== Der Staat als „illusorische Gemeinschaft“ ==<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Staat, Klassenherrschaft, Ideologie<br />
<br />
''' Annahme 1 '''<br />
* Widerspruch zwischen besonderen und gemeinschaftlichen Interessen macht Staat notwendig<br />
* Der Staat vertritt den Individuen gegenüber scheinbar das „Allgemeininteresse“<br />
* Die scheinbare „Gemeinschaft“ ist in Wirklichkeit Vereinigung einer Klasse gegenüber einer anderen<br />
Marx und Engels beschrieben den Staat bereits in der ''Deutschen Ideologie'' als Repräsentanten einer „illusorischen Gemeinschaft“ (also der Gemeinschaft von Ausbeutern und Ausgebeuteten), in der sich ein „illusorisches Allgemein-Interesse“ durchsetzt:<br />
{{Zitat|[…] eben aus diesem Widerspruch des besondern und gemeinschaftlichen Interesses nimmt das gemeinschaftliche Interesse als Staat eine selbständige Gestaltung, getrennt von den wirklichen Einzel- und Gesamtinteressen, an, und zugleich als illusorische Gemeinschaftlichkeit, […] <br /> <br />Eben weil die Individuen nur ihr besondres, für sie nicht mit ihrem gemeinschaftlichen Interesse zusammenfallendes suchen, überhaupt das Allgemeine illusorische Form der Gemeinschaftlichkeit, wird dies als ein ihnen „fremdes" und von ihnen „unabhängiges", als ein selbst wieder besonderes und eigentümliches „Allgemein"-Interesse geltend gemacht, […] Die scheinbare Gemeinschaft, zu der sich bisher die Individuen vereinigten, verselbständigte sich stets ihnen gegenüber und war zugleich, da sie eine Vereinigung einer Klasse gegenüber einer andern war, für die beherrschte Klasse nicht nur eine ganz illusorische Gemeinschaft, sondern auch eine neue Fessel.|<br />
Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie (1845-1846), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 3, Berlin/DDR 1978, S. 33-34/74.}}<br />
<br />
== Der bürgerliche Staat im Imperialismus ==<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Staat, Nationalstaat, Imperialismus, Monopolkapitalismus, Klassenherrschaft, Tendenz zur Reaktion, Demokratie, bürgerliche Republik<br />
<br />
''' Annahme 1 '''<br />
* Erster Weltkrieg: Entstehung des staatsmonopolistischen Kapitalismus<br />
* Imperialismus = Verschärfte Repression nach innen<br />
Die Veränderungen der ökonomischen Basis im Übergang vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus bzw. Imperialismus (siehe AG Imperialismus) ziehen eine Reihe von Veränderungen im politischen Überbau nach sich:<br />
{{Zitat|Der imperialistische Krieg hat den Prozeß der Umwandlung des monopolistischen Kapitalismus in staatsmonopolistischen Kapitalismus außerordentlich beschleunigt und verschärft. Die ungeheuerliche Knechtung der werktätigen Massen durch den Staat, der immer inniger mit den allmächtigen Kapitalistenverbänden verschmilzt, wird immer ungeheuerlicher. Die fortgeschrittenen Länder verwandeln sich – wir sprechen von ihrem „Hinterland" – in Militärzuchthäuser für die Arbeiter.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Staat und Revolution (1918), in: Bd. 25: Lenin Werke, Berlin/DDR 1974, S. 395.}}<br />
<br />
* Imperialismus = Stärkung der Staatsmaschinerie und Anwachsen des Beamten- und Militärapparats<br />
{{Zitat|Insbesondere aber weist der Imperialismus, […] die Epoche des Hinüberwachsens des monopolistischen Kapitalismus in den staatsmonopolistischen Kapitalismus, eine ungewöhnliche Stärkung der „Staatsmaschinerie" auf, ein unerhörtes Anwachsen ihres Beamten- und Militärapparats in Verbindung mit verstärkten Repressalien gegen das Proletariat sowohl in den monarchistischen als auch in den freiesten, republikanischen Ländern.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Staat und Revolution (1918), in: Bd. 25: Lenin Werke, Berlin/DDR 1974, S. 423.}}<br />
<br />
* Das Kapital wächst im Imperialismus über den Nationalstaat hinaus<br />
{{Zitat|Der Imperialismus ist die höchste Stufe der Entwicklung des Kapitalismus. Das Kapital ist in den fortgeschrittenen Ländern über den Rahmen des Nationalstaates hinausgewachsen; es hat Monopole an Stelle der Konkurrenz gestellt […]|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (1916), in: Bd. 22: Lenin Werke, Berlin/DDR 1971, S. 144.}}<br />
<br />
* Das Finanzkapital erweitert die Kolonialpolitik zum Kampf um Rohstoffquellen, Kapitalexport und Einflußsphären<br />
* Der imperialistische Staat weitet Herrschaftsgebiet auf andere Nationen aus<br />
* Imperialistischer Staat = Rentner- und Wucherstaat<br />
{{Zitat|Den zahlreichen ‚alten‘ Motiven der Kolonialpolitik fügte das Finanzkapital noch den Kampf um Rohstoffquellen hinzu, um Kapitalexport, um ‚Einflußsphären‘ – d. h. um Sphären für gewinnbringende Geschäfte, Konzessionen, Monopolprofite usw. – und schließlich um das Wirtschaftsgebiet überhaupt. [...] <br /><br />Monopole, Oligarchie, das Streben nach Herrschaft statt nach Freiheit, die Ausbeutung einer immer größeren Anzahl kleiner oder schwacher Nationen durch ganz wenige reiche oder mächtige Nationen – all das erzeugte jene Merkmale des Imperialismus, die uns veranlassen, ihn als parasitären oder in Fäulnis begriffenen Kapitalismus zu kennzeichnen. Immer plastischer tritt als eine Tendenz des Imperialismus die Bildung des ‚Rentnerstaates‘, des Wucherstaates hervor, dessen Bourgeoisie in steigendem Maße von Kapitalexport und ‚Kuponschneiden‘ lebt.[…]|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917), in: Bd. 22: Lenin Werke, Berlin/DDR 1971, S. 305.}}<br />
<br />
* Imperialismus = Weltsystem kolonialer Unterdrückung<br />
{{Zitat|Der Kapitalismus ist zu einem Weltsystem kolonialer Unterdrückung und finanzieller Erdrosselung der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung der Erde durch eine Handvoll „fortgeschrittener" Länder geworden. Und in diese „Beute" teilen sich zwei, drei weltbeherrschende, bis an die Zähne bewaffnete Räuber (Amerika, England, Japan), die die ganze Welt in ihren Krieg um die Teilung ihrer Beute mit hineinreißen.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917), in: Bd. 22: Lenin Werke, Berlin/DDR 1971, S. 195.}}<br />
<br />
''' Annahme 2 '''<br />
* Politisch ist der Imperialismus, gegenüber dem Kapitalismus der freien Konkurrenz, die Wendung von Demokratie zu Reaktion<br />
* Der ökonomischen Grundlage des Imperialismus, dem Monopol, entspricht politisch die Reaktion<br />
In seinem Artikel ''Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den ,imperialistischen Ökonomismus'' (verfasst im Oktober 1916) kritisierte Lenin die dem Marxismus feindliche Position der gegen die Partei auftretenden Gruppe Bucharin-Pjatakow und entwickelte gemäß den neuen historischen Verhältnissen das bolschewistische Programm zur nationalen Frage. Im folgenden Abschnitt beschrieb er den politischen Überbau, der sich aus der ökonomischen Basis des Imperialismus ergibt und schlussfolgerte eine „Tendenz zur Reaktion“ im Imperialismus:<br />
{{Zitat|Ökonomisch ist der Imperialismus […] eine Stufe [des Kapitalismus], auf der die Produktion so sehr Groß- und Größtproduktion geworden ist, daß die freie 'Konkurrenz vom Monopol abgelöst wird. Das ist das ökonomische Wesen des Imperialismus. […]<br /><br /> Der politische Überbau über der neuen Ökonomik, über dem monopolistischen Kapitalismus (Imperialismus ist monopolistischer Kapitalismus) ist die Wendung von der Demokratie zur politischen Reaktion. Der freien Konkurrenz entspricht die Demokratie. Dem Monopol entspricht die politische Reaktion. „Das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft", sagt Rudolf Hilferding völlig richtig in seinem „Finanzkapital".|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus" (1924), in: Bd. 23: Lenin Werke, Berlin/DDR 1975, S. 34.}}<br />
<br />
* Die Republik ist eine der möglichen Formen des politischen Überbaus im Kapitalismus<br />
* Sie ist auch im Kapitalismus die demokratischste Form des Überbaus<br />
* Aber: es besteht ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen dem ökonomischen Inhalt des Imperialismus zur der politischen Form, der Demokratie<br />
* Die demokratische Republik muss ihre ökonomische Grundlage, also ihren Klassencharakter und Eigentumsverhältnisse verleugnen und Gleichheit zwischen „Reichen und Armen“ proklamieren. Sie widerspricht also dem Kapitalismus<br />
* Dieser Widerspruch verschärft sich durch den Imperialismus, durch die Ersetzung der freien Konkurrenz in der Ökonomie durch das Monopol<br />
{{Zitat|Die Republik ist eine der möglichen Formen des politischen Überbaus der kapitalistischen Gesellschaft, und zwar unter den modernen Verhältnissen die demokratischste Form. […]<br /> Welcher Art ist der Widerspruch zwischen Imperialismus und Demokratie? Es ist die Frage nach der Beziehung der Ökonomik zur Politik; nach der Beziehung der ökonomischen Verhältnisse und des ökonomischen Inhalts des Imperialismus zu einer der politischen Formen. […] Ist dies ein „logischer" Widerspruch zwischen zwei ökonomischen (1)? oder zwischen zwei politischen Erscheinungen bzw. Thesen (2)? oder zwischen einer ökonomischen und einer politischen Erscheinung bzw. These (3)? <br /><br />Denn das ist das Kernproblem, wenn die Frage der ökonomischen Unrealisierbarkeit oder Realisierbarkeit bei Existenz der einen oder der anderen politischen Form aufgeworfen wird! <br />Hätte P. Kijewski diesen Kern nicht umgangen, so hätte er wahrscheinlich gesehen, daß der Widerspruch zwischen Imperialismus und Republik ein Widerspruch zwischen der Ökonomik des neuesten Kapitalismus (nämlich des monopolistischen Kapitalismus) und der politischen Demokratie schlechthin ist. Denn niemals wird P. Kijewski beweisen können, daß irgendeine bedeutende und grundlegende demokratische Maßnahme (Wahl der Beamten oder Offiziere durch das Volk, vollste Koalitions- and Versammlungsfreiheit u. dgl.) dem Imperialismus weniger widerspricht […] als die Republik.<br /><br />Wir kommen auf diese Weise zu eben der Feststellung, die wir in den Thesen betonten: Der Imperialismus widerspricht, widerspricht „logisch" der ganzen politischen Demokratie schlechthin. Weiter. Warum paßt die Republik dem Imperialismus nicht in den Kram? Und wie „vereinbart" der Imperialismus seine Ökonomik mit der Republik? ' […] Also gerade um die Frage der „Antinomie" zwischen Ökonomik und Politik. Engels antwortet: „... die demokratische Republik weiß offiziell nichts mehr von Besitzunterschieden" (zwischen den Bürgern). „In ihr übt der Reichtum seine Macht indirekt, aber um so sichrer aus. Einerseits in der Form der direkten Beamtenkorruption, wofür Amerika klassisches Muster, andrerseits in der Form der Allianz von Regierung und Börse …“ […].Die demokratische Republik widerspricht […] dem Kapitalismus, da sie „offiziell" den Reichen und den Armen gleichsetzt. Das ist ein Widerspruch zwischen der ökonomischen Basis und dem politischen Überbau. Zum Imperialismus steht die Republik im gleichen Widerspruch, vertieft und vervielfacht dadurch, daß die Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol die Realisierung der verschiedenen politischen Freiheiten noch mehr „erschwert".|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus" (1924), in: Bd. 23: Lenin Werke, Berlin/DDR 1975, S. 37-38.}}<br />
<br />
== Notwendigkeit der „Aufhebung“ des bürgerlichen Staats ==<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Staat, Revolution, Aufhebung bzw. Zerschlagung des Staats, Absterben des Staats, Staat im Sozialismus<br />
<br />
''' Annahme 1 '''<br />
* Durch die Revolution wird der Staat zum Organ des als herrschende Klasse organisierten Proletariats<br />
Bereits im ''Kommunistischen Manifest'' von 1848 bezogen Marx und Engels in der Frage der Staatsmacht Stellung:<br />
{{Zitat|Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.|<br />
Marx, Karl/ Engels, Friedrich, Manifest der Kommunistischen Partei (1848), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, Berlin/DDR 1977, S.481.}}<br />
<br />
''' Annahme 2 '''<br />
* Die Arbeiterklasse kann die fertige bürgerliche Staatsmaschine nicht für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen<br />
Im Vorwort zur Ausgabe des ''Kommunistischen Manifests'' von 1872 schärften Marx und Engels ihren Standpunkt vor dem Hintergrund der Erfahrung der Pariser Kommune von 1871. Sie schrieben, dass sie den ursprünglichen Text des Manifests von 1848 auf Basis dieser historischen Lektion an einer entscheidenden Stelle ergänzen würden:<br />
{{Zitat|Gegenüber […] den praktischen Erfahrungen, zuerst der Februarrevolution und noch weit mehr der Pariser Kommune, wo das Proletariat zum erstenmal zwei Monate lang die politische Gewalt innehatte, ist heute dies Programm stellenweise veraltet. Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, daß ‚die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen kann‘.|<br />
Marx, Karl/ Engels, Friedrich, Manifest der Kommunistischen Partei (1848), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 4, Berlin/DDR 1977, S.573-574.}}<br />
<br />
''' Annahme 3 '''<br />
* Die Arbeiterklasse kann die fertige bürgerliche Staatsmaschine nicht für die Aufhebung des Kapitalismus und den Aufbau des Sozialismus benutzen <br />
Ausführlicher dargestellt hatte Marx den Gedanken bereits im ''Bürgerkrieg in Frankreich'', Engels in ''Von der Utopie zur Wissenschaft'':<br />
{{Zitat|Aber die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen. <br /> <br />Die zentralisierte Staatsmacht, mit ihren allgegenwärtigen Organen – stehende Armee, Polizei, Bürokratie, Geistlichkeit, Richterstand, Organe, geschaffen nach dem Plan einer systematischen und hierarchischen Teilung der Arbeit – stammt her aus den Zeiten der absoluten Monarchie, wo sie der entstehenden Bourgeoisgesellschaft als eine mächtige Waffe in ihren Kämpfen gegen den Feudalismus diente. [...] Der riesige Besen der französischen Revolution des 18. Jahrhunderts fegte alle diese Trümmer vergangner Zeiten weg und reinigte so gleichzeitig den gesellschaftlichen Boden von den letzten Hindernissen, die dem Überbau des modernen Staatsgebäudes im Wege gestanden. [...] In dem Maß, wie der Fortschritt der modernen Industrie den Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit entwickelte, erweiterte, vertiefte, in demselben Maß erhielt die Staatsmacht mehr und mehr den Charakter einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, einer Maschine der Klassenherrschaft.|<br />
Marx, Karl: Der Bürgerkrieg in Frankreich (1871), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 17, Berlin/DDR 1962, S. 336.}}<br />
<br />
''' Annahme 4 '''<br />
* Alle Klassenstaaten der Geschichte waren „organisierte Gewalt zur Versklavung der Arbeit“<br />
{{Zitat|Alle Reaktionen und alle Revolutionen haben nur dazu gedient, diese organisierte Macht – diese organisierte Gewalt zur Versklavung der Arbeit – aus einer Hand in die andere, von einer Fraktion der herrschenden Klassen an die andere zu übertragen. Sie hatte den herrschenden Klassen als Mittel der Unterjochung und der Bereicherung gedient. Sie hatte aus jeder neuen Veränderung neue Kräfte gesogen. Sie hatte als Werkzeug gedient, um jede Volkserhebung niederzuschlagen und die arbeitenden Klassen zu unterdrücken, nachdem sie gekämpft hatten und ausgenutzt worden waren, um die Übertragung der Staatsmacht von einem Teil ihrer Unterdrücker an den andern zu sichern. Daher war die Kommune nicht eine Revolution gegen diese oder jene – legitimistische, konstitutionelle, republikanische oder kaiserliche – Form der Staatsmacht. Die Kommune war eine Revolution gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft; sie war eine Wiederbelebung durch das Volk und des eignen gesellschaftlichen Lebens des Volkes. Sie war nicht eine Revolution, um die Staatsmacht von einer Fraktion der herrschenden Klassen an die andre zu übertragen, sondern eine Revolution, um diese abscheuliche Maschine der Klassenherrschaft selbst zu zerbrechen. […] <br /><br />Nur die Proletarier, von der neuen sozialen Aufgabe entflammt, die sie für die gesamte Gesellschaft zu vollbringen haben, nämlich die Abschaffung aller Klassen und der Klassenherrschaft, waren imstande, das Werkzeug dieser Klassenherrschaft – den Staat –, diese zentralisierte und organisierte Regierungsgewalt zu zerbrechen, der sich anmaßt, Herr statt Diener der Gesellschaft zu sein.|<br />
Marx, Karl: Erster Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich“ (1871), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 17, Berlin/DDR 1962, S. 541-542.}}<br />
<br />
* Durch die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln hebt das Proletariat sich selbst als Klasse auf<br />
* Vergesellschaftung der Produktionsmittel = letzter selbständiger Akt als Staat<br />
* Staat im Sozialismus = „Verwalter von Sachen“ – Staat stirbt schließlich ab<br />
{{Zitat|Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf und damit auch den Staat als Staat. Die bisherige, sich in Klassengegensätzen bewegende Gesellschaft hatte den Staat nötig, […] Indem [der Staat] endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich seihst überflüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren, das eine besondre Repressionsgewalt, einen Staat, nötig machte. Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht „abgeschafft", er stirbt ab.|<br />
Engels, Friedrich: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1880), in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 19, Berlin/DDR 1973, S. 223-224.}}<br />
<br />
<br />
''' Annahme 4 '''<br />
* Gewaltsame Revolution = Zerschlagung der bürgerlichen Staatsgewalt<br />
* „Aufhebung des Staates“ = Aufhebung durch die proletarische Revolution<br />
* „Absterben des Staates“ = Absterben des proletarischen Staates nach der sozialistischen Revolution<br />
* Bürgerlicher Staat = „besondere Repressionsgewalt“ der Bourgeoisie<br />
* Diktatur des Proletariats = „besondere Repressionsgewalt" des Proletariats<br />
* Zentraler Dissens mit den Opportunisten und Anarchisten in der Staatsfrage<br />
Lenin fasste in seiner Schrift ''Staat und Revolution'' (1917) die Lehre über die „Aufhebung“ und das „Absterben des Staates“ von Marx und Engels in scharfer Abgrenzung von den Opportunisten wie folgt zusammen:<br />
{{Zitat|Wenn der Staat das Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ist, wenn er eine über der Gesellschaft stehende und „sich ihr mehr und mehr entfremdende" Macht ist, so ist es klar, daß die Befreiung der unterdrückten Klasse unmöglich ist nicht nur ohne gewaltsame Revolution, sondern auch ohne Vernichtung des von der herrschenden Klasse geschaffenen Apparats der Staatsgewalt, in dem sich diese „Entfremdung" verkörpert. […] <br /> <br />Erstens. Ganz zu Anfang dieser Betrachtung [im „Anti-Dühring“] sagt Engels, daß das Proletariat, indem es die Staatsgewalt ergreift, „den Staat als Staat aufhebt". […] In Wirklichkeit spricht Engels hier von der „Aufhebung" des Staates der Bourgeoisie durch die proletarische Revolution, während sich die Worte vom Absterben auf die Überreste des proletarischen Staatswesens mach der sozialistischen Revolution beziehen. Der bürgerliche Staat „stirbt" nach Engels nicht „ab", sondern er wird in der Revolution vom Proletariat „aufgehoben". Nach dieser Revolution stirbt der proletarische Staat oder Halbstaat ab. <br /> <br />Zweitens. Der Staat ist „eine besondre Repressionsgewalt". Diese großartige und überaus tiefe Definition legt Engels hier ganz klar und eindeutig dar. Aus ihr folgt aber, daß die „besondre Repressionsgewalt" der Bourgeoisie gegen das Proletariat, einer Handvoll reicher Leute gegen die Millionen der Werktätigen, abgelöst werden muß durch eine „besondre Repressionsgewalt" des Proletariats gegen die Bourgeoisie (die Diktatur des Proletariats). Darin eben besteht die „Aufhebung des Staates als Staat". Darin eben besteht der „Akt" der Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft. Und es ist ohne weiteres klar, daß eine solche Ablösung der einen (bürgerlichen) „besondren Gewalt" durch eine andere (proletarische) „besondre Gewalt" unter keinen Umständen in Form des „Absterbens" erfolgen kann. <br /><br />Drittens. Vom „Absterben" und noch plastischer und bildhafter vom „Einschlafen" spricht Engels ganz klar und eindeutig in bezug auf die Epoche nach der „Besitzergreifung der Produktionsmittel durch den Staat im Namen der ganzen Gesellschaft", d. h. nach der sozialistischen Revolution. Wir wissen alle, daß die politische Form des „Staates" in dieser Zeit die vollkommenste Demokratie ist. […] Den bürgerlichen Staat kann nur die Revolution „aufheben". Der Staat überhaupt, d.h. die vollkommenste Demokratie, kann nur „absterben". <br /><br />Viertens. Nachdem Engels seinen berühmten Satz „Der Staat stirbt ab" aufgestellt hat, erläutert er sofort konkret, daß dieser Satz sich sowohl gegen die Opportunisten als auch gegen die Anarchisten richtet.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Staat und Revolution (1918), in: Bd. 25: Lenin Werke, Berlin/DDR 1974, S. 400/408-410.}}<br />
<br />
Hier geht's weiter zu den [[Grundannahmen_Sozialdemokratie|Grundannahmen bezüglich Sozialdemokratie]].<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Grundannahmen]]<br />
[[Kategorie: Grundannahme AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Die_Diskussion_in_der_KomIntern_%C3%BCber_Faschismus_und_Sozialdemokratie&diff=6370Die Diskussion in der KomIntern über Faschismus und Sozialdemokratie2019-08-02T09:17:51Z<p>Dio: /* Geschichte */</p>
<hr />
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<br />
== Überblick ==<br />
Die Kommunistische Internationale (Komintern, KI), welche 1919 in Moskau auf Initiative Lenins gegründet wurde, war ein internationaler Zusammenschluss, in welcher sich kommunistische Parteien weltweit organisierten. Die Entwicklung der kommunistischen Weltbewegung drückt sich in den Diskussionen, welche innerhalb der Komintern geführt wurden und daraus folgenden Programmen und Resolutionen deutlich und nachvollziehbar aus. Während ihrer Existenz nahm die KI Stellung zu den brennenden Fragen der internationalen Klassenauseinandersetzung. Dazu gehörte auch der Anfang der 1920er Jahre aufkommende Faschismus, welcher die gesamte Arbeiterklasse weltweit vor große Probleme stellte. Die Bestimmung des Klassencharakters des Faschismus und daraus resultierend, die Orientierung für den antifaschistischen Kampf der kommunistischen Parteien und der Arbeiterklasse, waren wesentliche Bestandteile der Arbeit der KI. Kennzeichnend dabei war, dass die Auseinandersetzung mit dem Faschismus durch die Untersuchung seiner Position innerhalb des Klassenkampfes stattfand. Teil der Auseinandersetzungen war auch die Rolle der Sozialdemokratie und ihre Stellung zum Faschismus, ebenso wie das Verhältnis von Faschismus und bürgerlicher Demokratie. <br />
<br />
Im Folgenden wird ein kurzer historischer Überblick über die Entwicklung der Auseinandersetzungen innerhalb der KI bezüglich Faschismus und Sozialdemokratie von 1922 bis 1935 gegeben. <br />
<br />
Es sollen außerdem die Debatten, die in der KI geführt wurden, genauer nachvollzogen werden. Wer waren ihre Vertreter, an welchen Fragen gab es Auseinandersetzung? Welche strategischen und taktischen Schlussfolgerungen ergaben sich aus welchen Diskussionen? Um diese Fragen tiefergehend zu beantworten, müssen die Dokumente der KI intensiv studiert werden. Unter "Klärung” sind dafür notwendige Arbeitsschritte festgehalten.<br />
<br />
=== Geschichte ===<br />
Auf dem IV. Kongress 1922 beschäftigte sich die kommunistische Bewegung erstmalig intensiv mit der Rolle des Faschismus im internationalen Klassenkampf und den Aufgaben des antifaschistischen Kampfes. Zu einer Zeit, in der die Faschisten in Italien die Macht antraten, erarbeitete die KI eine Einschätzung zum Klassencharakters des Faschismus. Eine Schwierigkeit bestand darin, widersprüchliche Erscheinungen in den damaligen gesellschaftlichen Entwicklungen zu analysieren, was sich auch in den Beratungen des IV. Kongresses widerspiegelt. Zum einen, so schreibt Elfriede Lewerenz, wurde der Faschismus als „Akt der Konterrevolution bezeichnet, andererseits aber auch als revolutionierender Faktor betrachtet“. <ref> Lewerenz, Elfriede: Zur Bestimmung des imperialistischen Wesens des Faschismus durch die Kommunistische Internationale (1922 bis 1935), in: Kurt Gossweiler, Dietrich Eichholz (Hrsg.): Faschismusforschung, Köln 1980, S. 22.</ref> Die offen terroristsiche Herrschaft der faschistischen Organisationen richte sich zugleich gegen die Grundlagen der bürgerlichen Demokratie überhaupt, wodurch sich die Arbeiterklasse davon überzeugen würde, dass die Herrschaft der Bourgeoisie nur durch die Diktatur über das Proletariat möglich sei. <ref>Thesen zur Taktik der Kommunistischen Internationale: 5. Der Internationale Faschismus, in: Protokoll des Vierten Kongresses der Kommunistischen Internationale, Petrograd-Moskau vom 5. November bis 5. Dezember 1922, Hamburg 1923, S. 58.</ref> In den damaligen Thesen Über die Taktik der Komintern wurde klar benannt, dass der Faschismus die Offensive der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse darstellt. Die KI wies auf den bourgeoisen, imperialistischen Klassencharakter des Faschismus und seine sozialökonomischen Wurzeln im kapitalistischen System hin und stellt seine konterrevolutionäre Funktion im nationalen und internationalen Klassenkampf heraus. Damit wurde ebenso festgestellt, dass der Faschismus kein nationales Phänomen ist, sondern internationalen eine Gefahr für die Arbeiterbewegung darstellt. Die Rolle des Kleinbürgertums im Faschismus wurde jedoch unterschiedlich gewertet. Annahmen, ob der Faschismus direkt kleinbürgerlichen Charakters sei oder der Zugriff auf die breite Masse mittels sozialer Demagogie und Ausnutzung von Enttäuschungen stattfindet, konnten nicht abschließend geklärt werden. Es stellte sich die Frage des Zusammenhangs von Klassen- und Massenbasis des Faschismus. Dieser stütze sich sowohl auf Kampforgane als auch auf die aktive Schaffung einer reaktionären Massenbewegung durch soziale Demagogie, die sowohl Kleinbürgertum und Bauern umfasse, als auch die Arbeiterschaft. Das bestimmende Moment des Faschismus bleibe jedoch das Interesse der Bourgeoisie. <ref>Lewerenz, Elfriede: Zur Bestimmung des imperialistischen Wesens des Faschismus durch die Kommunistische Internationale (1922 bis 1935), in: Kurt Gossweiler, Dietrich Eichholz (Hrsg.): Faschismusforschung, Köln 1980, S. 22-23.</ref>.<br />
<br />
Die politische Stoßrichtung des Faschismus wurde damit gekennzeichnet, dass er sich in erster Linie gegen die Arbeiterklasse richtet, aber auch gegen die Grundlagen der Demokratie insgesamt. Daraus wurde als Aufgabe die Organisation des Widerstandes der gesamten Arbeiterschaft gegen den internationalen Faschismus abgeleitet und auf die Anwendung der Taktik der Einheitsfront verwiesen. <ref>Protokoll des Vierten Kongresses der KI, S. 1011-1012.</ref><br />
<br />
Die damaligen Analysen mussten insgesamt allerdings unvollkommen bleiben und entsprachen dem Reifegrad der KI insgesamt. In Zusammenhang mit den jeweiligen objektiven Bedingungen, in Auseinandersetzungen mit der Strategie und Taktik der Bourgeoisie, sowie in Abhängigkeit davon, wie der Faschismus seine klassenmäßigen Züge ausprägte und welche Rolle er im Imperialismus spielte, schärften sich die Analysen über die Jahre. Ein Kernproblem in der Beurteilung des Faschismus bestand weiterhin darin, alle Charakteristika seines Klassencharakters aufzudecken.<br />
<br />
Der Machtantritt der italienischen Faschisten, sowie das Anwachsen der faschistischen Bewegung in Deutschland und der militärisch-faschistische Umsturz der bulgarischen bürgerlich-demokratischen Regierung zugunsten eines reaktionären Terrorregimes im Jahre 1923, verliehen der Diskussion um den Faschismus besondere Wichtigkeit. Die III. Erweiterte Tagung der EKKI (Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale) unterstrich, zusätzlich zum imperialistischen Klassencharakter des Faschismus, seinen Zusammenhang mit der Entwicklung des Kapitalismus. In der Resolution Über den Faschismus wurde die Einschätzung formuliert, dass der Faschismus trotz seiner Brutalität und Aggressivität lediglich Symptom der Labilität des bürgerlichen Staates während der allgemeinen Krise und des Zerfalls des Kapitalismus sei. <ref> Protokoll der Konferenz der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale, Moskau 12.-23. Juni 1923, Hamburg 1923, S.207,293.</ref> Mit Hilfe demagogischer Losungen sei es der Bourgeoisie möglich gewesen, die im zerfallenden kapitalistischen System verelenden Menschen zu Anhängern des Faschismus zu machen und im Interesse der herrschenden Klasse gegen die Arbeiterbewegung auszunutzen. Mit einer scheinrevolutionären Phraseologie sei es möglich geworden, „an die Bedürfnisse und Stimmung breiter schaffender Massen anzuknüpfen“. <ref> Protokoll der Erweiterten Exekutive 1923, S.295.; die Resolution „Über den Faschismus“</ref> Bezüglich des Widerspruchs zwischen Faschismus und bürgerlicher Demokratie konstatierte Georgi Dimitroff zur damaligen Zeit, dass der Faschismus „die völlige Verneinung jeglichen Demokratismus und aller politischen Rechte und Freiheiten der Volksmasse“ bedeute. Er sei dabei nicht nur antikommunistisch, sondern auch volksfeindlich, womit ein seinem imperialistischen Wesen entspringender charakteristischer Zug hervorgehoben wurde. <ref>Dimitroff, Georgi: Die Einheitsfront und die bürgerliche Reaktion, in: G. Dimitroff: Ausgewählte Werke, Bd. I, Sofia 1967 S.206.</ref><br />
<br />
Mitte der 1920er zeichnete sich ab, dass der Faschismus nicht die letzte Option der Bourgeoisie während des immer stärker zerfallenden kapitalistischen Systems war, sondern eine Stabilisierung des Kapitalismus auftrat. Die Mechanismen, welche dem zugrunde lagen, galt es zu durchdringen. Allerdings existierte innerhalb der Kommunistischen Internationale zur damaligen Zeit Uneinigkeit über die Entwicklungstendenzen des Kapitalismus und in der Frage nach der Perspektive der Weltrevolution. Bezüglich des Imperialismus gab es zahlreiche Anhänger der Akkumulationstheorie von Rosa Luxemburg und eine Einigung auf die Leninsche Imperialismustheorie konnte noch nicht erzielt werden. Dies führte dazu, dass die Annahme des Programms der KI auf den VI. Kongress vertagt werden musste. <ref> Protokoll. Fünfter Kongress der Kommunistischen Internationale, Bd. II, Hamburg 1924, S.511f., S.574.</ref> Die Charakterisierung des Faschismus, welche auf dem V. Kongress 1924 der KI vorgenommen wurde, beschreibt jenen als „Kampfinstrument der Großbourgeoisie gegen das Proletariat“ und als „eine der klassischen Formen der Konterrevolution in der Verfallsepoche der kapitalistischen Gesellschaftsordnung“. <ref>Thesen und Resolutionen des V. Weltkongresses der KI, S.121.</ref> Wurde auf dem IV. Kongress noch auf den Widerspruch zwischen Faschismus und bürgerlicher Demokratie hingewiesen, so brachten auf dem V. Kongress einige Delegierte die Sozialdemokratie mit Erscheinungsformen des Faschismus in Verbindung. Aufgrund dessen, dass sowohl faschistische Diktatur als auch bürgerliche Demokratie den gleichen Klasseninhalt hätten, entstand die Annahme, dass beides Seiten „ein und desselben Werkzeuges der großkapitalistischen Diktatur“ seien, <ref>Resolution über den Faschismus, ebd. S.121</ref> worauf letztendlich die sogenannte [[Sozialfaschismusthese| "Sozialfaschismusthese"]] beruht. Hier muss beachtet werden, dass die damaligen Prozesse während der Zeit des Übergangs von revolutionärer Nachkriegszeit zur relativen Stabilisierung des Kapitalismus in seiner allgemeinen Krise stattfanden und schwer durchschaubar waren. Die Frage des Zusammenhanges von und der Abgrenzung von bürgerlicher und faschistischer Diktatur sollten auch in den kommenden Jahren zentraler Gegenstand der Diskussionen in der Kommunistischen Bewegung bleiben.<br />
<br />
Nach dem V. Kongress fand mit der Bolschewisierung der kommunistischen Parteien die planmäßige Aneignung des Marxismus-Leninismus und somit auch die Anwendung der Leninschen Imperialismustheorie und der Prinzipien der “Partei neuen Typus” statt. <br />
<br />
Der VI. Kongress der KI im Jahr 1928 ist im Prozess der Faschismusanalyse von besonderer Bedeutung, da er sich besonders gründlich mit dem Imperialismus und seinen Entwicklungstendenzen auseinandersetzte. Mit der Periode der relativen Stabilisierung des Kapitalismus wurde möglich, die Merkmale seiner allgemeinen Krise im Unterschied zur zyklischen Krise genauer zu bestimmen. Zusammen mit der Analyse der Weltlage konnten widersprüchliche Prozesse im imperialistischen Herrschaftssystem detaillierter aufgedeckt werden. Erforderlich war auch, sich mit der neuen Konzentrationswelle und ihren Auswirkungen auseinanderzusetzen, ebenso wie das Verständnis der Leninschen Imperialismustheorie zu schärfen und gegen Verfälschungen bspw. durch den Trotzkismus zu verteidigen. <ref> Lewerenz, Elfriede: Zur Bestimmung des imperialistischen Wesens des Faschismus durch die Kommunistische Internationale (1922 bis 1935), in: Kurt Gossweiler, Dietrich Eichholz (Hrsg.): Faschismusforschung, Köln 1980, S. 31.</ref> Der Erfolg dieser klärenden Prozesse zeigte sich im vom VI. Kongress angenommenen Programm der Kommunistischen Internationale, in welchem Lenins Analyse des Imperialismus grundlegende Bedeutung erhielt. <ref> Programm der Kommunistischen Internationale, in: Protokoll. Sechster Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, Moskau, 17. Juli – 1. September 1928, Bd. IV, Thesen/Resolutionen/Programme/Statuten, Hamburg/Berlin 1929, S.48ff.</ref> Im Programm der Kommunistischen Internationale sind sowohl eine weitestgehende Bestimmung des Klassencharakters des Faschismus, konkrete historische Bedingungen seiner Offensive, eine Kennzeichnung verschiedener Methoden der faschistischen Demagogie und Korruption, als auch eine Fixierung der konterrevolutionären Funktion des Faschismus enthalten. Die faschistische Machtausübung wird „als terroristische Diktatur des Großkapitals“ <ref> Protokoll, Sechster Weltkongress, Bd. IV. S.58.</ref> charakterisiert.<br />
<br />
In ihrem Programm stellte die KI den kommunistischen Parteien in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern die Aufgabe des unmittelbaren Kampfes um die Diktatur des Proletariats. Zur Zeit des VI. Kongresses bezog die Monopolbourgeoisie die Sozialdemokratie verstärkt in ihren Herrschaftsapparat ein, während faschistische Bewegungen außerhalb Italiens an Bedeutung verloren <ref> Lewerenz, Elfriede: Zur Bestimmung des imperialistischen Wesens des Faschismus durch die Kommunistische Internationale (1922 bis 1935), in: Kurt Gossweiler, Dietrich Eichholz (Hrsg.): Faschismusforschung, Köln 1980, S. 36.</ref>. Als “Hauptfeind des Kommunismus in der Arbeiterbewegung“ benennt die KI deshalb in ihrem Programm den „sozialistischen“ Reformismus, welcher in seiner ganzen Politik und Theorie eine Kraft sei, die der proletarischen Revolution entgegenwirke. <ref> Programm der Kommunistischen Internationale, Moskau 1928, S. 72.</ref> Sowohl die Sozialdemokratie als auch der Faschismus wurden lediglich als Methoden angesehen, derer sich in Abhängigkeit der politischen Situation gleichermaßen bedient würde. Der Frage um die Wechselbeziehungen des Kampfes um den Sozialismus und um die Verteidigung und Erweiterung der bürgerlichen Demokratie musste sich jedoch in wenigen Jahren durch den schnellen Aufschwung faschistischer Bewegungen auf anderer Weise gestellt werden. Der Ausbruch der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise, sowie der Aufschwung im Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion führten dazu, dass die reaktionärsten Kreise des Monopolkapitals die Beseitigung der bürgerlichen demokratischen Herschaftsform durch die Faschisierung des bürgerlichen Herrschaftssystems anstrebten und faschistische Parteien förderten. 1933 fand folgerichtig die Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland statt, der Faschismus wurde zur Weltgefahr und größten Bedrohung für den Frieden. Für den internationalen Klassenkampf stellten sich somit neue, höhere Ansprüche an die theoretische und praktische Auseinandersetzung mit dem Faschismus. <ref> Lewerenz, Elfriede: Zur Bestimmung des imperialistischen Wesens des Faschismus durch die Kommunistische Internationale (1922 bis 1935), in: Kurt Gossweiler, Dietrich Eichholz (Hrsg.): Faschismusforschung, Köln 1980, S. 38-40.</ref> <br />
<br />
Vor dem VII. Kongress findet eine eingehende Beschäftigung mit den Vorgängen im imperialistischen Lager statt. Vor allem Veränderungen im Bereich der Ökonomik und Politik werden dabei analysiert. Der VII. Kongress stellte im Jahr 1934 letztendlich eine allseitige Analyse des Faschismus vor, wobei die Annahmen der vorherigen Kongresse geschärft wurden. Durch die Feststellung: „Der Faschismus an der Macht […] ist offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.“ <ref> Dimitroff, Georgi: Die Offensive des Faschismus und die Aufggabe der Kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus. 2. August 1935, in: VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale. Referate und Resolutionen, Berlin 1975, S. 93 </ref> wird eine klare Abgrenzung der faschistischen Staatsmacht von der faschistischen Massenbasis gezogen, welche sich vorwiegend aus kleinbürgerlichen Kreisen rekrutierte. Georgi Dimitroff konstatierte, dass der Machtantritt des Faschismus nicht die einfache Ersetzung einer bürgerlichen Regierung durch eine andere sei, sondern die Ablösung einer Staatsform der Klassenherrschaft der Bourgeoisie, der bürgerlichen Demokratie, durch eine andere, nämlich durch die offen terroristische Diktatur sei. <ref> Dimitroff, Georgi: Die Offensive des Faschismus und die Aufgabe der Kommunistischen Internationale, S.94.</ref> Die Einordnung von bürgerlicher Demokratie und faschistischer Diktatur als zwei Seiten „ein und desselben Werkzeuges der großkapitalistischen Diktatur“ <ref> Resolution über den Faschismus, in: Thesen und Resolutionen des V. Weltkongresses der KI, S.121.</ref> wurde damit neu zur Debatte gestellt.<br />
<br />
Im Folgenden werden die Annahmen des VI. und VII. Kongresses der Kommunistischen Internationale bezüglich Faschismus und Sozialdemokratie eingehender beleuchtet. Bezüglich des VI. Kongresses ist insbesondere das Programm der Kommunistischen Internationale aus den genannten Gründen von Bedeutung. Es fasst den damaligen Diskussionsstand der KI zusammen und fungierte als Orientierung im Kampf der Arbeiterklasse gegen den Faschismus. Die Erfahrungen des Faschismus an der Macht in Deutschland führten den VII. Kongress jedoch zum Überdenken einiger Annahmen des VI. Kongresses. <br />
<br />
Die Analysen der Kommunistischen Internationale sind nicht nur eine historische Leistung, sondern durch die allseitige Analyse des Faschismus auch die Grundlage für seine Untersuchung in der Gegenwart. Die besondere Leistung der KI besteht darin, den imperialistischen Klassencharakter des Faschismus von Anfang an erkannt zu haben und aus seinen vielfältigen Erscheinungsformen das Wesentliche, Allgemeingültige herausfinden und konkret bestimmen zu können. Die Beantwortung der den Faschismus betreffenden Fragen im Kontext und das Erkennen seines Wesens sind essentiell für das Entwickeln der Strategie und Taktik zu seiner Bekämpfung. Die Aneignung der historischen Diskussionen der KI sind dafür die Voraussetzung.<br />
<br />
== Welche Positionen gibt es? Wer vertritt sie? ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
<br />
== Abgleich mit den Grundannahmen ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
<br />
== Welche Arbeitsschritte schließen sich an?==<br />
<br />
* Dokumente der Kommunistischen Internationale (KI) durchsehen; <br />
* Diskussionen über den Faschismus und über Sozialdemokratie systematisieren und auswerten.<br />
<br />
<br />
Welche theoretischen Fragen müssen beantwortet werden?<br />
Welche empirischen Fragen müssen untersucht werden?<br />
<br />
== Bezug zu den Programmatischen Thesen ==<br />
Siehe hierzu den Abschnitt [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#5_Faschismus_und_Antifaschismus zum Faschismus und Antifaschismus] in den ''Programmatischen Thesen''.<br />
<br />
Bezüglich der Diskussion in der KomIntern schreiben wir:<br />
{{Zitat|Die Analyse der Kommunistischen Internationale, die den Faschismus als Diktatur des Finanzkapitals erkannte und das Kapital als Kraft hinter faschistischen Bewegungen und Parteien benannte, hat nichts an ihrer Richtigkeit verloren. Im Gegenteil: Sie wurde und wird bis heute durch Erfahrung bestätigt. Diese Bestimmung des Faschismus sollte allerdings nicht so verstanden werden, dass damit im Faschismus das nicht-monopolistische Kapital völlig von der Herrschaft im Staat ausgeschlossen wäre. Auch die Formulierung der Komintern, wonach der Faschismus lediglich die Diktatur der am meisten reaktionären Teile des Finanzkapitals sei, muss in diesem Sinne hinterfragt werden. Daraus wurden in der Geschichte der kommunistischen Bewegung problematische Vorstellungen über Bündnisse bis hinein in Teile der Monopolbourgeoisie abgeleitet.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S. 11.}}<br />
<br />
== Literatur zum Thema ==<br />
*Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED; Lewerenz, Elfriede (Hrsg.): VII. Kongress der Kommunistischen Internationale. Referate und Resolutionen, Berlin 1975. <br />
<br />
*Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED; Mammach, Klaus (Hrsg.): Die Berner Konferenz der KPD. 30. Januar – 1. Februar 1939, Berlin 1974. <br />
<br />
*Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED; Mammach, Klaus (Hrsg.): Die Brüsseler Konferenz der KPD. 3.- 15. Oktober 1935, Berlin 1975.<br />
<br />
*Lewerenz, Elfriede: Zur Bestimmung des imperialistischen Wesens des Faschismus durch die Kommunistische Internationale (1922 bis 1935), in: Kurt Gossweiler, Dietrich Eichholtz (Hrsg.): Faschismusforschung, Köln 1980.<br />
<br />
*Schleifstein, Josef: Die Sozialfaschismus-These, Frankfurt a. M. 1980, URL: http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2015/07/die-sozialfaschismus-these (letzter Zugriff 28.12.2018).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Die_Diskussion_in_der_KomIntern_%C3%BCber_Faschismus_und_Sozialdemokratie&diff=6369Die Diskussion in der KomIntern über Faschismus und Sozialdemokratie2019-08-02T09:08:20Z<p>Dio: /* Geschichte */</p>
<hr />
<div>zurück zu [[AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
<br />
== Überblick ==<br />
Die Kommunistische Internationale (Komintern, KI), welche 1919 in Moskau auf Initiative Lenins gegründet wurde, war ein internationaler Zusammenschluss, in welcher sich kommunistische Parteien weltweit organisierten. Die Entwicklung der kommunistischen Weltbewegung drückt sich in den Diskussionen, welche innerhalb der Komintern geführt wurden und daraus folgenden Programmen und Resolutionen deutlich und nachvollziehbar aus. Während ihrer Existenz nahm die KI Stellung zu den brennenden Fragen der internationalen Klassenauseinandersetzung. Dazu gehörte auch der Anfang der 1920er Jahre aufkommende Faschismus, welcher die gesamte Arbeiterklasse weltweit vor große Probleme stellte. Die Bestimmung des Klassencharakters des Faschismus und daraus resultierend, die Orientierung für den antifaschistischen Kampf der kommunistischen Parteien und der Arbeiterklasse, waren wesentliche Bestandteile der Arbeit der KI. Kennzeichnend dabei war, dass die Auseinandersetzung mit dem Faschismus durch die Untersuchung seiner Position innerhalb des Klassenkampfes stattfand. Teil der Auseinandersetzungen war auch die Rolle der Sozialdemokratie und ihre Stellung zum Faschismus, ebenso wie das Verhältnis von Faschismus und bürgerlicher Demokratie. <br />
<br />
Im Folgenden wird ein kurzer historischer Überblick über die Entwicklung der Auseinandersetzungen innerhalb der KI bezüglich Faschismus und Sozialdemokratie von 1922 bis 1935 gegeben. <br />
<br />
Es sollen außerdem die Debatten, die in der KI geführt wurden, genauer nachvollzogen werden. Wer waren ihre Vertreter, an welchen Fragen gab es Auseinandersetzung? Welche strategischen und taktischen Schlussfolgerungen ergaben sich aus welchen Diskussionen? Um diese Fragen tiefergehend zu beantworten, müssen die Dokumente der KI intensiv studiert werden. Unter "Klärung” sind dafür notwendige Arbeitsschritte festgehalten.<br />
<br />
=== Geschichte ===<br />
Auf dem IV. Kongress 1922 beschäftigte sich die kommunistische Bewegung erstmalig intensiv mit der Rolle des Faschismus im internationalen Klassenkampf und den Aufgaben des antifaschistischen Kampfes. Zu einer Zeit, in der die Faschisten in Italien die Macht antraten, erarbeitete die KI eine Einschätzung zum Klassencharakters des Faschismus. Eine Schwierigkeit bestand darin, widersprüchliche Erscheinungen in den damaligen gesellschaftlichen Entwicklungen zu analysieren, was sich auch in den Beratungen des IV. Kongresses widerspiegelt. Zum einen, so schreibt Elfriede Lewerenz, wurde der Faschismus als „Akt der Konterrevolution bezeichnet, andererseits aber auch als revolutionierender Faktor betrachtet“. <ref> Lewerenz, Elfriede: Zur Bestimmung des imperialistischen Wesens des Faschismus durch die Kommunistische Internationale (1922 bis 1935), in: Kurt Gossweiler, Dietrich Eichholz (Hrsg.): Faschismusforschung, Köln 1980, S. 22.</ref> Die offen terroristsiche Herrschaft der faschistischen Organisationen richte sich zugleich gegen die Grundlagen der bürgerlichen Demokratie überhaupt, wodurch sich die Arbeiterklasse davon überzeugen würde, dass die Herrschaft der Bourgeoisie nur durch die Diktatur über das Proletariat möglich sei. <ref>Thesen zur Taktik der Kommunistischen Internationale: 5. Der Internationale Faschismus, in: Protokoll des Vierten Kongresses der Kommunistischen Internationale, Petrograd-Moskau vom 5. November bis 5. Dezember 1922, Hamburg 1923, S. 58.</ref> In den damaligen Thesen Über die Taktik der Komintern wurde klar benannt, dass der Faschismus die Offensive der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse darstellt. Die KI wies auf den bourgeoisen, imperialistischen Klassencharakter des Faschismus und seine sozialökonomischen Wurzeln im kapitalistischen System hin und stellt seine konterrevolutionäre Funktion im nationalen und internationalen Klassenkampf heraus. Damit wurde ebenso festgestellt, dass der Faschismus kein nationales Phänomen ist, sondern internationalen eine Gefahr für die Arbeiterbewegung darstellt. Die Rolle des Kleinbürgertums im Faschismus wurde jedoch unterschiedlich gewertet. Annahmen, ob der Faschismus direkt kleinbürgerlichen Charakters sei oder der Zugriff auf die breite Masse mittels sozialer Demagogie und Ausnutzung von Enttäuschungen stattfindet, konnten nicht abschließend geklärt werden. Es stellte sich die Frage des Zusammenhangs von Klassen- und Massenbasis des Faschismus. Dieser stütze sich sowohl auf Kampforgane als auch auf die aktive Schaffung einer reaktionären Massenbewegung durch soziale Demagogie, die sowohl Kleinbürgertum und Bauern umfasse, als auch die Arbeiterschaft. Das bestimmende Moment des Faschismus bleibe jedoch das Interesse der Bourgeoisie. <ref>Lewerenz, Elfriede: Zur Bestimmung des imperialistischen Wesens des Faschismus durch die Kommunistische Internationale (1922 bis 1935), in: Kurt Gossweiler, Dietrich Eichholz (Hrsg.): Faschismusforschung, Köln 1980, S. 22-23.</ref>.<br />
<br />
Die politische Stoßrichtung des Faschismus wurde damit gekennzeichnet, dass er sich in erster Linie gegen die Arbeiterklasse richtet, aber auch gegen die Grundlagen der Demokratie insgesamt. Daraus wurde als Aufgabe die Organisation des Widerstandes der gesamten Arbeiterschaft gegen den internationalen Faschismus abgeleitet und auf die Anwendung der Taktik der Einheitsfront verwiesen. <ref>Protokoll des Vierten Kongresses der KI, S. 1011-1012.</ref><br />
<br />
Die damaligen Analysen mussten insgesamt allerdings unvollkommen bleiben und entsprachen dem Reifegrad der KI insgesamt. In Zusammenhang mit den jeweiligen objektiven Bedingungen, in Auseinandersetzungen mit der Strategie und Taktik der Bourgeoisie, sowie in Abhängigkeit davon, wie der Faschismus seine klassenmäßigen Züge ausprägte und welche Rolle er im Imperialismus spielte, schärften sich die Analysen über die Jahre. Ein Kernproblem in der Beurteilung des Faschismus bestand weiterhin darin, alle Charakteristika seines Klassencharakters aufzudecken.<br />
<br />
Der Machtantritt der italienischen Faschisten, sowie das Anwachsen der faschistischen Bewegung in Deutschland und der militärisch-faschistische Umsturz der bulgarischen bürgerlich-demokratischen Regierung zugunsten eines reaktionären Terrorregimes im Jahre 1923, verliehen der Diskussion um den Faschismus besondere Wichtigkeit. Die III. Erweiterte Tagung der EKKI (Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale) unterstrich, zusätzlich zum imperialistischen Klassencharakter des Faschismus, seinen Zusammenhang mit der Entwicklung des Kapitalismus. In der Resolution Über den Faschismus wurde die Einschätzung formuliert, dass der Faschismus trotz seiner Brutalität und Aggressivität lediglich Symptom der Labilität des bürgerlichen Staates während der allgemeinen Krise und des Zerfalls des Kapitalismus sei. <ref> Protokoll der Konferenz der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale, Moskau 12.-23. Juni 1923, Hamburg 1923, S.207,293.</ref> Mit Hilfe demagogischer Losungen sei es der Bourgeoisie möglich gewesen, die im zerfallenden kapitalistischen System verelenden Menschen zu Anhängern des Faschismus zu machen und im Interesse der herrschenden Klasse gegen die Arbeiterbewegung auszunutzen. Mit einer scheinrevolutionären Phraseologie sei es möglich geworden, „an die Bedürfnisse und Stimmung breiter schaffender Massen anzuknüpfen“. <ref> Protokoll der Erweiterten Exekutive 1923, S.295.; die Resolution „Über den Faschismus“</ref> Bezüglich des Widerspruchs zwischen Faschismus und bürgerlicher Demokratie konstatierte Georgi Dimitroff zur damaligen Zeit, dass der Faschismus „die völlige Verneinung jeglichen Demokratismus und aller politischen Rechte und Freiheiten der Volksmasse“ bedeute. Er sei dabei nicht nur antikommunistisch, sondern auch volksfeindlich, womit ein seinem imperialistischen Wesen entspringender charakteristischer Zug hervorgehoben wurde. <ref>Dimitroff, Georgi: Die Einheitsfront und die bürgerliche Reaktion, in: G. Dimitroff: Ausgewählte Werke, Bd. I, Sofia 1967 S.206.</ref><br />
<br />
Mitte der 1920er zeichnete sich ab, dass der Faschismus nicht die letzte Option der Bourgeoisie während des immer stärker zerfallenden kapitalistischen Systems war, sondern eine Stabilisierung des Kapitalismus auftrat. Die Mechanismen, welche dem zugrunde lagen, galt es zu durchdringen. Allerdings existierte innerhalb der Kommunistischen Internationale zur damaligen Zeit Uneinigkeit über die Entwicklungstendenzen des Kapitalismus und in der Frage nach der Perspektive der Weltrevolution. Bezüglich des Imperialismus gab es zahlreiche Anhänger der Akkumulationstheorie von Rosa Luxemburg und eine Einigung auf die Leninsche Imperialismustheorie konnte noch nicht erzielt werden. Dies führte dazu, dass die Annahme des Programms der KI auf den VI. Kongress vertagt werden musste. <ref> Protokoll. Fünfter Kongress der Kommunistischen Internationale, Bd. II, Hamburg 1924, S.511f., S.574.</ref> Die Charakterisierung des Faschismus, welche auf dem V. Kongress 1924 der KI vorgenommen wurde, beschreibt jenen als „Kampfinstrument der Großbourgeoisie gegen das Proletariat“ und als „eine der klassischen Formen der Konterrevolution in der Verfallsepoche der kapitalistischen Gesellschaftsordnung“. <ref>Thesen und Resolutionen des V. Weltkongresses der KI, S.121.</ref> Wurde auf dem IV. Kongress noch auf den Widerspruch zwischen Faschismus und bürgerlicher Demokratie hingewiesen, so brachten auf dem V. Kongress einige Delegierte die Sozialdemokratie mit Erscheinungsformen des Faschismus in Verbindung. Aufgrund dessen, dass sowohl faschistische Diktatur als auch bürgerliche Demokratie den gleichen Klasseninhalt hätten, entstand die Annahme, dass beides Seiten „ein und desselben Werkzeuges der großkapitalistischen Diktatur“ seien, <ref>Resolution über den Faschismus, ebd. S.121</ref> worauf letztendlich die sogenannte [[Sozialfaschismusthese| "Sozialfaschismusthese"]] beruht. Hier muss beachtet werden, dass die damaligen Prozesse während der Zeit des Übergangs von revolutionärer Nachkriegszeit zur relativen Stabilisierung des Kapitalismus in seiner allgemeinen Krise stattfanden und schwer durchschaubar waren. Die Frage des Zusammenhanges von und der Abgrenzung von bürgerlicher und faschistischer Diktatur sollten auch in den kommenden Jahren zentraler Gegenstand der Diskussionen in der Kommunistischen Bewegung bleiben.<br />
<br />
Nach dem V. Kongress fand mit der Bolschewisierung der kommunistischen Parteien die planmäßige Aneignung des Marxismus-Leninismus und somit auch die Anwendung der Leninschen Imperialismustheorie und der Prinzipien der “Partei neuen Typus” statt. <br />
<br />
Der VI. Kongress der KI im Jahr 1928 ist im Prozess der Faschismusanalyse von besonderer Bedeutung, da er sich besonders gründlich mit dem Imperialismus und seinen Entwicklungstendenzen auseinandersetzte. Mit der Periode der relativen Stabilisierung des Kapitalismus wurde möglich, die Merkmale seiner allgemeinen Krise im Unterschied zur zyklischen Krise genauer zu bestimmen. Zusammen mit der Analyse der Weltlage konnten widersprüchliche Prozesse im imperialistischen Herrschaftssystem detaillierter aufgedeckt werden. Erforderlich war auch, sich mit der neuen Konzentrationswelle und ihren Auswirkungen auseinanderzusetzen, ebenso wie das Verständnis der Leninschen Imperialismustheorie zu schärfen und gegen Verfälschungen bspw. durch den Trotzkismus zu verteidigen. <ref> Lewerenz, Elfriede: Zur Bestimmung des imperialistischen Wesens des Faschismus durch die Kommunistische Internationale (1922 bis 1935), in: Kurt Gossweiler, Dietrich Eichholz (Hrsg.): Faschismusforschung, Köln 1980, S. 31.</ref> Der Erfolg dieser klärenden Prozesse zeigte sich im vom VI. Kongress angenommenen Programm der Kommunistischen Internationale, in welchem Lenins Analyse des Imperialismus grundlegende Bedeutung erhielt. <ref> Programm der Kommunistischen Internationale, in: Protokoll. Sechster Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, Moskau, 17. Juli – 1. September 1928, Bd. IV, Thesen/Resolutionen/Programme/Statuten, Hamburg/Berlin 1929, S.48ff.</ref> Im Programm der Kommunistischen Internationale sind sowohl eine weitestgehende Bestimmung des Klassencharakters des Faschismus, konkrete historische Bedingungen seiner Offensive, eine Kennzeichnung verschiedener Methoden der faschistischen Demagogie und Korruption, als auch eine Fixierung der konterrevolutionären Funktion des Faschismus enthalten. Die faschistische Machtausübung wird „als terroristische Diktatur des Großkapitals“ <ref> Protokoll, Sechster Weltkongress, Bd. IV. S.58.</ref> charakterisiert.<br />
<br />
In ihrem Programm stellte die KI den kommunistischen Parteien in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern die Aufgabe des unmittelbaren Kampfes um die Diktatur des Proletariats. Zur Zeit des VI. Kongresses bezog die Monopolbourgeoisie die Sozialdemokratie verstärkt in ihren Herrschaftsapparat ein, während faschistische Bewegungen außerhalb Italiens an Bedeutung verloren <ref> Lewerenz, Elfriede: Zur Bestimmung des imperialistischen Wesens des Faschismus durch die Kommunistische Internationale (1922 bis 1935), in: Kurt Gossweiler, Dietrich Eichholz (Hrsg.): Faschismusforschung, Köln 1980, S. 36.</ref>. Als “Hauptfeind des Kommunismus in der Arbeiterbewegung“ benennt die KI deshalb in ihrem Programm den „sozialistischen“ Reformismus, welcher in seiner ganzen Politik und Theorie eine Kraft sei, die der proletarischen Revolution entgegenwirke. <ref> Programm der Kommunistischen Internationale, Moskau 1928, S. 72.</ref> Sowohl die Sozialdemokratie als auch der Faschismus wurden lediglich als Methoden angesehen, derer sich in Abhängigkeit der politischen Situation gleichermaßen bedient würde. Der Frage um die Wechselbeziehungen des Kampfes um den Sozialismus und um die Verteidigung und Erweiterung der bürgerlichen Demokratie musste sich jedoch in wenigen Jahren durch den schnellen Aufschwung faschistischer Bewegungen auf anderer Weise gestellt werden. Der Ausbruch der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise, sowie der Aufschwung im Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion führten dazu, dass die reaktionärsten Kreise des Monopolkapitals die Beseitigung der bürgerlichen demokratischen Herschaftsform durch die Faschisierung des bürgerlichen Herrschaftssystems anstrebten und faschistische Parteien förderten. 1933 fand folgerichtig die Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland statt, der Faschismus wurde zur Weltgefahr und größten Bedrohung für den Frieden. Für den internationalen Klassenkampf stellten sich somit neue, höhere Ansprüche an die theoretische und praktische Auseinandersetzung mit dem Faschismus. <ref> Lewerenz, Elfriede: Zur Bestimmung des imperialistischen Wesens des Faschismus durch die Kommunistische Internationale (1922 bis 1935), in: Kurt Gossweiler, Dietrich Eichholz (Hrsg.): Faschismusforschung, Köln 1980, S. 38-40.</ref> <br />
<br />
Vor dem VII. Kongress findet eine eingehende Beschäftigung mit den Vorgängen im imperialistischen Lager statt. Vor allem Veränderungen im Bereich der Ökonomik und Politik werden dabei analysiert. Der VII. Kongress stellte im Jahr 1934 letztendlich eine allseitige Analyse des Faschismus vor, wobei die Annahmen der vorherigen Kongresse geschärft wurden. Durch die Feststellung: „Der Faschismus an der Macht […] ist offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.“ <ref> Dimitroff, Georgi: Die Offensive des Faschismus und die Aufggabe der Kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus. 2. August 1935, in: VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale. Referate und Resolutionen, Berlin 1975, S. 93 </ref> wird eine klare Abgrenzung der faschistischen Staatsmacht von der faschistischen Massenbasis gezogen, welche sich vorwiegend aus kleinbürgerlichen Kreisen rekrutierte. Georgi Dimitroff konstatierte, dass der Machtantritt des Faschismus nicht die einfache Ersetzung einer bürgerlichen Regierung durch eine andere sei, sondern die Ablösung einer Staatsform der Klassenherrschaft der Bourgeoisie, der bürgerlichen Demokratie, durch eine andere, nämlich durch die offen terroristische Diktatur sei. <ref> Dimitroff, Georgi: Die Offensive des Faschismus und die Aufgabe der Kommunistischen Internationale, S.94.</ref> Die Einordnung von bürgerlicher Demokratie und faschistischer Diktatur als zwei Seiten „ein und desselben Werkzeuges der großkapitalistischen Diktatur“ <ref> Resolution über den Faschismus, in: Thesen und Resolutionen des V. Weltkongresses der KI, S.121.</ref> wurde damit neu zur Debatte gestellt.<br />
<br />
Im Folgenden werden die Annahmen des VI. und VII. Kongresses der Kommunistischen Internationale bezüglich Faschismus und Sozialdemokratie eingehender beleuchtet. Bezüglich des VI. Kongresses ist insbesondere das Programm der Kommunistischen Internationale dabei aus den genannten Gründen von besonderer Bedeutung. Es fasst den damaligen Diskussionsstand der KI zusammen und fungierte als Orientierung im Kampf der Arbeiterklasse gegen den Faschismus. Die Erfahrungen des Faschismus an der Macht in Deutschland führten den VII. Kongress jedoch zum Überdenken einiger Annahmen des VI. Kongresses. <br />
<br />
Die Analysen der Kommunistischen Internationale sind nicht nur eine historische Leistung, sondern durch die allseitige Analyse des Faschismus auch die Grundlage für seine Untersuchung in der Gegenwart. Die besondere Leistung der KI besteht darin, den imperialistischen Klassencharakter des Faschismus von Anfang an erkannt zu haben und aus seinen vielfältigen Erscheinungsformen das Wesentliche, Allgemeingültige herausfinden und konkret bestimmen zu können. Die Beantwortung der den Faschismus betreffenden Fragen im Kontext und das Erkennen seines Wesens sind essentiell für das Entwickeln der Strategie und Taktik zu seiner Bekämpfung. Die Aneignung der historischen Diskussionen der KI sind dafür die Voraussetzung.<br />
<br />
== Welche Positionen gibt es? Wer vertritt sie? ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
<br />
== Abgleich mit den Grundannahmen ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
<br />
== Welche Arbeitsschritte schließen sich an?==<br />
<br />
* Dokumente der Kommunistischen Internationale (KI) durchsehen; <br />
* Diskussionen über den Faschismus und über Sozialdemokratie systematisieren und auswerten.<br />
<br />
<br />
Welche theoretischen Fragen müssen beantwortet werden?<br />
Welche empirischen Fragen müssen untersucht werden?<br />
<br />
== Bezug zu den Programmatischen Thesen ==<br />
Siehe hierzu den Abschnitt [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#5_Faschismus_und_Antifaschismus zum Faschismus und Antifaschismus] in den ''Programmatischen Thesen''.<br />
<br />
Bezüglich der Diskussion in der KomIntern schreiben wir:<br />
{{Zitat|Die Analyse der Kommunistischen Internationale, die den Faschismus als Diktatur des Finanzkapitals erkannte und das Kapital als Kraft hinter faschistischen Bewegungen und Parteien benannte, hat nichts an ihrer Richtigkeit verloren. Im Gegenteil: Sie wurde und wird bis heute durch Erfahrung bestätigt. Diese Bestimmung des Faschismus sollte allerdings nicht so verstanden werden, dass damit im Faschismus das nicht-monopolistische Kapital völlig von der Herrschaft im Staat ausgeschlossen wäre. Auch die Formulierung der Komintern, wonach der Faschismus lediglich die Diktatur der am meisten reaktionären Teile des Finanzkapitals sei, muss in diesem Sinne hinterfragt werden. Daraus wurden in der Geschichte der kommunistischen Bewegung problematische Vorstellungen über Bündnisse bis hinein in Teile der Monopolbourgeoisie abgeleitet.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S. 11.}}<br />
<br />
== Literatur zum Thema ==<br />
*Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED; Lewerenz, Elfriede (Hrsg.): VII. Kongress der Kommunistischen Internationale. Referate und Resolutionen, Berlin 1975. <br />
<br />
*Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED; Mammach, Klaus (Hrsg.): Die Berner Konferenz der KPD. 30. Januar – 1. Februar 1939, Berlin 1974. <br />
<br />
*Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED; Mammach, Klaus (Hrsg.): Die Brüsseler Konferenz der KPD. 3.- 15. Oktober 1935, Berlin 1975.<br />
<br />
*Lewerenz, Elfriede: Zur Bestimmung des imperialistischen Wesens des Faschismus durch die Kommunistische Internationale (1922 bis 1935), in: Kurt Gossweiler, Dietrich Eichholtz (Hrsg.): Faschismusforschung, Köln 1980.<br />
<br />
*Schleifstein, Josef: Die Sozialfaschismus-These, Frankfurt a. M. 1980, URL: http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2015/07/die-sozialfaschismus-these (letzter Zugriff 28.12.2018).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Die_Diskussion_in_der_KomIntern_%C3%BCber_Faschismus_und_Sozialdemokratie&diff=6368Die Diskussion in der KomIntern über Faschismus und Sozialdemokratie2019-08-02T08:52:08Z<p>Dio: /* Überblick */</p>
<hr />
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<br />
== Überblick ==<br />
Die Kommunistische Internationale (Komintern, KI), welche 1919 in Moskau auf Initiative Lenins gegründet wurde, war ein internationaler Zusammenschluss, in welcher sich kommunistische Parteien weltweit organisierten. Die Entwicklung der kommunistischen Weltbewegung drückt sich in den Diskussionen, welche innerhalb der Komintern geführt wurden und daraus folgenden Programmen und Resolutionen deutlich und nachvollziehbar aus. Während ihrer Existenz nahm die KI Stellung zu den brennenden Fragen der internationalen Klassenauseinandersetzung. Dazu gehörte auch der Anfang der 1920er Jahre aufkommende Faschismus, welcher die gesamte Arbeiterklasse weltweit vor große Probleme stellte. Die Bestimmung des Klassencharakters des Faschismus und daraus resultierend, die Orientierung für den antifaschistischen Kampf der kommunistischen Parteien und der Arbeiterklasse, waren wesentliche Bestandteile der Arbeit der KI. Kennzeichnend dabei war, dass die Auseinandersetzung mit dem Faschismus durch die Untersuchung seiner Position innerhalb des Klassenkampfes stattfand. Teil der Auseinandersetzungen war auch die Rolle der Sozialdemokratie und ihre Stellung zum Faschismus, ebenso wie das Verhältnis von Faschismus und bürgerlicher Demokratie. <br />
<br />
Im Folgenden wird ein kurzer historischer Überblick über die Entwicklung der Auseinandersetzungen innerhalb der KI bezüglich Faschismus und Sozialdemokratie von 1922 bis 1935 gegeben. <br />
<br />
Es sollen außerdem die Debatten, die in der KI geführt wurden, genauer nachvollzogen werden. Wer waren ihre Vertreter, an welchen Fragen gab es Auseinandersetzung? Welche strategischen und taktischen Schlussfolgerungen ergaben sich aus welchen Diskussionen? Um diese Fragen tiefergehend zu beantworten, müssen die Dokumente der KI intensiv studiert werden. Unter "Klärung” sind dafür notwendige Arbeitsschritte festgehalten.<br />
<br />
=== Geschichte ===<br />
<br />
== Welche Positionen gibt es? Wer vertritt sie? ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
<br />
== Abgleich mit den Grundannahmen ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
<br />
== Welche Arbeitsschritte schließen sich an?==<br />
<br />
* Dokumente der Kommunistischen Internationale (KI) durchsehen; <br />
* Diskussionen über den Faschismus und über Sozialdemokratie systematisieren und auswerten.<br />
<br />
<br />
Welche theoretischen Fragen müssen beantwortet werden?<br />
Welche empirischen Fragen müssen untersucht werden?<br />
<br />
== Bezug zu den Programmatischen Thesen ==<br />
Siehe hierzu den Abschnitt [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#5_Faschismus_und_Antifaschismus zum Faschismus und Antifaschismus] in den ''Programmatischen Thesen''.<br />
<br />
Bezüglich der Diskussion in der KomIntern schreiben wir:<br />
{{Zitat|Die Analyse der Kommunistischen Internationale, die den Faschismus als Diktatur des Finanzkapitals erkannte und das Kapital als Kraft hinter faschistischen Bewegungen und Parteien benannte, hat nichts an ihrer Richtigkeit verloren. Im Gegenteil: Sie wurde und wird bis heute durch Erfahrung bestätigt. Diese Bestimmung des Faschismus sollte allerdings nicht so verstanden werden, dass damit im Faschismus das nicht-monopolistische Kapital völlig von der Herrschaft im Staat ausgeschlossen wäre. Auch die Formulierung der Komintern, wonach der Faschismus lediglich die Diktatur der am meisten reaktionären Teile des Finanzkapitals sei, muss in diesem Sinne hinterfragt werden. Daraus wurden in der Geschichte der kommunistischen Bewegung problematische Vorstellungen über Bündnisse bis hinein in Teile der Monopolbourgeoisie abgeleitet.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S. 11.}}<br />
<br />
== Literatur zum Thema ==<br />
*Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED; Lewerenz, Elfriede (Hrsg.): VII. Kongress der Kommunistischen Internationale. Referate und Resolutionen, Berlin 1975. <br />
<br />
*Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED; Mammach, Klaus (Hrsg.): Die Berner Konferenz der KPD. 30. Januar – 1. Februar 1939, Berlin 1974. <br />
<br />
*Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED; Mammach, Klaus (Hrsg.): Die Brüsseler Konferenz der KPD. 3.- 15. Oktober 1935, Berlin 1975.<br />
<br />
*Lewerenz, Elfriede: Zur Bestimmung des imperialistischen Wesens des Faschismus durch die Kommunistische Internationale (1922 bis 1935), in: Kurt Gossweiler, Dietrich Eichholtz (Hrsg.): Faschismusforschung, Köln 1980.<br />
<br />
*Schleifstein, Josef: Die Sozialfaschismus-These, Frankfurt a. M. 1980, URL: http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2015/07/die-sozialfaschismus-these (letzter Zugriff 28.12.2018).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Die_Diskussion_in_der_KomIntern_%C3%BCber_Faschismus_und_Sozialdemokratie&diff=6367Die Diskussion in der KomIntern über Faschismus und Sozialdemokratie2019-08-02T08:51:58Z<p>Dio: /* Überblick */</p>
<hr />
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<br />
== Überblick ==<br />
Die Kommunistische Internationale (Komintern, KI), welche 1919 in Moskau auf Initiative Lenins gegründet wurde, war ein internationaler Zusammenschluss, in welcher sich kommunistische Parteien weltweit organisierten. Die Entwicklung der kommunistischen Weltbewegung drückt sich in den Diskussionen, welche innerhalb der Komintern geführt wurden und daraus folgenden Programmen und Resolutionen deutlich und nachvollziehbar aus. Während ihrer Existenz nahm die KI Stellung zu den brennenden Fragen der internationalen Klassenauseinandersetzung. Dazu gehörte auch der Anfang der 1920er Jahre aufkommende Faschismus, welcher die gesamte Arbeiterklasse weltweit vor große Probleme stellte. Die Bestimmung des Klassencharakters des Faschismus und daraus resultierend, die Orientierung für den antifaschistischen Kampf der kommunistischen Parteien und der Arbeiterklasse, waren wesentliche Bestandteile der Arbeit der KI. Kennzeichnend dabei war, dass die Auseinandersetzung mit dem Faschismus durch die Untersuchung seiner Position innerhalb des Klassenkampfes stattfand. Teil der Auseinandersetzungen war auch die Rolle der Sozialdemokratie und ihre Stellung zum Faschismus, ebenso wie das Verhältnis von Faschismus und bürgerlicher Demokratie. <br />
<br />
Im Folgenden wird ein kurzer historischer Überblick über die Entwicklung der Auseinandersetzungen innerhalb der KI bezüglich Faschismus und Sozialdemokratie von 1922 bis 1935 gegeben. <br />
<br />
Es sollen außerdem die Debatten, die in der KI geführt wurden, genauer nachvollzogen werden. Wer waren ihre Vertreter, an welchen Fragen gab es Auseinandersetzung? Welche strategischen und taktischen Schlussfolgerungen ergaben sich aus welchen Diskussionen? Um diese Fragen tiefergehend zu beantworten, müssen die Dokumente der KI intensiv studiert werden. Unter "Klärung” sind dafür notwendige Arbeitsschritte festgehalten.<br />
<br />
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=== Geschichte ===<br />
<br />
== Welche Positionen gibt es? Wer vertritt sie? ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
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== Abgleich mit den Grundannahmen ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
<br />
== Welche Arbeitsschritte schließen sich an?==<br />
<br />
* Dokumente der Kommunistischen Internationale (KI) durchsehen; <br />
* Diskussionen über den Faschismus und über Sozialdemokratie systematisieren und auswerten.<br />
<br />
<br />
Welche theoretischen Fragen müssen beantwortet werden?<br />
Welche empirischen Fragen müssen untersucht werden?<br />
<br />
== Bezug zu den Programmatischen Thesen ==<br />
Siehe hierzu den Abschnitt [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#5_Faschismus_und_Antifaschismus zum Faschismus und Antifaschismus] in den ''Programmatischen Thesen''.<br />
<br />
Bezüglich der Diskussion in der KomIntern schreiben wir:<br />
{{Zitat|Die Analyse der Kommunistischen Internationale, die den Faschismus als Diktatur des Finanzkapitals erkannte und das Kapital als Kraft hinter faschistischen Bewegungen und Parteien benannte, hat nichts an ihrer Richtigkeit verloren. Im Gegenteil: Sie wurde und wird bis heute durch Erfahrung bestätigt. Diese Bestimmung des Faschismus sollte allerdings nicht so verstanden werden, dass damit im Faschismus das nicht-monopolistische Kapital völlig von der Herrschaft im Staat ausgeschlossen wäre. Auch die Formulierung der Komintern, wonach der Faschismus lediglich die Diktatur der am meisten reaktionären Teile des Finanzkapitals sei, muss in diesem Sinne hinterfragt werden. Daraus wurden in der Geschichte der kommunistischen Bewegung problematische Vorstellungen über Bündnisse bis hinein in Teile der Monopolbourgeoisie abgeleitet.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S. 11.}}<br />
<br />
== Literatur zum Thema ==<br />
*Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED; Lewerenz, Elfriede (Hrsg.): VII. Kongress der Kommunistischen Internationale. Referate und Resolutionen, Berlin 1975. <br />
<br />
*Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED; Mammach, Klaus (Hrsg.): Die Berner Konferenz der KPD. 30. Januar – 1. Februar 1939, Berlin 1974. <br />
<br />
*Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED; Mammach, Klaus (Hrsg.): Die Brüsseler Konferenz der KPD. 3.- 15. Oktober 1935, Berlin 1975.<br />
<br />
*Lewerenz, Elfriede: Zur Bestimmung des imperialistischen Wesens des Faschismus durch die Kommunistische Internationale (1922 bis 1935), in: Kurt Gossweiler, Dietrich Eichholtz (Hrsg.): Faschismusforschung, Köln 1980.<br />
<br />
*Schleifstein, Josef: Die Sozialfaschismus-These, Frankfurt a. M. 1980, URL: http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2015/07/die-sozialfaschismus-these (letzter Zugriff 28.12.2018).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Politische_%C3%96konomie_des_Kapitalismus&diff=6310Politische Ökonomie des Kapitalismus2019-07-12T13:34:15Z<p>Dio: /* Produktive und individuelle Konsumtion */</p>
<hr />
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<br />
==Ware und ihre Eigenschaften==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Gebrauchswert, Tauschwert, Wert, Konsumtion, Quantitatives Verhältnis, Ware, Produkt, Austausch, Rock, Verhältnis, Erscheinungsform, Arbeitsprodukt, abstrakt menschliche Arbeit, Warenwert, Arbeitszeit, Arbeitskraft, Durchschnitt, Produktionsbedingungen<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Eine Ware ist zunächst ein Gegenstand, der menschliche Bedürfnisse aller Art befriedigt, ob als Lebensmittel oder als Produktionsmittel.<br />
<br />
{{Zitat |Die Ware ist zunächst ein äußerer Gegenstand, ein Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt. Die Natur dieser Bedürfnisse, ob sie z.B. dem Magen oder der Phantasie entspringen, ändert nichts an der Sache. Es handelt sich hier auch nicht darum, wie die Sache das menschliche Bedürfnis befriedigt, ob unmittelbar als Lebensmittel, d. h. als Gegenstand des Genusses, oder auf einem Umweg, als Produktionsmittel. Jedes nützliche Ding, wie Eisen, Papier usw., ist unter doppeltem Gesichtspunkt zu betrachten, nach Qualität und Quantität.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.49)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Der Gebrauchswert einer Ware verwirklicht sich im Gebrauch, in seinem Nutzen, abhängig von der Eigenschaft der Ware, von der Qualität der Ware. Zugleich bilden Gebrauchswerte den stofflichen Inhalt des Reichtums. Im Kapitalismus bilden sie zugleich die stofflichen Träger des Tauschwerts. Der Tauschwert erscheint, wenn man verschiedene Gebrauchswerte miteinander tauschen möchte und drückt somit ein quantitatives Verhältnis aus.<br />
<br />
{{Zitat |Die Nützlichkeit eines Dings macht es zum Gebrauchswert. Aber diese Nützlichkeit schwebt nicht in der Luft. Durch die Eigenschaften des Warenkörpers bedingt, existiert sie nicht ohne denselben. Der Warenkörper selbst, wie Eisen, Weizen, Diamant usw., ist daher ein Gebrauchswert oder Gut. Dieser sein Charakter hängt nicht davon ab, ob die Aneignung seiner Gebrauchseigenschaften dem Menschen viel oder wenig Arbeit kostet. Bei Betrachtung der Gebrauchswerte wird stets ihre quantitative Bestimmtheit vorausgesetzt, wie Dutzend Uhren, Elle Leinwand, Tonne Eisen usw. Die Gebrauchswerte der Waren liefern das Material einer eignen Disziplin, der Warenkunde. Der Gebrauchswert verwirklicht sich nur im Gebrauch oder der Konsumtion. Gebrauchswerte bilden den stofflichen Inhalt des Reichtums, welches immer seine gesellschaftliche Form sei. In der von uns zu betrachtenden Gesellschaftsform bilden sie zugleich die stofflichen Träger des – Tauschwerts. Der Tauschwert erscheint zunächst als das quantitative Verhältnis, die Proportion, worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen, ein Verhältnis, das beständig mit Zeit und Ort wechselt.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.50)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Der Grund, um überhaupt Produkte zu tauschen, sind ihre unterschiedlichen Gebrauchswerte. In diesem Tauschprozess wird ein Produkt zur Ware.<br />
<br />
{{Zitat |Um Ware zu werden, muß das Produkt dem andern, dem es als Gebrauchswert dient, durch den Austausch übertragen werden. Endlich kann kein Ding Wert sein, ohne Gebrauchsgegenstand zu sein.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.55)}}<br />
<br />
{{Zitat |Wären jene Dinge nicht qualitativ verschiedne Gebrauchswerte und daher Produkte qualitativ verschiedner nützlicher Arbeiten, so könnten sie sich überhaupt nicht als Waren gegenübertreten. Rock tauscht sich nicht aus gegen Rock, derselbe Gebrauchswert nicht gegen denselben Gebrauchswert.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.56)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Eine gewisse Ware lässt sich in einem bestimmten Verhältnis mit einer anderen Ware tauschen, z. B. x kg Weizen gegen y kg Kartoffeln oder z kg Möhren. Also hat der Weizen unzählig viele Tauschwerte. Die Tauschwerte müssen aber auch etwas Gleiches haben, um vergleichbar zu sein, der Tauschwert kann also nur die "Erscheinungsform" eines Dritten sein.<br />
<br />
{{Zitat |Eine gewisse Ware, ein Quarter Weizen z.B. tauscht, sich mit x Stiefelwichse oder mit y Seide oder mit z Gold usw., kurz mit andern Waren in den verschiedensten Proportionen. Mannigfache Tauschwerte also hat der Weizen statt eines einzigen. Aber da x Stiefelwichse, ebenso y Seide, ebenso z Gold usw. der Tauschwert von einem Quarter Weizen ist, müssen y Stiefelwichse, y Seide, z Gold usw. durch einander ersetzbare oder einander gleich große Tauschwerte sein. Es folgt daher erstens: Die gültigen Tauschwerte derselben Ware drücken ein Gleiches aus. Zweitens aber: Der Tauschwert kann überhaupt nur die Ausdrucksweise, die ‚Erscheinungsform‛ eines von ihm unterscheidbaren Gehalts sein.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.51)}}<br />
<br />
'''Annahme 5'''<br />
<br />
Alle Gebrauchswerte sind Arbeitsprodukte und damit auf abstrakte Arbeit reduzierbar. Diese Arbeit produziert Wert, Warenwert. Das Gemeinsame der unterschiedlichen Waren, was sich beim Tauschen darstellt, ist also ihr Wert.<br />
<br />
{{Zitat |Sieht man nun vom Gebrauchswert der Warenkörper ab, so bleibt ihnen nur noch eine Eigenschaft, die von Arbeitsprodukten. Jedoch ist uns auch das Arbeitsprodukt bereits in der Hand verwandelt. Abstrahieren wir von seinem Gebrauchswert, so abstrahieren wir auch von den körperlichen Bestandteilen und Formen, die es zum Gebrauchswert machen. Es ist nicht länger Tisch oder Haus oder Garn oder sonst ein nützlich Ding. Alle seine sinnlichen Beschaffenheiten sind ausgelöscht. Es ist auch nicht länger das Produkt der Tischlerarbeit oder der Bauarbeit oder der Spinnarbeit oder sonst einer bestimmten produktiven Arbeit. Mit dem nützlichen Charakter der Arbeitsprodukte verschwindet der nützliche Charakter der in ihnen dargestellten Arbeiten, es verschwinden also auch die verschiedenen konkreten Formen dieser Arbeiten, sie unterscheiden sich nicht länger, sondern sind allzusamt reduziert auf gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit. […] Als Kristalle dieser ihnen gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Substanz sind sie Werte – Warenwerte.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.52)}}<br />
<br />
'''Annahme 6'''<br />
<br />
Die Größe des Werts misst sich an der Quantität der Arbeit, an der Arbeitszeit in Minuten, Stunden, Tagen etc.<br />
<br />
{{Zitat |Ein Gebrauchswert oder Gut hat also nur einen Wert, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist. Wie nun die Größe seines Werts messen? Durch das Quantum der in ihm enthaltenen ‚wertbildenden Substanz‛, der Arbeit. Die Quantität der Arbeit selbst mißt sich an ihrer Zeitdauer, und die Arbeitszeit besitzt wieder ihren Maßstab an bestimmten Zeitteilen, wie Stunde, Tag usw.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.53)}}<br />
<br />
'''Annahme 7 '''<br />
<br />
Die Arbeitszeit für den Wert einer Ware bemisst sich nicht nach einem individuellen (faulen, schnellen, ungeschickten) Arbeiter, sondern an der durchschnittlich gesellschaftlich notwendigen Dauer zur Erstellung dieser Ware unter normalen Produktionsbedingungen.<br />
<br />
{{Zitat |Die gesamte Arbeitskraft der Gesellschaft, die sich in den Werten der Warenwelt darstellt, gilt hier als eine und dieselbe menschliche Arbeitskraft, obgleich sie aus zahllosen individuellen Arbeitskräften besteht. Jede dieser individuellen Arbeitskräfte ist dieselbe menschliche Arbeitskraft wie die andere, soweit sie den Charakter einer gesellschaftlichen Durchschnitts-Arbeitskraft besitzt und als solche gesellschaftliche Durchschnitts-Arbeitskraft wirkt, also in der Produktion einer Ware auch nur die im Durchschnitt notwendige oder gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit braucht. Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist Arbeitszeit, erheischt, um irgendeinen Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich- normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.53)}}<br />
<br />
==Arbeitswerttheorie/ Wertgesetz==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Wertgröße, Arbeitszeit, Produktivkraft, Wert, Preise, Wertgesetz<br />
<br />
'''Annahme 1 '''<br />
<br />
Der Grad der Entwicklung der Produktivkraft beeinflusst die Arbeitszeit, die zur Herstellung einer Ware nötig ist und somit beeinflusst sie auch die Wertgröße der Ware und ihren Preis: Je größer die Produktivkraft, umso kürzer die benötigte Arbeitszeit, umso kleiner der Wert der Ware, umso kleiner der Preis.<br />
<br />
{{Zitat |Die Wertgröße einer Ware bliebe daher konstant, wäre die zu ihrer Produktion erheischte Arbeitszeit konstant. Letztere wechselt aber mit jedem Wechsel in der Produktivkraft der Arbeit.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.54)}}<br />
<br />
{{Zitat |Je größer die Produktivkraft der Arbeit, desto kleiner die zur Herstellung eines Artikels erheischte Arbeitszeit, desto kleiner die in ihm kristallisierte Arbeitsmasse, desto kleiner sein Wert. Umgekehrt, je kleiner die Produktivkraft der Arbeit, desto größer die zur Herstellung eines Artikels notwendige Arbeitszeit, desto größer sein Wert. Die Wertgröße einer Ware wechselt also direkt wie das Quantum und umgekehrt wie die Produktivkraft der sich in ihr verwirklichenden Arbeit.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.55)}}<br />
<br />
{{Zitat |In welcher Weise immer die Preise der verschiedenen Waren zuerst gegeneinander festgesetzt oder geregelt sein mögen, das Wertgesetz beherrscht ihre Bewegung. Wo die zu ihrer Produktion erheischte Arbeitszeit fällt, fallen die Preise; wo sie steigt, steigen die Preise, bei sonst gleichbleibenden Umständen.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.186)}}<br />
<br />
== Warenproduktion und gesellschaftliche Teilung der Arbeit ==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Arbeitsteilung, Gebrauchswert, nützliche Arbeit, Warenproduzenten, Arbeitsteilung, Warenproduktion, Existenzbedingung<br />
<br />
'''Annahme 1 '''<br />
<br />
Die gesellschaftliche Teilung der Arbeit ist die Voraussetzung der Warenproduktion. Jeder Produzent stellt Waren unterschiedlicher Gebrauchswerte her, die durch ihre Unterschiedlichkeit tauschbar sind.<br />
<br />
{{Zitat |[…]: in dem Gebrauchswert jeder Ware steckt eine bestimmte zweckmäßig produktive Tätigkeit oder nützliche Arbeit. Gebrauchswerte können sich nicht als Waren gegenübertreten, wenn nicht qualitativ verschiedne nützliche Arbeiten in ihnen stecken. In einer Gesellschaft, deren Produkte allgemein die Form der Ware annehmen, d. h. in einer Gesellschaft von Warenproduzenten, entwickelt sich dieser qualitative Unterschied der nützlichen Arbeiten, welche unabhängig voneinander als Privatgeschäfte selbständiger Produzenten betrieben werden, zu einem vielgliedrigen System, zu einer gesellschaftlichen Teilung der Arbeit.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.57)}}<br />
<br />
{{Zitat |[…] – eine gesellschaftliche Teilung der Arbeit. Sie ist Existenzbedingung der Warenproduktion, obgleich Warenproduktion nicht umgekehrt die Existenzbedingung gesellschaftlicher Arbeitsteilung.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.56)}}<br />
<br />
==Wertform==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Wertform, Wertverhältnis, Austauschverhältnis, Quantum, Äquivalent<br />
<br />
'''Annahme 1 '''<br />
<br />
Der Tauschwert erscheint erst im Austauschverhältnis zweier Waren. Der Wert einer Ware wird im Äquivalent einer anderen quantitativ ausgedrückt.<br />
<br />
{{Zitat |Die einfache Wertform einer Ware ist enthalten in ihrem Wertverhältnis zu einer verschiedenartigen Ware oder im Austauschverhältnis mit derselben. Der Wert der Ware A wird qualitativ ausgedrückt durch die unmittelbare Austauschbarkeit der Ware B mit der Ware A. Er wird quantitativ ausgedrückt durch die Austauschbarkeit eines bestimmten Quantums der Ware B mit dem gegebenen Quantum der Ware A. In andren Worten: Der Wert einer Ware ist selbständig ausgedrückt durch seine Darstellung als ‚Tauschwert‛.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.74)}}<br />
<br />
'''Annahme 2 '''<br />
<br />
Einfache Wertform: xWareA = yWareB<br />
<br />
Entfaltete Wertform: xWare = unendliche viele unterschiedliche Waren<br />
<br />
Allgemeine Wertform: viele unterschiedliche Waren = yWareZ (allgemein anerkanntes Äquivalent)<br />
<br />
Es kristallisiert sich eine Ware heraus, die als allgemein gültiges Äquivalent zu allen anderen Waren tauschbar ist.<br />
<br />
{{Zitat |Die einfache oder vereinzelte relative Wertform einer Ware macht eine andre Ware zum einzelnen Äquivalent. Die entfaltete Form des relativen Werts, dieser Ausdruck des Werts einer Ware in allen andren Waren, prägt ihnen die Form verschiedenartiger besonderer Äquivalente auf. Endlich erhält eine besondre Warenart die allgemeine Äquivalentform, weil alle andren Waren sie zum Material ihrer einheitlichen, allgemeinen Wertform machen.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.82)}}<br />
<br />
==Geld==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Geldform, Wertform, Vergegenständlichte menschliche Arbeit, Ware, Wertausdruck, Zirkulationsmittel, Wertmaß, Tauschwert, Geld, Krise<br />
<br />
'''Annahme 1 '''<br />
<br />
Die Allgemeine Wertform geht über zur Geldform. Geld hat die gesellschaftliche Gültigkeit bekommen, allgemeines Äquivalent zu allen anderen Waren zu sein.<br />
<br />
{{Zitat |Und erst vom Augenblick, wo diese Ausschließung sich endgültig auf eine spezifische Warenart beschränkt, hat die einheitliche relative Wertform der Waren weit objektive Festigkeit und allgemein gesellschaftliche Gültigkeit gewonnen. Die spezifische Warenart nun, mit deren Naturalform die Äquivalentform gesellschaftlich verwächst, wird zur Geldware oder funktioniert als Geld. Es wird ihre spezifisch gesellschaftliche Funktion, und daher ihr gesellschaftliches Monopol, innerhalb der Warenwelt die Rolle des allgemeinen Äquivalents zu spielen.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.109)}}<br />
<br />
'''Annahme 2 '''<br />
<br />
Da allen Waren vergegenständlichte menschliche Arbeit sind, können sie in dem gleichen Wertmaß, in Geldform oder Preis ausgedrückt werden.<br />
<br />
{{Zitat |Weil alle Waren als Werte vergegenständlichte menschliche Arbeit, daher an und für sich kommensurabel sind, können sie ihre Werte gemeinschaftlich in derselben spezifischen Ware messen und diese dadurch in ihr gemeinschaftliches Wertmaß oder Geld verwandeln. Geld als Wertmaß ist notwendige Erscheinungsform des immanenten Wertmaßes der Waren, der Arbeitszeit. Der Wertausdruck einer Ware in Gold – x Ware A (ist gleich) y Geldware – ist ihre Geldform oder ihr Preis.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.109)}}<br />
<br />
'''Annahme 3 '''<br />
<br />
Die Ware, die als Zirkulationsmittel funktioniert, ist Geld. Geld ist somit die adäquate Daseinsform des Tauschwerts, die alle anderen Waren als bloße Gebrauchswerte fixiert. Dabei ist es gleich, ob das Geld in „leiblicher“ Form (Goldstück) oder ideell auftritt.<br />
<br />
{{Zitat |Die Ware, welche als Wertmaß und daher auch, leiblich oder durch Stellvertreter, als Zirkulationsmittel funktioniert, ist Geld. Gold (resp. Silber) ist daher Geld. Als Geld funktioniert es, einerseits wo es in seiner goldnen (resp. silbernen) Leiblichkeit erscheinen muß, daher als Geldware, also weder bloß ideell, wie im Wertmaß, noch repräsentationsfähig, wie im Zirkulationsmittel; andrerseits wo seine Funktion, ob es selbe nun in eigner Person oder durch Stellvertreter vollziehe, es als alleinige Wertgestalt oder allein adäquates Dasein des Tauschwerts allen andren Waren als bloßen Gebrauchswerten gegenüber fixiert.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.143)}}<br />
<br />
'''Annahme 4 '''<br />
<br />
Dadurch dass die Ware Geld nicht nur leiblich, sondern auch ideell als Zahlungsmittel benutzt wird, entsteht ein Widerspruch. Dieser Widerspruch zwischen Ware und Wertgestalt wird sichtbar, wenn dass Geld – durch Produktions- und Handelskrisen – nicht mehr nur repräsentatives Rechengeld sein kann, sondern harte Ware sein muss. Plötzlich wird der Gegensatz zwischen der Ware und ihrer Wertgestalt, dem Geld, bis zum absoluten Widerspruch gesteigert.<br />
<br />
{{Zitat |Die Funktion des Geldes als Zahlungsmittel schließt einen unvermittelten Widerspruch ein. Soweit sich die Zahlungen ausgleichen, funktioniert es nur ideell als Rechengeld oder Maß der Werte. Soweit wirkliche Zahlung zu verrichten, tritt es nicht als Zirkulationsmittel auf, als nur verschwindende und vermittelnde Form des Stoffwechsels, sondern als die individuelle Inkarnation der gesellschaftlichen Arbeit, selbständiges Dasein des Tauschwerts, absolute Ware. Dieser Widerspruch eklatiert in dem Moment der Produktions- und Handelskrisen, der Geldkrise heißt. Sie ereignet sich nur, wo die prozessierende Kette der Zahlungen und ein künstliches System ihrer Ausgleichung völlig entwickelt sind. Mit allgemeineren Störungen dieses Mechanismus, woher sie immer entspringen mögen, schlägt das Geld plötzlich und unvermittelt um aus der nur ideellen Gestalt des Rechengeldes in hartes Geld. Es wird unersetzlich durch profane Waren. Der Gebrauchswert der Ware wird wertlos, und ihr Wert verschwindet vor seiner eignen Wertform.<br/> In der Krise wird der Gegensatz zwischen der Ware und ihrer Wertgestalt, dem Geld, bis zum absoluten Widerspruch gesteigert. Die Erscheinungsform des Geldes ist hier daher auch gleichgültig. Die Geldhungersnot bleibt dieselbe, ob in Gold oder Kreditgeld, Banknoten etwa, zu zahlen ist.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.151)}}<br />
<br />
==Einfache Warenzirkulation==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Warenzirkulation, Kapital, Handel, Ware, Zirkulation, Konsumtion, Aneignung, Befriedigung<br />
<br />
'''Annahme 1 '''<br />
<br />
Warenzirkulation ist Ausgangspunkt des Kapitals. Damit Kapital entstehen kann, braucht es historische Voraussetzungen: Warenproduktion, entwickelte Warenzirkulation und Handel.<br />
<br />
{{Zitat |Die Warenzirkulation ist der Ausgangspunkt des Kapitals. Warenproduktion und entwickelte Warenzirkulation, Handel, bilden die historischen Voraussetzungen, unter denen es entsteht.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.161)}}<br />
<br />
'''Annahme 2 '''<br />
<br />
Einfache Warenzirkulation Ware – Geld – Ware (W – G – W) endet in der Aneignung von Gebrauchswerten.<br />
<br />
{{Zitat |Der Kreislauf W – G – W geht aus von dem Extrem einer Ware und schließt ab mit dem Extrem einer andren Ware, die aus der Zirkulation heraus und der Konsumtion anheimfällt. Konsumtion, Befriedigung von Bedürfnissen, mit einem Wort, Gebrauchswert ist daher sein Endzweck.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.164)}}<br />
<br />
{{Zitat |Die einfache Warenzirkulation – der Verkauf für den Kauf – dient zum Mittel für einen außerhalb der Zirkulation liegenden Endzweck, die Aneignung von Gebrauchswerten, die Befriedigung von Bedürfnissen.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.167)}}<br />
<br />
==Kapitalkreislauf==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Zirkulation, Geld, Ware, Geldsumme, Mehrwert, Kapital, Verwertung, Bewegung, Selbstverwertung, Kapitalkreislauf<br />
<br />
'''Annahme 1 '''<br />
<br />
Bei der Zirkulation Geld – Ware – Geld (G – W – G) tauscht man Geld gegen Ware, um sie wieder gegen Geld zu tauschen, kurz Austausch von Geld gegen Geld.<br />
<br />
{{Zitat |Sehn wir uns die Zirkulation G – W – G näher an. Sie durchläuft, gleich der einfachen Warenzirkulation, zwei entgegengesetzte Phasen. In der ersten Phase, G – W, Kauf, wird das Geld in Ware verwandelt. In der zweiten Phase, W – G, Verkauf, wird die Ware in Geld rückverwandelt. Die Einheit beider Phasen aber ist die Gesamtbewegung, welche Geld gegen Ware und dieselbe Ware wieder gegen Geld austauscht, Ware kauft, um sie zu verkaufen, oder wenn man die formellen Unterschiede von Kauf und Verkauf vernachlässigt, mit dem Geld Ware und mit der Ware Geld kauft. Das Resultat, worin der ganze Prozeß erlischt, ist Austausch von Geld gegen Geld, G – G.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.162)}}<br />
<br />
'''Annahme 2 '''<br />
<br />
Der Prozess G – W – G macht nur Sinn, wenn G quantitativ verschieden ist, wenn G – W – G', wo G' größer als G ist. Den Zuwachs zu G nennt man Mehrwert. In dem Prozess, in dem G zu G' wird, wird G zu Kapital.<br />
<br />
{{Zitat |Eine Geldsumme kann sich von der andren Geldsumme überhaupt nur durch ihre Größe unterscheiden. Der Prozeß G – W – G schuldet seinen Inhalt daher keinem qualitativen Unterschied seiner Extreme, denn sie sind beide Geld, sondern nur ihrer quantitativen Verschiedenheit. Schließlich wird der Zirkulation mehr Geld entzogen, als anfangs hineingeworfen ward. Die zu 100 Pfd.St. gekaufte Baumwolle wird z.B. wieder verkauft zu 100 (plus) 10 Pfd.St. oder 110 Pfd.St. Die vollständige Form dieses Prozesses ist daher G – W – G' , wo G' (gleich) G + A G, d. h. gleich der ursprünglich vorgeschossenen Geldsumme plus einem Inkrement. Dieses Inkrement oder den Überschuß über den ursprünglichen Wert nenne ich – Mehrwert (surplus value). Der ursprünglich vorgeschoßne Wert erhält sich daher nicht nur in der Zirkulation, sondern in ihr verändert er seine Wertgröße, setzt einen Mehrwert zu oder verwertet sich. Und diese Bewegung verwandelt ihn in Kapital.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.165)}}<br />
<br />
'''Annahme 3 '''<br />
<br />
Zirkulation des Geldes als Kapital ist Selbstzweck, Verwertung des Werts. Treibendes Motiv ist der Tauschwert selbst. Man kann diese Bewegung endlos wiederholen. Wer dies tut, wird zum Kapitalist.<br />
<br />
{{Zitat |Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist dagegen Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos. Als bewußter Träger dieser Bewegung wird der Geldbesitzer Kapitalist.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.167)}}<br />
<br />
'''Annahme 4 '''<br />
<br />
Ware und Geld sind verschiedene Existenzweisen des Werts, im Verändern seiner Erscheinungsformen (Geld – Ware – Geld) vergrößert er sich. Zum ursprünglichen Wert gibt sich Mehrwert dazu, er verwertet sich somit selbst.<br />
<br />
{{Zitat |Die selbständigen Formen, die Geldformen, welche der Wert der Waren in der einfachen Zirkulation annimmt, vermitteln nur den Warenaustausch und verschwinden im Endresultat der Bewegung. In der Zirkulation G – W – G funktionieren dagegen beide, Ware und Geld, nur als verschiedne Existenzweisen des Werts selbst, das Geld seine allgemeine, die Ware seine besondre, sozusagen nur verkleidete Existenzweise. […] Fixiert man die besondren Erscheinungsformen, welche der sich verwertende Wert im Kreislauf seines Lebens abwechselnd annimmt, so erhält man die Erklärungen: Kapital ist Geld, Kapital ist Ware. In der Tat aber wird der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet. Denn die Bewegung, worin er Mehrwert zusetzt, ist seine eigne Bewegung, seine Verwertung also Selbstverwertung. Er hat die okkulte Qualität erhalten, Wert zu setzen, weil er Wert ist. Er wirft lebendige Junge oder legt wenigstens goldne Eier.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.169)}}<br />
<br />
'''Annahme 5 '''<br />
<br />
Kapitalkreislauf: Wert kommt aus dem Kreislauf, geht wieder in ihn hinein, erhält sich und vergrößert sich (Mehrwert), kommt insgesamt größer aus ihm heraus und beginnt von neuem denselben Kreislauf. Dieser sich verwertende Wert ist Kapital. Sein Kreislauf ist unendlich wiederholbar.<br />
<br />
{{Zitat |Der Wert wird also prozessierender Wert, prozessierendes Geld und als solches Kapital. Er kommt aus der Zirkulation her, geht wieder in sie ein, erhält und vervielfältigt sich in ihr, kehrt vergrößert aus ihr zurück und beginnt denselben Kreislauf stets wieder von neuem. G – G ', geldheckendes Geld – money which begets money – lautet die Beschreibung des Kapitals im Munde seiner ersten Dolmetscher, der Merkantilisten.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.170)}}<br />
<br />
==Mehrwert==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Tausch, Äquivalent, Mehrwert, Warenaustausch, Kapital, Verteilung, Minderwert, Zirkulation, Arbeit, Mehrwert, Wertbildung<br />
<br />
'''Annahme 1 '''<br />
<br />
Beim Tausch von Äquivalenten wird kein Mehrwert produziert. Auch beim Tausch von Nicht-Äquivalenten (wenn Käufer über oder unter Wert kauft bzw. Verkäufer unter oder über Wert verkauft) wird kein Mehrwert produziert, da sich dieser kurzfristige Vorteil im Kreislauf wieder aufheben wird.<br />
Die Zirkulation oder der Warenaustausch schafft keinen Wert.<br />
<br />
{{Zitat |Werden Waren oder Waren und Geld von gleichem Tauschwert, also Äquivalente ausgetauscht, so zieht offenbar keiner mehr Wert aus der Zirkulation heraus, als er in sie hineinwirft. Es findet dann keine Bildung von Mehrwert statt.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.174)}}<br />
<br />
{{Zitat |Die Bildung von Mehrwert und daher die Verwandlung von Geld in Kapital, kann also weder dadurch erklärt werden, daß die Verkäufer die Waren über ihrem Werte verkaufen, noch dadurch, daß die Käufer sie unter ihrem Werte kaufen.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.175)}}<br />
<br />
{{Zitat |Der zirkulierende Wert hat sich um kein Atom vergrößert, seine Verteilung zwischen A und B hat sich verändert. Auf der einen Seite erscheint als Mehrwert, was auf der andren Minderwert ist, auf der einen Seite als Plus, was auf der andren als Minus.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.177)}}<br />
<br />
{{Zitat |Man mag sich also drehen und wenden, wie man will, das Fazit bleibt dasselbe. Werden Äquivalente ausgetauscht, so entsteht kein Mehrwert, und werden Nicht-Äquivalente ausgetauscht, so entsteht auch kein Mehrwert. Die Zirkulation oder der Warenaustausch schafft keinen Wert.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.177f.)}}<br />
<br />
{{Zitat |Kann aber der Mehrwert anderswoher entspringen als aus der Zirkulation? Die Zirkulation ist die Summe aller Wechselbeziehungen der Warenbesitzer. Außerhalb derselben steht der Warenbesitzer nur noch in Beziehung zu seiner eignen Ware. […] Aber seine Arbeit stellt sich nicht dar im Werte der Ware und einem Überschuß über ihrem eignen Wert, nicht in einem Preise von 10, der zugleich ein Preis von 11, nicht in einem Wert, der größer als er selbst ist. Der Warenbesitzer kann durch seine Arbeit Werte bilden, aber keine sich verwertenden Werte. Er kann den Wert einer Ware erhöhn, indem er vorhandnem Wert neuen Wert durch neue Arbeit zusetzt, z.B. aus Leder Stiefel macht.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.179f.)}}<br />
<br />
==Ware Arbeitskraft==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Arbeitskraft, Wert, Gebrauchswert, Arbeitsvermögen, Kapitalist, Geldbesitzer, Arbeiter, Warenbesitzer, Eigentum, Kapital, Warenmarkt, Freiheit, Ware, Produktion, Reproduktion, Arbeitszeit, Lebensmittel, Grenze, Minimum<br />
<br />
'''Annahme 1 '''<br />
<br />
Der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft ist es Wert zu schaffen. Zur Arbeitskraft zählen alle körperlichen und geistigen Fähigkeiten, die beim Arbeiten benutzt werden.<br />
<br />
{{Zitat |Die Veränderung muß sich also zutragen mit der Ware, die im ersten Akt G – W gekauft wird, aber nicht mit ihrem Wert, denn es werden Äquivalente ausgetauscht, die Ware wird zu ihrem Werte bezahlt. Die Veränderung kann also nur entspringen aus ihrem Gebrauchswert als solchem, d. h. aus ihrem Verbrauch. Um aus dem Verbrauch einer Ware Wert herauszuziehn, müßte unser Geldbesitzer so glücklich sein, innerhalb der Zirkulationssphäre, auf dem Markt, eine Ware zu entdecken, deren Gebrauchswert selbst die eigentümliche Beschaffenheit besäße, Quelle von Wert zu sein, deren wirklicher Verbrauch also selbst Vergegenständlichung von Arbeit wäre, daher Wertschöpfung. Und der Geldbesitzer findet auf dem Markt eine solche spezifische Ware vor – das Arbeitsvermögen oder die Arbeitskraft. Unter Arbeitskraft oder Arbeitsvermögen verstehen wir den Inbegriff der physischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren und die er in Bewegung setzt, sooft er Gebrauchswerte irgendeiner Art produziert.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.181)}}<br />
<br />
'''Annahme 2 '''<br />
<br />
Der Kapitalist und der Arbeiter begegnen sich als juristisch gleiche Personen, als ebenbürtige Warenbesitzer auf dem Markt. Der einzige Unterschied ist, dass der eine Käufer, der andere Verkäufer ist. Der Arbeiter muss immer Besitzer seiner Ware, also Arbeitskraft, sein und kann sie somit nur für einen bestimmten Zeitraum zur Verfügung stellen.<br />
<br />
{{Zitat |Er und der Geldbesitzer begegnen sich auf dem Markt und treten in Verhältnis zueinander als ebenbürtige Warenbesitzer, nur dadurch unterschieden, daß der eine Käufer, der andre Verkäufer, beide also juristisch gleiche Personen sind. Die Fortdauer dieses Verhältnisses erheischt, daß der Eigentümer der Arbeitskraft sie stets nur für bestimmte Zeit verkaufe, denn verkauft er sie in Bausch und Bogen, ein für allemal, so verkauft er sich selbst, verwandelt sich aus einem Freien in einen Sklaven, aus einem Warenbesitzer in eine Ware. Er als Person muß sich beständig zu seiner Arbeitskraft als seinem Eigentum und daher seiner eignen Ware verhalten, und das kann er nur, soweit er sie dem Käufer stets nur vorübergehend, für einen bestimmten Zeittermin, zur Verfügung stellt, zum Verbrauch überläßt, also durch ihre Veräußerung nicht auf sein Eigentum an ihr verzichtet.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.182)}}<br />
<br />
'''Annahme 3 '''<br />
<br />
Voraussetzung für die Verwandlung von Geld in Kapital ist, dass es Arbeiter auf dem Warenmarkt gibt. Die Arbeiter müssen über ihre Arbeitskraft als Ware verfügen können und besitzen keine eigenen Produktionsmittel.<br />
<br />
{{Zitat |Zur Verwandlung von Geld in Kapital muß der Geldbesitzer also den freien Arbeiter auf dem Warenmarkt vorfinden, frei in dem Doppelsinn, daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, daß er andrerseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.183)}}<br />
<br />
'''Annahme 4 '''<br />
<br />
Der Wert der Ware Arbeitskraft wird gemessen an dem Wert der Summe der Lebensmittel, die der Arbeiter benötigt, um existieren zu können, sowie sich selbst fortzupflanzen. <br />
<br />
{{Zitat |Die Arbeitskraft existiert nur als Anlage des lebendigen Individuums. Ihre Produktion setzt also seine Existenz voraus. Die Existenz des Individuums gegeben, besteht die Produktion der Arbeitskraft in seiner eignen Reproduktion oder Erhaltung. Zu seiner Erhaltung bedarf das lebendige Individuum einer gewissen Summe von Lebensmitteln. Die zur Produktion der Arbeitskraft notwendige Arbeitszeit löst sich also auf in die zur Produktion dieser Lebensmittel notwendige Arbeitszeit, oder der Wert der Arbeitskraft ist der Wert der zur Erhaltung ihres Besitzers notwendigen Lebensmittel.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.185)}}<br />
<br />
'''Annahme 5 '''<br />
<br />
Besonderheit des Werts der Ware Arbeitskaft: Er ist beeinflussbar; abhängig von der Kulturstufe, den Ansprüchen, die die Arbeiter stellen, die sich historisch entwickelt haben und als natürliche Bedürfnisse gelten.<br />
<br />
{{Zitat |Die Summe der Lebensmittel muß also hinreichen, das arbeitende Individuum als arbeitendes Individuum in seinem normalen Lebenszustand zu erhalten. Die natürlichen Bedürfnisse selbst, wie Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung usw., sind verschieden je nach den klimatischen und andren natürlichen Eigentümlichkeiten eines Landes. Andrerseits ist der Umfang sog. notwendiger Bedürfnisse, wie die Art ihrer Befriedigung, selbst ein historisches Produkt und hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes, unter andrem auch wesentlich davon ab, unter welchen Bedingungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat. Im Gegensatz zu den andren Waren enthält also die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element. Für ein bestimmtes Land, zu einer bestimmten Periode jedoch, ist der Durchschnitts-Umkreis der notwendigen Lebensmittel gegeben.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.185)}}<br />
<br />
'''Annahme 6 '''<br />
<br />
Da der Wert der Ware Arbeitskraft an der Summe der Lebensmittel gemessen wird, die der Arbeiter zur Reproduktion seiner Arbeitskraft benötigt, verändert sich dieser Wert, wenn der Wert der Lebensmittel sich verändert.<br />
<br />
{{Zitat |Der Wert der Arbeitskraft löst sich auf in den Wert einer bestimmten Summe von Lebensmitteln. Er wechselt daher auch mit dem Wert dieser Lebensmittel, d. h. der Größe der zu ihrer Produktion erheischten Arbeitszeit.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.186)}}<br />
<br />
'''Annahme 7 '''<br />
<br />
Die Minimalgrenze des Werts der Ware Arbeitskraft ist erreicht, wenn ein weiteres Absenken dazu führen würde, dass die tägliche Reproduktion des Arbeiters nicht mehr gewährleistet wäre und er sterben würde. <br />
<br />
{{Zitat |Die letzte Grenze oder Minimalgrenze des Werts der Arbeitskraft wird gebildet durch den Wert einer Warenmasse, ohne deren tägliche Zufuhr der Träger der Arbeitskraft, der Mensch, seinen Lebensprozeß nicht erneuern kann, also durch den Wert der physisch unentbehrlichen Lebensmittel.<br/> Sinkt der Preis der Arbeitskraft auf dieses Minimum, so sinkt er unter ihren Wert, denn sie kann sich so nur in verkümmerter Form erhalten und entwickeln. Der Wert jeder Ware ist aber bestimmt durch die Arbeitszeit, erfordert, um sie in normaler Güte zu liefern.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.187)}}<br />
<br />
==Konstantes und variables Kapital==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Arbeitskraft, lebendige Arbeit, Kapital, Produktionsmittel, Verausgabung, Produkt, Wert, Konstantes Kapital, Variables Kapital, Verwertungsprozess, Wertzusammensetzung, Technische Zusammensetzung des Kapitals, Organische Zusammensetzung des Kapitals <br />
<br />
'''Annahme 1 '''<br />
<br />
Im Arbeitsprozess überträgt der Arbeiter den Wert der verwendeten Produktionsmittel (Rohstoffe, Hilfsstoffe, Teilwert der verwendeten Maschinen) und schafft neuen Wert durch seine hinzugefügte Arbeit.<br />
<br />
{{Zitat |Es ist also eine Naturgabe der sich betätigenden Arbeitskraft, der lebendigen Arbeit, Wert zu erhalten, indem sie Wert zusetzt, eine Naturgabe, die dem Arbeiter nichts kostet, aber dem Kapitalisten viel einbringt, die Erhaltung des vorhandnen Kapitalwerts.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.221)}}<br />
<br />
{{Zitat |In ihrer abstrakten, allgemeinen Eigenschaft also, als Verausgabung menschlicher Arbeitskraft, setzt die Arbeit des Spinners den Werten von Baumwolle und Spindel Neuwert zu, und in ihrer konkreten, besondren, nützlichen Eigenschaft als Spinnprozeß, überträgt sie den Wert dieser Produktionsmittel auf das Produkt und erhält so ihren Wert im Produkt. Daher die Doppelseitigkeit ihres Resultats in demselben Zeitpunkt. Durch das bloß quantitative Zusetzen von Arbeit wird neuer Wert zugesetzt, durch die Qualität der zugesetzten Arbeit werden die alten Werte der Produktionsmittel im Produkt erhalten.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.215)}}<br />
<br />
'''Annahme 2 '''<br />
<br />
Konstantes Kapital sind Ausgaben für Rohmaterialien, Hilfsstoffe und Arbeitsmittel, die ihre Wertgröße im Produktionsprozess nicht verändern.<br />
Variables Kapital ist die Bezahlung der Arbeitskraft. Die Arbeitskraft überträgt nicht nur ihren eigenen Wert auf das Produkt, sondern schafft zusätzlich neuen (Mehrwert), der mal größer, mal kleiner sein kann.<br />
<br />
{{Zitat |Der Überschuß des Gesamtwerts des Produkts über die Wertsumme seiner Bildungselemente ist der Überschuß des verwerteten Kapitals über den ursprünglich vorgeschoßnen Kapitalwert. Produktionsmittel auf der einen Seite, Arbeitskraft auf der andren sind nur die verschiednen Existenzformen, die der ursprüngliche Kapitalwert annahm bei Abstreifung seiner Geldform und seiner Verwandlung in die Faktoren des Arbeitsprozesses.<br/> Der Teil des Kapitals also, der sich in Produktionsmittel, d. h. in Rohmaterial, Hilfsstoffe und Arbeitsmittel umsetzt, verändert seine Wertgröße nicht im Produktionsprozeß. Ich nenne ihn daher konstanten Kapitalteil, oder kürzer: konstantes Kapital.<br/> Der in Arbeitskraft umgesetzte Teil des Kapitals verändert dagegen seinen Wert im Produktionsprozeß. Er reproduziert sein eignes Äquivalent und einen Überschuß darüber, Mehrwert, der selbst wechseln, größer oder kleiner sein kann. Aus einer konstanten Größe verwandelt sich dieser Teil des Kapitals fortwährend in eine variable. Ich nenne ihn daher variablen Kapitalteil, oder kürzer: variables Kapital. Dieselben Kapitalbestandteile, die sich vom Standpunkt des Arbeitsprozesses als objektive und subjektive Faktoren, als Produktionsmittel und Arbeitskraft unterscheiden, unterscheiden sich vom Standpunkt des Verwertungsprozesses als konstantes Kapital und variables Kapital.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.223f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Der Teil des Mehrwerts, der in Kapital verwandelt wird, teilt sich in konstantes und variables Kapital. Ein Teil wird also für den Kauf von Produktionsmitteln, der andere für den Kauf von Arbeitskräften genutzt. <br />
<br />
{{Zitat |Nach dieser Vorstellung würde aller Mehrwert, der in Kapital verwandelt wird, zu variablem Kapital. Er teilt sich vielmehr, wie der ursprünglich vorgeschoßne Wert, in konstantes Kapital und variables Kapital, in Produktionsmittel und Arbeitskraft. Arbeitskraft ist die Form, worin das variable Kapital innerhalb des Produktionsprozesses existiert. In diesem Prozeß wird sie selbst vom Kapitalisten verzehrt. Sie verzehrt durch ihre Funktion - die Arbeit - Produktionsmittel. Zugleich verwandelt sich das im Ankauf der Arbeitskraft gezahlte Geld in Lebensmittel, die nicht von der „produktiven Arbeit", sondern vom „produktiven Arbeiter" verzehrt werden.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.616)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Das Kapital teilt sich dem Wert nach in einen konstanten und einen variablen Teil. Dem Stoff nach in Produktionsmittel und Arbeitskraft. Das erste ist die Wertzusammensetzung, das zweite die technische Zusammensetzung. <br />
Diese sind in enger Wechselbeziehung. Die Wertzusammensetzung ist bestimmt durch und spiegelt die technische Zusammensetzung wider, sie ist die organische Zusammensetzung. Wenn von Zusammensetzung des Kapitals die Rede ist, ist seine organische Zusammensetzung zu verstehen. <br />
<br />
{{Zitat |Die Zusammensetzung des Kapitals ist in zweifachem Sinn zu fassen. Nach der Seite des Werts bestimmt sie sich durch das Verhältnis, worin es sich teilt in konstantes Kapital oder Wert der Produktionsmittel und variables Kapital oder Wert der Arbeitskraft, Gesamtsumme der Arbeitslöhne. Nach der Seite des Stoffs, wie er im Produktionsprozeß fungiert, teilt sich jedes Kapital in Produktionsmittel und lebendige Arbeitskraft; diese Zusammensetzung bestimmt sich durch das Verhältnis zwischen der Masse der angewandten Produktionsmittel einerseits und der zu ihrer Anwendung erforderlichen Arbeitsmenge andrerseits. Ich nenne die erstere die Wertzusammensetzung, die zweite die technische Zusammensetzung des Kapitals. Zwischen beiden besteht enge Wechselbeziehung. Um diese auszudrücken, nenne ich die Wertzusammensetzung des Kapitals, insofern sie durch seine technische Zusammensetzung bestimmt wird und deren Änderungen widerspiegelt: die organische Zusammensetzung des Kapitals. Wo von der Zusammensetzung des Kapitals kurzweg die Rede ist, ist stets seine organische Zusammensetzung zu verstehn.|(Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.640)}}<br />
<br />
==Die Mehrwertrate==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Konstantes Kapital, Variables Kapital, Mehrwertrate, Exploitationsgrad, Mehrprodukt, Mehrwert<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Damit das variable Kapital sich verwerten kann, braucht es vorgeschossenes konstantes Kapital in entsprechenden Proportionen.<br />
<br />
{{Zitat |Um einen Teil des Kapitals durch seinen Umsatz in Arbeitskraft zu verwerten, muß ein andrer Teil des Kapitals in Produktionsmittel verwandelt werden. Damit das variable Kapital funktioniere, muß konstantes Kapital in entsprechenden Proportionen, je nach dem bestimmten technischen Charakter des Arbeitsprozesses, vorgeschossen werden.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.229f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 2 '''<br />
<br />
Die Mehrwertrate (m´) bestimmt das Verhältnis des Mehrwerts (m) zu den Lohnkosten (v) oder der Mehrarbeitszeit zu der notwenigen Arbeitszeit.(m´) = Mehrwert (m) / variables Kapital (v) oder Mehrarbeitszeit / notwendige Arbeitszeit. Somit lässt sich durch die Mehrwertrate der Ausbeutungsgrad des Arbeiters durch den Kapitalisten bestimmen.<br />
<br />
{{Zitat |Der Mehrwert verhält sich zum variablen Kapital, wie die Mehrarbeit zur notwendigen, oder die Rate des Mehrwerts m (geteilt durch) v gleich Mehrarbeit (geteilt durch) Notwendige Arbeit. Beide Proportionen drücken dasselbe Verhältnis in verschiedner Form aus, das eine Mal in der Form vergegenständlichter, das andre Mal in der Form flüssiger Arbeit. Die Rate des Mehrwerts ist daher der exakte Ausdruck für den Exploitationsgrad der Arbeitskraft durch das Kapital oder des Arbeiters durch den Kapitalisten.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.231f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 3 '''<br />
<br />
Zweck der kapitalistischen Produktion ist die des Mehrwerts. Gemessen wird er nicht an der absoluten Größe des Produkts, sondern an der relativen Größe des Mehrprodukts.<br />
<br />
{{Zitat |Wie die Produktion von Mehrwert der bestimmende Zweck der kapitalistischen Produktion, so mißt nicht die absolute Größe des Produkts, sondern die relative Größe des Mehrprodukts den Höhegrad des Reichtums.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.243f.)}}<br />
<br />
==Der Arbeitstag==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Länge des Arbeitstags, Arbeitstag, notwendige Arbeit, Minimalgrenze des Arbeitstags, Maximalgrenze des Arbeitstags, Klassenkampf, Recht als Käufer/Verkäufer, Klassenkampf, Notwendigkeit der Organisierung der Arbeiter, Staatsgesetz<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Die Länge des Arbeitstags hat gewisse Schranken, in denen sie variieren kann.<br />
<br />
{{Zitat |Obgleich nun der Arbeitstag keine feste, sondern eine fließende Größe ist, kann er andrerseits nur innerhalb gewisser Schranken variieren.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.246)}}<br />
<br />
'''Annahme 2 '''<br />
<br />
In der kapitalistischen Produktionsweise kann sich der Arbeitstag nie nur auf den Teil der notwendigen Arbeit verkürzen.<br />
<br />
{{Zitat |Auf Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise kann die notwendige Arbeit […] immer nur einen Teil seines [des Arbeiters] Arbeitstages bilden, der Arbeitstag sich also nie auf dies Minimum verkürzen.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.246)}}<br />
<br />
'''Annahme 3 '''<br />
<br />
Die Maximalgrenze ist doppelt bestimmt. Der Arbeiter hat eine physische Grenze. Ein Teil des Tages muss er schlafen, essen, sich reinigen etc. Und es gibt eine moralische Grenze. Der Arbeiter braucht Zeit, geistige und soziale Bedürfnisse zu befriedigen, deren Umfang abhängig vom allgemeinen Kulturzustand ist.<br />
<br />
{{Zitat |Er ist über eine gewisse Grenze hinaus nicht verlängerbar. Diese Maximalschranke ist doppelt bestimmt. Einmal durch die physische Schranke der Arbeitskraft. Ein Mensch kann während des natürlichen Tags von 24 Stunden nur ein bestimmtes Quantum Lebenskraft verausgaben. So kann ein Pferd tagaus, tagein nur 8 Stunden arbeiten. Während eines Teils des Tags muß die Kraft ruhen, schlafen, während eines andren Teils hat der Mensch andre physische Bedürfnisse zu befriedigen, sich zu nähren, reinigen, kleiden usw. Außer dieser rein physischen Schranke stößt die Verlängrung des Arbeitstags auf moralische Schranken. Der Arbeiter braucht Zeit zur Befriedigung geistiger und sozialer Bedürfnisse, deren Umfang und Zahl durch den allgemeinen Kulturzustand bestimmt sind. Die Variation des Arbeitstags bewegt sich daher innerhalb physischer und sozialer Schranken. Beide Schranken sind aber sehr elastischer Natur und erlauben den größten Spielraum. So finden wir Arbeitstage von 8, 10, 12, 14, 16, 18 Stunden, also von der verschiedensten Länge.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.246f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Aus Sicht des Kapitalisten darf er größtmöglichen Nutzen aus seiner gekauften Ware Arbeitskraft herauszuschlagen, wie jeder andere auch aus seiner gekauften Ware. Das konstante (tote) Kapital und die Produktionsmittel sind nur da, um lebendige Arbeit einzusaugen. Das Interesse des Kapitalisten ist es sein Kapital zu verwerten und so viel Mehrwert wie möglich zu schaffen.<br/><br />
Der Kapitalist kauft den Gebrauchswert der Arbeitskraft, der Arbeiter erhält den Tauschwert. Dennoch zieht der Kapitalist Mehrwert aus diesem Tausch, der den Gesetzen des Warentauschs entspricht.<br />
<br />
{{Zitat |Der Kapitalist hat die Arbeitskraft zu ihrem Tageswert gekauft. Ihm gehört ihr Gebrauchswert während eines Arbeitstags. Er hat also das Recht erlangt, den Arbeiter während eines Tags für sich arbeiten zu lassen. Aber was ist ein Arbeitstag? Jedenfalls weniger als ein natürlicher Lebenstag. Um wieviel? Der Kapitalist hat seine eigne Ansicht über dies ultima Thüle, die notwendige Schranke des Arbeitstags. Als Kapitalist ist er nur personifiziertes Kapital. Seine Seele ist die Kapitalseele. Das Kapital hat aber einen einzigen Lebenstrieb, den Trieb, sich zu verwerten, Mehrwert zu schaffen, mit seinem konstanten Teil, den Produktionsmitteln, die größtmögliche Masse Mehrarbeit einzusaugen. Das Kapital ist verstorbne Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt. Die Zeit, während deren der Arbeiter arbeitet, ist die Zeit, während deren der Kapitalist die von ihm gekaufte Arbeitskraft konsumiert. Konsumiert der Arbeiter seine disponible Zeit für sich selbst, so bestiehlt er den Kapitalisten. <br/> Der Kapitalist beruft sich also auf das Gesetz des Warenaustausches. Er, wie jeder andre Käufer, sucht den größtmöglichen Nutzen aus dem Gebrauchswert seiner Ware herauszuschlagen.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.223f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 5'''<br />
<br />
Stillliegendes konstantes Kapital bringt Verlust. Die Ausdehnung der Arbeitszeit in die Nacht hinein und generell auf alle 24 Stunden des Tages ist Trieb der kapitalistischen Produktion.<br />
<br />
{{Zitat |Das konstante Kapital, die Produktionsmittel, sind, vom Standpunkt des Verwertungsprozesses betrachtet, nur da, um Arbeit und mit jedem Tropfen Arbeit ein proportionelles Quantum Mehrarbeit einzusaugen. Soweit sie das nicht tun, bildet ihre bloße Existenz einen negativen Verlust für den Kapitalisten, denn sie repräsentieren während der Zeit, wo sie brachliegen, nutzlosen Kapitalvorschuß, und dieser Verlust wird positiv, sobald die Unterbrechung zusätzliche Auslagen nötig macht für den Wiederbeginn des Werks. Die Verlängrung des Arbeitstags über die Grenzen des natürlichen Tags in die Nacht hinein wirkt nur als Palliativ, stillt nur annähernd den Vampyrdurst nach lebendigem Arbeitsblut. Arbeit während aller 24 Stunden des Tags anzueignen ist daher der immanente Trieb der kapitalistischen Produktion.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.271f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 6'''<br />
<br />
Von den elastischen Schranken abgesehen, gibt es keine Grenze des Arbeitstages. Der Kapitalist als Käufer will den Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft so lange wie möglich nutzen. Der Arbeiter als Verkäufer behauptet sein Recht, den Arbeitstag auf eine Normalgröße zu beschränken. <br />
Hier bringt die kapitalistische Produktionsweise also den Klassenkampf hervor, damit einhergehend auch die Formierung der vielen einzelnen Kapitalisten zur Bourgeoisie und die Formierung der vielen einzelnen Angehörigen der Arbeiterklasse zu einer gemeinsam handelnden Arbeiterklasse.<br />
<br />
{{Zitat |Man sieht: Von ganz elastischen Schranken abgesehn, ergibt sich aus der Natur des Warenaustausches selbst keine Grenze des Arbeitstags, also keine Grenze der Mehrarbeit. Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als möglich und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andrerseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar – ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d.h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.249)}}<br />
<br />
'''Annahme 7'''<br />
<br />
Historisch zeigt sich die Notwendigkeit des Zusammenschlusses der Arbeiter als Klasse um einen Normalarbeitstag zu erreichen. Ab einer gewissen Reifestufe der kapitalistischen Produktion ist der einzelne Arbeiter machtlos. <br />
<br />
{{Zitat |Die Geschichte der Reglung des Arbeitstags in einigen Produktionsweisen, in andren der noch fortdauernde Kampf um diese Reglung, beweisen handgreiflich, daß der vereinzelte Arbeiter, der Arbeiter als ‚freier‘ Verkäufer seiner Arbeitskraft, auf gewisser Reifestufe der kapitalistischen Produktion, widerstandslos unterliegt. Die Schöpfung eines Normalarbeitstags ist daher das Produkt eines langwierigen, mehr oder minder versteckten Bürgerkriegs zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.316)}}<br />
<br />
'''Annahme 8'''<br />
<br />
Die Arbeiter als Klasse müssen zu ihrem eigenen Schutze ein Staatsgesetz erzwingen, ein Vertrag mit den Kapitalisten eingehen, um sich nicht individuell zu Tode zu arbeiten. <br />
<br />
{{Zitat |Zum ‚Schutz‘ gegen die Schlange ihrer Qualen müssen die Arbeiter ihre Köpfe zusammenrotten und als Klasse ein Staatsgesetz erzwingen, ein übermächtiges gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert, durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.320)}}<br />
<br />
'''Annahme 9'''<br />
<br />
Der Kapitalist passt auf, dass der Arbeiter mit Intensität Arbeit verrichtet.<br />
Kapital wird zum Zwangsverhältnis, welches die Arbeiterklasse nötigt, mehr Arbeit zu verrichten, als der enge Kreis der Lebensbedürfnisse vorschrieb. <br/> Hoher Grad der Ausbeutung der Arbeitskraft.<br />
<br />
{{Zitat |Innerhalb des Produktionsprozesses entwickelte sich das Kapital zum Kommando über die Arbeit, d.h. über die sich betätigende Arbeitskraft oder den Arbeiter selbst. Das personifizierte Kapital, der Kapitalist, paßt auf, daß der Arbeiter sein Werk ordentlich und mit dem gehörigen Grad von Intensität verrichte. Das Kapital entwickelte sich ferner zu einem Zwangsverhältnis, welches die Arbeiterklasse nötigt, mehr Arbeit zu verrichten, als der enge Umkreis ihrer eignen Lebensbedürfnisse vorschrieb. Und als Produzent fremder Arbeitsamkeit, als Auspumper von Mehrarbeit und Exploiteur von Arbeitskraft übergipfelt es an Energie, Maßlosigkeit und Wirksamkeit alle frühern auf direkter Zwangsarbeit beruhenden Produktionssysteme.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.328)}}<br />
<br />
'''Annahme 10'''<br />
<br />
Produktionsmittel wenden den Arbeiter an. Sie verzehren ihn als Element ihres eigenen Lebensprozesses, als Lebensprozess des Kapitals. Das bedeutet die Verkehrung der Verhältnisses von toter und lebendiger Arbeit.<br />
<br />
{{Zitat |Es ist nicht mehr der Arbeiter, der die Produktionsmittel anwendet, sondern es sind die Produktionsmittel, die den Arbeiter anwenden. Statt von ihm als stoffliche Elemente seiner produktiven Tätigkeit verzehrt zu werden, verzehren sie ihn als Ferment ihres eignen Lebensprozesses, und der Lebensprozeß des Kapitals besteht nur in seiner Bewegung als sich selbst verwertender Wert. Schmelzöfen und Arbeitsgebäude, die des Nachts ruhn und keine lebendige Arbeit einsaugen, sind ‚reiner Verlust‘ (‚mere loss‘) für den Kapitalisten. Darum konstituieren Schmelzöfen und Arbeitsgebäude einen ‚Anspruch auf die Nachtarbeit‘ der Arbeitskräfte. Die bloße Verwandlung des Geldes in gegenständliche Faktoren des Produktionsprozesses, in Produktionsmittel, verwandelt letztre in Rechtstitel und Zwangstitel auf fremde Arbeit und Mehrarbeit.<br/> Wie diese der kapitalistischen Produktion eigentümliche und sie charakterisierende Verkehrung, ja Verrückung des Verhältnisses von toter und lebendiger Arbeit, von Wert und wertschöpferischer Kraft, sich im Bewusstsein der Kapitalistenköpfe abspiegelt [...]| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.329)}}<br />
<br />
==Der Arbeitslohn==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Preis der Arbeitskraft, Wert der Arbeitskraft, Verelendung der Arbeiterklasse, bezahlte Arbeit, unbezahlte Arbeit, notwendige Arbeit, Mehrarbeit, Stundenlohn<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Der Wert der Arbeitskraft ist bestimmt durch den Wert der gewohnheitsmäßig notwendigen Lebensmittel des Durchschnittsarbeiters.<br/> Die relativen Größen von Preis der Arbeitskraft und von Mehrwert werden durch drei Umstände bedingt: 1. die Länge des Arbeitstags, 2. die Intensität der Arbeit und 3. endlich die Produktivkraft der Arbeit.<br />
<br />
{{Zitat |Der Wert der Arbeitskraft ist bestimmt durch den Wert der gewohnheitsmäßig notwendigen Lebensmittel des Durchschnittsarbeiters. Die Masse dieser Lebensmittel, obgleich ihre Form wechseln mag, ist in einer bestimmten Epoche einer bestimmten Gesellschaft gegeben und daher als konstante Größe zu behandeln. Was wechselt, ist der Wert dieser Masse. Zwei andre Faktoren gehn in die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein. Einerseits ihre Entwicklungskosten, die sich mit der Produktionsweise ändern, andrerseits ihre Naturdifferenz, ob sie männlich oder weiblich, reif oder unreif. Der Verbrauch dieser differenten Arbeitskräfte, wieder bedingt durch die Produktionsweise, macht großen Unterschied in den Reproduktionskosten der Arbeiterfamilie und dem Wert des erwachsnen männlichen Arbeiters. Beide Faktoren bleiben jedoch bei der folgenden Untersuchung ausgeschlossen . Wir unterstellen. 1. daß die Waren zu ihrem Wert verkauft werden, 2. daß der Preis der Arbeitskraft wohl gelegentlich über ihren Wert steigt, aber nie unter ihn sinkt. <br/> Dies einmal unterstellt, fand sich, daß die relativen Größen von Preis der Arbeitskraft und von Mehrwert durch drei Umstände bedingt sind: 1. die Länge des Arbeitstags oder die extensive Größe der Arbeit; 2. die normale Intensität der Arbeit oder ihre intensive Größe, so daß ein bestimmtes Arbeitsquantum in bestimmter Zeit verausgabt wird; 3. endlich die Produktivkraft der Arbeit, so daß je nach dem Entwicklungsgrad der Produktionsbedingungen dasselbe Quantum Arbeit in derselben Zeit ein größeres oder kleineres Quantum Produkt liefert.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.542)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Der Preis der Arbeitskraft könnte bei steigender Produktivkraft sinken, bei gleichzeitigem Wachstum der Lebensmittelmasse des Arbeiters. Aber im Vergleich zum Mehrwert sänke der Arbeitslohn. Die Kluft zwischen den Lebenslagen der Arbeiter und Kapitalisten wächst.<br />
<br />
{{Zitat |Der Preis der Arbeitskraft könnte so bei steigender Produktivkraft der Arbeit beständig fallen mit gleichzeitigem, fortwährendem Wachstum der Lebensmittelmasse des Arbeiters. Relativ aber, d.h. verglichen mit dem Mehrwert, sänke der Wert der Arbeitskraft beständig und erweiterte sich also die Kluft zwischen den Lebenslagen von Arbeiter und Kapitalist.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.546)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Die Form des Arbeitslohn verschleiert die Teilung des Arbeitstages in bezahlte und unbezahlte Arbeit.<br />
<br />
{{Zitat|Die Form des Arbeitslohns löscht also jede Spur der Teilung des Arbeitstags in notwendige Arbeit und Mehrarbeit, in bezahlte und unbezahlte Arbeit aus. Alle Arbeit erscheint als bezahlte Arbeit.|(Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.562f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Bei Zahlung einzelner Arbeitsstunden wird der Zusammenhang zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit aufgehoben. Dem Arbeiter ist nicht garantiert auf die notwendige Arbeitszeit zu kommen um seine Selbsterhaltung zu gewährleisten.<br />
<br />
{{Zitat |Wird der Stundenlohn in der Weise fixiert, daß der Kapitalist sich nicht zur Zahlung eines Tages- oder Wochenlohns verpflichtet, sondern nur zur Zahlung der Arbeitsstunden, während deren es ihm beliebt, den Arbeiter zu beschäftigen, so kann er ihn unter der Zeit beschäftigen, die der Schätzung des Stundenlohns oder der Maßeinheit für den Preis der Arbeit ursprünglich zugrunde liegt. Da diese Maßeinheit bestimmt ist durch die Proportion Tageswert der Arbeitskraft/Arbeitstag von gegebener Stundenzahl, verliert sie natürlich allen Sinn, sobald der Arbeitstag aufhört, eine bestimmte Stundenzahl zu zählen. Der Zusammenhang zwischen der bezahlten und unbezahlten Arbeit wird aufgehoben. Der Kapitalist kann jetzt ein bestimmtes Quantum Mehrarbeit aus dem Arbeiter herausschlagen, ohne ihm die zu seiner Selbsterhaltung notwendige Arbeitszeit einzuräumen.|(Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.568)}}<br />
<br />
==Produktive und unproduktive Arbeit im Kapitalismus==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Produktive Arbeit, Mehrwert, Kaufmann, Kaufmannskapital, Zirkulationsprozess, Wert, industrielles Kapital, unbezahlte Arbeit, Zirkulationskosten, Profitrate, Kopfarbeit,<br />
Handarbeit, Gesamtarbeiter<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Für die Bourgoisie ist produktive Arbeit die, die Mehrwert schafft, die sich also in Kapital verwandelt.<br />
<br />
{{Zitat |Bloß die bürgerliche Borniertheit, die die kapitalistische Formen der Produktion für die absoluten Formen derselben hält – daher für ewige Naturformen der Produktion – kann die Frage, was produktive Arbeit vom Standpunkt des Kapitals aus ist, mit der Frage, welche Arbeit überhaupt produktiv ist oder was produktive Arbeit überhaupt ist, verwechseln und daher sich sehr weise dünken in der Antwort, daß jede Arbeit, die überhaupt etwas produziert, in irgendetwas resultiert, von sich aus produktive Arbeit ist. [...] Nur die Arbeit, die sich direkt in Kapital verwandelt, ist produktiv; [...] Arbeit, die Mehrwert setzt oder dem Kapital als Hebel dient, Mehrwert zu setzen und daher sich als Kapital, als sich verwertenden Wert zu setzen.| (Marx, Theorien über den Mehrwert I, MEW Band 26, S.369)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Es gibt gesellschaftlich notwendige Bereiche, die keine Werte – und damit keinen Mehrwert – schaffen, weil sich die dort geleistete Arbeit nicht in Produkten materialisiert. Unproduktive Arbeit hat den Nutzen, einen geringeren Teil der Arbeitskraft der Gesellschaft zu binden.<br />
<br />
{{Zitat |Er [der Kaufmann] verrichtet eine notwendige Funktion, weil der Reproduktionsprozess selbst unproduktive Funktionen einschließt. Er arbeitet so gut wie ein anderer, aber der Inhalt seiner Arbeit schafft weder Wert noch Produkt. Er selbst gehört zu den faux frais der Produktion. Sein Nutzen besteht nicht darin, eine unproduktive in eine produktive zu verwandeln, oder unproduktive Arbeit in produktive. […] Sein Nutzen besteht vielmehr darin, dass ein geringerer Teil der Arbeitskraft und Arbeitszeit der Gesellschaft in dieser unproduktiven Form gebunden wird.| (Marx, Kapital 2.Band, MEW Band 24, S.133f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Im Zirkulationsprozess wird kein Wert und damit kein Mehrwert produziert.<br />
<br />
{{Zitat |Das Kaufmannskapital ist nichts als innerhalb der Zirkulationssphäre fungierendes Kapital. Der Zirkulationsprozeß ist eine Phase des gesamten Reproduktionsprozesses. Aber im Zirkulationsprozeß wird kein Wert produziert, also auch kein Mehrwert.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.290)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Das industrielle Kapital produziert den Mehrwert durch direkte Aneignung unbezahlter, fremder Arbeit. Das Kaufmannskapital eignet sich einen Teil dieses Mehrwerts an.<br />
<br />
{{Zitat |Das Verhältnis des Kaufmannskapitals zum Mehrwert ist ein anderes als das des industriellen Kapitals. Das letztere produziert den Mehrwert durch direkte Aneignung unbezahlter fremder Arbeit. Das erstere eignet sich einen Teil dieses Mehrwerts an, indem es diesen Teil vom industriellen Kapital auf sich übertragen lässt.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.304)}}<br />
<br />
'''Annahme 5'''<br />
<br />
Dem industriellen Kapital sind die Zirkulationskosten Unkosten, für das Handelskapital Quelle des Profits.<br />
<br />
{{Zitat |Dem industriellen Kapital erscheinen und sind die Zirkulationskosten Unkosten. Dem Kaufmann erscheinen sie als Quelle seines Profits, der – die allgemeine Profitrate vorausgesetzt – im Verhältnis zur Größe derselben steht.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.313.)}}<br />
<br />
'''Annahme 6'''<br />
<br />
Im kooperativen Arbeitsprozess wird unterteilt in Hand- und Kopfarbeit. Im Sinne des Gesamtarbeiters verrichten aber beide Teile produktive Arbeit.<br />
<br />
{{Zitat |Wie im Natursystem Kopf und Hand zusammengehören, vereint der Arbeitsprozeß Kopfarbeit und Handarbeit. Später scheiden sie sich bis zum feindlichen Gegensatz. Das Produkt verwandelt sich überhaupt aus dem unmittelbaren Produkt des individuellen Produzenten in ein gesellschaftliches, in das gemeinsame Produkt eines Gesamtarbeiters, d.h. eines kombinierten Arbeitspersonals, dessen Glieder der Handhabung des Arbeitsgegenstandes näher oder ferner stehn. Mit dem kooperativen Charakter des Arbeitsprozesses selbst erweitert sich daher notwendig der Begriff der produktiven Arbeit und ihres Trägers, des produktiven Arbeiters. Um produktiv zu arbeiten, ist es nun nicht mehr nötig, selbst Hand anzulegen; es genügt, Organ des Gesamtarbeiters zu sein, irgendeine seiner Unterfunktionen zu vollziehn.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.531)}}<br />
<br />
==Absolute Mehrwertproduktion==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Exploitationsgrad, variables Kapital<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Unter absoluter Mehrwertproduktion versteht Marx die Verschärfung der Ausbeutung durch die Verlängerung des Arbeitstages, damit also der Verlängerung der Mehrarbeit, und durch die Abnahme der beschäftigten Arbeiter.<br />
<br />
{{Zitat |Verminderung des variablen Kapitals ist […] ausgleichbar durch proportionelle Erhöhung im Exploitationsgrad der Arbeitskraft oder die Abnahme in der Anzahl der beschäftigten Arbeiter durch proportionelle Verlängerung des Arbeitstags.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.322f.)}}<br />
<br />
{{Zitat |Durch Verlängrung des Arbeitstags produzierten Mehrwert nenne ich absoluten Mehrwert; […]| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.334)}}<br />
<br />
==Relative Mehrwertproduktion==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Länge des Arbeitstags, Mehrwertproduktion, Mehrarbeit, notwendige Arbeit, relativer Mehrwert, Notwendige Arbeit, Wert der Arbeitskraft, Produktivkraftentwicklung, Produktivkraftsteigerung, Mehrwertrate<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Wenn der Teil der Arbeitszeit, den der Arbeiter für seine Reproduktion braucht (notwendige Arbeitszeit), verkürzt wird, ohne dass sich die gesamte Arbeitszeit reduziert, erzielt der Kapitalist eine relative Mehrwertsteigerung. Die Verlängerung des Arbeitstages führt zu einer absoluten Mehrwertsteigerung.<br />
<br />
{{Zitat |Wie kann nun die Produktion von Mehrwert vergrößert, d.h. die Mehrarbeit verlängert werden, ohne jede weitere Verlängrung oder unabhängig von jeder weiteren Verlängrung [des Arbeitstages] […]?| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.331)}}<br />
<br />
{{Zitat |Der Verlängrung der Mehrarbeit entspräche die Verkürzung der notwendigen Arbeit, oder ein Teil der Arbeitszeit, die der Arbeiter bisher in der Tat für sich selbst verbraucht, verwandelt sich in Arbeitszeit für den Kapitalisten. Was verändert, wäre nicht die Länge des Arbeitstags, sondern seine Teilung in notwendige Arbeit und Mehrarbeit.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.321f.)}}<br />
<br />
{{Zitat |Durch Verlängrung des Arbeitstags produzierten Mehrwert nenne ich absoluten Mehrwert; den Mehrwert dagegen, der aus Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit und entsprechender Verändrung im Größenverhältnis der beiden Bestandteile des Arbeitstags entspringt – relativen Mehrwert| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.334)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Die notwendige Arbeitszeit kann sich nur verkürzen, wenn der Wert der Ware Arbeitskraft sinkt. Dieser kann nur sinken, wenn die Masse Lebensmittel in kürzerer Arbeitszeit hergestellt wird und damit geringeren Wert hat. Dies ist jedoch ohne eine Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit unmöglich.<br />
<br />
{{Zitat |Bei gegebner Länge des Arbeitstags muß die Verlängrung der Mehrarbeit aus der Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit entspringen, […] in unsrem Beispiel muß der Wert der Arbeitskraft wirklich um ein Zehntel sinken, damit die notwendige Arbeitszeit um ein Zehntel abnehme, von 10 auf 9 Stunden, und daher die Mehrarbeit sich von 2 auf 3 Stunden verlängre. Eine solche Senkung des Werts der Arbeitskraft um ein Zehntel bedingt aber ihrerseits, daß dieselbe Masse Lebensmittel, die früher in 10, jetzt in 9 Stunden produziert wird. Dies ist jedoch unmöglich ohne eine Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit. […] Unter Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit verstehn wir hier überhaupt eine Verändrung im Arbeitsprozeß, wodurch die zur Produktion einer Ware gesellschaftlich erheischte Arbeitszeit verkürzt wird, ein kleinres Quantum Arbeit also die Kraft erwirbt, ein größres Quantum Gebrauchswert zu produzieren. Während also bei der Produktion des Mehrwerts in der bisher betrachteten Form die Produktionsweise als gegeben unterstellt war, genügt es für die Produktion von Mehrwert durch Verwandlung notwendiger Arbeit in Mehrarbeit keineswegs, daß das Kapital sich des Arbeitsprozesses in seiner historisch überlieferten oder vorhandnen Gestalt bemächtigt und nur seine Dauer verlängert. Es muß die technischen und gesellschaftlichen Bedingungen des Arbeitsprozesses, also die Produktionsweise selbst umwälzen, um die Produktivkraft der Arbeit zu erhöhn, durch die Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit den Wert der Arbeitskraft zu senken und so den zur Reproduktion dieses Werts notwendigen Teil des Arbeitstags zu verkürzen.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.333f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Die Steigerung der Produktivkraft muss Industriezweige betreffen, deren Produkte den Wert der Arbeitskraft bestimmen.<br />
<br />
{{Zitat |Um den Wert der Arbeitskraft zu senken, muß die Steigerung der Produktivkraft Industriezweige ergreifen, deren Produkte den Wert der Arbeitskraft bestimmen, also entweder dem Umkreis der gewohnheitsmäßigen Lebensmittel angehören oder sie ersetzen können.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.334)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Der Wert der Ware Arbeitskraft nimmt ab mit der zu seiner Reproduktion notwendigen Arbeitszeit, deren Gesamtverkürzung gleich der Summe ihrer Verkürzungen in allen jenen besonderen Produktionszweigen ist. Wenn ein einzelner Kapitalist durch Steigerung der Produktivkraft der Arbeit z. B. Hemden verbilligt, schwebt ihm keineswegs notwendig der Zweck vor, den Wert der Arbeitskraft und daher die notwendige Arbeitszeit pro tanto zu senken, aber nur soweit er schließlich zu diesem Resultat beiträgt, trägt er zur Erhöhung der allgemeinen Rate des Mehrwerts bei. Die allgemeinen Bewegungsgesetze des Kapitals setzen sich hinter dem Rücken der Menschen durch, ohne dass sie den Kapitalisten bewusst sind, aber immer im Sinne der Steigerung des Werts.<br />
<br />
{{Zitat |Die verwohlfeilerte Ware senkt natürlich den Wert der Arbeitskraft nur pro tanto, d.h. nur im Verhältnis, worin sie in die Reproduktion der Arbeitskraft eingeht. Hemden z.B. sind ein notwendiges Lebensmittel, aber nur eins von vielen. Ihre Verwohlfeilerung vermindert bloß die Ausgabe des Arbeiters für Hemden. Die Gesamtsumme der notwendigen Lebensmittel besteht jedoch nur aus verschiednen Waren, lauter Produkten besondrer Industrien, und der Wert jeder solchen Ware bildet stets einen aliquoten Teil vom Wert der Arbeitskraft. Dieser Wert nimmt ab mit der zu seiner Reproduktion notwendigen Arbeitszeit, deren Gesamtverkürzung gleich der Summe ihrer Verkürzungen in allen jenen besondren Produktionszweigen ist.<br/> Wir behandeln dies allgemeine Resultat hier so, als wäre es unmittelbares Resultat und unmittelbarer Zweck in jedem einzelnen Fall. Wenn ein einzelner Kapitalist durch Steigerung der Produktivkraft der Arbeit z.B. Hemden verwohlfeilert, schwebt ihm keineswegs notwendig der Zweck vor, den Wert der Arbeitskraft und daher die notwendige Arbeitszeit pro tanto zu senken, aber nur soweit er schließlich zu diesem Resultat beiträgt, trägt er bei zur Erhöhung der allgemeinen Rate des Mehrwerts. Die allgemeinen und notwendigen Tendenzen des Kapitals sind zu unterscheiden von ihren Erscheinungsformen.<br/> Die Art und Weise, wie die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion in der äußern Bewegung der Kapitale erscheinen, sich als Zwangsgesetze der Konkurrenz geltend machen und daher als treibende Motive dem individuellen Kapitalisten zum Bewußtsein kommen, ist jetzt nicht zu betrachten, aber soviel erhellt von vornherein: Wissenschaftliche Analyse der Konkurrenz ist nur möglich, sobald die innere Natur des Kapitals begriffen ist, ganz wie die scheinbare Bewegung der Himmelskörper nur dem verständlich, der ihre wirkliche, aber sinnlich nicht wahrnehmbare Bewegung kennt. Dennoch ist zum Verständnis der Produktion des relativen Mehrwerts und bloß auf Grundlage der bereits gewonnenen Resultate folgendes zu bemerken.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.334f.)}}<br />
<br />
==Die Jagd nach dem Extraprofit==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Produktivkraftsteigerung, Wert der Ware, Extramehrwert, Wert der Arbeitskraft, Produktivkraftentwicklung, relativer Mehrwert, Extramehrwert<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Wenn es einem Kapitalisten gelingt, die Produktivkraft zu steigern, produziert er mehr Waren in gegebener Zeit. Der individuelle Wert einer dieser Waren steht nun unter ihrem gesellschaftlichen Wert, d. h., sie kostet weniger Arbeitszeit als der große Haufen derselben Artikel, produziert unter den gesellschaftlichen Durchschnittsbedingungen. Der wirkliche Wert einer Ware ist aber nicht ihr individueller, sondern ihr gesellschaftlicher Wert, d. h., er wird nicht durch die Arbeitszeit gemessen, die sie im einzelnen Fall den Produzenten tatsächlich kostet, sondern durch die gesellschaftlich zu ihrer Produktion erheischte Arbeitszeit. Verkauft also der Kapitalist, der die neue Methode anwendet, seine Ware zu ihrem gesellschaftlichen Wert, kann er Extramehrwert realisieren. Diese Steigerung des Mehrwerts findet für ihn statt, ob oder ob nicht seine Ware dem Umkreis der notwendigen Lebensmittel angehört und daher bestimmend in den allgemeinen Wert der Arbeitskraft eingeht.<br />
<br />
{{Zitat |Stellt sich eine Arbeitsstunde in einem Goldquantum von 6 d. oder einen halben sh. dar, so wird in zwölfstündigem Arbeitstag ein Wert von 6 sh. produziert. Gesetzt, mit der gegebnen Produktivkraft der Arbeit würden 12 Stück Waren in diesen 12 Arbeitsstunden verfertigt. Der Wert der in jedem Stück vernutzten Produktionsmittel, Rohmaterial usw. sei 6 d. Unter diesen Umständen kostet die einzelne Ware 1 sh., nämlich 6 d. für den Wert der Produktionsmittel, 6 d. für den in ihrer Verarbeitung neu zugesetzten Wert.<br/> Es gelinge nun einem Kapitalisten, die Produktivkraft der Arbeit zu verdoppeln und daher 24 statt 12 Stück dieser Warenart in dem zwölfstündigen Arbeitstag zu produzieren. Bei unverändertem Wert der Produktionsmittel sinkt der Wert der einzelnen Ware jetzt auf 9 d., nämlich 6 d. für den Wert der Produktionsmittel, 3 d. für den durch die letzte Arbeit neu zugesetzten Wert. Trotz der verdoppelten Produktivkraft schafft der Arbeitstag nach wie vor nur einen Neuwert von 6 sh., welcher sich jedoch jetzt auf doppelt soviel Produkte verteilt. Auf jedes einzelne Produkt fällt daher nur noch ein Vierundzwanzigstel statt ein Zwölftel dieses Gesamtwerts, 3 d. statt 6 d. oder, was dasselbe ist, den Produktionsmitteln wird bei ihrer Verwandlung in Produkt, jedes Stück berechnet, jetzt nur noch eine halbe statt wie früher eine ganze Arbeitsstunde zugesetzt.<br/> Der individuelle Wert dieser Ware steht nun unter ihrem gesellschaftlichen Wert, d.h., sie kostet weniger Arbeitszeit als der große Haufen derselben Artikel, produziert unter den gesellschaftlichen Durchschnittsbedingungen. Das Stück kostet im Durchschnitt 1 sh. oder stellt 2 Stunden gesellschaftlicher Arbeit dar; mit der veränderten Produktionsweise kostet es nur 9 d. oder enthält nur IV2 Arbeitsstunden. <br/> Der wirkliche Wert einer Ware ist aber nicht ihr individueller, sondern ihr gesellschaftlicher Wert, d.h., er wird nicht durch die Arbeitszeit gemessen, die sie im einzelnen Fall dem Produzenten tatsächlich kostet, sondern durch die gesellschaftlich zu ihrer Produktion erheischte Arbeitszeit.<br/> Verkauft also der Kapitalist, der die neue Methode anwendet, seine Ware zu ihrem gesellschaftlichen Wert von 1 sh., so verkauft er sie 3 d. über ihrem individuellen Wert und realisiert so einen Extramehrwert von 3 d. Andrerseits stellt sich aber der zwölfstündige Arbeitstag jetzt für ihn in 24 Stück Ware dar statt früher in 12. Um also das Produkt eines Arbeitstags zu verkaufen, bedarf er doppelten Absatzes oder eines zweifach größern Markts. Unter sonst gleichbleibenden Umständen erobern seine Waren nur größern Marktraum durch Kontraktion ihrer Preise. Er wird sie daher über ihrem individuellen, aber unter ihrem gesellschaftlichen Wert verkaufen, sage zu 10 d. das Stück. So schlägt er an jedem einzelnen Stück immer noch einen Extramehrwert von 1 d. heraus. Diese Steigerung des Mehrwerts findet für ihn statt, ob oder ob nicht seine Ware dem Umkreis der notwendigen Lebensmittel angehört und daher bestimmend in den allgemeinen Wert der Arbeitskraft eingeht.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.335f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Mit der Produktivkraftentwicklung wächst der relative Mehrwert, während der Wert der Ware Arbeitskraft sinkt. Somit ist der immanente Trieb und die beständige Tendenz des Kapitals, die Produktivkräfte der Arbeit zu steigern, um die Ware und durch die Vergünstigung der Ware den Arbeiter selbst zu vergünstigen, zu erklären.<br />
<br />
{{Zitat |Es ist daher der immanente Trieb und die beständige Tendenz des Kapitals, die Produktivkraft der Arbeit zu steigern, um die Ware und durch die Verwohlfeilerung der Ware den Arbeiter selbst zu verwohlfeilern.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.338)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Der absolute Wert der Ware ist dem Kapitalisten gleichgültig. Ihn interessiert nur der Mehrwert. Der relative Mehrwert steigt durch die Produktivkraft der Arbeit, der Wert der Waren sinkt dagegen. Dem Kapitalisten geht es nur um die Produktion von Tauschwert, er will den Tauschwert der Waren beständig senken.<br />
<br />
{{Zitat |Der absolute Wert der Ware ist dem Kapitalisten, der sie produziert, an und für sich gleichgültig. Ihn interessiert nur der in ihr steckende und im Verkauf realisierbare Mehrwert. Realisierung von Mehrwert schließt von selbst Ersatz des vorgeschoßnen Werts ein. Da nun der relative Mehrwert in direktem Verhältnis zur Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit wächst, während der Wert der Waren in umgekehrtem Verhältnis zur selben Entwicklung fällt, da also derselbe identische Prozeß die Waren verwohlfeilert und den in ihnen enthaltnen Mehrwert steigert, löst sich das Rätsel, daß der Kapitalist, dem es nur um die Produktion von Tauschwert zu tun ist, den Tauschwert der Waren beständig zu senken strebt, […]| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.338f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Der Extramehrwert verschwindet, sobald sich die neue Produktionsweise verallgemeinert und bestimmend ist für den gesellschaftlichen Wert der Ware.<br />
<br />
{{Zitat |Andrerseits aber verschwindet jener Extramehrwert, sobald die neue Produktionsweise sich verallgemeinert und damit die Differenz Zwischen dem individuellen Wert der wohlfeiler produzierten Waren und ihrem gesellschaftlichen Wert verschwindet.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.337)}}<br />
<br />
==Die Profitrate==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Profit, Kapital, Mehrwert, Kapitalverhältnis, Konstantes Kapital, variables Kapital, Profitrate, Mehrwertrate<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Der Kapitalist kann keinen Unterschied zwischen konstantem und variablen Kapital erkennen, da er nur sieht, dass er für beide Ausgaben Kapital vorschießen muss. So misst er den Grad des Gewinns an der Differenz von Ausgaben und Überschuss = Profit.<br/> Die Wertveränderung, die sich während des Produktionsprozesses ereignet, wird vom variablen Kapital in das Gesamtkapital verlegt.<br/> Der Profit ist zunächst dasselbe wie der Mehrwert, nur in mystifizierter Form, die aus der kapitalistischen Produktionsweise entsteht.<br />
<br />
{{Zitat |1=Als solcher vorgestellter Abkömmling des vorgeschoßnen Gesamtkapitals erhält der Mehrwert die verwandelte Form des Profits. Eine Wertsumme ist daher Kapital, weil sie ausgelegt wird, um einen Profit zu erzeugen, oder der Profit kommt heraus, weil eine Wertsumme als Kapital angewandt wird. Nennen wir den Profit p, so verwandelt sich die Formel W = c + v + m = k + m in die Formel W = k + p oder Warenwert = Kostpreis + Profit. Der Profit, wie wir ihn hier zunächst vor uns haben, ist also dasselbe, was der Mehrwert ist, nur in einer mystifizierten Form, die jedoch mit Notwendigkeit aus der kapitalistischen Produktionsweise herauswächst. Weil in der scheinbaren Bildung des Kostpreises kein Unterschied zwischen konstantem und variablem Kapital zu erkennen ist, muß der Ursprung der Wertveränderung, die während des Produktionsprozesses sich ereignet, von dem variablen Kapitalteil in das Gesamtkapital verlegt werden.| 2=(Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.46)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Weil alle Teile des Kapitals gleichmäßig als Quelle des Profits erscheinen, wird das Kapitalverhältnis mystifiziert.<br />
<br />
{{Zitat |Indem alle Teile des Kapitals gleichmäßig als Quelle des überschüssigen Werts (Profits) erscheinen, wird das Kapitalverhältnis mystifiziert.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.55)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Der Kapitalist kann keinen Unterschied zwischen konstantem und variablem Kapital erkennen, da er nur sieht, dass er für beide Ausgaben Kapital vorschießen muss. So misst er den Grad des Gewinns an der Differenz von Ausgaben und Überschuss = Profit.<br />
<br />
{{Zitat |Da der Kapitalist die Arbeit nur exploitieren kann durch Vorschuß des konstanten Kapitals, da er das konstante Kapital nur verwerten kann durch Vorschuß des variablen, so fallen ihm diese in der Vorstellung alle gleichmäßig zusammen, und dies um so mehr, als der wirkliche Grad seines Gewinns bestimmt ist nicht durch das Verhältnis zum variablen Kapital, sondern zum Gesamtkapital, nicht durch die Rate des Mehrwerts, sondern durch die Rate des Profits, die, wie wir sehn werden, dieselbe bleiben, und doch verschiedne Raten des Mehrwerts ausdrücken kann.<br/> Zu den Kosten des Produkts gehören alle seine Wertbestandteile, die der Kapitalist gezahlt, oder für die er ein Äquivalent in die Produktion geworfen hat. Diese Kosten müssen ersetzt werden, damit das Kapital sich einfach erhalte oder in seiner ursprünglichen Größe reproduziere.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.52)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Der Profit des Kapitalisten kommt daher, dass er etwas zu verkaufen hat, das er nicht bezahlt hat. Der Mehrwert resp. Profit besteht gerade in dem Überschuss des Warenwerts über ihren Kostpreis, d. h. in dem Überschuss der in der Ware enthaltenen Gesamtsumme von Arbeit über die in ihr enthaltene bezahlte Summe Arbeit. Dieser Überschuss steht also in einem Verhältnis zum Gesamtkapital, das sich ausdrückt in dem Bruch m/C, wo C das Gesamtkapital bedeutet. So erhalten wir die Profitrate m/(c+v).<br />
<br />
{{Zitat | 1=Der in der Ware enthaltne Wert ist gleich der Arbeitszeit, die ihre Herstellung kostet, und die Summe dieser Arbeit besteht aus bezahlter und unbezahlter. Die Kosten der Ware für den Kapitalisten bestehn dagegen nur aus dem Teil der in ihr vergegenständlichten Arbeit, den er gezahlt hat. Die in der Ware enthaltne Mehrarbeit kostet dem Kapitalisten nichts, obgleich sie dem Arbeiter, ganz so gut wie die bezahlte, Arbeit kostet, und obgleich sie, ganz so gut wie jene, Wert schafft und als wertbildendes Element in die Ware eingeht. Der Profit des Kapitalisten kommt daher, daß er etwas zu verkaufen hat, das er nicht bezahlt hat. Der Mehrwert resp. Profit besteht gerade in dem Uberschuß des Warenwerts über ihren Kostpreis, d.h. in dem Uberschuß der in der Ware enthaltnen Gesamtsumme von Arbeit über die in ihr enthaltne bezahlte Summe Arbeit. […] Dieser Überschuß steht also in einem Verhältnis zum Gesamtkapital, das sich ausdrückt in dem Bruch m/C, wo C das Gesamtkapital bedeutet. So erhalten wir die Profitrate m/c+v im Unterschiede von der Rate des Mehrwerts m/v.| 2=(Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.52)}}<br />
<br />
'''Annahme 5'''<br />
<br />
m/C drückt den Verwertungsgrad des vorgeschossenen Kapital aus.<br />
<br />
{{Zitat |In der Tat drückt das Verhältnis m/C den Verwertungsgrad des ganzen vorgeschoßnen Kapitals aus, […].| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.55)}}<br />
<br />
==Akkumulationsprozess des Kapitals==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Rückverwandlung, Reproduktion des vorgeschossenen Kapitals, Akkumulation, Mehrwert, Geld, Verwandlung in Kapital, Reproduktionsprozess auf erweiterter Stufenleiter, Überschuss, Kapitalakkumulation, Reproduktion, Ausbeutung, Kapital, Eigentum<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Jeder gesellschaftliche Produktionsprozess ist Reproduktionsprozess. <br />
<br />
{{Zitat |So wenig eine Gesellschaft aufhören kann zu konsumieren, so wenig kann sie aufhören zu produzieren. In einem stetigen Zusammenhang und dem beständigen Fluß seiner Erneuerung betrachtet, ist jeder gesellschaftliche Produktionsprozeß daher zugleich Reproduktionsprozeß.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.591)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Ein Teil der Produkte muss in Produktionsmittel rückverwandelt werden. <br />
<br />
{{Zitat |Die Bedingungen der Produktion sind zugleich die Bedingungen der Reproduktion. Keine Gesellschaft kann fortwährend produzieren, d. h. reproduzieren, ohne fortwährend einen Teil ihrer Produkte in Produktionsmittel oder Elemente der Neuproduktion rückzuverwandeln.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.591)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Die kapitalistische Reproduktion dient nur als ein Mittel dazu, den vorgeschossenen Wert als Kapital zu reproduzieren. <br />
<br />
{{Zitat |Hat die Produktion kapitalistische Form, so die Reproduktion. Wie in der kapitalistischen Produktionsweise der Arbeitsprozeß nur als ein Mittel für den Verwertungsprozeß erscheint, so die Reproduktion nur als ein Mittel, den vorgeschoßnen Wert als Kapital zu reproduzieren, d.h. als sich verwertenden Wert.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.591)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Der Produktionsprozess verwandelt den stofflichen Reichtum in Kapital, der Arbeiter bleibt entblößt von allen Mitteln, diesen Reichtum für sich zu verwirklichen. Seine eigene Arbeit vergegenständlicht sich im fremden Produkt, das sich in Kapital verwandelt. Das Kapital saugt die wertschöpfende Kraft – Arbeit – aus. Der Arbeiter selbst produziert den gesellschaftlichen Reichtum als Kapital, ihn beherrschende und ausbeutende Macht. Der Kapitalist produziert beständig Arbeitskraft als abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, den Arbeiter als Lohnarbeiter. Diese beständige Reproduktion ist die unerlässliche Bedingung der kapitalistischen Produktion. <br />
<br />
{{Zitat |Was aber anfangs nur Ausgangspunkt war, wird vermittelst der bloßen Kontinuität des Prozesses, der einfachen Reproduktion, stets aufs neue produziert und verewigt als eignes Resultat der kapitalistischen Produktion. Einerseits verwandelt der Produktionsprozeß fortwährend den stofflichen Reichtum in Kapital, in Verwertungs- und Genußmittel für den Kapitalisten. Andrerseits kommt der Arbeiter beständig aus dem Prozeß heraus, wie er in ihn eintrat - persönliche Quelle des Reichtums, aber entblößt von allen Mitteln, diesen Reichtum für sich zu verwirklichen. Da vor seinem Eintritt in den Prozeß seine eigne Arbeit ihm selbst entfremdet, dem Kapitalisten angeeignet und dem Kapital einverleibt ist, vergegenständlicht sie sich während des Prozesses beständig in fremdem Produkt. Da der Produktionsprozeß zugleich der Konsumtionsprozeß der Arbeitskraft durch den Kapitalisten, verwandelt sich das Produkt des Arbeiters nicht nur fortwährend in Ware, sondern in Kapital, Wert, der die wertschöpfende Kraft aussaugt, Lebensmittel, die Personen kaufen, Produktionsmittel, die den Produzenten anwenden. Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive, von ihren eignen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter. Diese beständige Reproduktion oder Verewigung des Arbeiters ist das sine qua non der kapitalistischen Produktion.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.595f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 5'''<br />
<br />
Anwendung von Mehrwert als Kapital oder die Rückverwandlung von Mehrwert in Kapital heißt Akkumulation des Kapitals.<br />
<br />
{{Zitat |Anwendung von Mehrwert als Kapital oder Rückverwandlung von Mehrwert in Kapital heißt Akkumulation des Kapitals.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.605)}}<br />
<br />
'''Annahme 6'''<br />
<br />
Kapitalwert war in Geldform vorgeschossen, der Mehrwert besteht aber als Teil des Produkts.<br/> Mit Verkauf des Produkts wird Kapitalwert wieder in Geld zurückverwandelt, der Mehrwert ändert aber seine ursprüngliche Daseinsweise in Geld.<br />
Der Kapitalwert und der Mehrwert sind dann beides Geldsummen, die sich in Kapital verwandeln.<br/>Mit dem Kauf von Waren, die es dem Kapitalisten ermöglichen, die Produktion fortzusetzen verwandeln sich beide Geldsummen wieder in Kapital. Damit beginnt der Reproduktionsprozess auf erweiterter Stufenleiter, vorausgesetzt die Waren sind auf dem Markt vorzufinden. <br />
<br />
{{Zitat |Der Kapitalwert war ursprünglich vorgeschossen in Geldform; der Mehrwert dagegen existiert von vornherein als Wert eines bestimmten Teils des Bruttoprodukts. Wird dieses verkauft, in Geld verwandelt, so gewinnt der Kapitalwert seine ursprüngliche Form wieder, aber der Mehrwert verwandelt seine ursprüngliche Daseinsweise.<br/>Von diesem Augenblick an sind jedoch Kapitalwert und Mehrwert beides Geldsummen, und ihre Wiederverwandlung in Kapital vollzieht sich auf ganz dieselbe Weise.<br/>Die eine wie die andre legt der Kapitalist an im Ankauf der Waren, die ihn instand setzen, die Verfertigung seines Artikels von neuem zu beginnen, und zwar diesmal auf erweiterter Stufenleiter. Um aber diese Waren zu kaufen, muß er sie auf dem Markte vorfinden.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.606)}}<br />
<br />
'''Annahme 7'''<br />
<br />
Das Mehrprodukt kann nur in Kapital durch Produktionsmittel und Lebensmittel verwandelt werden. Ein Teil der jährlichen Mehrarbeit muss zur Herstellung zusätzlicher Produktions- und Lebensmittel – über das Quantum – verwandt worden sein, das zum Ersatz des vorgeschossenen Kapitals erforderlich war. Das Mehrprodukt, dessen Wert der Mehrwert ist, enthält bereits die sachlichen Bestandteile eines neuen Kapitals. Deshalb ist der Mehrwert in Kapital verwandelbar. <br />
<br />
{{Zitat |Um zu akkumulieren, muß man einen Teil des Mehrprodukts in Kapital verwandeln. Aber, ohne Wunder zu tun, kann man nur solche Dinge in Kapital verwandeln, die im Arbeitsprozeß verwendbar sind, d. h. Produktionsmittel, und des ferneren Dinge, von denen der Arbeiter sich erhalten kann, d.h. Lebensmittel.<br/> Folglich muß ein Teil der jährlichen Mehrarbeit verwandt worden sein zur Herstellung zusätzlicher Produktions- und Lebensmittel, im Überschuß über das Quantum, das zum Ersatz des vorgeschossenen Kapitals erforderlich war.<br/>Mit einem Wort: der Mehrwert ist nur deshalb in Kapital verwandelbar, weil das Mehrprodukt, dessen Wert er ist, bereits die sachlichen Bestandteile eines neuen Kapitals enthält.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.606f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 8'''<br />
<br />
Die Arbeiterklasse hat durch ihre diesjährige Mehrarbeit das Kapital geschaffen, mit dem im nächsten Jahr zuschüssige Arbeit beschäftigt wird. Das nennt man Kapital durch Kapital erzeugen. <br />
<br />
{{Zitat |In allen Fällen hat die Arbeiterklasse durch ihre diesjährige Mehrarbeit das Kapital geschaffen, das im nächsten Jahr zuschüssige Arbeit beschäftigen wird. Das ist es, was man nennt: Kapital durch Kapital erzeugen.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.608)}}<br />
<br />
'''Annahme 9'''<br />
<br />
Das Eigentum an vergangener unbezahlter Arbeit ist Bedingung für die Aneignung gegenwärtiger lebendiger Arbeit. Je mehr der Kapitalist akkumuliert hat, desto mehr kann er akkumulieren. <br />
(Das ist bereits ein wichtiger Hinweis auf die Konzentration und Zentralisation.) <br />
<br />
{{Zitat |Eigentum an vergangner unbezahlter Arbeit erscheint jetzt als die einzige Bedingung für gegenwärtige Aneignung lebendiger unbezahlter Arbeit in stets wachsendem Umfang. Je mehr der Kapitalist akkumuliert hat, desto mehr kann er akkumulieren.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.609)}}<br />
<br />
'''Annahme 10'''<br />
<br />
In allen Gesellschaftsformationen findet Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter statt, es erscheint aber nicht als Akkumulation des Kapitals, solange dem Arbeiter seine Produktionsmittel noch nicht in der Form von Kapital gegenüberstehen. <br />
<br />
{{Zitat |In den verschiedensten ökonomischen Gesellschaftsformationen findet nicht nur einfache Reproduktion statt, sondern, obgleich auf verschiednem Maßstab, Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter. Es wird progressiv mehr produziert und mehr konsumiert, also auch mehr Produkt in Produktionsmittel verwandelt. Dieser Prozeß erscheint aber nicht als Akkumulation von Kapital und daher auch nicht als Funktion des Kapitalisten, solange dem Arbeiter seine Produktionsmittel, daher auch sein Produkt und seine Lebensmittel, noch nicht in der Form von Kapital gegenüberstehn.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.624)}}<br />
<br />
'''Annahme 11'''<br />
<br />
Die Arbeitskraft wird gekauft zur Verwertung des Kapitals. Die Produktion von Mehrwert ist das absolute Gesetz dieser Produktionsweise. Nur soweit sie die Produktionsmittel als Kapital erhält, ihren eigenen Wert als Kapital reproduziert und unbezahlte Arbeit eine Quelle von Zuschusskapital liefert, ist die Arbeitskraft verkaufbar. Die Bedingung für den Verkauf ist die stets erweiterte Reproduktion des Reichtums als Kapital. <br />
<br />
{{Zitat |So wenig aber bessere Kleidung, Nahrung, Behandlung und ein größeres Peculium das Abhängigkeitsverhältnis und die Exploitation des Sklaven aufheben, so wenig die des Lohnarbeiters. Steigender Preis der Arbeit infolge der Akkumulation des Kapitals besagt in der Tat nur, daß der Umfang und die Wucht der goldnen Kette, die der Lohnarbeiter sich selbst bereits geschmiedet hat, ihre losere Spannung erlauben. In den Kontroversen über diesen Gegenstand hat man meist die Hauptsache übersehn, nämlich die differentia specifica der kapitalistischen Produktion. Arbeitskraft wird hier gekauft, nicht um durch ihren Dienst oder ihr Produkt die persönlichen Bedürfnisse des Käufers zu befriedigen. Sein Zweck ist Verwertung seines Kapitals, Produktion von Waren, die mehr Arbeit enthalten, als er zahlt, also einen Wertteil enthalten, der ihm nichts kostet und dennoch durch den Warenverkauf realisiert wird. Produktion von Mehrwert oder Plusmacherei ist das absolute Gesetz dieser Produktionsweise. Nur soweit sie die Produktionsmittel als Kapital erhält, ihren eignen Wert als Kapital reproduziert und in unbezahlter Arbeit eine Quelle von Zuschußkapital liefert, ist die Arbeitskraft verkaufbar. Die Bedingungen ihres Verkaufs, ob mehr oder minder günstig für den Arbeiter, schließen also die Notwendigkeit ihres steten Wiederverkaufs und die stets erweiterte Reproduktion des Reichtums als Kapital ein.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.646f.)}}<br />
<br />
==Mehrwertproduktion durch Ausbeutung der Arbeitskraft ==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Mehrwert, Konsumtionsfonds, Variables Kapital, Ausbeutung, Verschleierung, Lohn, Reproduktion, Arbeitslohn, Mehrarbeit<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Der Arbeiter produziert den Mehrwert, der als Konsumtionsfonds des Kapitalisten dient und den Fonds seiner eigenen Zahlung, das variable Kapital, bevor es ihm als Arbeitslohn zufließt. <br />
<br />
{{Zitat |Der Produktionsprozeß wird eingeleitet mit dem Kauf der Arbeitskraft für eine bestimmte Zeit, und diese Einleitung erneuert sich beständig, sobald der Verkaufstermin der Arbeit fällig und damit eine bestimmte Produktionsperiode, Woche, Monat usw., abgelaufen ist. Gezahlt wird der Arbeiter aber erst, nachdem seine Arbeitskraft gewirkt und sowohl ihren eignen Wert als den Mehrwert in Waren realisiert hat. Er hat also wie den Mehrwert, den wir einstweilen nur als Konsumtionsfonds des Kapitalisten betrachten, so den Fonds seiner eignen Zahlung, das variable Kapital, produziert, bevor es ihm in der Form des Arbeitslohnes zurückfließt, und er wird nur so lange beschäftigt, als er ihn beständig reproduziert.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.592)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Die Warenform des Produkts und die Geldform der Ware verkleiden die Transaktion, in der die Kapitalistenklasse der Arbeiterklasse Anweisungen in Geldform auf das von ihr produzierte und durch die Kapitalistenklasse angeeignete Produkt gibt. <br />
<br />
{{Zitat |Die Illusion, welche die Geldform erzeugt, verschwindet sofort, sobald statt des einzelnen Kapitalisten und des einzelnen Arbeiters Kapitalistenklasse und Arbeiterklasse betrachtet werden. Die Kapitalistenklasse gibt der Arbeiterklasse beständig in Geldform Anweisungen auf einen Teil des von der letzteren produzierten und von der erstren angeeigneten Produkts. Diese Anweisungen gibt der Arbeiter der Kapitalistenklasse ebenso beständig zurück und entzieht ihr damit den ihm selbst zufallenden Teil seines eignen Produkts. Die Warenform des Produkts und die Geldform der Ware verkleiden die Transaktion.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.593)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Das variable Kapital ist nur eine historische Erscheinungsform des Fonds von Lebensmitteln oder Arbeitsfonds, den der Arbeiter zu seiner Selbsterhaltung benötigt. <br />
<br />
{{Zitat |Das variable Kapital ist also nur eine besondre historische Erscheinungsform des Fonds von Lebensmitteln oder des Arbeitsfonds, den der Arbeiter zu seiner Selbsterhaltung und Reproduktion bedarf und den er in allen Systemen der gesellschaftlichen Produktion stets selbst produzieren und reproduzieren muß.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.593)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Die bloße Kontinuität des Reproduktionsprozesses verwandelt Kapital in akkumuliertes Kapital. Es wird Materiatur unbezahlter, fremder Arbeit. <br />
<br />
{{Zitat |Ganz abgesehn von aller Akkumulation verwandelt also die bloße Kontinuität des Produktionsprozesses, oder die einfache Reproduktion, nach kürzerer oder längerer Periode jedes Kapital notwendig in akkumuliertes Kapital oder kapitalisierten Mehrwert. War es selbst bei seinem Eintritt in den Produktionsprozeß persönlich erarbeitetes Eigentum seines Anwenders, früher oder später wird es ohne Äquivalent angeeigneter Wert oder Materiatur, ob in Geldform oder anders, unbezahlter fremder Arbeit.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.595)}}<br />
<br />
'''Annahme 5'''<br />
<br />
Um die Bestandteile als Kapital fungieren zu lassen, braucht es zusätzliche Arbeitskräfte. Daher ist die Arbeiterklasse die vom Lohn abhängige Klasse, deren Lohn auch zur Vermehrung hinreicht.<br />
<br />
{{Zitat |Um nun diese Bestandteile tatsächlich als Kapital fungieren zu lassen, bedarf die Kapitalistenklasse eines Zuschusses von Arbeit. Soll nicht die Ausbeutung der schon beschäftigten Arbeiter extensiv oder intensiv wachsen, so müssen zusätzliche Arbeitskräfte eingestellt werden. Dafür hat der Mechanismus der kapitalistischen Produktion ebenfalls schon gesorgt, indem er die Arbeiterklasse reproduziert als vom Arbeitslohn abhängige Klasse, deren gewöhnlicher Lohn hinreicht, nicht nur ihre Erhaltung zu sichern, sondern auch ihre Vermehrung.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.607)}}<br />
<br />
'''Annahme 6'''<br />
<br />
Auch die Lebensmittel, von denen sich die Arbeiterklasse erhält, sind Bestandteile des Mehrprodukts. Wenn die Kapitalistenklasse mit dem Mehrprodukt neue Arbeitskräfte kauft, bezahlt er sie mit ihrem eigenen Geld. <br />
<br />
{{Zitat |Die Produktionsmittel, denen die zuschüssige Arbeitskraft einverleibt wird, wie die Lebensmittel, von denen diese sich erhält, sind nichts als integrierende Bestandteile des Mehrprodukts, des der Arbeiterklasse jährlich durch die Kapitalistenklasse entrissenen Tributs. Wenn diese mit einem Teil des Tributs von jener zusätzliche Arbeitskraft kauft, selbst zum vollen Preise, so daß Äquivalent sich austauscht gegen Äquivalent - es bleibt immer das alte Verfahren des Eroberers, der den Besiegten Waren abkauft mit ihrem eignen, geraubten Geld.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.608)}}<br />
<br />
'''Annahme 7'''<br />
<br />
Die gewaltsame Herabsetzung des Arbeitslohns unter den Wert der Arbeitskraft spielt in der praktischen Bewegung eine wichtige Rolle. Sie verwandelt faktisch, innerhalb gewisser Grenzen, den notwendigen Konsumtionsfonds des Arbeiters in einen Akkumulationsfonds von Kapital.<br />
<br />
{{Zitat |Man erinnert sich, daß die Rate des Mehrwerts in erster Instanz abhängt vom Exploitationsgrad der Arbeitskraft. Die politische Ökonomie würdigt diese Rolle so sehr, daß sie gelegentlich die Beschleunigung der Akkumulation durch erhöhte Produktionskraft der Arbeit identifiziert mit ihrer Beschleunigung durch erhöhte Exploitation des Arbeiters. In den Abschnitten über die Produktion des Mehrwerts ward beständig unterstellt, daß der Arbeitslohn wenigstens gleich dem Wert der Arbeitskraft ist. Die gewaltsame Herabsetzung des Arbeitslohns unter diesen Wert spielt jedoch in der praktischen Bewegung eine zu wichtige Rolle, um uns nicht einen Augenblick dabei aufzuhalten. Sie verwandelt faktisch, innerhalb gewisser Grenzen, den notwendigen Konsumtionsfonds des Arbeiters in einen Akkumulationsfonds von Kapital.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.626)}}<br />
<br />
==Trennung von Arbeitsprodukt und Produzenten==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Entfremdung, Trennung von Arbeitsprodukt und Produzenten, Ursprüngliche Akkumulation, Kapitalverhältnis, Klasse, Lohnarbeiter, Kapitalisten <br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Die Scheidung zwischen Arbeitsprodukt und Arbeit, Besitzer von Produktionsmitteln und Besitzer von Arbeitskraft und sonst nichts war der Ausgangspunkt des kapitalistischen Produktionsprozesses.<br />
<br />
{{Zitat |Um Geld in Kapital zu verwandeln, genügte nicht das Vorhandensein von Warenproduktion und Warenzirkulation. Es mußten erst, hier Besitzer von Wert oder Geld, dort Besitzer der wertschaffenden Substanz; hier Besitzer von Produktions- und Lebensmitteln, dort Besitzer von nichts als Arbeitskraft, einander als Käufer und Verkäufer gegenübertreten. Scheidung zwischen dem Arbeitsprodukt und der Arbeit selbst, zwischen den objektiven Arbeitsbedingungen und der subjektiven Arbeitskraft, war also die tatsächlich gegebne Grundlage, der Ausgangspunkt des kapitalistischen Produktionsprozesses.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.595)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Der Reproduktionsprozess reproduziert das Kapitalverhältnis selbst, auf der einen Seite den Kapitalisten, auf der anderen den Lohnarbeiter. <br />
<br />
{{Zitat |Der kapitalistische Produktionsprozeß, im Zusammenhang betrachtet oder als Reproduktionsprozeß, produziert also nicht nur Ware, nicht nur Mehrwert, er produziert und reproduziert das Kapitalverhältnis selbst, auf der einen Seite den Kapitalisten, auf der andren den Lohnarbeiter.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.604)}}<br />
<br />
==Produktive und individuelle Konsumtion==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Produktive Konsumtion, Individuelle Konsumtion, Wertschöpfung, Unproduktive Konsumtion, Akkumulationsfonds, Konsumtionsfonds, Mehrwert <br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Die produktive Konsumtion bedeutet: durch die Arbeit konsumiert der Arbeiter Produktionsmittel und verwandelt sie in Produkte von höherem Wert. <br/> Die individuelle Konsumtion bedeutet: von dem vom Kapitalisten gezahlten Geld kauft der Arbeiter Lebensmittel.<br/> Es gibt zwei verschiedene Prozesse: der eine ist Leben des Kapitalisten und der andere Leben des Arbeiters. <br />
<br />
{{Zitat |Die Konsumtion des Arbeiters ist doppelter Art. In der Produktion selbst konsumiert er durch seine Arbeit Produktionsmittel und verwandelt sie in Produkte von höherem Wert als dem des vorgeschoßnen Kapitals. Dies ist seine produktive Konsumtion. Sie ist gleichzeitig Konsumtion seiner Arbeitskraft durch den Kapitalisten, der sie gekauft hat. Andrerseits verwendet der Arbeiter das für den Kauf der Arbeitskraft gezahlte Geld in Lebensmittel: dies ist seine individuelle Konsumtion. Die produktive und die individuelle Konsumtion des Arbeiters sind also total verschieden. In der ersten handelt er als bewegende Kraft des Kapitals und gehört dem Kapitalisten; in der zweiten gehört er sich selbst und verrichtet Lebensfunktionen außerhalb des Produktionsprozesses. Das Resultat der einen ist das Leben des Kapitalisten, das der andern ist das Leben des Arbeiters selbst.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.596f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Für die Kapitalisten ist die individuelle Konsumtion der Arbeiter nur produktiv, wenn sie zur Erhaltung der Arbeiter dient, weil sie so für neue auszubeutende Arbeiter sorgt. Bekommt der Arbeiter einen höheren Lohn, um mehr konsumieren zu können, ohne danach mehr zu arbeiten, ist das für den Kapitalist unproduktiv. <br><br />
Die Arbeiterklasse ist also Zubehör des Kapitals, die individuelle Konsumtion der Arbeiter nur ein Moment des Reproduktionsprozesses des Kapitals. <br><br />
Dieser Prozess sorgt dafür, dass der Arbeiter durch unsichtbare Fäden an den Kapitalisten gebunden ist. Da die von der Arbeiterklasse hergestellten Konsumtionsgüter nicht ihnen gehören und sie sie nur bekommen, wenn sie ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt verkaufen und ihren Lohn gegen Konsumtionsgüter eintauschen.<br />
<br />
{{Zitat |Daher betrachtet auch der Kapitalist und sein Ideolog, der politische Ökonom, nur den Teil der individuellen Konsumtion des Arbeiters als produktiv, der zur Verewigung der Arbeiterklasse erheischt ist, also in der Tat verzehrt werden muß, damit das Kapital die Arbeitskraft verzehre; was der Arbeiter außerdem zu seinem Vergnügen verzehren mag, ist unproduktive Konsumtion.<br/>Würde die Akkumulation des Kapitals eine Erhöhung des Arbeitslohns und daher Vermehrung der Konsumtionsmittel des Arbeiters verursachen ohne Konsum von mehr Arbeitskraft durch das Kapital, so wäre das zuschüssige Kapital unproduktiv konsumiert.<br/>In der Tat: die individuelle Konsumtion des Arbeiters ist für ihn selbst unproduktiv, denn sie reproduziert nur das bedürftige Individuum; sie ist produktiv für den Kapitalisten und den Staat, denn sie ist Produktion der den fremden Reichtum produzierenden Kraft.<br/>Von gesellschaftlichem Standpunkt ist also die Arbeiterklasse, auch außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses, ebensosehr Zubehör des Kapitals als das tote Arbeitsinstrument. Selbst ihre individuelle Konsumtion ist innerhalb gewisser Grenzen nur ein Moment des Reproduktionsprozesses des Kapitals.<br/>Der Prozeß aber sorgt dafür, daß diese selbstbewußten Produktionsinstrumente nicht weglaufen, indem er ihr Produkt beständig von ihrem Pol zum Gegenpol des Kapitals entfernt. Die individuelle Konsumtion sorgt einerseits für ihre eigne Erhaltung und Reproduktion, andrerseits durch Vernichtung der Lebensmittel für ihr beständiges Wiedererscheinen auf dem Arbeitsmarkt.<br/>Der römische Sklave war durch Ketten, der Lohnarbeiter ist durch unsichtbare Fäden an seinen Eigentümer gebunden. Der Schein seiner Unabhängigkeit wird durch den beständigen Wechsel der individuellen Lohnherrn und die fictio juris des Kontrakts aufrechterhalten.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.598f.)}}<br />
<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Der Mehrwert bzw. das Mehrprodukt ist indivudeller Konsumtionsfonds des Kapitalisten und zugleich Akkumulationsfonds. <br />
<br />
{{Zitat |Im vorigen Kapitel betrachteten wir den Mehrwert, resp. das Mehrprodukt, nur als individuellen Konsumtionsfonds des Kapitalisten, in diesem Kapitel bisher nur als einen Akkumulationsfonds. Er ist aber weder nur das eine noch das andre, sondern beides zugleich. Ein Teil des Mehrwerts wird vom Kapitalisten als Revenue verzehrt ein andrer Teil als Kapital angewandt oder akkumuliert.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.617f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Der Kapitalist zwingt zur Verwertung des Werts, und so zur Produktion der Produktion willen, zur Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, und zur Schöpfung der materiellen Produktionsbedingungen, die die reale Basis einer höheren Gesellschaftsformation bilden.<br/><br />
Der Kapitalist ist das Triebrad des gesellschaftlichen Mechanismus. <br/>Die kapitalistische Produktion macht eine fortwährende Steigerung des in einem industriellen Unternehmens angelegten Kapitals zur Notwendigkeit. Die Konkurrenz herrscht jedem individuellen Kapitalisten die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf, das Kapital fortwährend auszudehnen, um es zu erhalten, was nur mit ansteigender Akkumulation möglich ist. <br />
<br />
{{Zitat |Als Fanatiker der Verwertung des Werts zwingt er rücksichtslos die Menschheit zur Produktion um der Produktion willen, daher zu einer Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und zur Schöpfung von materiellen Produktionsbedingungen, welche allein die reale Basis einer höheren Gesellschaftsform bilden können, deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist. Nur als Personifikation des Kapitals ist der Kapitalist respektabel.<br/>Als solche teilt er mit dem Schatzbildner den absoluten Bereicherungstrieb. Was aber bei diesem als individuelle Manie erscheint, ist beim Kapitalisten Wirkung des gesellschaftlichen Mechanismus, worin er nur ein Triebrad ist. Außerdem macht die Entwicklung der kapitalistischen Produktion eine fortwährende Steigerung des in einem industriellen Unternehmen angelegten Kapitals zur Notwendigkeit, und die Konkurrenz herrscht jedem individuellen Kapitalisten die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf. Sie zwingt ihn, sein Kapital fortwährend auszudehnen, um es zu erhalten, und ausdehnen kann er es nur vermittelst progressiver Akkumulation.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.618)}}<br />
<br />
==Warenproduktion als Grundlage der kapitalistischen Produktion==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Warenproduktion, Eigentum, Ausbeutung, Mehrarbeit, Ware Arbeitskraft, Wertübertragung, Geld, Kapital, Doppelt freier Lohnarbeiter, Kapitalistische Produktion <br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Das Eigentum als Recht auf Aneignung unbezahlter Arbeit erscheint als Verletzung der Gesetze der Warenproduktion, resultiert aber aus ihrer Anwendung. <br />
<br />
{{Zitat |Eigentum erscheint jetzt auf Seite des Kapitalisten als das Recht, fremde unbezahlte Arbeit oder ihr Produkt, auf Seite des Arbeiters als Unmöglichkeit, sich sein eignes Produkt anzueignen. Die Scheidung zwischen Eigentum und Arbeit wird zur notwendigen Konsequenz eines Gesetzes, das scheinbar von ihrer Identität ausging. Sosehr die kapitalistische Aneignungsweise also den ursprünglichen Gesetzen der Warenproduktion ins Gesicht zu schlagen scheint, so entspringt sie doch keineswegs aus der Verletzung, sondern im Gegenteil aus der Anwendung dieser Gesetze.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.610)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Der Verbrauch der Ware Arbeitskraft durch den Käufer, nicht die Übervorteilung des Verkäufers, führt zum Mehrwert.<br />
<br />
{{Zitat |Wenn also die in Arbeitslohn vorgeschoßne Wertsumme sich in Produkt nicht bloß einfach wieder vorfindet, sondern um einen Mehrwert vermehrt vorfindet, so rührt dies nicht her aus einer Übervorteilung des Verkäufers, der ja den Wert seiner Ware erhalten, sondern nur aus dem Verbrauch dieser Ware durch den Käufer.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.611)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Die Verwandlung von Geld in Kapital hat zum Ergebnis, dass das Produkt dem Kapitalisten gehört und nicht dem Arbeiter, dass es einen Mehrwert enthält, der den Arbeiter Arbeit, den Kapitalisten nichts gekostet hat, aber dennoch ihm gehört; dass der Arbeiter seine Arbeitskraft erhalten kann. Einfache Reproduktion ist periodische Wiederholung dieser ersten Operation. <br />
<br />
<br />
{{Zitat |Die ursprüngliche Verwandlung des Geldes in Kapital vollzieht sich also im genauesten Einklang mit den ökonomischen Gesetzen der Warenproduktion und mit dem daraus sich ableitenden Eigentumsrecht. Trotzdem aber hat sie zum Ergebnis:<br/>1. daß das Produkt dem Kapitalisten gehört und nicht dem Arbeiter; <br/>2. daß der Wert dieses Produkts, außer dem Wert des vorgeschoßnen Kapitals, einen Mehrwert einschließt, der dem Arbeiter Arbeit, dem Kapitalisten aber nichts gekostet hat und der dennoch das rechtmäßige Eigentum des Kapitalisten wird;<br/> 3. daß der Arbeiter seine Arbeitskraft forterhalten hat und sie aufs neue verkaufen kann, wenn er einen Käufer findet. Die einfache Reproduktion ist nur die periodische Wiederholung dieser ersten Operation; jedesmal wird, stets von neuem, Geld in Kapital verwandelt. Das Gesetz wird also nicht gebrochen, im Gegenteil es erhält nur Gelegenheit, sich dauernd zu betätigen.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.611)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Sobald die Arbeitskraft durch den Arbeiter frei verkauft wird, verallgemeinert sich die Warenproduktion zur typischen Produktionsform. Die Warenproduktion bildet sich nach ihren eigenen immanenten Gesetzen zur kapitalistischen Produktion fort, ihre Eigentumsgesetze schlagen um in Gesetze der kapitalistischen Aneignung. <br />
<br />
{{Zitat |Dies Resultat wird unvermeidlich, sobald die Arbeitskraft durch den Arbeiter selbst als Ware frei verkauft wird. Aber auch erst von da an verallgemeinert sich die Warenproduktion und wird sie typische Produktionsform; erst von da an wird jedes Produkt von vornherein für den Verkauf produziert und geht aller produzierte Reichtum durch die Zirkulation hindurch.<br/>Erst da, wo die Lohnarbeit ihre Basis, zwingt die Warenproduktion sich der gesamten Gesellschaft auf; aber auch erst da entfaltet sie alle ihre verborgnen Potenzen. Sagen, daß die Dazwischenkunft der Lohnarbeit die Warenproduktion fälscht, heißt sagen, daß die Warenproduktion, will sie unverfälscht bleiben, sich nicht entwickeln darf. Im selben Maß, wie sie nach ihren eignen immanenten Gesetzen sich zur kapitalistischen Produktion fortbildet, in demselben Maß schlagen die Eigentumsgesetze der Warenproduktion um in Gesetze der kapitalistischen Aneignung.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.613)}}<br />
<br />
==Wachstum des Kapitals==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Ausdehnung, Herrschaft, Wachstum, Wachstumsbeschleunigung, Produktenmasse, Gesellschaftlicher Reichtum, Produktivität, Aufschwung, Akkumulation, Wertübertragung, Abstrakte Arbeit, Kapitalfetisch, Selbstverwertung, Mehrarbeit, Aneignung, Ausbeutung, Tote und lebendige Arbeit<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Die Akkumulation ist die Eroberung der Welt, denn sie dehnt ausbeutbares Menschenmaterial und die Herrschaft der Kapitalisten aus.<br />
<br />
{{Zitat |Die Akkumulation ist Eroberung der Welt des gesellschaftlichen Reichtums. Sie dehnt mit der Masse des exploitierten Menschenmaterials zugleich die direkte und indirekte Herrschaft des Kapitalisten aus.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.618)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Das Kapital verleibt sich Arbeitskraft und Erde ein und erwirbt neue Expansionskraft, die es erlaubt, die Elemente der Akkumulation auszudehnen.<br />
<br />
{{Zitat |Allgemeines Resultat: Indem das Kapital sich die beiden Urbildner des Reichtums, Arbeitskraft und Erde, einverleibt, erwirbt es eine Expansionskraft, die ihm erlaubt, die Elemente seiner Akkumulation auszudehnen jenseits der scheinbar durch seine eigne Größe gesteckten Grenzen, gesteckt durch den Wert und die Masse der bereits produzierten Produktionsmittel, in denen es sein Dasein hat.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.630f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Mit wachsender Produktivität wächst die Produktenmasse. Bei gleichbleibender und selbst bei fallender Mehrwertrate wächst die Masse des Mehrprodukts. <br />
<br />
{{Zitat |Ein andrer wichtiger Faktor in der Akkumulation des Kapitals ist der Produktivitätsgrad der gesellschaftlichen Arbeit. Mit der Produktivkraft der Arbeit wächst die Produktenmasse, worin sich ein bestimmter Wert, also auch Mehrwert von gegebner Größe, darstellt. Bei gleichbleibender und selbst bei fallender Rate des Mehrwerts, sofern sie nur langsamer fällt, als die Produktivkraft der Arbeit steigt, wächst die Masse des Mehrprodukts.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.631)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Mit wachsender Produktivität geht eine wachsende Rate des Mehrwerts einher. Derselbe variable Kapitalteil setzt mehr Arbeitskraft und daher mehr Arbeit in Bewegung. Derselbe konstante Kapitalteil stellt sich in mehr PM dar, liefert mehr Produktbildner oder Arbeitseinsauger. Es findet bei gleichbleibendem Wert des Zusatzkapitals beschleunigte Akkumulation statt. Die Produktion des Mehrwerts wächst schneller als der Wert des Zusatzkapitals. <br />
<br />
{{Zitat |Aber mit der wachsenden Produktivität der Arbeit geht, wie man gesehn, die Verwohlfeilerung des Arbeiters, also wachsende Rate des Mehrwerts, Hand in Hand, selbst wenn der reelle Arbeitslohn steigt. Er steigt nie verhältnismäßig mit der Produktivität der Arbeit. Derselbe variable Kapitalwert setzt also mehr Arbeitskraft und daher mehr Arbeit in Bewegung. Derselbe konstante Kapitalwert stellt sich in mehr Produktionsmitteln, d.h. mehr Arbeitsmitteln, Arbeitsmaterial und Hilfsstoffen dar, liefert also sowohl mehr Produktbildner als Wertbildner oder Arbeitseinsauger. Bei gleichbleibendem und selbst abnehmendem Wert des Zusatzkapitals findet daher beschleunigte Akkumulation statt. Nicht nur erweitert sich die Stufenleiter der Reproduktion stofflich, sondern die Produktion des Mehrwerts wächst schneller als der Wert des Zusatzkapitals.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.631)}}<br />
<br />
'''Annahme 5'''<br />
<br />
Die Arbeit überträgt den Wert der von ihr konsumierten Produktionsmittel auf das Produkt. Deren Wert und Masse steigt mit der Produktivität der Arbeit. Auch wenn dieselbe Arbeitsmenge ihren Produkten immer nur dieselbe Summe Neuwert zusetzt, wächst doch der alte Kapitalwert, den sie ihnen überträgt. <br />
<br />
{{Zitat |Die Arbeit überträgt auf das Produkt den Wert der von ihr konsumierten Produktionsmittel. Andrerseits wächst Wert und Masse der durch gegebne Arbeitsmenge in Bewegung gesetzten Produktionsmittel im Verhältnis, wie die Arbeit produktiver wird. Setzt also auch dieselbe Arbeitsmenge ihren Produkten immer nur dieselbe Summe Neuwert zu, so wächst doch der alte Kapitalwert, den sie ihnen gleichzeitig überträgt, mit steigender Produktivität der Arbeit.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.632)}}<br />
<br />
'''Annahme 6'''<br />
<br />
Die Arbeit erhält Wert und schafft neuen. Mit steigender Produktivität erhält und verewigt die Arbeit in stets neuer Form einen stets schwellenden Kapitalwert. <br />
<br />
{{Zitat |Es ist die Naturgabe der lebendigen Arbeit, alten Wert zu erhalten, während sie Neuwert schafft. Mit dem Wachstum von Wirksamkeit, Umfang und Wert ihrer Produktionsmittel, also mit der die Entwicklung ihrer Produktivkraft begleitenden Akkumulation erhält und verewigt die Arbeit daher in stets neuer Form einen stets schwellenden Kapitalwert.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.633)}}<br />
<br />
'''Annahme 7'''<br />
<br />
Diese Kraft der Arbeit erscheint als Selbsterhaltungskraft des Kapitals. Die beständige Aneignung der Mehrarbeit durch den Kapitalisten erscheint als beständige Selbstverwertung des Kapitals.<br />
<br />
{{Zitat |Diese Naturkraft der Arbeit erscheint als Selbsterhaltungskraft des Kapitals, dem sie einverleibt ist, ganz wie ihre gesellschaftlichen Produktivkräfte als seine Eigenschaften, und wie die beständige Aneignung der Mehrarbeit durch den Kapitalisten als beständige Selbstverwertung des Kapitals. Alle Kräfte der Arbeit projektieren sich als Kräfte des Kapitals, wie alle Wertformen der Ware als Formen des Geldes.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.633f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 8'''<br />
<br />
Mit dem Wachstum des Kapitals wächst die Differenz zwischen angewandtem und konsumiertem Kapital. Der Gratisdienst der vergangenen Arbeit – wenn von lebendiger Arbeit ergriffen – akkumuliert mit der wachsenden Stufenleiter der Akkumulation. <br />
<br />
{{Zitat |Mit dem Wachstum des Kapitals wächst die Differenz zwischen angewandtem und konsumiertem Kapital. Im Verhältnis, worin diese Arbeitsmittel als Produktbildner dienen, ohne dem Produkt Wert zuzusetzen, also ganz angewandt, aber nur teilweise konsumiert werden, leisten sie, wie früher erwähnt, denselben Gratisdienst wie Naturkräfte, Wasser, Dampf, Luft, Elektrizität usw. Dieser Gratisdienst der vergangnen Arbeit, wenn ergriffen und beseelt von der lebendigen Arbeit, akkumuliert mit der wachsenden Stufenleiter der Akkumulation.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.635)}}<br />
<br />
'''Annahme 9'''<br />
<br />
Die Masse des Mehrwerts ist bestimmt durch die Anzahl der gleichzeitig ausgebeuteten Arbeiter. Diese entspricht in wechselndem Verhältnis der Größe des Kapitals. Je mehr das Kapital durch Akkumulation wächst, desto mehr wächst die Wertsumme, die sich in Konsumtionsfonds und Akkumulationsfonds spaltet.<br />
<br />
{{Zitat |Bei gegebnem Exploitationsgrad der Arbeitskraft ist die Masse des Mehrwerts bestimmt durch die Anzahl der gleichzeitig ausgebeuteten Arbeiter, und diese entspricht, obgleich in wechselndem Verhältnis, der Größe des Kapitals. Je mehr also das Kapital vermittelst sukzessiver Akkumulationen wächst, desto mehr wächst auch die Wertsumme, die sich in Konsumtionsfonds und Akkumulationsfonds spaltet. Der Kapitalist kann daher flotter leben und zugleich mehr „entsagen". Und schließlich spielen alle Springfedern der Produktion um so energischer, je mehr ihre Stufenleiter sich erweitert mit der Masse des vorgeschossenen Kapitals.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.635f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 10'''<br />
<br />
Mit Wachstum des Kapitals ist Wachstum des variablen Kapitals verbunden – also Wachstum des Arbeitsfonds der Arbeitskraft.<br />
<br />
{{Zitat |Wachstum des Kapitals schließt Wachstum seines variablen oder in Arbeitskraft umgesetzten Bestandteils ein. Ein Teil des in Zusatzkapital verwandelten Mehrwerts muß stets rückverwandelt werden in variables Kapital oder zuschüssigen Arbeitsfonds. Unterstellen wir, daß, nebst sonst gleichbleibenden Umständen; die Zusammensetzung des Kapitals unverändert bleibt, d.h. eine bestimmte Masse Produktionsmittel oder konstantes Kapital stets dieselbe Masse Arbeitskraft erheischt, um in Bewegung gesetzt zu werden, so wächst offenbar die Nachfrage nach Arbeit und der Subsistenzfonds der Arbeiter verhältnismäßig mit dem Kapital und um so rascher, je rascher das Kapital wächst.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.641)}}<br />
<br />
'''Annahme 11'''<br />
<br />
Das Wachstum des Kapitals schließt das Wachstum seines variablen Teils ein. Eine bestimmte Masse Produktionsmittel erheischt stets dieselbe Masse Arbeitskraft, um in Bewegung gesetzt zu werden. Die Nachfrage nach Arbeit wächst. Akkumulation des Kapitals ist also Vermehrung des Proletariats. <br />
<br />
{{Zitat |Wie die einfache Reproduktion fortwährend das Kapitalverhältnis selbst reproduziert, Kapitalisten auf der einen Seite, Lohnarbeiter auf der andren, so reproduziert die Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter oder die Akkumulation das Kapitalverhältnis auf erweiterter Stufenleiter, mehr Kapitalisten oder größere Kapitalisten auf diesem Pol, mehr Lohnarbeiter auf jenem.<br/>Die Reproduktion der Arbeitskraft, die sich dem Kapital unaufhörlich als Verwertungsmittel einverleiben muß, nicht von ihm loskommen kann und deren Hörigkeit zum Kapital nur versteckt wird durch den Wechsel der individuellen Kapitalisten, woran sie sich verkauft, bildet in der Tat ein Moment der Reproduktion des Kapitals selbst. Akkumulation des Kapitals ist also Vermehrung des Proletariats.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.641f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 12'''<br />
<br />
Die Kapitalisten können unter bestimmten Bedingungen (z.B. Eröffnung neuer Märkte, Entstehung neuer gesellschaftlicher Bedürfnisse) eine verstärkte Nachfrage nach Arbeitern entwickeln, die sie nur befriedigen können, wenn sie höhere Arbeitslöhne zahlen. Das können sie jederzeit ohne vorherige Mehrwertsteigerung, indem sie den Teil des Mehrwerts den sie für ihren Privatkonsum nutzen (Revenue) kürzen und den, den sie wieder in den Produktionsprozess werfen (Kapital), vergrößern.<br />
<br />
{{Zitat |und da endlich, unter besondrem Sporn des Bereicherungstriebs wie z. B. Öffnung neuer Märkte, neuer Sphären der Kapitalanlage infolge neu entwickelter gesellschaftlicher Bedürfnisse Usw., die Stufenleiter der Akkumulation plötzlich ausdehnbar ist durch bloß veränderte Teilung des Mehrwerts oder Mehrprodukts in Kapital und Revenue, können die Akkumulationsbedürfnisse des Kapitals das Wachstum der Arbeitskraft oder der Arbeiteranzahl, die Nachfrage nach Arbeitern ihre Zufuhr überflügeln und daher die Arbeitslöhne steigen.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.641)}}<br />
<br />
==Wissenschaftlich-technischer Fortschritt==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Wissenschaft, Technik, Fortschritt <br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Die Wissenschaft und die Technik bilden eine von der Größe des Kapitals unabhängige Potenz seiner Expansion. In seine neue Form einverleibt es gratis den vollzogenen gesellschaftlichen Fortschritt. <br />
<br />
{{Zitat |Gleich vermehrter Ausbeutung des Naturreichtums durch bloß höhere Spannung der Arbeitskraft, bilden Wissenschaft und Technik eine von der gegebnen Größe des funktionierenden Kapitals unabhängige Potenz seiner Expansion. Sie reagiert zugleich auf den in sein Erneuerungsstadium eingetretenen Teil des Originalkapitals. In seine neue Form einverleibt es gratis den hinter dem Rücken seiner alten Form vollzogenen gesellschaftlichen Fortschritt.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.632)}}<br />
<br />
==Aufschwung und Krise==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Krise, Aufschwung, Lohnhöhe, Arbeit, Konsumtion<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Das Verhältnis zwischen Kapital, Akkumulation und Lohnrate ist das Verhältnis zwischen unbezahlter, in Kapital verwandelter Arbeit und der zur Bewegung des Zusatzkapitals erforderlichen zuschüssigen Arbeit. Das Verhältnis von unbezahlter und bezahlter Arbeit der Arbeiterbevölkerung.<br/> Wenn die Menge der unbezahlten Arbeit rasch wächst, um außergewöhnlichen Zuschuss bezahlter Arbeit in Kapital verwandeln zu können, steigt der Lohn, die unbezahlte Arbeit nimmt ab.<br/>Sobald aber der Punkt eintritt, wo die das Kapital ernährende Mehrarbeit nicht in normaler Menge angeboten wird, erlahmt die Akkumulation, die steigende Lohnbewegung erhält Gegenschlag.<br/>Die Erhöhung des Arbeitspreises bleibt eingebannt in Grenzen, die die Grundlagen des kapitalistischen Systems nicht nur unangetastet lassen, sondern auch seine Reproduktion auf wachsender Stufenleiter sichern.<br />
<br />
{{Zitat |Das Verhältnis zwischen Kapital, Akkumulation und Lohnrate ist nichts als das Verhältnis zwischen der unbezahlten, in Kapital verwandelten Arbeit und der zur Bewegung des Zusatzkapitals erforderlichen zuschüssigen Arbeit.<br/>Es ist also keineswegs ein Verhältnis zweier voneinander unabhängigen Größen, einerseits der Größe des Kapitals, andrerseits der Zahl der Arbeiterbevölkerung, es ist vielmehr in letzter Instanz nur das Verhältnis zwischen der unbezahlten und der bezahlten Arbeit derselben Arbeiterbevölkerung. Wächst die Menge der von der Arbeiterklasse gelieferten und von der Kapitalistenklasse akkumulierten, unbezahlten Arbeit rasch genug, um nur durch einen außergewöhnlichen Zuschuß bezahlter Arbeit sich in Kapital verwandeln zu können, so steigt der Lohn, und alles andre gleichgesetzt, nimmt die unbezahlte Arbeit im Verhältnis ab.<br/>Sobald aber diese Abnahme den Punkt berührt, wo die das Kapital ernährende Mehrarbeit nicht mehr in normaler Menge angeboten wird, so tritt eine Reaktion ein: ein geringerer Teil der Revenue wird kapitalisiert, die Akkumulation erlahmt, und die steigende Lohnbewegung empfängt einen Gegenschlag. Die Erhöhung des Arbeitspreises bleibt also eingebannt in Grenzen, die die Grundlagen des kapitalistischen Systems nicht nur unangetastet lassen, sondern auch seine Reproduktion auf wachsender Stufenleiter sichern.<br/> Das in ein Naturgesetz mystifizierte Gesetz der kapitalistischen Akkumulation drückt also in der Tat nur aus, daß ihre Natur jede solche Abnahme im Exploitationsgrad der Arbeit oder jede solche Steigerung des Arbeitspreises ausschließt, welche die stetige Reproduktion des Kapitalverhältnisses und seine Reproduktion auf stets erweiterter Stufenleiter ernsthaft gefährden könnte.<br/>Es kann nicht anders sein in einer Produktionsweise, worin der Arbeiter für die Verwertungsbedürfnisse vorhandner Werte, statt umgekehrt der gegenständliche Reichtum für die Entwicklungsbedürfnisse des Arbeiters da ist. Wie der Mensch in der Religion vom Machwerk seines eignen Kopfes, so wird er in der kapitalistischen Produktion vom Machwerk seiner eignen Hand beherrscht.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.649)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Im Verlauf der Akkumulation tritt ein Punkt ein, wo die Entwicklung der Produktivität der Arbeit der mächtigste Hebel der Akkumulation wird.<br />
<br />
{{Zitat |Die allgemeinen Grundlagen des kapitalistischen Systems einmal gegeben, tritt im Verlauf der Akkumulation jedesmal ein Punkt ein, wo die Entwicklung der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit der mächtigste Hebel der Akkumulation wird.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.650)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Krisen gehen aus Mangel an zahlungsfähiger Konsumtion hervor. Das ist eine Tautologie. Abhilfe schaffen zu wollen, in dem die Arbeiterklasse einen größeren Teil ihres Produkts erhält, ignoriert, dass Krisen vorbereitet werden durch eine Periode, in der der Arbeitslohn allgemein steigt und die Arbeiterklasse größeren Anteil erhält. Die kapitalistische Produktion schafft unabhängig von gutem oder schlechtem Willen Bedingungen, die die relative Prosperität der Arbeiterklasse nur vorübergehend – als Vorlauf der Krise - zulassen.<br />
<br />
{{Zitat |Es ist eine reine Tautologie zu sagen, daß die Krisen aus Mangel an zahlungsfähiger Konsumtion oder an zahlungsfähigen Konsumenten hervorgehn. Andre Konsumarten, als zahlende, kennt das kapitalistische System nicht, ausgenommen die sub forma pauperis oder die des „Spitzbuben". Daß Waren unverkäuflich sind, heißt nichts, als daß sich keine zahlungsfähigen Käufer für sie fanden, also Konsumenten (sei es nun, daß die Waren in letzter Instanz zum Behuf produktiver oder individueller Konsumtion gekauft werden).<br/>Will man aber dieser Tautologie einen Schein tiefrei" Begründung dadurch geben, daß man sagt, die Arbeiterklasse erhalte einen zu geringen Teil ihres eignen Produkts, und dem Übelstand werde mithin abgeholfen, sobald sie größern Anteil davon empfängt, ihr Arbeitslohn folglich wächst, so ist nur zu bemerken, daß die Krisen jedesmal gerade vorbereitet werden durch eine Periode, worin der Arbeitslohn allgemein steigt und die Arbeiterklasse realiter größern Anteil an dem für Konsumtion bestimmten Teil des jährlichen Produkts erhält. Jene Periode müsste – von dem Gesichtspunkt dieser Ritter vom gesunden und „einfachen" (!) Menschenverstand - umgekehrt die Krise entfernen.<br/> Es scheint also, daß die kapitalistische Produktion vom guten oder bösen Willen unabhängige Bedingungen einschließt, die jene relative Prosperität der Arbeiterklasse nur momentan zulassen, und zwar immer nur als Sturmvogel einer Krise.| (Marx, Kapital 2.Band, MEW Band 24, S.409f.)}}<br />
<br />
==Produktivkraftentwicklung==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Produktivität, Wachstum, Produktivkraftentwicklung, Wertzusammensetzung, Organische Zusammensetzung des Kapitals, Relative Mehrwertproduktion, Vergesellschaftung der Produktion<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Der gesellschaftliche Produktivgrad der Arbeit drückt sich im relativen Größenumfang der Produktionsmittel aus, die ein Arbeiter während gegebener Zeit, mit derselben Anspannung von Arbeitskraft, in Produkt verwandelt.<br />
Die Masse der Produktionsmittel, womit er funktioniert, wächst mit der Produktivität seiner Arbeit.<br/>Das Wachstum der einen Produktionsmittel ist Folge der wachsenden Produktivität der Arbeit, das Wachstum der anderen Bedingung. <br />
<br />
{{Zitat |Abgesehn von Naturbedingungen, wie Fruchtbarkeit des Bodens usw., und vom Geschick unabhängiger und isoliert arbeitender Produzenten, das sich jedoch mehr qualitativ in der Güte als quantitativ in der Masse des Machwerks bewährt, drückt sich der gesellschaftliche Produktivgrad der Arbeit aus im relativen Größenumfang der Produktionsmittel, welche ein Arbeiter, während gegebner Zeit, mit derselben Anspannung von Arbeitskraft, in Produkt verwandelt.<br/>Die Masse der Produktionsmittel, womit er funktioniert, wächst mit der Produktivität seiner Arbeit. Diese Produktionsmittel spielen dabei eine doppelte Rolle. Das Wachstum der einen ist Folge, das der andren Bedingung der wachsenden Produktivität der Arbeit.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.650)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Die Zunahme der Produktivität der Arbeit erscheint in der Abnahme der Arbeitsmasse verhältnismäßig zu der von ihr bewegten Masse von PM oder in der Größenabnahme des subjektiven Faktors des Arbeitsprozesses, verglichen mit seinen objektiven Faktoren.<br/><br />
Diese Veränderung in der technischen Zusammensetzung des Kapitals – das Wachstum der PM verglichen mit der AK, spiegelt sich wider in seiner Wertzusammensetzung, in der Zunahme des konstanten Bestandteil des Kapitals. <br />
<br />
{{Zitat |Die Zunahme der letzteren erscheint also in der Abnahme der Arbeitsmasse verhältnismäßig zu der von ihr bewegten Masse von Produktionsmitteln oder in der Größenabnahme des subjektiven Faktors des Arbeitsprozesses, verglichen mit seinen objektiven Faktoren. Diese Veränderung in der technischen Zusammensetzung des Kapitals, das Wachstum in der Masse der Produktionsmittel, verglichen mit der Masse der sie belebenden Arbeitskraft, spiegelt sich wider in seiner Wertzusammensetzung, in der Zunahme des konstanten Bestandteils des Kapitalwerts auf Kosten seines variablen Bestandteils.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.651f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Die Kooperation auf großer Stufenleiter, PM durch massenhafte Konzentration ökonomisiert,….ist Voraussetzung für die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit. <br />
<br />
{{Zitat |Im vierten Abschnitt wurde gezeigt, wie die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit Kooperation auf großer Stufenleiter voraussetzt, wie nur unter dieser Voraussetzung Teilung und Kombination der Arbeit organisiert, Produktionsmittel durch massenhafte Konzentration ökonomisiert, schon stofflich nur gemeinsam anwendbare Arbeitsmittel, z.B. System der Maschinerie usw., ins Leben gerufen, ungeheure Naturkräfte in den Dienst der Produktion gepreßt und die Verwandlung des Produktionsprozesses in technologische Anwendung der Wissenschaft vollzogen werden können.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.652)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Ein gewisser Grad der Kapitalakkumulation ist Bedingung für kap. Produktionsweise und verursacht beschleunigte Akkumulation. Beide Faktoren bedingen den Wechsel in der technischen Zusammensetzung des Kapitals. <br />
<br />
{{Zitat |Die kontinuierliche Rückverwandlung von Mehrwert in Kapital stellt sich dar als wachsende Größe des in den Produktionsprozeß eingehenden Kapitals. Diese wird ihrerseits Grundlage einer erweiterten Stufenleiter der Produktion, der sie begleitenden Methoden zur Steigerung der Produktivkraft der Arbeit und beschleunigter Produktion von Mehrwert. Wenn also ein gewisser Grad der Kapitalakkumulation als Bedingung der spezifisch kapitalistischen Produktionsweise erscheint, verursacht die letztere rückschlagend eine beschleunigte Akkumulation des Kapitals. Mit der Akkumulation des Kapitals entwickelt sich daher die spezifisch kapitalistische Produktionsweise und mit der spezifisch kapitalistischen Produktionsweise die Akkumulation des Kapitals. Diese beiden ökonomischen Faktoren erzeugen, nach dem zusammengesetzten Verhältnis des Anstoßes, den sie sich gegenseitig erteilen, den Wechsel in der technischen Zusammensetzung des Kapitals, durch welchen der variable Bestandteil immer kleiner und kleiner wird, verglichen mit dem konstanten.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.653)}}<br />
<br />
==Relative Mehrwertproduktion ==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Produktivkraftentwicklung, Relative Mehrwertproduktion, Organische Zusammensetzung des Kapitals <br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Die Änderung der Zusammensetzung der stofflichen Bestandteile ist größer als die der Wertzusammensetzung, da der Wert der PM sinkt. <br />
<br />
{{Zitat |Die Abnahme des variablen Kapitalteils gegenüber dem konstanten oder die veränderte Zusammensetzung des Kapitalwerts zeigt jedoch nur annähernd den Wechsel in der Zusammensetzung seiner stofflichen Bestandteile an. […] Der Grund ist einfach der, daß mit der wachsenden Produktivität der Arbeit nicht nur der Umfang der von ihr vernutzten Produktionsmittel steigt, sondern deren Wert, verglichen mit ihrem Umfang, sinkt. Ihr Wert steigt also absolut, aber nicht proportionell mit ihrem Umfang. Das Wachstum der Differenz zwischen konstantem und variablem Kapital ist daher viel kleiner als das der Differenz zwischen der Masse der Produktionsmittel, worin das konstante, und der Masse Arbeitskraft, worin das variable Kapital umgesetzt wird. Die erstere Differenz nimmt zu mit der letzteren, aber in geringerem Grad.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.651f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Die absolute Größe von v kann trotz seiner relativen Abnahme steigen, da mehr v notwendig ist, um k zu bewegen.<br />
<br />
{{Zitat |Übrigens, wenn der Fortschritt der Akkumulation die relative Größe des variablen Kapitalteils vermindert, schließt er damit die Steigerung ihrer absoluten Größe keineswegs aus.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.652)}}<br />
<br />
==Konzentration des Kapitals==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Kapitalkonzentration, Kapitalakkumulation<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Das Wachstum des gesellschaftlichen Kapitals vollzieht sich im Wachstum vieler individueller Kapitale. Mit ihnen wächst die Konzentration der PM. Zugleich reißen sich Ableger los und fungieren als neue Kapitale. Mit der Akkumulation wächst daher auch die Anzahl der Kapitalisten. Dieser Prozess ist identisch mit der Akkumulation: Wachsende Konzentration der gesellschaftlichen Produktionsmittel in den Händen individueller Kapitalisten. Das Kapital ist verteilt auf viele Punkte, das Wachstum der Kapitale ist durchkreuzt durch die Bildung neuer und die Spaltung alter Kapitale. Akkumulation stellt sich dar als wachsende Konzentration der PM einerseits, andererseits als Repulsion vieler individueller Kapitale.<br />
<br />
{{Zitat |Jedes individuelle Kapital ist eine größere oder kleinere Konzentration von Produktionsmitteln mit entsprechendem Kommando über eine größere oder kleinere Arbeiterarmee. Jede Akkumulation wird das Mittel neuer Akkumulation. Sie erweitert mit der vermehrten Masse des als Kapital funktionierenden Reichtums seine Konzentration in den Händen individueller Kapitalisten, daher die Grundlage der Produktion auf großer Stufenleiter und der spezifisch kapitalistischen Produktionsmethoden. Das Wachstum des gesellschaftlichen Kapitals vollzieht sich im Wachstum vieler individuellen Kapitale. Alle andren Umstände als gleichbleibend vorausgesetzt, wachsen die individuellen Kapitale, und mit ihnen die Konzentration der Produktionsmittel, im Verhältnis, worin sie aliquote Teile des gesellschaftlichen Gesamtkapitals bilden. Zugleich reißen sich Ableger von den Originalkapitalen los und funktionieren als neue selbständige Kapitale. Eine große Rolle spielt dabei unter anderm die Teilung des Vermögens in Kapitalistenfamilien. Mit der Akkumulation des Kapitals wächst daher auch mehr oder minder die Anzahl der Kapitalisten. Zwei Punkte charakterisieren diese Art Konzentration, welche unmittelbar auf der Akkumulation beruht oder vielmehr mit ihr identisch ist. Erstens: Die wachsende Konzentration der gesellschaftlichen Produktionsmittel in den Händen individueller Kapitalisten ist, unter sonst gleichbleibenden Umständen, beschränkt durch den Wachstumsgrad des gesellschaftlichen Reichtums. Zweitens: Der in jeder besondren Produktionssphäre ansässige Teil des gesellschaftlichen Kapitals ist verteilt unter viele Kapitalisten, welche einander als unabhängige und miteinander konkurrierende Warenproduzenten gegenüberstehn. Die Akkumulation und die sie begleitende Konzentration sind also nicht nur auf viele Punkte zersplittert, sondern das Wachstum der funktionierenden Kapitale ist durchkreuzt durch die Bildung neuer und die Spaltung alter Kapitale. Stellt sich die Akkumulation daher einerseits dar als wachsende Konzentration der Produktionsmittel und des Kommandos über Arbeit, so andrerseits als Repulsion vieler individueller Kapitale voneinander.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.653f.)}}<br />
<br />
==Zentralisation der Kapitale==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Zentralisation der Kapitale, Kredit, Zentralisation, Konkurrenz, Kreditwesen, Übernahme, Akkumulation, Vergesellschaftung der Produktion, Organische Zusammensetzung des Kapitals, Arbeitslosigkeit, Industrielle Reservearmee<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Dem entgegen wirkt die nicht mehr einfache Konzentration, die mit der Akkumulation identisch ist, sondern Konzentration bereits gebildeter Kapitale, Aufhebung ihrer individuellen Selbständigkeit, Expropriation von Kapitalist durch Kapitalist. Verwandlung vieler kleinerer in weniger größere Kapitale. Der Unterschied zur Konzentration durch Akkumulation ist, dass er nur eine veränderte Verteilung der bereits vorhandenen und funktionierenden Kapitale voraussetzt. Es ist die eigentliche Zentralisation um Unterschied zur Akkumulation und Konzentration. <br />
<br />
{{Zitat |Dieser Zersplitterung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals in viele individuelle Kapitale oder der Repulsion seiner Bruchteile voneinander wirkt entgegen ihre Attraktion. Es ist dies nicht mehr einfache, mit der Akkumulation identische Konzentration von Produktionsmitteln und Kommando über Arbeit. Es ist Konzentration bereits gebildeter Kapitale, Aufhebung ihrer individuellen Selbständigkeit, Expropriation von Kapitalist durch Kapitalist, Verwandlung vieler kleineren in weniger größere Kapitale. Dieser Prozeß unterscheidet sich von dem ersten dadurch, daß er nur veränderte Verteilung der bereits vorhandnen und funktionierenden Kapitale voraussetzt, sein Spielraum also durch das absolute Wachstum des gesellschaftlichen Reichtums oder die absoluten Grenzen der Akkumulation nicht beschränkt ist. Das Kapital schwillt hier in einer Hand zu großen Massen, weil es dort in vielen Händen verlorengeht. Es ist die eigentliche Zentralisation im Unterschied zur Akkumulation und Konzentration.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.654)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Das Kreditwesen wird eine neue Waffe im Konkurrenzkampf und schließlich in einen ungeheuren sozialen Mechanismus zur Zentralisation der Kapitale verwandelt.<br />
<br />
{{Zitat |Abgesehn hiervon bildet sich mit der kapitalistischen Produktion eine ganz neue Macht, das Kreditwesen, das in seinen Anfängen verstohlen, als bescheidne Beihilfe der Akkumulation, sich einschleicht, durch unsichtbare Fäden die über die Oberfläche der Gesellschaft in größern oder kleinern Massen zersplitterten Geldmittel in die Hände individueller oder assoziierter Kapitalisten zieht, aber bald eine neue und furchtbare Waffe im Konkurrenzkampf wird und sich schließlich in einen ungeheuren sozialen Mechanismus zur Zentralisation der Kapitale verwandelt.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.654f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Die Konkurrenz und der Kredit entwickeln sich mit Akkumulation. Einzelkapitale werden vermehrt. Gesellschaftliches Bedürfnis und technische Mittel schaffen gewaltige industrielle Unternehmungen, deren Durchführung an eine vorangegangene Zentralisation des Kapitals gebunden ist. Der Fortschritt der Zentralisation hängt nicht vom Größenwachstum des gesellschaftlichen Kapitals ab, sie kann durch bloße veränderte Verteilung schon bestehender Kapitale erfolgen. Kapital kann in einer Hand zu gewaltigen Massen anwachsen, weil es vielen einzelnen Händen entzogen wird. In einem Geschäftszweig hätte die Zentralisation ihre Grenze erreicht, wenn alle dort angelegten Kapital zu einem Einzelkapital verschmolzen wären. <br />
<br />
{{Zitat |Im Maß wie die kapitalistische Produktion und Akkumulation, im selben Maß entwickeln sich Konkurrenz und Kredit, die beiden mächtigsten Hebel der Zentralisation. Daneben vermehrt der Fortschritt der Akkumulation den zentralisierbaren Stoff, d.h. die Einzelkapitale, während die Ausweitung der kapitalistischen Produktion, hier das gesellschaftliche Bedürfnis, dort die technischen Mittel jener gewaltigen industriellen Unternehmungen schafft, deren Durchführung an eine vorgängige Zentralisation des Kapitals gebunden ist. Heutzutage ist also die gegenseitige Attraktionskraft der Einzelkapitale und die Tendenz zur Zentralisation stärker als je zuvor. Wenn aber auch die relative Ausdehnung und Energie der zentralisierenden Bewegung in gewissem Grad bestimmt ist durch die schon erreichte Größe des kapitalistischen Reichtums und die Überlegenheit des ökonomischen Mechanismus, so hängt doch der Fortschritt der Zentralisation keineswegs ab von dem positiven Größenwachstum des gesellschaftlichen Kapitals. Und dies speziell unterscheidet die Zentralisation von der Konzentration, die nur ein andrer Ausdruck für die Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter ist. Die Zentralisation kann erfolgen durch bloße veränderte Verteilung schon bestehender Kapitale, durch einfache Veränderung der quantitativen Gruppierung der Bestandteile des gesellschaftlichen Kapitals. Das Kapital kann hier zu gewaltigen Massen in einer Hand anwachsen, weil es dort vielen einzelnen Händen entzogen wird. In einem gegebnen Geschäftszweig hätte die Zentralisation ihre äußerste Grenze erreicht, wenn alle darin angelegten Kapitale zu einem Einzelkapital verschmolzen wären.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.655)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Die Zentralisation ergänzt die Akkumulation. Sie kann auf verschiedenen Wegen stattfinden, durch Annexion, Verschmelzung oder der Bildung von Aktiengesellschaften - die Wirkung bleibt dieselbe. Die Ausdehnung der industriellen Tätigkeit ist Ausgangspunkt für umfassendere Organisation der Gesamtarbeit. Einzelne Produktionsprozesse werden zu gesellschaftlich kombinierten und wissenschaftlich disponierten Produktionsprozessen. <br />
<br />
{{Zitat |Die Zentralisation ergänzt das Werk der Akkumulation, indem sie die industriellen Kapitalisten instand setzt, die Stufenleiter ihrer Operationen auszudehnen. Sei dies letztre Resultat nun Folge der Akkumulation oder der Zentralisation; vollziehe sich die Zentralisation auf dem gewaltsamen Weg der Annexion - wo gewisse Kapitale so überwiegende Gravitationszentren für andre werden, daß sie deren individuelle Kohäsion brechen und dann die vereinzelten Bruchstücke an sich ziehn - oder geschehe die Verschmelzung einer Menge bereits gebildeter, resp. in der Bildung begriffner Kapitale vermittelst des glatteren Verfahrens der Bildung von Aktiengesellschaften - die ökonomische Wirkung bleibt dieselbe. Die gewachsne Ausdehnung der industriellen Etablissements bildet überall den Ausgangspunkt für eine umfassendere Organisation der Gesamtarbeit vieler, für eine breitre Entwicklung ihrer materiellen Triebkräfte, d.h. für die fortschreitende Umwandlung vereinzelter und gewohnheitsmäßig betriebner Produktionsprozesse in gesellschaftlich kombinierte und wissenschaftlich disponierte Produktionsprozesse.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.656)}}<br />
<br />
'''Annahme 5'''<br />
<br />
Die Akkumulation ist ein langsamer, allmählicher Prozess, Zentralisation dagegen schnell. Ohne Zentralisation hätte es sehr lange gedauert, bis einzelne Unternehmen groß genug gewesen wären, um die Eisenbahn zu bauen. Die Zentralisation steigert und beschleunigt die Wirkung der Akkumulation und beschleunigt gleichzeitig die Umwälzungen in der technischen Zusammensetzung des Kapitals – Zunahme des konstanten Kapitals auf Kosten des variablen. Abnahme der Nachfrage nach Arbeit.<br />
<br />
{{Zitat |Es ist aber klar, daß die Akkumulation, die allmähliche Vermehrung des Kapitals durch die aus der Kreisform in die Spirale übergehende Reproduktion ein gar langsames Verfahren ist, im Vergleich mit der Zentralisation, die nur die quantitative Gruppierung der integrierenden Teile des gesellschaftlichen Kapitals zu ändern braucht. Die Welt wäre noch ohne Eisenbahnen, hätte sie solange warten müssen, bis die Akkumulation einige Einzelkapitale dahin gebracht hätte, dem Bau einer Eisenbahn gewachsen zu sein. Die Zentralisation dagegen hat dies, vermittelst der Aktiengesellschaften, im Handumdrehn fertiggebracht. Und während die Zentralisation so die Wirkungen der Akkumulation steigert und beschleunigt, erweitert und beschleunigt sie gleichzeitig die Umwälzungen in der technischen Zusammensetzung des Kapitals, die dessen konstanten Teil vermehren auf Kosten seines variablen Teils und damit die relative Nachfrage nach Arbeit vermindern.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.656)}}<br />
<br />
'''Annahme 6'''<br />
<br />
Das Kapital erneuert sich, vervollkommnete technische Gestalt, geringere Arbeit genügt, um größere Masse Maschinen in Gang zu setzen. Die Abnahme der Nachfrage nach Arbeit wird größer, je mehr Zentralisation. <br />
<br />
{{Zitat |Die im Lauf der normalen Akkumulation gebildeten Zusatzkapitale (s. Kap.XXII, 1) dienen vorzugsweise als Vehikel zur Exploitation neuer Erfindungen und Entdeckungen, überhaupt industrieller Vervollkommnungen. Aber auch das alte Kapital erreicht mit der Zeit den Moment seiner Erneuerung an Haupt und Gliedern, wo es sich häutet und ebenfalls wiedergeboren wird in der vervollkommneten technischen Gestalt, worin eine geringere Masse Arbeit genügte, eine größere Masse Maschinerie und Rohstoffe in Bewegung zu setzen. Die hieraus notwendig folgende absolute Abnahme der Nachfrage nach Arbeit wird selbstredend um so größer, je mehr die diesen Erneuerungsprozeß durchmachenden Kapitale bereits zu Massen angehäuft sind vermöge der zentralisierenden Bewegung. Einerseits attrahiert also das im Fortgang der Akkumulation gebildete Zuschußkapital, verhältnismäßig zu seiner Größe, weniger und weniger Arbeiter. Andrerseits repelliert das periodisch in neuer Zusammensetzung reproduzierte alte Kapital mehr und mehr früher von ihm beschäftigte Arbeiter.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.657)}}<br />
<br />
==Kapitalistische Konkurrenz ==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Konkurrenz, Übernahme, Kredit <br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Die Konkurrenz wird durch Preis der Waren geführt, der von der Produktivität der Arbeit abhängt, dieser wiederum von der Stufenleiter der Produktion. Die größeren Kapitale schlagen die kleineren. Mit Entwicklung der kap. PW ist Minimalumfang des Kapitals größer. Kleinere Kapital drängen daher in Produktionssphären, deren sich die große Industrie noch nicht bemächtigt hat. Viele kleine gehen unter oder landen in der Hand des Siegers.<br/>Mit der kapitalistischen Produktion bildet sich eine neue Macht: Das Kreditwesen. Anfangs als Hilfe der Akkumulation, sich einschleichend, durch unsichtbare Fäden die über die Oberfläche der Gesellschaft in größere oder kleinere Massen zersplitterte Geldmittel in die Hände individueller oder assoziierter Kapitalisten zieht. <br />
<br />
{{Zitat |Der Konkurrenzkampf wird durch Verwohlfeilerung der Waren geführt. Die Wohlfeilheit der Waren hängt, caeteris paribus, von der Produktivität der Arbeit, diese aber von der Stufenleiter der Produktion ab. Die größeren Kapitale schlagen daher die kleineren. Man erinnert sich ferner, daß mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise der Minimalumfang des individuellen Kapitals wächst, das erheischt ist, um ein Geschäft unter seinen normalen Bedingungen zu betreiben. Die kleineren Kapitale drängen sich daher in Produktionssphären, deren sich die große Industrie nur noch sporadisch oder unvollkommen bemächtigt hat. Die Konkurrenz rast hier im direkten Verhältnis zur Anzahl und im umgekehrten Verhältnis zur Größe der rivalisierenden Kapitale. Sie endet stets mit Untergang vieler kleineren Kapitalisten, deren Kapitale teils in die Hand des Siegers übergehn, teils untergehn.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.654f.)}}<br />
<br />
==Entstehung und Funktion der Industriellen Reservearmee ==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Arbeitslosigkeit, Industrielle Reservearmee, Wachstum des Gesamtkapitals, Überbevölkerung, Krise, Aufschwung, Ausbeutung, Relative Mehrwertproduktion, Mehrarbeit, Produktivkraftentwicklung, Variables Kapital, Organische Zusammensetzung des Kapitals, Arbeitslosigkeit, Arbeitslohn, Lohndruck, Nachfrage nach Arbeit, Zyklus <br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Mit Wachstum des Gesamtkapitals wächst zwar auch sein variabler Bestandteil, die ihm einverleibte Arbeitskraft, aber in beständig abnehmender Proportion. <br />
<br />
{{Zitat |Da die Nachfrage nach Arbeit nicht durch den Umfang des Gesamtkapitals, sondern durch den seines variablen Bestandteils bestimmt ist, fällt sie also progressiv mit dem Wachstum des Gesamtkapitals, statt, wie vorhin unterstellt, verhältnismäßig mit ihm zu wachsen. Sie fällt relativ zur Größe des Gesamtkapitals und in beschleunigter Progression mit dem Wachstum dieser Größe. Mit dem Wachstum des Gesamtkapitals wächst zwar auch sein variabler Bestandteil, oder die ihm einverleibte Arbeitskraft, aber in beständig abnehmender Proportion.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.658)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Auf der anderen Seite wächst die Arbeiterbevölkerung schneller als das variable Kapital, es kommt zu einer relativen, also für die durchschnittlichen Verwertungsbedürfnisse des Kapitals überschüssigen, daher überflüssigen Arbeiterbevölkerung. <br />
<br />
<br />
{{Zitat |Diese mit dem Wachstum des Gesamtkapitals beschleunigte und rascher als sein eignes Wachstum beschleunigte relative Abnahme seines variablen Bestandteils scheint auf der andren Seite umgekehrt stets rascheres absolutes Wachstum der Arbeiterbevölkerung als das des variablen Kapitals oder ihrer Beschäftigungsmittel. Die kapitalistische Akkumulation produziert vielmehr, und zwar im Verhältnis zu ihrer Energie und ihrem Umfang, beständig eine relative, d.h. für die mittleren Verwertungsbedürfnisse des Kapitals überschüssige, daher überflüssige oder Zuschuß-Arbeiterbevölkerung.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.658)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Mit Ausdehnung der Produktionsleiter, der Produktivität der Arbeit dehnt sich auch die Stufenleiter, worin größere Attraktion der Arbeiter mit größerer Repulsion derselben verbunden ist. Mit der durch sie selbst produzierten Akkumulation des Kapitals produziert die Arbeiterbevölkerung in wachsendem Umfang die Mittel ihrer eigenen relativen Überzähligmachung. Das ist das der kapitalistischen Produktionsweise eigene Populationsgesetz. <br />
<br />
{{Zitat |Mit der Größe des bereits funktionierenden Gesellschaftskapitals und dem Grad seines Wachstums, mit der Ausdehnung der Produktionsleiter und der Masse der in Bewegung gesetzten Arbeiter, mit der Entwicklung der Produktivkraft ihrer Arbeit, mit dem breiteren und volleren Strom aller Springquellen des Reichtums dehnt sich auch die Stufenleiter, worin größere Attraktion der Arbeiter durch das Kapital mit größerer Repulsion derselben verbunden ist, nimmt die Raschheit der Wechsel in der organischen Zusammensetzung des Kapitals und seiner technischen Form zu, und schwillt der Umkreis der Produktionssphären, die bald gleichzeitig, bald abwechselnd davon ergriffen werden. Mit der durch sie selbst produzierten Akkumulation des Kapitals produziert die Arbeiterbevölkerung also in wachsendem Umfang die Mittel ihrer eignen relativen Uberzähligmachung. Es ist dies ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliches Populationsgesetz, wie in der Tat jede besondre historische Produktionsweise ihre besondren, historisch gültigen Populationsgesetze hat. Ein abstraktes Populationsgesetz existiert nur für Pflanze und Tier, soweit der Mensch nicht geschichtlich eingreift.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.659f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Die überschüssige Bevölkerung ist notwendiges Resultat der Akkumulation und sie ist umgekehrt Hebel der Akkumulation, eben Existenzbedingung der kap. Produktionsweise. Sie ist disponible industrielle Reservearmee, die dem Kapital ganz gehört, ist stets ausbeutbares Menschenmaterial unabhängig von der wirklichen Bevölkerungszunahme. <br />
<br />
{{Zitat |Wenn aber eine Surplusarbeiterpopulation notwendiges Produkt der Akkumulation oder der Entwicklung des Reichtums auf kapitalistischer Grundlage ist, wird diese Übervölkerung umgekehrt zum Hebel der kapitalistischen Akkumulation, ja zu einer Existenzbedingung der kapitalistischen Produktionsweise. Sie bildet eine disponible industrielle Reservearmee, die dem Kapital ganz so absolut gehört, als ob es sie auf seine eignen Kosten großgezüchtet hätte. Sie schafft für seine wechselnden Verwertungsbedürfnisse das stets bereite exploitable Menschenmaterial, unabhängig von den Schranken der wirklichen Bevölkerungszunahme.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.661)}}<br />
<br />
'''Annahme 5'''<br />
<br />
Der zehnjährige Zyklus von Krise und Boom beruht auf der beständigen Bildung der Überbevölkerung. Der industrielle Zyklus rekrutiert wiederum die Überbevölkerung, wird zum entscheidenden Faktor ihrer Reproduktion. <br />
<br />
{{Zitat |Der charakteristische Lebenslauf der modernen Industrie, die Form eines durch kleinere Schwankungen unterbrochnen zehnjährigen Zyklus von Perioden mittlerer Lebendigkeit, Produktion unter Hochdruck, Krise und Stagnation, beruht auf der beständigen Bildung, größern oder geringem Absorption und Wiederbildung der industriellen Reservearmee oder Übervölkerung. Ihrerseits rekrutieren die Wechselfälle des industriellen Zyklus die Übervölkerung und werden zu einem ihrer energischsten Reproduktionsagentien.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.661)}}<br />
<br />
'''Annahme 6'''<br />
<br />
In der frühen Periode des Kapitalismus veränderte sich die Zusammensetzung des Kapitals nur allmählich, es gab keine Überbevölkerung. <br />
<br />
{{Zitat |Dieser eigentümliche Lebenslauf der modernen Industrie, der uns in keinem frühern Zeitalter der Menschheit begegnet, war auch in der Kindheitsperiode der kapitalistischen Produktion unmöglich. Die Zusammensetzung des Kapitals veränderte sich nur sehr allmählich. Seiner Akkumulation entsprach also im Ganzen verhältnismäßiges Wachstum der Arbeitsnachfrage.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.661)}}<br />
<br />
'''Annahme 7'''<br />
<br />
Die Bewegungsform der modernen Industrie erwächst aus der beständigen Verwandlung eines Teils der Arbeiterbevölkerung in unbeschäftigte oder halbbeschäftigte Hände. <br />
<br />
{{Zitat |Die ganze Bewegungsform der modernen Industrie erwächst also aus der beständigen Verwandlung eines Teils der Arbeiterbevölkerung in unbeschäftigte oder halbbeschäftigte Hände. Die Oberflächlichkeit der politischen Ökonomie zeigt sich u.a. darin, daß sie die Expansion und Kontraktion des Kredits, das bloße Symptom der Wechselperioden des industriellen Zyklus, zu deren Ursache macht.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.662)}}<br />
<br />
'''Annahme 8'''<br />
<br />
Wenn der individuelle Arbeiter mehr Arbeit liefert und daher sein Arbeitslohn steigt, obgleich der Arbeitspreis gleich bleibt, wird der Zuwachs von variablem Kapital zu Index von mehr Arbeit, aber nicht mehr Arbeitern. Jeder Kapitalist hat das absolute Interesse, ein bestimmtes Arbeitsquantum aus kleinerer Arbeiterzahl auszupressen<br />
<br />
{{Zitat |Bei gleichbleibender oder selbst verminderter Zahl der von ihm kommandierten Arbeiter wächst jedoch das variable Kapital, wenn der individuelle Arbeiter mehr Arbeit liefert und daher sein Arbeitslohn wächst, obgleich der Arbeitspreis gleichbleibt oder selbst sinkt, nur langsamer, als die Arbeitsmasse steigt. Der Zuwachs des variablen Kapitals wird dann Index von mehr Arbeit, aber nicht von mehr beschäftigten Arbeitern. Jeder Kapitalist hat das absolute Interesse, ein bestimmtes Arbeitsquantum aus kleinerer, statt ebenso wohlfeil oder selbst wohlfeiler aus größerer Arbeiterzahl auszupressen. In dem letzten Fall wächst die Auslage von konstantem Kapital verhältnismäßig zur Masse der in Fluß gesetzten Arbeit, im ersten Fall viel langsamer. Je größer die Stufenleiter der Produktion, desto entscheidender dies Motiv. Seine Wucht wächst mit der Akkumulation des Kapitals.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.664)}}<br />
<br />
'''Annahme 9'''<br />
<br />
Die Produktivkraft der Arbeit befähigt Kapitalisten mit derselben Auslage von v mehr Arbeit durch größere extensive oder intensive Ausbeutung der individuellen Arbeitskräfte flüssig zu machen. Er kauft mit demselben Kapitalwert mehr Arbeitskräfte, indem er geschicktere durch ungeschicktere, reife durch unreife, männliche durch weibliche,…ersetzt.<br/>Ein größeres v macht mehr Arbeit flüssig, ohne mehr Arbeiter zu werben. <br/>v von derselben Größe macht mehr Arbeit mit derselben Masse Arbeitskraft flüssig und mehr niedere durch Verdrängung höherer Arbeitskräfte. <br/>Dies ist wichtig für die Zusammensetzung der AK bzw. für die industrielle Reservearmee (IR).<br />
<br />
{{Zitat |Man hat gesehn, daß die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und Produktivkraft der Arbeit - zugleich Ursache und Wirkung der Akkumulation - den Kapitalisten befähigt, mit derselben Auslage von variablem Kapital mehr Arbeit durch größere extensive oder intensive Exploitation der individuellen Arbeitskräfte flüssig zu machen. Man hat ferner gesehn, daß er mit demselben Kapitalwert mehr Arbeitskräfte kauft, indem er progressiv geschicktere Arbeiter durch ungeschicktere, reife durch unreife, männliche durch weibliche, erwachsne Arbeitskraft durch jugendliche oder kindliche verdrängt. Einerseits macht also, im Fortgang der Akkumulation, größeres variables Kapital mehr Arbeit flüssig, ohne mehr Arbeiter zu werben, andrerseits macht variables Kapital von derselben Größe mehr Arbeit mit derselben Masse Arbeitskraft flüssig und endlich mehr niedere Arbeitskräfte durch Verdrängung höherer.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.664f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 10'''<br />
<br />
Mit der Steigerung der Produktivkraft der Arbeit, steigert das Kapital seine Zufuhr von Arbeit rascher als die von Arbeitern. Die Überarbeit des beschäftigten Teils schwellt die Reihen ihrer Reserve. Reserve übt Druck auf Beschäftigte aus, zwingt sie zu Überarbeit. Zwang zu Müßiggang und Zwang zu Überarbeit wird Bereicherungsmittel des einzelnen Kapitalisten.<br />
<br />
{{Zitat |Wenn die Produktionsmittel, wie sie an Umfang und Wirkungskraft zunehmen, in geringerem Grad Beschäftigungsmittel der Arbeiter werden, wird dies Verhältnis selbst wieder dadurch modifiziert, daß im Maß, wie die Produktivkraft der Arbeit wächst, das Kapital seine Zufuhr von Arbeit rascher steigert als seine Nachfrage nach Arbeitern. Die Überarbeit des beschäftigten Teils der Arbeiterklasse schwellt die Reihen ihrer Reserve, während umgekehrt der vermehrte Druck, den die letztere durch ihre Konkurrenz auf die erstere ausübt, diese zur Überarbeit und Unterwerfung unter die Diktate des Kapitals zwingt. Die Verdammung eines Teils der Arbeiterklasse zu erzwungenem Müßiggang durch Überarbeit des andren Teils und umgekehrt, wird Bereicherungsmittel des einzelnen Kapitalisten und beschleunigt zugleich die Produktion der industriellen Reservearmee auf einem dem Fortschritt der gesellschaftlichen Akkumulation entsprechenden Maßstab.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.665f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 11'''<br />
<br />
Die allgemeinen Bewegungen des Arbeitslohns sind ausschließlich reguliert durch die Expansion und Kontraktion der industriellen Reservearmee, welche dem Periodenwechsel des industriellen Zyklus entsprechen. Sie sind bestimmt durch das wechselnde Verhältnis worin die Arbeiterklasse in aktive Armee und Reservearmee zerfällt. <br />
<br />
{{Zitat |Im großen und ganzen sind die allgemeinen Bewegungen des Arbeitslohns ausschließlich reguliert durch die Expansion und Kontraktion der industriellen Reservearmee, welche dem Periodenwechsel des industriellen Zyklus entsprechen. Sie sind also nicht bestimmt durch die Bewegung der absoluten Anzahl der Arbeiterbevölkerung, sondern durch das wechselnde Verhältnis, worin die Arbeiterklasse in aktive Armee und Reservearmee zerfällt, durch die Zunahme und Abnahme des relativen Umfangs der Übervölkerung, durch den Grad, worin sie bald absorbiert, bald wieder freigesetzt wird.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.666)}}<br />
<br />
'''Annahme 12'''<br />
<br />
Die IR drückt während der Perioden der Stagnation und mittleren Prosperität auf die aktive Arbeiterarmee und hält ihre Ansprüche während der Überproduktion und des Booms im Zaum. Die relative Überbevölkerung ist der Hintergrund, worauf das Gesetz der Nachfrage und Zufuhr von Arbeit sich bewegt. <br />
<br />
{{Zitat |Die industrielle Reservearmee drückt während der Perioden der Stagnation und mittleren Prosperität auf die aktive Arbeiterarmee und hält ihre Ansprüche während der Periode der Überproduktion und des Paroxysmus im Zaum. Die relative Übervölkerung ist also der Hintergrund, worauf das Gesetz der Nachfrage und Zufuhr von Arbeit sich bewegt. Sie zwängt den Spielraum dieses Gesetzes in die der Exploitationsgier und Herrschsucht des Kapitals absolut zusagenden Schranken ein.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.668)}}<br />
<br />
'''Annahme 13'''<br />
<br />
Die Akkumulation des Kapitals vermehrt die Nachfrage nach Arbeit, zugleich setzt sie Arbeiter „frei“. Der Druck der Unbeschäftigten zwingt die Beschäftigten zur Flüssigmachung von mehr Arbeit, macht also die Arbeitszufuhr in gewissem Grad von der Zufuhr von Arbeitern unabhängig. <br />
<br />
{{Zitat |Wenn seine Akkumulation einerseits die Nachfrage nach Arbeit vermehrt, vermehrt sie andrerseits die Zufuhr von Arbeitern durch deren „Freisetzung", während zugleich der Druck der Unbeschäftigten die Beschäftigten zur Flüssigmachung von mehr Arbeit zwingt, also in gewissem Grad die Arbeitszufuhr von der Zufuhr von Arbeitern unabhängig macht.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.669)}}<br />
<br />
==Formen der industriellen Reservearmee ==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Klassenkampf, Überbevölkerung, Industrielle Reservearmee, Flüssige Überbevölkerung, Latente Überbevölkerung, Stockende Überbevölkerung, Landflucht, Armut, Pauperismus, Lumpenproletariat, Gesellschaftlicher Reichtum <br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
In dem selben Maß, wie die Arbeiter mehr arbeiten und die Produktivkraft ihrer Arbeit wächst, desto prekärer wird ihre Funktion als Verwertungsmittel des Kapitals. Wenn sie entdecken, dass der Intensitätsgrad der Konkurrenz unter ihnen vom Druck der relativen Überbevölkerung abhängt, sobald sie durch Trade Unions eine planmäßige Zusammenwirkung zwischen den Beschäftigten und Unbeschäftigten zu organisieren suchen, zetert das Kapital. Jeder Zusammenhalt zwischen den Beschäftigten und Unbeschäftigten stört das „reine“ Spiel jenes Gesetzes. <br />
<br />
{{Zitat |Die Bewegung des Gesetzes der Nachfrage und Zufuhr von Arbeit auf dieser Basis vollendet die Despotie des Kapitals. Sobald daher die Arbeiter hinter das Geheimnis kommen, wie es angeht, daß im selben Maß, wie sie mehr arbeiten, mehr fremden Reichtum produzieren und die Produktivkraft ihrer Arbeit wächst, sogar ihre Funktion als Verwertungsmittel des Kapitals immer prekärer für sie wird; sobald sie entdecken, daß der Intensitätsgrad der Konkurrenz unter ihnen selbst ganz und gar von dem Druck der relativen Übervölkerung abhängt; sobald sie daher durch Trade's Unions usw. eine planmäßige Zusammenwirkung zwischen den Beschäftigten und Unbeschäftigten zu organisieren suchen, um die ruinierenden Folgen jenes Naturgesetzes der kapitalistischen Produktion auf ihre Klasse zu brechen oder zu schwächen, zetert das Kapital und sein Sykophant, der politische Ökonom, über Verletzung des „ewigen“ und sozusagen „heiligen" Gesetzes der Nachfrage und Zufuhr. Jeder Zusammenhalt zwischen den Beschäftigten und Unbeschäftigten stört nämlich das „reine" Spiel jenes Gesetzes. Sobald andrerseits, in den Kolonien z.B., widrige Umstände die Schöpfung der industriellen Reservearmee und mit ihr die absolute Abhängigkeit der Arbeiterklasse von der Kapitalistenklasse verhindern, rebelliert das Kapital, samt seinem gemeinplätzlichen Sancho Pansa, gegen das „heilige" Gesetz der Nachfrage und Zufuhr und sucht ihm durch Zwangsmittel unter die Arme zu greifen.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.669f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Der Arbeiter gehört der rel. Überbevölkerung an, wenn er halb oder gar nicht beschäftigt ist.<br/>Der Phasenwechsel des industriellen Zyklus prägt ihr ihre Formen auf.<br />
Sie besitzt aber immer drei Formen: flüssige, latente, stockende.<br />
<br />
{{Zitat |Die relative Übervölkerung existiert in allen möglichen Schattierungen. Jeder Arbeiter gehört ihr an während der Zeit, wo er halb oder gar nicht beschäftigt ist. Abgesehn von den großen, periodisch wiederkehrenden Formen, welche der Phasenwechsel des industriellen Zyklus ihr aufprägt, so daß sie bald akut in den Krisen erscheint, bald chronisch in den Zeiten flauen Geschäfts, besitzt sie fortwährend drei Formen: flüssige, latente und stockende.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.670)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Die Arbeiter werden repelliert und bald wieder attrahiert – fließende Form der Überbevölkerung.<br />
<br />
{{Zitat |Die Relative Überbevölkerung existiert in allen möglichen Schattierungen [...] besitzt sie fortwährend drei Formen: flüssige, latente und stockende.<br/>In den Zentren der modernen Industrie Fabriken, Manufakturen, Hütten und Bergwerken usw. - werden Arbeiter bald repeliiert, bald in größerem Umfang wieder attrahiert, so daß im großen und ganzen die Zahl der Beschäftigten zunimmt, wenn auch in stets abnehmendem Verhältnis zur Produktionsleiter. Die Übervölkerung existiert hier in fließender Form.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.670)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Der beständige Fluss der Landarbeiter in die Städte setzt eine latente Überbevölkerung voraus. <br />
<br />
{{Zitat |Aber ihr beständiger Fluß nach den Städten setzt auf dem Lande selbst eine fortwährend latente Übervölkerung voraus, deren Umfang nur sichtbar wird, sobald sich die Abzugskanäle ausnahmsweise weit öffnen. Der Landarbeiter wird daher auf das Minimum des Salairs herabgedrückt und steht mit einem Fuß stets im Sumpf des Pauperismus.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.672)}}<br />
<br />
'''Annahme 5'''<br />
<br />
Die stockende Überbevölkerung ist von unregelmäßiger Beschäftigung geprägt und stellt einen unerschöpflichen Behälter disponibler Arbeitskraft dar. Maximum der Arbeitszeit und Minimum des Lohns charakterisieren sie.<br />
<br />
{{Zitat |Die stockende Überbevölkerung ist von unregelmäßiger Beschäftigung geprägt – der unerschöpflicher Behälter disponibler Arbeitskraft. Maximum der Arbeitszeit und Minimum des Salairs charakterisieren sie.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.672)}}<br />
<br />
'''Annahme 6'''<br />
<br />
Der Pauperismus ist der tiefste Niederschlag der relativen Überbevölkerung. Neben dem Lumpenproletariat und den Arbeitsfähigen – deren Masse schwillt mit jeder Krise und mit jedem Aufschwung nimmt sie ab. Waisen- und Pauperkinder, Verkommene Verlumpte, Arbeitsunfähige, die an der durch die Teilung der Arbeit bewirkten Unbeweglichkeit zu Grunde gehen und Invaliden, Verstümmelte. <br />
<br />
{{Zitat |Der tiefste Niederschlag der relativen Übervölkerung endlich behaust die Sphäre des Pauperismus. Abgesehn von Vagabunden, Verbrechern, Prostituierten, kurz dem eigentlichen Lumpenproletariat, besteht diese Gesellschaftsschichte aus drei Kategorien. Erstens Arbeitsfähige. Man braucht die Statistik des englischen Pauperismus nur oberflächlich anzusehn, und man findet, daß seine Masse mit jeder Krise schwillt und mit jeder Wiederbelebung des Geschäfts abnimmt. Zweitens: Waisen- und Pauperkinder. Sie sind Kandidaten der industriellen Reservearmee und werden in Zeiten großen Aufschwungs, wie 1860 z.B., rasch und massenhaft in die aktive Arbeiterarmee einrolliert. Drittens: Verkommene, Verlumpte, Arbeitsunfähige. Es sind namentlich Individuen, die an ihrer durch die Teilung der Arbeit verursachten Unbeweglichkeit untergehn, solche, die über das Normalalter eines Arbeiters hinausleben, endlich die Opfer der Industrie, deren Zahl mit gefährlicher Maschinerie, Bergwerksbau, chemischen Fabriken etc. wächst, Verstümmelte, Verkrankte, Witwen etc. Der Pauperismus bildet das Invalidenhaus der aktiven Arbeiterarmee und das tote Gewicht der industriellen Reservearmee. Seine Produktion ist eingeschlossen in der Produktion der relativen Übervölkerung, seine Notwendigkeit in ihrer Notwendigkeit, mit ihr bildet er eine Existenzbedingung der kapitalistischen Produktion und Entwicklung des Reichtums. Er gehört zu den faux frais der kapitalistischen Produktion, die das Kapital jedoch großenteils von sich selbst ab auf die Schultern der Arbeiterklasse und der kleinen Mittelklasse zu wälzen weiß.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.673)}}<br />
<br />
'''Annahme 7'''<br />
<br />
Je größer der gesellschaftliche Reichtum und das funktionierende Kapital, desto größer die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die IR. Mit den Potenzen des Reichtums wächst die IR. Je größer die IR im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Überbevölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer die Lazarusschicht der Arbeiterklasse und die IR, desto größer der offizielle Pauperismus. Das ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation. <br />
<br />
{{Zitat |Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee. Die disponible Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen entwickelt wie die Expansivkraft des Kapitals. Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums. Je größer aber diese Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Übervölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschichte der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation. Es wird gleich allen andren Gesetzen in seiner Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert, deren Analyse nicht hierher gehört.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.673f.)}}<br />
<br />
==Armut und Reichtum==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Armut, Reichtum, Lohndruck, Arbeitsdruck, Entfremdung, Verrohung<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Der Fortschritt der Produktivität drückt sich auf kapitalistischer Grundlage so aus, dass je höher die Produktivkraft der Arbeit, desto größer der Druck der Arbeiter auf ihre Beschäftigungsmittel, desto prekärer ihre Existenzbedingung. Die bedeutet Verkauf der eigenen Kraft zur Vermehrung fremden Eigentums. <br />
<br />
{{Zitat |Das Gesetz, wonach eine immer wachsende Masse von Produktionsmitteln, dank dem Fortschritt in der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit, mit einer progressiv abnehmenden Ausgabe von Menschenkraft in Bewegung gesetzt werden kann - dies Gesetz drückt sich auf kapitalistischer Grundlage, wo nicht der Arbeiter die Arbeitsmittel, sondern die Arbeitsmittel den Arbeiter anwenden, darin aus, daß, je höher die Produktivkraft der Arbeit, desto größer der Druck der Arbeiter auf ihre Beschäftigungsmittel, desto prekärer also ihre Existenzbedingung: Verkauf der eignen Kraft zur Vermehrung des fremden Reichtums oder zur Selbstverwertung des Kapitals. Rascheres Wachstum der Produktionsmittel und der Produktivität der Arbeit als der produktiven Bevölkerung drückt sich kapitalistisch also umgekehrt darin aus, daß die Arbeiterbevölkerung stets rascher wächst als das Verwertungsbedürfnis des Kapitals.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.674)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Die Steigerung der ges. Produktivkraft der Arbeit auf Kosten des individuellen Arbeiters. Die Mittel der Entwicklung der Produktion schlagen um in Beherrschungs- und Exploitationsmittel, verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine, vernichten mit der Qual seiner Arbeit ihren Inhalt.<br/> Alle Methoden zur Produktion des Mehrwerts sind zugleich Methoden der Akkumulation. Es folgt daher, dass im Maße wie Kapital akkumuliert wird, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muss. Das Gesetz, dass die relative Überbevölkerung stets mit Umfang und Energie der Akkumulation im Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als Prometheus die Keile des Hephaistos an den Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf der Seite der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert. <br />
<br />
{{Zitat |Wir sahen im vierten Abschnitt bei Analyse der Produktion des relativen Mehrwerts: innerhalb des kapitalistischen Systems vollziehn sich alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit auf Kosten des individuellen Arbeiters; alle Mittel zur Entwicklung der Produktion schlagen um in Beherrschungs- und Exploitationsmittel des Produzenten, verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine, vernichten mit der Qual seiner Arbeit ihren Inhalt, entfremden ihm die geistigen Potenzen des Arbeitsprozesses im selben Maße, worin letzterem die Wissenschaft als selbständige Potenz einverleibt wird; sie verunstalten die Bedingungen, innerhalb deren er arbeitet, unterwerfen ihn während des Arbeitsprozesses der kleinlichst gehässigen Despotie, verwandeln seine Lebenszeit in Arbeitszeit, schleudern sein Weib und Kind unter das Juggernaut-Rad des Kapitals. Aber alle Methoden zur Produktion des Mehrwerts sind zugleich Methoden der Akkumulation, und jede Ausdehnung der Akkumulation wird umgekehrt Mittel zur Entwicklung jener Methoden. Es folgt daher, daß im Maße wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muß. Das Gesetz endlich, welches die relative Übervölkerung oder industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Akkumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.674f.)}}<br />
<br />
==Kapitalmonopol als Fessel der Produktionsweise==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Verhältnis zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, Zentralisation, Stagnation, Monopole<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Mit Zentralisation des Kapitals entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses. Mit der abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten wächst die Masse des Elends. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreicht einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. <br />
<br />
{{Zitat |Diese Expropriation vollzieht sich durch das Spiel der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion selbst, durch die Zentralisation der Kapitale. Je ein Kapitalist schlägt viele tot. Hand in Hand mit dieser Zentralisation oder der Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewußte technische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit, die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes. Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.790f.)}}<br />
<br />
==Der Tendenzielle Fall der Profitrate==<br />
<br />
'''Kurzdefinition'''<br />
<br />
Das „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ beschreibt den Fall der allgemeinen Profitrate als einen tendenziellen Verlauf. Da nur die menschliche Arbeit Werte schafft, ergibt sich der Profit ausschließlich aus dem unbezahlten Teil der Arbeit, den sich der Kapitalist aneignet. Diese unbezahlte Arbeit drückt sich im Mehrwert aus. Da der Anteil lebendiger Arbeit, das variable Kapital, durch die fortlaufende technische Entwicklung abnimmt, nimmt auch die Masse des Mehrwerts ab. Diese Abnahme der lebendigen Arbeit ergibt einen Fall der Profitrate. Dieser wird durch mehrere Ursachen aufgehalten und gehemmt, weswegen der Fall der Profitrate nur als Tendenz aufritt und nicht absolut.<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Tendenzieller Fall der Profitrate, Gesamtkapital, Variables Kapital, Konstantes Kapital, Kapital, Produktivkraft, Akkumulation, Zusammensetzung, Profitrate<br />
<br />
'''Einordnung'''<br />
<br />
Die Theorie des Tendenziellen Falls der Profitrate wird von Karl Marx im [[Das Kapital (Literatureinleitung)|Kapital]] dargestellt.<br />
<br />
''Der Fall der allgemeinen Profitrate war in der klassischen Nationalökonomie bereits eine der gängigen Vorstellungen. Allerdings war es noch unklar wie ein Sinken der Profitrate zu Stande kommt. Vorläufige Erklärungen und Theorien waren zu oberflächlich. Marx forschte nach den Ursachen und fand diese in der stetigen Veränderung der Zusammensetzung des Kapitals und der Theorie des Mehrwerts. Das Marx'sche „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ stößt ebenfalls auf Kritik seitens Michael Heinrich und Nobuo Okishio. Laut Heinrich würde keine von Marx' Varianten eine fallende Profitrate beweisen können. Währenddessen sollen die Ergebnisse des Okishio-Theorems des Ökonomen Nobuo Okishios der Marx'schen Annahme widersprechen.''<br />
<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Der tendenzielle Fall der Profitrate steht im Zusammenhang mit der organischen Zusammensetzung des Gesamtkapitals. Nimmt der Anteil der lebendigen Arbeit im Verhältnis zum konstantem Kapital ab, sinkt die Profitrate.<br />
Durch die kapitalistische Produktionsweise nimmt das variable Kapital proportional zum Gesamtkapital ab. Aufgrund dieser proportionalen Abnahme des variablen Bestandteils sinkt die Nachfrage nach lebendiger Arbeit progressiv mit dem Wachstum des Gesamtkapitals und erzeugt somit auch eine überschüssige, daher überflüssige oder Zuschuß-Arbeiterbevölkerung die nicht am Produktionsprozess beteiligt ist. <br />
Die Zunahme des konstanten Kapitals im Verhältnis zum variablen Kapitalteil ist das Resultat der fortschreitenden Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit.<br />
Das heißt, dass die Entwicklung der Produktivkräfte den tendenziellen Fall der Profitrate zur Folge hat. Da durch die Entwicklung der Produktion die angewandte lebendige Arbeit im Verhältnis zum konstanten Kapital abnimmt, so muss auch die unbezahlte Mehrarbeit abnehmen die sich in Form des Mehrwerts äußerst. Dieser Rückgang des Mehrwerts bewirkt wiederum einen stetigen Fall der Profitrate.<br />
<br />
<br />
{{Zitat |Die Akkumulation des Kapitals, welche ursprünglich nur als seine quantitative Erweiterung erschien, vollzieht sich, wie wir gesehn, in fortwährendem qualitativen Wechsel seiner Zusammensetzung, in beständiger Zunahme seines konstanten auf Kosten seines variablen Bestandteil. Die spezifisch kapitalistische Produktionsweise, die ihr entsprechende Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit, der dadurch verursachte Wechsel in der organischen Zusammensetzung des Kapitals halten nicht nur Schritt mit dem Fortschritt der Akkumulation oder dem Wachstum des gesellschaftlichen Reichtums. Sie schreiten ungleich schneller, weil die einfache Akkumulation oder die absolute Ausdehnung des Gesamtkapitals von der Zentralisation seiner individuellen Elemente, und die technische Umwälzung des Zusatzkapitals von technischer Umwälzung des Originalkapitals begleitet sind. Mit dem Fortgang der Akkumulation wandelt sich also das Verhältnis von konstantem zu variablem Kapitalteil, wenn ursprünglich 1: 1, in 2: 1,3: 1,4: 1,5: 1, 7: 1 usw. … Da die Nachfrage nach Arbeit nicht durch den Umfang des Gesamtkapitals, sondern durch den seines variablen Bestandteils bestimmt ist, fällt sie also progressiv mit dem Wachstum des Gesamtkapitals, statt, wie vorhin unterstellt, verhältnismäßig mit ihm zu wachsen. Sie fällt relativ zur Größe des Gesamtkapitals und in beschleunigter Progression mit dem Wachstum dieser Größe. Mit dem Wachstum des Gesamtkapitals wächst zwar auch sein variabler Bestandteil, oder die ihm einverleibte Arbeitskraft, aber in beständig abnehmender Proportion. …Diese mit dem Wachstum des Gesamtkapitals beschleunigte und rascher als sein eignes Wachstum beschleunigte relative Abnahme seines variablen Bestandteils scheint auf der andren Seite umgekehrt stets rascheres absolutes Wachstum der Arbeiterbevölkerung als das des variablen Kapitals oder ihrer Beschäftigungsmittel. Die kapitalistische Akkumulation produziert, und zwar im Verhältnis zu ihrer Energie und ihrem Umfang, beständig eine relative, d.h. für die mittleren Verwertungsbedürfnisse des Kapitals überschüssige, daher überflüssige oder Zuschuß-Arbeiterbevölkerung.| ([https://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/mew_band23.pdf Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.657f.])}}<br />
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<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Die Zunahme des konstanten Kapitals im Verhältnis zum variablen Kapitalteil ist das Resultat der fortschreitenden Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit.<br />
Das heißt, dass die Entwicklung der Produktivkräfte den tendenziellen Fall der Profitrate zur Folge hat. Da durch die Entwicklung der Produktion die angewandte lebendige Arbeit im Verhältnis zum konstanten Kapital abnimmt, so muss auch die unbezahlte Mehrarbeit abnehmen die sich in Form des Mehrwerts äußerst. Dieser Rückgang des Mehrwerts bewirkt wiederum einen stetigen Fall der Profitrate.<br />
<br />
<br />
{{Zitat |„Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate 13. Kapital, Das Gesetz als solches. Bei gegebnem Arbeitslohn und Arbeitstag stellt ein variables Kapital, z.B. von 100, eine bestimmte Anzahl in Bewegung gesetzter Arbeiter vor; es ist der Index dieser Anzahl. Z.B. 100 Pfd.St. sei der Arbeitslohn für 100 Arbeiter, sage für eine Woche. Verrichten diese 100 Arbeiter ebensoviel notwendige Arbeit wie Mehrarbeit, arbeiten sie also täglich ebensoviel Zeit für sich selbst, d.h. für die Reproduktion ihres Arbeitslohns, wie für den Kapitalisten, d.h. für die Produktion von Mehrwert, so wäre ihr Gesamtwertprodukt = 200 Pfd.St. und der von ihnen erzeugte Mehrwert betrüge 100 Pfd.St. Die Rate des Mehrwerts m/v wäre =100% . Diese Rate des Mehrwerts würde sich jedoch, wie wir gesehn, in sehr verschiednen Profitraten ausdrücken, je nach dem verschiednen Umfang des konstanten Kapitals c und damit des Gesamtkapitals C, da die Profitrate = m/C . <br />
Ist die Mehrwertsrate 100%,: <br />
Wenn c = 50, v = 100, so ist p' = 100/150 = 66,66 %. <br />
Wenn c = 100, v = 100, so ist p' =100/200 = 50%. <br />
Wenn c = 200, v = 100, so ist p' = 100/300 = 33,33%. <br />
Wenn c = 300, v = 100, so ist p' = 100/400 = 25%. <br />
Wenn c = 400, v = 100, so ist p' = 100/500 = 20%. <br />
Dieselbe Rate des Mehrwerts, bei unverändertem Exploitationsgrad der Arbeit, würde sich so in einer fallenden Profitrate ausdrücken, weil mit seinem materiellen Umfang, wenn auch nicht im selben Verhältnis, auch der Wertumfang des konstanten und damit des Gesamtkapitals wächst<br />
Nimmt man nun ferner an, daß diese graduelle Veränderung in der Zusammensetzung des Kapitals sich nicht bloß in vereinzelten Produktionssphären zuträgt, sondern mehr oder weniger in allen, oder doch in den entscheidenden Produktionssphären, daß sie also Veränderungen in der organischen Durchschnittszusammensetzung des einer bestimmten Gesellschaft angehörigen Gesamtkapitals einschließt, so muß dies allmähliche Anwachsen des konstanten Kapitals, im Verhältnis zum variablen, notwendig zum Resultat haben einen graduellen Fall in der allgemeinen Profitrate bei gleichbleibender Rate des Mehrwerts oder gleichbleibendem Exploitationsgrad der Arbeit durch das Kapital. Nun hat sich aber gezeigt, als ein Gesetz der kapitalistischen Produktionsweise, daß mit ihrer Entwicklung eine relative Abnahme des variablen Kapitals im Verhältnis zum konstanten Kapital und damit im Verhältnis zu dem in Bewegung gesetzten Gesamtkapital stattfindet. Es heißt dies nur, daß dieselbe Arbeiterzahl, dieselbe Menge Arbeitskraft, disponibel gemacht durch ein variables Kapital von gegebnem Wertumfang, infolge der innerhalb der kapitalistischen Produktion sich entwickelnden eigentümlichen Produktionsmethoden, eine stets wachsende Masse Arbeitsmittel, Maschinerie und fixes Kapital aller Art, Roh- und Hilfsstoffe in derselben Zeit in Bewegung setzt, verarbeitet, produktiv konsumiert - daher auch ein konstantes Kapital von stets wachsendem Wertumfang. Diese fortschreitende relative Abnahme des variablen Kapitals im Verhältnis zum konstanten und daher zum Gesamtkapital ist identisch mit der fortschreitend höhern organischen Zusammensetzung des gesellschaftlichen Kapitals in seinem Durchschnitt. Es ist ebenso nur ein andrer Ausdruck für die fortschreitende Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit, die sich grade darin zeigt, daß vermittelst der wachsenden Anwendung von Maschinerie und fixem Kapital überhaupt mehr Roh- und Hilfsstoffe von derselben Anzahl Arbeiter in derselben Zeit, d.h. mit weniger Arbeit in Produkte verwandelt werden. Es entspricht diesem wachsenden Wertumfang des konstanten Kapitals - obgleich er nur entfernt das Wachstum in der wirklichen Masse der Gebrauchswerte darstellt, aus denen das konstante Kapital stofflich besteht - eine wachsende Verwohlfeilerung des Produkts. Jedes individuelle Produkt, für sich betrachtet, enthält eine geringre Summe von Arbeit, als auf niedrigem Stufen der Produktion, wo das in Arbeit ausgelegte Kapital in ungleich größrem Verhältnis steht zu dem in Produktionsmitteln ausgelegten. Die im Eingang hypothetisch aufgestellte Reihe drückt also die wirkliche Tendenz der kapitalistischen Produktion aus. Diese erzeugt mit der fortschreitenden relativen Abnahme des variablen Kapitals gegen das konstante eine steigend höhere organische Zusammensetzung des Gesamtkapitals, deren unmittelbare Folge ist, daß die Rate des Mehrwerts bei gleichbleibendem und selbst bei steigendem Exploitationsgrad der Arbeit sich in einer beständig sinkenden allgemeinen Profitrate ausdrückt. (Es wird sich weiter zeigen1 *, warum dies Sinken nicht in dieser absoluten Form, sondern mehr in Tendenz zum progressiven Fall hervortritt.) Die progressive Tendenz der allgemeinen Profitrate zum Sinken ist also nur ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümlicher Ausdruck für die fortschreitende Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit. Es ist damit nicht gesagt, daß die Profitrate nicht auch aus andren Gründen vorübergehend fallen kann, aber es ist damit aus dem Wesen der kapitalistischen Produktionsweise als eine selbstverständliche Notwendigkeit bewiesen, daß in ihrem Fortschritt die allgemeine Durchschnittsrate des Mehrwerts sich in einer fallenden allgemeinen Profitrate ausdrücken muß. Da die Masse der angewandten lebendigen Arbeit stets abnimmt im Verhältnis zu der Masse der von ihr in Bewegung gesetzten vergegenständlichten Arbeit, der produktiv konsumierten Produktionsmittel, so muß auch der Teil dieser lebendigen Arbeit, der unbezahlt ist und sich in Mehrwert vergegenständlicht, in einem stets abnehmenden Verhältnis stehn zum Wertumfang des angewandten Gesamtkapitals. Dies Verhältnis der Mehrwertsmasse zum Wert des angewandten Gesamtkapitals bildet aber die Profitrate, die daher beständig fallen muß.“| ([https://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/mew_band25.pdf Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.221ff.])}}<br />
<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Die Erzeugung relativen Mehrwerts drängt dazu möglichst viel Arbeit in Mehrwert zu verwandeln und gleichzeitig die Masse der lebendigen Arbeit im Verhältnis zum vorgeschoßenen Gesamtkapital zu verringern. Diese Veränderung der organischen Zusammensetzung des Gesamtkapitals verdeutlicht sich somit in einem Fall der Profitrate. <br />
<br />
{{Zitat |Sonst ist es bereits nachgewiesen - und bildet das eigentliche Geheimnis des tendenziellen Falls der Profitrate - , daß die Prozeduren zur Erzeugung von relativem Mehrwert im ganzen und großen darauf hinauslaufen: einerseits von einer gegebnen Masse Arbeit möglichst viel in Mehrwert zu verwandeln, andrerseits im Verhältnis zum vorgeschoßnen Kapital möglichst wenig Arbeit überhaupt anzuwenden; so daß dieselben Gründe, welche erlauben, den Exploitationsgrad der Arbeit zu erhöhen, es verbieten, mit demselben Gesamtkapital ebensoviel Arbeit wie früher zu exploitieren. Dies sind die widerstreitenden Tendenzen, die, während sie auf eine Steigerung in der Rate des Mehrwerts, gleichzeitig auf einen Fall der von einem gegebnen Kapital erzeugten Masse des Mehrwerts und daher der Rate des Profits hinwirken.| ([https://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/mew_band25.pdf Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.243])}}<br />
<br />
==Sozialistische Revolution==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Revolution, Enteignung<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Die Expropriation der Expropriateure wird durch die Volksmassen stattfinden. <br />
<br />
{{Zitat |Die Verwandlung des auf eigner Arbeit der Individuen beruhenden, zersplitterten Privateigentums in kapitalistisches ist natürlich ein Prozeß, ungleich mehr langwierig, hart und schwierig als die Verwandlung des tatsächlich bereits auf gesellschaftlichem Produktionsbetrieb beruhenden kapitalistischen Eigentums in gesellschaftliches. Dort handelte es sich um die Expropriation der Volksmasse durch wenige Usurpatoren, hier handelt es sich um die Expropriation weniger Usurpatoren durch die Volksmasse.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.791)}}<br />
<br />
==Produktionsmittel und Konsumtionsmittel==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Einfache Reproduktion, Produktionsmittel, Konsumtionsmittel<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Das Gesamtprodukt der Gesellschaft zerfällt in zwei Abteilungen. I. Produktionsmittel, II. Konsumtionsmittel.<br/>Weiter in c und v. <br />
<br />
{{Zitat |Die zwei Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion<br/>Das Gesamtprodukt, also auch die Gesamtproduktion, der Gesellschaft zerfällt in zwei große Abteilungen:<br/>I. Produktionsmittel, Waren, welche eine Form besitzen, worin sie in die produktive Konsumtion eingehn müssen oder wenigstens eingehn können.<br/>II. Konsumtionsmittel, Waren, welche eine Form besitzen, worin sie in die individuelle Konsumtion der Kapitalisten- und Arbeiterklasse eingehn. In jeder dieser Abteilungen bilden sämtliche verschiedne ihr angehörige Produktionszweige einen einzigen großen Produktionszweig, die einen den der Produktionsmittel, die andern den der Konsumtionsmittel. Das in jedem der beiden Produktionszweige angewandte gesamte Kapital bildet eine besondre große Abteilung des gesellschaftlichen Kapitals.| (Marx, Kapital 2.Band, MEW Band 24, S.394)}}<br />
<br />
==Zyklische Bewegung des Industriekapitals==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Industriekapital, Zyklische Bewegung des Kapitals, Geldkapital, Warenkapital, Stagnation, Schatzbildung, Mehrwertschöpfung, Zirkulation, Reproduktion, Monopolisierung<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Das Industriekapital nimmt drei Formen an: Produktives Kapital, Warenkapital und Geldkapital. Sie sind keine eigenständigen Kapitalsorten, sondern Funktionsformen des Industriekapitals. Der Kreislauf des Kapitals kann stocken. Wenn G-W stockt, erstarrt das Geldkapital. Wenn er in der Produktionsphase stockt, liegen die Produktionsmittel brach, Arbeiter bleiben unbeschäftigt. Wenn der Kreislauf an der Stelle W‘-G‘ stockt, bleiben unverkäufliche Waren liegen und versperren den Zirkulationsfluss.<br />
<br />
{{Zitat |Die beiden Formen, die der Kapitalwert innerhalb seiner Zirkulationsstadien annimmt, sind die von Geldkapital und Warenkapital; seine dem Produktionsstadium angehörige Form ist die von produktivem Kapital. Das Kapital, welches im Verlauf seines Gesamtkreislaufs diese Formen annimmt und wieder abstreift und in jeder die ihr entsprechende Funktion vollzieht, ist industrielles Kapital - industriell hier in dem Sinn, daß es jeden kapitalistisch betriebnen Produktionszweig umfaßt. Geldkapital, Warenkapital, produktives Kapital bezeichnen hier also nicht selbständige Kapitalsorten, deren Funktionen den Inhalt gleichfalls selbständiger und voneinander getrennter Geschäftszweige bilden. Sie bezeichnen hier nur besondre Funktionsformen des industriellen Kapitals, das sie alle drei nacheinander annimmt.<br/> Der Kreislauf des Kapitals geht nur normal vonstatten, solange seine verschiednen Phasen ohne Stockung ineinander übergehn. Stockt das Kapital in der ersten Phase G - W , so erstarrt das Geldkapital zum Schatz; wenn in der Produktionsphase, so liegen die Produktionsmittel funktionslos auf der einen Seite, während die Arbeitskraft auf der andern unbeschäftigt bleibt; wenn in der letzten Phase W ' - G ' , so versperren unverkäuflich aufgehäufte Waren den Zirkulationsfluß.| (Marx, Kapital 2.Band, MEW Band 24, S.56)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Industrielles Kapital ist die einzige Daseinsweise des Kapitals, die Mehrwert schöpft und den kap. Charakter der Produktion bedingt.<br/>Technik und gesellschaftliche Organisation des Arbeitsprozesses werden durch industrielles Kapital umgewälzt.<br/> Alle anderen Arten von Kapital werden ihm untergeordnet und entsprechend seines Mechanismus verändert, bewegen sich nur auf seiner Grundlage – stehen und fallen mit ihr.<br/> Waren- und Geldkapital sind auch wenn sie als eigene Geschäftszweige auftreten, nur Funktionsweisen des industriellen Kapitals.<br />
<br />
{{Zitat |Das industrielle Kapital ist die einzige Daseinsweise des Kapitals, worin nicht nur Aneignung von Mehrwert, resp. Mehrprodukt, sondern zugleich dessen Schöpfung Funktion des Kapitals ist. Es bedingt daher den kapitalistischen Charakter der Produktion; sein Dasein schließt das des Klassengegensatzes von Kapitalisten und Lohnarbeitern ein.<br/> Im Maß wie es sich der gesellschaftlichen Produktion bemächtigt, werden Technik und gesellschaftliche Organisation des Arbeitsprozesses umgewälzt, und damit der ökonomisch-geschichtliche Typus der Gesellschaft.<br/> Die andern Arten von Kapital, die vor ihm inmitten vergangner oder untergehender gesellschaftlicher Produktionszustände erschienen, werden ihm nicht nur untergeordnet und im Mechanismus ihrer Funktionen ihm entsprechend verändert, sondern bewegen sich nur noch auf seiner Grundlage, leben und sterben, stehen und fallen daher mit dieser ihrer Grundlage.<br/>Geldkapital und Warenkapital, soweit sie mit ihren Funktionen als Träger eigner Geschäftszweige neben dem industriellen Kapital auftreten, sind nur noch durch die gesellschaftliche Teilung der Arbeit verselbständigte und einseitig ausgebildete Existenzweisen der verschiednen Funktionsformen, die das industrielle Kapital innerhalb der Zirkulationssphäre bald annimmt, bald abstreift.| (Marx, Kapital 2.Band, MEW Band 24, S.61)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Gesamtproduktionsprozess des Kapitals heißt: Reproduktionsprozess sowie Kreislauf aller Elemente.<br/> Alle Teile durchlaufen Kreisläufe. Alle drei Formen sind beständig vorhanden durch den Kreislauf des Gesamtkapitals durch diese drei Phasen: Waren-, Geld-, produktives Kapital.<br />
<br />
{{Zitat |Es ist eine notwendige Bedingung für den Gesamtproduktionsprozeß, besonders für das gesellschaftliche Kapital, daß er zugleich Reproduktionsprozeß, und daher Kreislauf jedes seiner Momente ist. Verschiedne Bruchteile des Kapitals durchlaufen sukzessiv die verschiednen Stadien und Funktionsformen.<br/>Jede Funktionsform, obgleich sich stets ein andrer Teil des Kapitals darin darstellt, durchläuft dadurch gleichzeitig mit den andren ihren eignen Kreislauf. Ein Teil des Kapitals, aber ein stets wechselnder, stets reproduziert, existiert als Warenkapital, das sich in Geld verwandelt; ein andrer als Geldkapital, das sich in produktives verwandelt; ein dritter als produktives Kapital, das sich in Warenkapital verwandelt. Das beständige Vorhandensein aller drei Formen ist vermittelt durch den Kreislauf des Gesamtkapitals durch eben diese drei Phasen.| (Marx, Kapital 2.Band, MEW Band 24, S.108)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Je größer die Störungen sind, desto mehr Geldkapital muss der industrielle Kapitalist besitzen, um Ausgleichungen abwarten zu können.<br/>Durch Wachstum des vorzuschießenden Kapitals werden industrielle Kapitalisten mehr und mehr in ein Monopol großer Geldkapitalisten verwandelt.<br />
<br />
{{Zitat |Ganz normal verläuft der Prozeß nur, wenn die Wertverhältnisse konstant bleiben; er verläuft faktisch, solange sich Störungen in der Wiederholung des Kreislaufs ausgleichen; je größer die Störungen, um so größres Geldkapital muß der industrielle Kapitalist besitzen, um die Ausgleichung abwarten zu können; und da im Fortgang der kapitalistischen Produktion sich die Stufenleiter jedes individuellen Produktionsprozesses, und mit ihm die Minimalgröße des vorzuschießenden Kapitals erweitert, so kommt jener Umstand zu den andren, die die Funktion des industrieller Kapitalisten mehr und mehr in ein Monopol großer Geldkapitalisten, vereinzelter der assoziierter, verwandeln.| (Marx, Kapital 2.Band, MEW Band 24, S.111)}}<br />
<br />
==Möglichkeiten einer Wirtschaftskrise==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Krise, Zirkulation, Geld als Zirkulationsmittel, Marktanteil, Metamorphose des Kapitals, Weltmarkt, Überproduktion, Industrieproduktion<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
In der Zirkulation sind Kauf und Verkauf zeitlich und räumlich voneinander getrennt, sie sind scheinbar selbständig. Da sie aber wesentliche Momente eines Ganzen sind, muss ein Moment eintreten, in dem diese Selbständigkeit gebrochen wird und die innere Einheit wieder hergestellt wird.<br />
Dieses Auseinanderfallen des Austauschs mit Geld als Zirkulationsmittel beinhaltet die Möglichkeit für den Keim einer Krise.<br />
<br />
{{Zitat |Insofern Kauf und Verkauf, die beiden wesentlichen Momente der Zirkulation, gleichgültig gegeneinander sind, in Raum und Zeit getrennt, brauchen sie keineswegs zusammenzufallen. Ihre Gleichgültigkeit kann zur Befestigung und scheinbaren Selbständigkeit des einen gegen das andere fortgehen. (So dass einer nur kauft, ohne zu verkaufen – Warenhortung –, oder dass einer nur verkauft, ohne zu kaufen – Geldhortung, Schatzbildung.) Indem Kauf und Verkauf aber beide wesentlich Momente eines Ganzen bilden (der Warenproduzent verkauft seine Ware, um mit dem Geld andere Ware zu kaufen, die seine Bedürfnisse befriedigt), muss ein Moment eintreten, wo die selbständige Gestalt gewaltsam gebrochen und die innere Einheit äußerlich durch eine gewaltsame Explosion hergestellt wird. So liegt schon in der Bestimmung des Geldes als Mittler, in dem Auseinanderfallen des Austauschs in zwei Akte, der Keim der Krisen, wenigstens ihrer Möglichkeit, die nicht realisiert werden kann, als die, wo die Grundbedingungen der klassisch ausgebildeten, ihrem Begriff entsprechenden Zirkulation vorhanden sind.| (Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Fotomechanischer Nachdruck der beiden Teile des im Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau, 1939 und 1941 erschienen Ausgaben, EVA Frankfurt/M, S. 112f)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Ziel des Kapitalisten ist, so viel Platz auf dem Markt einzunehmen, wie es sein verfügbares Kapital zulässt, indem er sich einen größeren Anteil des Marktes aneignet oder den Markt selbst erweitert.<br />
<br />
{{Zitat |Was aber den einzelnen Kapitalisten betrifft, so misst er den Umfang seiner Produktion durch den seines verfügbaren Kapitals, soweit er es noch selbst überwachen kann. Was er im Auge hat, ist, so viel Platz wie möglich auf dem Markt einzunehmen. Wird überproduziert, so schiebt er die Schuld nicht sich, sondern seinen Konkurrenten zu. Der einzelne Kapitalist kann seine Produktion ausdehnen, ebenso wohl indem er einen größeren Anteil des gegebenen Markts sich aneignet, als auch indem er den Markt selbst erweitert.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.685)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Geld fungiert als Zirkulationsmittel als Maß der Werte und Realisierung des Werts. Diese Momente, Kauf und Verkauf, fallen auseinander: Der Wert der Ware kann sich verändern oder in einem bestimmten Zeitraum nicht verkauft werden. Alle davon abhängigen Transaktionen, eine Reihe von Zahlungen, können nicht erfüllt werden: Möglichkeit der Krise.<br />
<br />
Auseinanderfallen von Kauf und Verkauf sind aber nie Ursache der Krise. Diese ist aus den allgemeinen Bedingungen der kapitalistischen Produktion zu entwickeln.<br />
<br />
{{Zitat |1. Die allgemeine Möglichkeit der Krisen ist in dem Prozess der Metamorphose des Kapitals [Geldkapital – Warenkapital – Geldkapital] selbst gegeben und zwar doppelt, soweit das Geld als Zirkulationsmittel fungiert – Auseinanderfallen von Kauf und Verkauf. Soweit es als Zahlungsmittel fungiert, wo es in zwei verschiedenen Momenten wirkt, als Maß der Werte und als Realisierung des Werts. Diese beiden Momente fallen auseinander. Hat der Wert sich geändert in dem Intervalle, ist die Ware im Moment ihres Verkaufs nicht wert, was sie wert war im Moment, wo das Geld das Maß der Ware war, […] dann kann aus dem Erlös der Ware die Obligation nicht erfüllt werden und daher die ganze Reihe der Transaktionen nicht saldiert werden, die rückgängig von dieser einen abhängen.<br/>Kann die Ware auch nur in einem bestimmten Zeitraum nicht verkauft werden, selbst wenn ihr Wert nicht sich änderte, so kann das Geld nicht als Zahlungsmittel funktionieren, da es in bestimmter, vorausgesetzter Frist als solches funktionieren muss. Da dieselbe Geldsumme aber hier für eine Reihe von wechselseitigen Transaktionen und Obligationen funktioniert, tritt hier Zahlungsunfähigkeit nicht nur in einem, sondern vielen Punkten ein, daher Krise.<br/>Aber im letzteren Fall ist die Krise nicht nur da, weil Ware unverkäuflich ist, sondern weil sie nicht in bestimmtem Zeitraum verkäuflich ist, und die Krise entsteht und leitet ihren Charakter her nicht nur von der Unverkäuflichkeit der Ware, sondern von der Nichtrealisierung einer ganzen Reihe von Zahlungen, die auf dem Verkauf dieser bestimmten Ware in dieser bestimmten Frist beruhen. Dies ist die eigentliche Form der Geldkrisen.<br/>Tritt also Krise ein, weil Kauf und Verkauf auseinander fallen, so entwickelt sie sich als Geldkrise, sobald das Geld als Zahlungsmittel [in Kreditverhältnissen] entwickelt ist, und diese zweite Form der Krisen versteht sich dann von selbst, sobald die erste eintritt. […]<br/>2. Soweit Krisen aus Preisveränderungen und Preisrevolutionen hervorgehen, die mit den Wertveränderungen der Waren nicht zusammenfallen, können sie natürlich nicht entwickelt werden bei Betrachtung des Kapitals im Allgemeinen, wo bei den Werten der Waren identische Preise vorausgesetzt werden.<br/>3. Die allgemeine Möglichkeit der Krisen ist die formelle Metamorphose des Kapitals selbst, das zeitliche und räumliche Auseinanderfallen von Kauf und Verkauf. Aber dies ist nie die Ursache der Krise. […] Fragt man nach ihrer Ursache, so will man eben wissen, warum […] sie aus der Möglichkeit zur Wirklichkeit wird.<br/>4. Die allgemeinen Bedingungen der Krisen, soweit sie unabhängig von Preisschwankungen sind (ob diese nun mit dem Kreditwesen zusammenhängen oder nicht) – als verschieden von Wertschwankungen – müssen aus den allgemeinen Bedingungen der kapitalistischen Produktion zu entwickeln sein.| (Marx, Theorien über den Mehrwert, Band II, MEW 26.2, S. 514ff)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Ausdehnbarkeit des Fabrikwesens und Abhängigkeit vom Weltmarkt führen zu Überfüllung der Märkte, mit deren Kontraktion Lähmung eintritt. Das Leben der Industrie verwandelt sich in Reihenfolge von Perioden mittlerer Lebendigkeit, Prosperität, Überproduktion, Krise und Stagnation.<br />
<br />
{{Zitat |Die ungeheure, stoßweise Ausdehnbarkeit des Fabrikwesens und seine Abhängigkeit vom Weltmarkt erzeugen notwendig fieberhafte Produktion und darauf folgende Überfüllung der Märkte, mit deren Kontraktion Lähmung eintritt. Das Leben der Industrie verwandelt sich in eine Reihenfolge von Perioden mittlerer Lebendigkeit, Prosperität, Überproduktion, Krise und Stagnation.| (Marx, Kapital 1.Band, MEW Band 23, S.476)}}<br />
<br />
==Der Krisenzyklus==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Krisenzyklus, Überproduktion, Entlassung, Krise, Preisentwertung, Kreditsystem, Kapitalvernichtung, Poduktivkraftvernichtung, Eroberung neuer Märkte<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Bei einem Zuviel des Angebotes fallen die Preise unter die Werte, manche Waren bleiben unverkäuflich, die Investitionstätigkeit geht zurück, was die Situation verschärft, Betriebe nehmen Entlassungen vor, andere Betriebe gehen pleite. Kapital und Produktionsmittel werden vernichtet. Das Angebot sinkt so weit, dass es unter der gesellschaftlichen Nachfrage liegt, die Preise steigen wieder, die Investitionstätigkeit wird angekurbelt, die kapitalistische Wirtschaft kommt aus dem Tal, ein „Aufschwung“ entsteht. Alle wollen teilhaben, die Investitionstätigkeit wird rege, die „Konjunktur überhitzt“, die Märkte füllen sich, schließlich staut es sich, die Investitionstätigkeit wird heruntergefahren, die Preise fallen unter die Werte, die nächste Krise beginnt – und so weiter und so fort als ein Perpetuum Mobile des kapitalistischen Krisenzyklus.<br />
<br />
{{Zitat |In der Tat, seit 1825, wo die erste allgemeine Krise ausbrach, geht die ganze industrielle und kommerzielle Welt, die Produktion und der Austausch sämtlicher zivilisierter Völker und ihrer mehr oder weniger barbarischen Anhängsel so ziemlich alle zehn Jahre einmal aus den Fugen. Der Verkehr stockt, die Märkte sind überfüllt, die Produkte liegen da, ebenso massenhaft wie unabsetzbar, das bare Geld wird unsichtbar, der Kredit verschwindet, die Fabriken stehen still, die arbeitenden Massen ermangeln der Lebensmittel, weil sie zu viel Lebensmittel produziert haben. Bankrott folgt auf Bankrott, Zwangsverkauf auf Zwangsverkauf. Jahrelang dauert die Stockung, Produktivkräfte wie Produkte werden massenhaft vergeudet und zerstört, bis die aufgehäuften Warenmassen unter größerer oder geringerer Entwertung endlich abfließen, bis Produktion und Austausch allmählich wieder in Gang kommen.<br/>Nach und nach beschleunigt sich die Gangart, fällt in Trab, der industrielle Trab geht über in Galopp, und dieser steigert sich wieder bis zum zügellosen Tempo eines vollständigen industriellen, kommerziellen, kreditlichen und spekulativen Hindernisrennens, um endlich nach den halsbrechendsten Sprüngen wieder anzulangen – im Graben des Krachs. Und so immer von neuem.| (Friedrich Engels, Anti-Dühring, MEW 20, S. 257)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Krisen sind nur kurzfristige Lösungen der vorhandenen Widersprüche, die das gestörte Gleichgewicht für einen Moment wiederherstellen.<br />
<br />
{{Zitat |Die Krisen sind immer nur momentane gewaltsame Lösungen der vorhandnen Widersprüche, gewaltsame Eruptionen, die das gestörte Gleichgewicht für den Augenblick wiederherstellen.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.259)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Ein Teil der Waren kann seinen Zirkulations- und Reproduktionsprozess nur durch Kontraktion seiner Preise vollziehen, also durch Entwertung des Kapitals.<br />
Elemente des fixen Kapitals (Arbeitsmittel, Gebäude, Maschinen) werden entwertet. Durch Preisverfall gerät Reproduktionsprozess ins Stocken.<br />
Dadurch wird Funktion des Geldes als Zahlungsmittel paralysiert.<br />
Kette der Zahlungsobligationen wird unterbrochen. Kreditsystem kann zusammenbrechen, verschärft die Krise.<br />
<br />
{{Zitat |Ein Teil der auf dem Markt befindlichen Waren kann seinen Zirkulations- und Reproduktionsprozess [Verkauf und Kauf] nur vollziehen durch ungeheure Kontraktion seiner Preise, also durch Entwertung des Kapitals, das er darstellt. Ebenso werden die Elemente des fixen Kapitals [Arbeitsmittel wie Gebäude und Maschinerie] mehr oder minder entwertet. Es kommt hinzu, dass bestimmte, vorausgesetzte Preisverhältnisse den Reproduktionsprozess bedingen, dieser daher durch den allgemeinen Preisfall in Stockung und Verwirrung gerät. Diese Störung und Stockung paralysiert die […] auf jenen vorausgesetzten Preisverhältnissen beruhende Funktion des Geldes als Zahlungsmittel [von Krediten], unterbricht an hundert Stellen die Kette der Zahlungsobligationen an bestimmten Terminen und wird noch verschärft durch das damit gegebene Zusammenbrechen des […] Kreditsystems und führt so zu heftigen akuten Krisen, […].| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.264)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
In Krisen gibt es Kapitalvernichtung und Vernichtung von Produktionsmitteln aufgrund der Überproduktion. Die Auswege für die Bourgeoisie sind Vernichtung, Eroberung neuer Märkte und gründlichere Ausbeutung alter Märkte – was wiederum größere Krisen vorbereitet.<br />
<br />
{{Zitat |Produkte, sondern sogar der bereits geschaffenen Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zu viel Zivilisation, zu viel Lebensmittel, zu viel Industrie, zu viel Handel besitzt. […]<br/>Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen. – Wodurch überwindet die Bourgeoisie Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; andererseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung der alten Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.| (Marx, Kommunistisches Manifest, MEW 4, S. 468)}}<br />
<br />
==Kredit, fiktives Kapital==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Geldkapital, Zentralisation, Zinsprofit, Reservefonds, Industrielles Kapital, Händlerkapital, Banksystem, Geldmacht<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Das verleihbare Geldkapital konzentriert sich in den Händen des Bankiers. Sie werden die allgemeinen Verwalter des Geldkapitals gegenüber den industriellen und kommerziellen Kapitalisten. Eine Bank ist die Zentralisation des Geldkapitals. Ihr Profit besteht in höheren Zinsen.<br />
<br />
{{Zitat |Allgemein ausgedrückt besteht das Bankiergeschäft nach dieser Seite darin, das verleihbare Geldkapital in seiner Hand zu großen Massen zu konzentrieren, so daß statt des einzelnen Geldverleihers die Bankiers als Repräsentanten aller Geldverleiher den industriellen und kommerziellen Kapitalisten gegenübertreten. Sie werden die allgemeinen Verwalter des Geldkapitals. Andrerseits konzentrieren sie, allen Verleihern gegenüber, die Borger, indem sie für die ganze Handelswelt borgen. Eine Bank stellt auf der einen Seite die Zentralisation des Geldkapitals, der Verleiher, auf der andern die Zentralisation der Borger dar. Ihr Profit besteht im allgemeinen darin, daß sie zu niedrigem Zinsen borgt, als sie ausleiht.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.416)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Das Geld fließt den Bankiers aus Reservefonds der Händler und Industriellen zu.<br />
<br />
{{Zitat |Das verleihbare Kapital, worüber die Banken verfügen, fließt ihnen in mehrfacher Weise zu. Zunächst konzentriert sich in ihrer Hand, da sie Kassierer der industriellen Kapitalisten sind, das Geldkapital, das jeder Produzent und Kaufmann als Reservefonds hält, oder das ihm als Zahlung zufließt. Diese Fonds verwandeln sich so in verleihbares Geldkapital.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.416)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Die Banken sammeln alles unbeschäftigte Geld und auch die kleinen Geldsummen aus allen Klassen und bilden so eine Geldmacht. Dies ist eine besondere Wirkung des Banksystems, die von der Mittlertätigkeit zwischen Geldkapitalisten und Borgern unterschieden werden muss.<br />
<br />
{{Zitat |Mit der Entwicklung des Banksystems und namentlich, sobald sie Zins für Depositen zahlen, werden ferner die Geldersparnisse und das augenblicklich unbeschäftigte Geld aller Klassen bei ihnen deponiert. Kleine Summen, jede für sich unfähig, als Geldkapital zu wirken, werden zu großen Massen vereinigt und bilden so eine Geldmacht. Diese Ansammlung kleiner Beträge muß als besondre Wirkung des Banksystems unterschieden werden von seiner Mittlerschaft zwischen den eigentlichen Geldkapitalisten und den Borgern. Endlich werden auch die Revenuen, die nur allmählich verzehrt werden sollen, bei den Banken deponiert.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.416)}}<br />
<br />
==Die Rolle des Kredits in der kapitalistischen Produktion==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Warenzirkulation, Warenmetamorphose<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Durch den Kredit werden die Phasen der Zirkulation und der Metamorphose des Kapitals beschleunigt.<br />
<br />
{{Zitat |2. Beschleunigung, durch den Kredit, der einzelnen Phasen der Zirkulation oder der Warenmetamorphose, weiter der Metamorphose des Kapitals, und damit Beschleunigung des Reproduktionsprozesses überhaupt. (Andrerseits erlaubt der Kredit, die Akte des Kaufens und Verkaufens länger auseinanderzuhalten und dient daher der Spekulation als Basis.) Kontraktion der Reservefonds, was doppelt betrachtet werden kann: einerseits als Verminderung des zirkulierenden Mediums, andrerseits als Beschränkung des Teils des Kapitals, der stets in Geldform existieren muß.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.453)}}<br />
<br />
==Bildung von Aktiengesellschaften==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Aktiengesellschaften, Produktionserweiterung, Gesellschaftskapital, Kapitalverwaltung, Zinsprofit, Fallen der Profitrate, Schutzzollpolitik, Überproduktion, fallende Profitrate, Kartellbildung, Konkurrenz, Kapitalistische Produktionsweise, Monopolbildung, Staatseinmischung, Finanzaristokratie, aufhebender Widerspruch, Monopolbildung, Kredit, Kreditüberbau, Verfügung über fremdes Kapital, Expropriation, Aktienwesen, gesellschaftliches Produktionsmittel, Kreditwesen, Überproduktion, Überspekulation, Produktivkraftentwicklung, Weltmarkt, Krise, Bankkapital, Wertpapiere, Aktien<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Durch die Bildung von Aktiengesellschaften werden die Stufenleitern der Produktion ausgedehnt.<br/> Das Kapital erhält durch die Aktiengesellschaften die Form von Gesellschaftskapital.<br />
Das bedeutet die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst.<br/>Damit findet die Verwandlung des fungierenden Kapitalisten in einen bloßen Dirigenten statt, einen Verwalter fremden Kapitals und die Verwandlung der Kapitaleigentümer in bloße Eigentümer, bloße Geldkapitalisten.<br/>Profit wird in Form der Vergütung des Kapitaleigentums bezogen, das von der Funktion im Reproduktionsprozess getrennt wird.<br/>Die Person des Dirigenten wird vom Kapitaleigentum getrennt.<br />
<br />
{{Zitat |III. Bildung von Aktiengesellschaften. Hierdurch:<br/> 1. Ungeheure Ausdehnung der Stufenleiter der Produktion und Unternehmungen, die für Einzelkapitale unmöglich waren. Solche Unternehmungen zugleich, die früher Regierungsunternehmungen waren, werden gesellschaftliche.<br/>2. Das Kapital, das an sich auf gesellschaftlicher Produktionsweise beruht und eine gesellschaftliche Konzentration von Produktionsmitteln und Arbeitskräften voraussetzt, erhält hier direkt die Form von Gesellschaftskapital (Kapital direkt assoziierter Individuen) im Gegensatz zum Privatkapital, und seine Unternehmungen treten auf als Gesellschaftsunternehmungen im Gegensatz zu Privatunternehmungen. Es ist die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst.<br/>3. Verwandlung des wirklich fungierenden Kapitalisten in einen bloßen Dirigenten, Verwalter fremdes Kapitals, und der Kapitaleigentümer in bloße Eigentümer, bloße Geldkapitalisten. Selbst wenn die Dividenden, die sie beziehn, den Zins und Unternehmergewinn, d.h. den Totalprofit einschließen (denn das Gehalt des Dirigenten ist, oder soll sein, bloßer Arbeitslohn einer gewissen Art geschickter Arbeit, deren Preis im Arbeitsmarkt reguliert wird, wie der jeder andren Arbeit), so wird dieser Totalprofit nur noch bezogen in der Form des Zinses, d.h. als bloße Vergütung des Kapitaleigentums, das nun ganz so von der Funktion im wirklichen Reproduktionsprozeß getrennt wird, wie diese Funktion, in der Person des Dirigenten, vom Kapitaleigentum.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.453 )}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
In Aktiengesellschaften ist die Funktion getrennt vom Kapitaleigentum.<br/>Es ist das Resultat der höchsten Entwicklung der kapitalistischen Produktion, notwendiger Durchgangspunkt zur Rückverwandlung des Kapitals in Eigentum der Produzenten, aber nicht mehr als Privateigentum vereinzelter Produzenten, sondern als Eigentum ihrer als Gesellschaftseigentum.<br/>Verwandlung aller Funktionen im Reproduktionsprozess in bloße gesellschaftliche Funktionen.<br />
<br />
{{Zitat |In den Aktiengesellschaften ist die Funktion getrennt vom Kapitaleigentum, also auch die Arbeit gänzlich getrennt vom Eigentum an den Produktionsmitteln und an der Mehrarbeit. Es ist dies Resultat der höchsten Entwicklung der kapitalistischen Produktion ein notwendiger Durchgangspunkt zur Rückverwandlung des Kapitals in Eigentum der Produzenten, aber nicht mehr als das Privateigentum vereinzelter Produzenten, sondern als das Eigentum ihrer als assoziierter, als unmittelbares Gesellschaftseigentum. Es ist andrerseits Durchgangspunkt zur Verwandlung aller mit dem Kapitaleigentum bisher noch verknüpften Funktionen im Reproduktionsprozeß in bloße Funktionen der assoziierten Produzenten, in gesellschaftliche Funktionen.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.453)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Der Profit nimmt die Form des Zinses an. Unternehmungen sind möglich, wenn sie bloßen Zins abwerfen. Das ist einer der Gründe, die das Fallen der allgemeinen Profitrate aufhalten. Unternehmen mit ungeheurem Verhältnis von konstantem zu variablem Kapital gehen nicht notwendig in die Ausgleichung der allgemeinen Profitrate ein.<br />
<br />
{{Zitat |Da der Profit hier rein die Form des Zinses annimmt, sind solche Unternehmungen noch möglich, wenn sie bloßen Zins abwerfen, und es ist dies einer der Gründe, die das Fallen der allgemeinen Profitrate aufhalten, indem diese Unternehmungen, wo das konstante Kapital in so ungeheurem Verhältnis zum variablen steht, nicht notwendig in die Ausgleichung der allgemeinen Profitrate eingehn.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.453)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Der raschen Steigerung der Produktion steht zunehmende Langsamkeit der Ausdehnung des Markts gegenüber.<br/>Die Folge ist allgemeine chronische Überproduktion, gedrückte Preise, fallende Profite.<br/>Die Freiheit der Konkurrenz ist am Ende des Lateins.<br/>Großindustrielle eines Zweigs schließen sich zu Kartell zusammen, teilweise zu internationalen Kartellen.<br />
Aber der Interessengegensatz der einzelnen Firmen durchbricht die Kartelle und stellet die Konkurrenz wieder her.<br />
<br />
{{Zitat |Der täglich wachsenden Raschheit, womit auf allen großindustriellen Gebieten heute die Produktion gesteigert werden kann, steht gegenüber die stets zunehmende Langsamkeit der Ausdehnung des Markts für diese vermehrten Produkte. Was jene in Monaten herstellt, kann dieser kaum in Jahren absorbieren. Dazu die Schutzzollpolitik, wodurch jedes Industrieland sich gegen die andern und namentlich gegen England abschließt und die heimische Produktionsfähigkeit noch künstlich steigert.<br/>Die Folgen sind allgemeine chronische Überproduktion, gedrückte Preise, fallende und sogar ganz wegfallende Profite; kurz, die alt gerühmte Freiheit der Konkurrenz ist am Ende ihres Lateins und muß ihren offenbaren skandalösen Bankrott selbst ansagen. Und zwar dadurch, daß in jedem Land die Großindustriellen eines bestimmten Zweigs sich zusammentun zu einem Kartell zur Regulierung der Produktion. Ein Ausschuß setzt das von jedem Etablissement zu produzierende Quantum fest und verteilt in letzter Instanz die einlaufenden Aufträge. In einzelnen Fällen kam es zeitweise sogar zu internationalen Kartellen, so zwischen der englischen und deutschen Eisenproduktion. Aber auch diese Form der Vergesellschaftung der Produktion genügte noch nicht. Der Interessengegensatz der einzelnen Geschäftsfirmen durchbrach sie nur zu oft und stellte die Konkurrenz wieder her.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.453f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 5'''<br />
<br />
Es ist ein sich selbst aufhebender Widerspruch, der den Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform darstellt. In gewissen Sphären wird das Monopol hergestellt und fordert die Staatseinmischung heraus.<br/>Es wird eine neue Finanzaristokratie, Parasiten in Gestalt von „Projektenmachern“ etc. gebildet. Es ist die Privatproduktion ohne die Kontrolle des Privateigentums.<br />
<br />
{{Zitat |So ist in diesem Zweig, der die Grundlage der ganzen chemischen Industrie bildet, in England die Konkurrenz durch das Monopol ersetzt und der künftigen Expropriation durch die Gesamtgesellschaft, die Nation, aufs erfreulichste vorgearbeitet.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.454)}}<br />
<br />
{{Zitat |Es ist dies die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst, und daher ein sich selbst aufhebender Widerspruch, der prima facie als bloßer Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform sich darstellt. Als solcher Widerspruch stellt er sich dann auch in der Erscheinung dar. Er stellt in gewissen Sphären das Monopol her und fordert daher die Staatseinmischung heraus. Er reproduziert eine neue Finanzaristokratie, eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Projektenmachern, Gründern und bloß nominellen Direktoren; ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe und Aktienhandel. Es ist Privatproduktion ohne die Kontrolle des Privateigentums.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.454)}}<br />
<br />
'''Annahme 6'''<br />
<br />
Der Kredit bietet dem einzelnen Kapitalisten absolute Verfügung über fremdes Kapital in gewissen Schranken, er ermöglicht die Verfügung über gesellschaftliches, nicht eigenes Kapital, und damit über fremde Arbeit.<br/>Das Kapital wird zur reinen Basis für den Kreditüberbau.<br />
<br />
{{Zitat |IV. Abgesehn von dem Aktienwesen – das eine Aufhebung der kapitalistischen Privatindustrie auf Grundlage des kapitalistischen Systems selbst ist, und in demselben Umfang, worin es sich ausdehnt und neue Produktionssphären ergreift, die Privatindustrie vernichtet – , bietet der Kredit dem einzelnen Kapitalisten, oder dem, der für einen Kapitalisten gilt, eine innerhalb gewisser Schranken absolute Verfügung über fremdes Kapital und fremdes Eigentum, und dadurch über fremde Arbeit.87 Verfügung über gesellschaftliches, nicht eignes Kapital, gibt ihm Verfügung über gesellschaftliche Arbeit. Das Kapital selbst, das man wirklich oder in der Meinung des Publikums besitzt, wird nur noch die Basis zum Kreditüberbau.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.455)}}<br />
<br />
'''Annahme 7'''<br />
<br />
Die Expropriation (auch der kleineren und mittleren Kapitalisten) ist der Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktionsweise. Ihre Durchführung ist ihr Ziel. In letzter Instanz ist das die Expropriation aller einzelnen von den Produktionsmitteln, die mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion aufhören, Produktionsmittel der Privatproduktion zu sein. Sie können nur noch Produktionsmittel in der Hand der assoziierten Produzenten sein, daher ihr gesellschaftliches Eigentum, ebenso wie ihr gesellschaftliches Produkt.<br />
<br />
{{Zitat |Die Expropriation erstreckt sich hier von den unmittelbaren Produzenten auf die kleineren und mittleren Kapitalisten selbst. Diese Expropriation ist der Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktionsweise; ihre Durchführung ist ihr Ziel, und zwar in letzter Instanz die Expropriation aller einzelnen von den Produktionsmitteln, die mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion aufhören, Mittel der Privatproduktion und Produkte der Privatproduktion zu sein, und die nur noch Produktionsmittel in der Hand der assoziierten Produzenten, daher ihr gesellschaftliches Eigentum, sein können, wie sie ihr gesellschaftliches Produkt sind.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.455f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 8'''<br />
<br />
Im Aktienwesen existiert schon der Gegensatz gegen die alte Form, worin gesellschaftliches Produktionsmittel als individuelles Eigentum erscheint, aber Verwandlung bleibt in kapitalistischen Schranken befangen. Sie überwindet den Gegensatz zwischen dem Charakter des Reichtums als gesellschaftlicher und als Privateigentum nicht, sondern bildet ihn in neuer Gestalt aus.<br />
<br />
{{Zitat |Da das Eigentum hier in der Form der Aktie existiert, wird seine Bewegung und Übertragung reines Resultat des Börsenspiels, wo die kleinen Fische von den Haifischen und die Schafe von den Börsenwölfen verschlungen werden. In dem Aktienwesen existiert schon Gegensatz gegen die alte Form, worin gesellschaftliches Produktionsmittel als individuelles Eigentum erscheint; aber die Verwandlung in die Form der Aktie bleibt selbst noch befangen in den kapitalistischen Schranken; statt daher den Gegensatz zwischen dem Charakter des Reichtums als gesellschaftlicher und als Privatreichtum zu überwinden, bildet sie ihn nur in neuer Gestalt aus.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.456)}}<br />
<br />
'''Annahme 9'''<br />
<br />
Kreditwesen erscheint als Haupthebel der Überproduktion und Überspekulation im Handel, weil er den Reproduktionsprozess bis zur äußersten Grenze forciert.<br/>Großer Teil des gesellschaftlichen Kapitals wird von den Nichteigentümern angewandt, die nicht ängstlich ans Zeug gehen wie der Eigentümer seines Privatkapitals. Verwertung des Kapitals erlaubt freie Entfaltung nur bis zu einem gewissen Punkt, der durch das Kreditwesen durchbrochen wird. Das Kreditwesen beschleunigt die materielle Entwicklung der Produktivkräfte und die Herstellung des Weltmarkts, die als materielle Grundlagen der neuen Produktionsform bis auf einen gewissen Höhegrad herzustellen, die Aufgabe der kapitalistischen Produktionsweise ist.<br/>Der Kredit beschleunigt gleichzeitig die gewaltsamen Ausbrüche des Widerspruchs, die Krisen und damit die Elemente der Auflösung der alten Produktionsweise.<br />
<br />
{{Zitat |Wenn das Kreditwesen als Haupthebel der Überproduktion und Überspekulation im Handel erscheint, so nur, weil der Reproduktionsprozeß, der seiner Natur nach elastisch ist, hier bis zur äußersten Grenze forciert wird, und zwar deshalb forciert wird, weil ein großer Teil des gesellschaftlichen Kapitals von den Nichteigentümern desselben angewandt wird, die daher ganz anders ins Zeug gehn als der ängstlich die Schranken seines Privatkapitals erwägende Eigentümer, soweit er selbst fungiert. Es tritt damit nur hervor, daß die auf den gegensätzlichen Charakter der kapitalistischen Produktion gegründete Verwertung des Kapitals die wirkliche, freie Entwicklung nur bis zu einem gewissen Punkt erlaubt, also in der Tat eine immanente Fessel und Schranke der Produktion bildet, die beständig durch das Kreditwesen durchbrochen wird. Das Kreditwesen beschleunigt daher die materielle Entwicklung der Produktivkräfte und die Herstellung des Weltmarkts, die als materielle Grundlagen der neuen Produktionsform bis auf einen gewissen Höhegrad herzustellen, die historische Aufgabe der kapitalistischen Produktionsweise ist. Gleichzeitig beschleunigt der Kredit die gewaltsamen Ausbrüche dieses Widerspruchs, die Krisen, und damit die Elemente der Auflösung der alten Produktionsweise.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.457)}}<br />
<br />
==Bestandteile des Bankkapitals==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Bankkapital, Wertpapiere, Aktien, Zinstragendes Kapital, Geldrevenue, Fiktives Kapital, Zins, Eigentumstitel, Rechtstitel, Reservefonds der Banken, Bankierkapital<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Bankkapital besteht aus barem Geld, Gold oder Noten, sowie aus Wertpapieren.<br/>Diese teilen sich auf in Wechsel und öffentliche Wertpapiere (Staatspapiere, Schatzscheine, Aktien).<br />
<br />
{{Zitat |Das Bankkapital besteht 1. aus barem Geld, Gold oder Noten, 2. Wertpapieren. Diese können wir wieder in zwei Teile teilen: Handelspapiere, Wechsel, die schwebend sind, von Zeit zu Zeit verfallen und in deren Diskontierung das eigentliche Geschäft des Bankiers gemacht wird; und öffentliche Wertpapiere, wie Staatspapiere, Schatzscheine, Aktien aller Art, kurz zinstragende Papiere, die sich aber wesentlich von den Wechseln unterscheiden.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.481)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Form des zinstragenden Kapitals bringt es mit sich, dass jede regelmäßige Geldrevenue als Zins eines Kapitals erscheint – mag sie aus einem Kapital entspringen oder nicht.<br />
<br />
{{Zitat |Die Form des zinstragenden Kapitals bringt es mit sich, daß jede bestimmte und regelmäßige Geldrevenue als Zins eines Kapitals erscheint, sie mag aus einem Kapital entspringen oder nicht. Erst wird das Geldeinkommen in Zins verwandelt, und mit dem Zins findet sich dann auch das Kapital, woraus es entspringt. Ebenso erscheint mit dem zinstragenden Kapital jede Wertsumme als Kapital, sobald sie nicht als Revenue verausgabt wird; nämlich als Hauptsumme (principal) im Gegensatz zum möglichen oder wirklichen Zins, den sie tragen kann. Die Sache ist einfach: Gesetzt, der Durchschnittszinsfuß sei 5% jährlich. Eine Summe von 500 Pfd.St. würde also jährlich, wenn in zinstragendes Kapital verwandelt, 25 Pfd.St. einbringen. Jede feste jährliche Einnahme von 25 Pfd.St. wird daher als Zins eines Kapitals von 500 Pfd.St. betrachtet.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.482)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Bildung des fiktiven Kapitals nennt man kapitalisieren. Jede wiederholende Einnahme wird nach dem Durchschnittszins berechnet, als Ertrag, den ein Kapital zu diesem Zins ausgeliehen abwerfen würde.<br/>Aller Zusammenhang mit dem wirklichen Verwertungsprozess geht bis auf die letzte Spur verloren, die Vorstellung vom Kapital als einem sich durch sich selbst verwertenden Automaten befestigt sich.<br />
<br />
{{Zitat |Die Bildung des fiktiven Kapitals nennt man kapitalisieren. Man kapitalisiert jede regelmäßig sich wiederholende Einnahme, indem man sie nach dem Durchschnittszinsfuß berechnet, als Ertrag, den ein Kapital, zu diesem Zinsfuß ausgeliehen, abwerfen würde; z.B. wenn die jährliche Einnahme=100 Pfd. St. und der Zinsfuß=5%, so wären die 100 Pfd. St. der jährliche Zins von 2000 Pfd.St., und diese 2000 Pfd.St. gelten nun als der Kapitalwert des juristischen Eigentumstitels auf die 100 Pfd. St. jährlich. für den, der diesen Eigentumstitel kauft, stellen die 100 Pfd. St. jährliche Einnahme dann in der Tat die Verzinsung seines angelegten Kapitals zu 5 % vor. Aller Zusammenhang mit dem wirklichen Verwertungsprozeß des Kapitals geht so bis auf die letzte Spur verloren, und die Vorstellung vom Kapital als einem sich durch sich selbst verwertenden Automaten befestigt sich.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.484)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Die selbständige Bewegung des Werts dieser Eigentumstitel (man kann sie kaufen und verkaufen, PK) bestätigt den Schein, als bildeten sie wirkliches Kapital neben dem Kapital.<br />
<br />
{{Zitat |Die selbständige Bewegung des Werts dieser Eigentumstitel, nicht nur der Staatseffekten, sondern auch der Aktien, bestätigt den Schein, als bildeten sie wirkliches Kapital neben dem Kapital oder dem Anspruch, worauf sie möglicherweise Titel sind. Sie werden nämlich zu Waren, deren Preis eine eigentümliche Bewegung und Festsetzung hat. Ihr Marktwert erhält eine von ihrem Nominalwert verschiedne Bestimmung, ohne daß sich der Wert (wenn auch die Verwertung) des wirklichen Kapitals änderte.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.485)}}<br />
<br />
'''Annahme 5'''<br />
<br />
Diese Papiere stellen nichts dar als akkumulierte Ansprüche, Rechtstitel auf künftige Produktion.<br />
<br />
{{Zitat |Alle diese Papiere stellen in der Tat nichts vor als akkumulierte Ansprüche Rechtstitel, auf künftige Produktion, deren Geld- oder Kapitalwert entweder gar kein Kapital repräsentiert, wie bei den Staatsschulden, oder von dem Wert des wirklichen Kapitals, das sie vorstellen, unabhängig reguliert wird.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.486)}}<br />
<br />
'''Annahme 7'''<br />
<br />
Reservefonds der Banken drücken im Durchschnitt die Größe des als Schatz vorhandenen Gelds aus.<br />
Und ein Teil dieses Schatz besteht aus Anweisungen auf Gold, die aber keine Selbstwerte sind.<br />
Größter Teil des Bankierkapitals ist daher rein fiktiv und besteht aus Schuldforderungen, Staatspapieren und Aktien.<br />
<br />
{{Zitat |Die Reservefonds der Banken, in Ländern entwickelter kapitalistischer Produktion, drücken immer im Durchschnitt die Größe des als Schatz vorhandnen Geldes aus, und ein Teil dieses Schatzes besteht selbst wieder aus Papier, bloßen Anweisungen auf Gold, die aber keine Selbstwerte sind. Der größte Teil des Bankierkapitals ist daher rein fiktiv und besteht aus Schuldforderungen (Wechseln), Staatspapieren (die vergangnes Kapital repräsentieren) und Aktien (Anweisungen auf künftigen Ertrag).| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.487)}}<br />
<br />
==Geldkapital und wirkliches Kapital I==<br />
<br />
'''Schlagworte'''<br />
<br />
Akkumulation, Staatskapital, Leihkapital, Produktivkraftentwicklung, Ausdehnung der Märkte, Kredit, Spekulation, Bankierkredit, Reproduktionsprozess, Warenmetarmophose, industrielles Kapital, Stockung Expansion, Konsumtionsfähigkeit, Geldkredit, Reservekapital, Börse<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
Akkumulation von Geldkapital und Geldvermögen hat sich aufgelöst in Akkumulation von Ansprüchen des Eigentums auf Arbeit.<br />
Akkumulation des Kapitals der Staatsschuld heißt die Vermehrung einer Klasse von Staatsgläubigern, die Steuern für sich vorwegzunehmen berechtigt sind.<br />
<br />
{{Zitat |Soweit wir die eigentümliche Form der Akkumulation des Geldkapitals und Geldvermögens überhaupt bis jetzt betrachtet haben, hat sie sich aufgelöst in Akkumulation von Ansprüchen des Eigentums auf die Arbeit. Die Akkumulation des Kapitals der Staatsschuld heißt, wie sich gezeigt hat, weiter nichts als Vermehrung einer Klasse von Staatsgläubigern, die gewisse Summen auf den Betrag der Steuern für sich vorwegzunehmen berechtigt sind.<br/>Sismondi-Fußnote:"Die Staatspapiere sind nichts anderes als das imaginäre Kapital, das der zur Bezahlung der Schulden bestimmte Teil des jährlichen Einkommens darstellt. Ein gleichgroßes Kapital ist vergeudet worden; dieses dient als Nenner für die Anleihe, aber es ist nicht das, was das Staatspapier darstellt; denn das Kapital existiert überhaupt nicht mehr. Mittlerweile müssen neue Reichtümer aus der Arbeit der Industrie entstehen; ein jährlicher Teil dieser Reichtümer wird im voraus denen angewiesen, die jene vergeudeten Reichtümer geliehen hatten; dieser Teil wird durch Steuern jenen abgenommen, die die Reichtümer hervorbringen, um an die Staatsgläubiger gegeben zu werden, und nach dem landesüblichen Verhältnis zwischen Kapital und Zins nimmt man ein imaginäres Kapital an, das ebenso groß ist wie das Kapital, woraus die jährliche Rente entstehen könnte, die die Gläubiger zu bekommen haben." (Sismondi, "Nouveaux Principes", II, p.229, 230.)| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.493f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
Staatsanleihen und Aktien sind Anlagesphären für verleihbares Kapital, sind aber selbst kein Leihkapital.<br />
<br />
{{Zitat |Um die vorliegende Frage auf engere Grenzen zurückzuführen: Staatseffekten wie Aktien und andere Wertpapiere aller Art sind Anlagesphären für verleihbares Kapital, für Kapital, das bestimmt ist, zinstragend zu werden. Sie sind Formen, es auszuleihen. Aber sie sind nicht selbst das Leihkapital, das in ihnen angelegt wird. Andrerseits, soweit der Kredit direkte Rolle im Reproduktionsprozeß spielt: Was der Industrielle oder Kaufmann braucht, wenn er Wechsel diskontiert haben oder eine Anleihe aufnehmen will, sind weder Aktien noch Staatspapiere. Was er braucht, ist Geld. Er versetzt oder verkauft also jene Wertpapiere, wenn er das Geld sich anders nicht beschaffen kann.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.496)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Mit der voranschreitenden Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit werden die Märkte ausgedehnt und an ferne Orte verlegt.<br/>Kredite müssen sich verlängern, das spekulative Element nimmt zu.<br/>Entwicklung des Produktionsprozesses erweitert den Kredit, der Kredit führt zur Ausdehnung der industriellen und merkantilen Operationen.<br />
<br />
{{Zitat |Es ist aber klar, daß mit der Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit, und daher der Produktion auf großer Stufenleiter, 1. die Märkte sich ausdehnen und vom Produktionsort sich entfernen, 2. daher die Kredite sich verlängern müssen, und also 3. das spekulative Element mehr und mehr die Transaktionen beherrschen muß. Die Produktion auf großer Stufenleiter und für entfernte Märkte wirft das Gesamtprodukt in die Hand des Handels; es ist aber unmöglich, daß sich das Kapital der Nation verdopple, so daß der Handel für sich fähig wäre, mit eignem Kapital das gesamte nationale Produkt aufzukaufen und wieder zu verkaufen. Kredit ist hier also unerläßlich; Kredit, dem Umfang nach wachsend mit dem wachsenden Wertumfang der Produktion, und der Zeitdauer nach mit der zunehmenden Entfernung der Märkte. Es findet hier Wechselwirkung statt. Die Entwicklung des Produktionsprozesses erweitert den Kredit, und der Kredit führt zur Ausdehnung der industriellen und merkantilen Operationen.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.498)}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
Der Kredit, getrennt vom Bankierkredit, ist Warenkapital, ist Kapital, das sich in bestimmter Phase des Reproduktionsprozesses befindet.<br />
<br />
{{Zitat |Betrachten wir diesen Kredit, getrennt vom Bankierkredit, so ist klar, daß er wächst mit dem Umfang des industriellen Kapitals selbst. Leihkapital und industrielles Kapital sind hier identisch; die geliehenen Kapitale sind Warenkapitale, bestimmt entweder für schließliche individuelle Konsumtion oder zum Ersatz der konstanten Elemente von produktivem Kapital. Was hier also als geliehenes Kapital erscheint, ist immer Kapital, das sich in einer bestimmten Phase des Reproduktionsprozesses befindet, aber durch Kauf und Verkauf aus einer Hand in die andre übergeht, während das Äquivalent dafür [von] dem Käufer erst später zu bedungner Frist gezahlt wird.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.498)}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
Hier wird Metamorphose der Ware durch Kredit vermittelt.<br />
Es ist nicht unbeschäftigtes Kapital, sondern Beschäftigung von Kapital im Reproduktionsprozess.<br />
Der Kredit vermittelt den Übergang des industriellen Kapitals aus einer Phase in eine andere.<br />
<br />
{{Zitat |Was demnach hier verliehen wird, ist nie unbeschäftigtes Kapital, sondern Kapital, das in der Hand seines Besitzers seine Form ändern muß, das in einer Form existiert, worin es für ihn bloßes Warenkapital ist, d.h. Kapital, das rückverwandelt, und zwar wenigstens zunächst in Geld umgesetzt werden muß. Es ist somit die Metamorphose der Ware, die hier durch den Kredit vermittelt wird; nicht nur W – G, sondern auch G – W und der wirkliche Produktionsprozeß. Viel Kredit innerhalb des reproduktiven Kreislaufs – abgesehn vom Bankierkredit – heißt nicht: viel unbeschäftigtes Kapital, das zu Anleihen ausgeboten wird und profitliche Anlage sucht, sondern: große Beschäftigung von Kapital im Reproduktionsprozeß. Der Kredit vermittelt hier also 1. soweit die industriellen Kapitalisten in Betracht kommen, den Übergang des industriellen Kapitals aus einer Phase in die andre, den Zusammenhang der zueinander gehörigen und ineinander eingreifenden Produktionssphären; 2. soweit die Kaufleute in Betracht kommen, den Transport und den Übergang der Waren aus einer Hand in die andre bis zu ihrem definitiven Verkauf für Geld oder ihrem Austausch mit einer andern Ware.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.499)}}<br />
<br />
'''Annahme 5'''<br />
<br />
Solange Reproduktionsprozess flüssig ist, dauert der Kredit an und dehnt sich aus.<br />
Bei Stockung, überführter Märkte ist Überfluss von industriellem Kapital vorhanden. Es existiert in Form einer Masse von Warenkapital, das aber unverkäuflich ist, sowie in der .<br />
Masse von fixem Kapital, das aber unbeschäftigt ist.Der<br />
Kredit kontrahiert sich.<br />
<br />
{{Zitat |Solange der Reproduktionsprozeß flüssig und damit der Rückfluss gesichert bleibt, dauert dieser Kredit und dehnt sich aus, und seine Ausdehnung ist basiert auf die Ausdehnung des Reproduktionsprozesses selbst. Sobald eine Stockung eintritt, infolge verzögerter Rückflüsse, überführter Märkte, gefallner Preise, ist Überfluß von industriellem Kapital vorhanden, aber in einer Form, worin es seine Funktion nicht vollziehn kann. Masse von Warenkapital, aber unverkäuflich. Masse von fixem Kapital, aber durch Stockung der Reproduktion großenteils unbeschäftigt. Der Kredit kontrahiert sich, 1. weil dies Kapital unbeschäftigt ist, d.h. in einer seiner Reproduktionsphasen stockt, weil es seine Metamorphose nicht vollziehn kann; 2. weil das Vertrauen in die Flüssigkeit des Reproduktionsprozesses gebrochen ist; 3. weil die Nachfrage nach diesem kommerziellen Kredit abnimmt. Der Spinner, der seine Produktion einschränkt und eine Masse unverkauftes Garn auf Lager hat, braucht keine Baumwolle auf Kredit zu kaufen; der Kaufmann braucht keine Waren auf Kredit zu kaufen, weil er deren schon mehr als genug hat.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.500)}}<br />
<br />
'''Annahme 6'''<br />
<br />
Bei Störung der Expansion des Reproduktionsprozesses kommt es zu einem Kreditmangel.<br/>In der Krise ist die Masse des unbeschäftigten Kapitals und auch der Kreditmangel am größten.<br />
Fabriken stehen still, fertige Produkte überfüllen den Markt etc.<br />
Es herrscht ein Überfluss von produktivem Kapital.<br />
<br />
{{Zitat |Tritt also Störung in dieser Expansion oder auch nur in der normalen Anspannung des Reproduktionsprozesses ein, so damit auch Kreditmangel; Waren sind schwerer auf Kredit zu erhalten. Besonders aber ist das Verlangen nach barer Zahlung und die Vorsicht im Kreditverkauf charakteristisch für die Phase des industriellen Zyklus, die auf den Krach folgt. In der Krisis selbst, da jeder zu verkaufen hat und nicht verkaufen kann und doch verkaufen muß, um zu zahlen, ist die Masse, nicht des unbeschäftigten, unterzubringenden Kapitals, sondern die des in seinem Reproduktionsprozeß gehemmten Kapitals gerade dann am größten, wenn auch der Kreditmangel am größten ist (und daher bei Bankierkredit die Diskontorate am höchsten). Das schon ausgelegte Kapital ist dann in der Tat massenweis unbeschäftigt, weil der Reproduktionsprozeß stockt. Fabriken stehn still, Rohstoffe häufen sich auf, fertige Produkte überfüllen als Waren den Markt. Es ist also nichts falscher, als solchen Zustand einem Mangel an produktivem Kapital zuzuschreiben. Es ist gerade dann Überfluß von produktivem Kapital vorhanden, teils in bezug auf den normalen, aber augenblicklich kontrahierten Maßstab der Reproduktion, teils in bezug auf die gelähmte Konsumtion.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.500)}}<br />
<br />
'''Annahme 7'''<br />
<br />
Ersatz der in der Produktion angelegten Kapitale hängt größtenteils ab von der Konsumtionsfähigkeit der nicht produktiven Klassen. Konsumtionsfähigkeit der Arbeiter ist durch Gesetze des Arbeitslohns beschränkt und durch weniger Anwendung der Arbeitskraft.<br/>Letzter Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte, als ob die einzige Grenze die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft bilde.<br/>Von wirklichem Mangel an produktivem Kapital kann nur bei Missernten von Nahrungsmitteln oder Rohstoffen die Rede sein.<br />
<br />
{{Zitat |Wie aber die Dinge liegen, hängt der Ersatz der in der Produktion angelegten Kapitale großenteils ab von der Konsumtionsfähigkeit der nicht produktiven Klassen; während die Konsumtionsfähigkeit der Arbeiter teils durch die Gesetze des Arbeitslohns, teils dadurch beschränkt ist, daß sie nur solange angewandt werden, als sie mit Profit für die Kapitalistenklasse angewandt werden können. Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde.<br/>Von wirklichem Mangel an produktivem Kapital, wenigstens bei kapitalistisch entwickelten Nationen, kann nur gesprochen werden bei allgemeinen Mißernten, sei es der Hauptnahrungsmittel, sei es der hauptsächlichsten industriellen Rohstoffe.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.501)}}<br />
<br />
'''Annahme 8'''<br />
<br />
Zum kommerziellen Kredit kommt der eigentliche Geldkredit hinzu. Durch Vorschießen des Gelds seitens der Bankiers wird für jeden industriellen Fabrikanten oder Kaufmann die Notwendigkeit eines starken Reservekapitals umgangen.<br/>Aber der Prozess verkompliziert sich so, dass durch Wechselreiterei etc. der Schein eines soliden Geschäfts fortexistieren kann, nachdem die Rückflüsse nur auf Kosten geprellter Geldverleiher, Produzenten gemacht worden sind. Das Geschäft scheint übertrieben gesund, gerade unmittelbar vor dem Krach.<br />
<br />
{{Zitat |Es kommt aber nun zu diesem kommerziellen Kredit der eigentliche Geldkredit hinzu. Das Vorschießen der Industriellen und Kaufleute untereinander verquickt sich mit dem Vorschießen des Geldes an sie seitens der Bankiers und Geldverleiher. […] So wird für jeden individuellen Fabrikanten oder Kaufmann sowohl die Notwendigkeit eines starken Reservekapitals umgangen, wie die Abhängigkeit von den wirklichen Rückflüssen. Andrerseits aber kompliziert sich teils durch einfache Wechselreiterei, teils durch Warengeschäfte zum Zweck der bloßen Wechselfabrikation der ganze Prozeß so sehr, daß der Schein eines sehr soliden Geschäfts und flotter Rückflüsse noch ruhig fortexistieren kann, nachdem die Rückflüsse in der Tat schon längst nur noch auf Kosten teils geprellter Geldverleiher, teils geprellter Produzenten gemacht worden sind. Daher scheint immer das Geschäft fast übertrieben gesund gerade unmittelbar vor dem Krach.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.501)}}<br />
<br />
'''Annahme 9'''<br />
<br />
Unwissende und verkehrte Bankgesetzgebung kann Krise erschweren, aber keine Bankgesetzgebung kann die Krise beseitigen.<br />
<br />
{{Zitat |Daß es in der Periode der Krise an Zahlungsmitteln fehlt, ist selbsteinleuchtend. Die Konvertibilität der Wechsel hat sich substituiert der Metamorphose der Waren selbst, und grade zu solcher Zeit um so mehr, je mehr ein Teil der Geschäftshäuser bloß auf Kredit arbeitet. Unwissende und verkehrte Bankgesetzgebung, wie die von 1844/45, kann diese Geldkrise erschweren. Aber keine Art Bankgesetzgebung kann die Krise beseitigen.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.506f.)}}<br />
<br />
'''Annahme 10'''<br />
<br />
In der Krise verliert Warenkapital seine Eigenschaft, potentielles Geldkapital darzustellen.<br/>Dasselbe gilt beim fiktiven Kapital.<br/>Fiktives Geldkapital ist in Krisen enorm vermindert.<br/>Verminderung der Geldnamen dieser Wertpapiere hat nichts zu tun mit dem wirklichen Kapital, aber mit der Zahlungsfähigkeit seiner Eigner.<br />
<br />
{{Zitat |Aus dem Gesagten ergibt sich, daß das Warenkapital seine Eigenschaft, potentielles Geldkapital darzustellen, in der Krise und überhaupt in Geschäftsstockungen in großem Maß verliert. Dasselbe gilt von dem fiktiven Kapital, den zinstragenden Papieren, soweit diese selbst als Geldkapitale auf der Börse zirkulieren. Mit dem steigenden Zins fällt ihr Preis. Er fällt ferner durch den allgemeinen Kreditmangel, der ihre Eigner zwingt, sie massenweis auf dem Markt loszuschlagen, um sich Geld zu verschaffen. Er fällt endlich bei Aktien, teils infolge der Abnahme der Revenuen, worauf sie Anweisungen sind, teils infolge des Schwindelcharakters der Unternehmungen, die sie oft genug repräsentieren. Dies fiktive Geldkapital ist in Krisen enorm vermindert, und damit die Macht seiner Eigner, Geld darauf im Markt aufzunehmen. Die Verminderung der Geldnamen dieser Wertpapiere im Kurszettel hat jedoch nichts zu tun mit dem wirklichen Kapital, das sie vorstellen, dagegen sehr viel mit der Zahlungsfähigkeit seiner Eigner.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.510)}}<br />
<br />
'''Annahme 11'''<br />
<br />
Bedeutung der Börse enorm gestiegen.<br/>Gesamte Produktion, Verkehr, Kommunikationsmittel in den Händen der Börsianer konzentriert.<br/>Börse wird die hervorragendste Vertreterin der kapitalistischen Produktion.<br />
<br />
{{Zitat |1. Aus dem 3.Bd., 5.Abschnitt, besonders Kapitel [27], geht hervor, welche Stellung die Börse in der kapitalistischen Produktion überhaupt einnimmt. Nun ist aber seit 1865, wo das Buch verfaßt, eine Veränderung eingetreten, die der Börse heute eine um ein Bedeutendes gesteigerte und noch stets wachsende Rolle zuweist und die bei der ferneren Entwicklung die Tendenz hat, die gesamte Produktion, industrielle wie agrikulturelle, und den gesamten Verkehr, Kommunikationsmittel wie Austauschfunktion, in den Händen von Börsianern zu konzentrieren, so daß die Börse die hervorragendste Vertreterin der kapitalistischen Produktion selbst wird.| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.917)}}<br />
<br />
'''Annahme 12'''<br />
<br />
Akkumulation des Kapitals mit wachsender Schnelligkeit, schneller als Ausdehnung der Produktion.<br/>Akkumulation des einzelnen Kapitalisten konnte nicht in der Vergrößerung seines eigenen Geschäfts volle Verwendung finden.<br />
<br />
{{Zitat |3. Jetzt anders. Die Akkumulation ist seit der Krise von 1866 mit einer stets wachsenden Schnelligkeit vorgegangen, und zwar so, daß in keinem Industrieland, am wenigsten England, die Ausdehnung der Produktion mit der der Akkumulation Schritt halten, die Akkumulation des einzelnen Kapitalisten in der Vergrößerung seines eigenen Geschäfts volle Verwendung finden konnte| (Marx, Kapital 3.Band, MEW Band 25, S.917f.)}}<br />
<br />
== Quellen ==<br />
<br />
Marx, Karl: MEW Bd. 23-25, Das Kapital in: Marx wirklich studieren, URL: https://marx-wirklich-studieren.net/marx-engels-werke-als-pdf-zum-download/ (06.01.2019).<br />
<br />
[[Kategorie: AG Politische Ökonomie des Imperialismus]]<br />
[[Kategorie: Grundannahmen]]<br />
[[Kategorie: Grundannahme AG Politische Ökonomie des Imperialismus]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Grundannahmen_Faschismus&diff=6058Grundannahmen Faschismus2019-04-13T21:33:27Z<p>Dio: /* Vorbemerkung */</p>
<hr />
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<br />
__INHALTSVERZEICHNIS_ERZWINGEN__<br />
<br />
== Vorbemerkung ==<br />
Wir haben es bei den Grundannahmen zum Faschismus mit dem „Problem“ zu tun, dass Faschismus begrifflich nicht bei den Klassikern auftaucht. Wir haben deswegen zum Einen solche Belegstellen aufgeführt, die das Verhältnis von Imperialismus und Reaktion aufzeigen, zum anderen haben wir Aussagen von Lenin über die Schwarzhundertschaften und den Terror der politischen Reaktion gegen die Russische Revolution 1905 aufgenommen. Die Schwarzhundertschaften weisen viele Merkmale auf, die wir von späteren faschistischen Bewegungen kennen, sowohl was die Wahl ihrer Mittel als auch ihre Ideologie angeht. Man könnte sie auch als „präfaschistische“ Bewegung bezeichnen. Besonders stellte Lenin ihr Verhältnis zur herrschenden Klasse dar – allerdings sind die Schwarzhunderter unserer Einschätzung nach keine Phänomene des Imperialismus und der Monopolbourgeoisie, sondern sie waren auch gegen die bürgerliche Revolution gerichtet und eng an das Klasseninteresse des Feudaladels und den zaristischen Herrschaftsapparat gebunden.<br />
<br />
Wir haben uns bewusst dazu entschieden, die Faschismus-Debatte und die grundlegenden Positionen der Kommunistischen Internationale (KI) nicht in die Grundannahmen aufzunehmen. So ist uns ein kritischer Abgleich der KI-Diskussionen mit den „Klassikern“ möglich. Nichtsdestrotz bilden die Analysen der KI für uns den wichtigsten Bezugspunkt in der Faschismusfrage. Sie werden im Abschnitt „Dissens“ bearbeitet und die Auseinandersetzung mit ihnen wird die Arbeit der AG während des Klärungsprozesses der nächtsen Jahre maßgeblich prägen.<br />
<br />
== Die Tendenz zur Reaktion im Imperialismus ==<br />
<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Imperialismus, Tendenz zur Reaktion <br />
<br />
''' Annahme 1 '''<br />
* Imperialismus ist (politisch) der Drang nach Gewalt und Reaktion<br />
In ''Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus'' (1917) beschrieb Lenin die Entstehung des imperialistischen Weltsystems und entwickelte die grundlegenden ökonomischen und politischen Wesensmerkmale des Imperialismus. In Kapitel VII ''Der Imperialismus als besonderes Stadium des Kapitalismus'' nahm er die verkürzte Imperialismusdefinition von Karl Kautsky auseinander:<br />
{{Zitat|Imperialismus ist Drang nach Annexionen - darauf läuft der politische Teil der Kautskyschen Definition hinaus. Er ist richtig, aber höchst unvollständig, denn politisch ist Imperialismus überhaupt Drang nach Gewalt und Reaktion.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917), in: Bd. 22: Lenin Werke, Berlin/DDR 1971, S. 272-273.}}<br />
<br />
* Zu den politischen Merkmalen des Imperialismus gehört die Reaktion auf ganzer Linie<br />
{{Zitat|Da zu den politischen Besonderheiten des Imperialismus die Reaktion auf der ganzen Linie sowie die Verstärkung der nationalen Unterdrückung in Verbindung mit dem Druck der Finanzoligarchie und mit der Beseitigung der freien Konkurrenz gehören, so tritt mit Beginn des 20. Jahrhunderts in fast allen imperialistischen Ländern eine kleinbürgerlich-demokratische Opposition gegen den Imperialismus auf. Und der Bruch Kautskys und der weitverbreiteten internationalen Strömung des Kautskyanertums mit dem Marxismus besteht gerade darin, daß Kautsky es nicht nur unterlassen, es nicht verstanden hat, dieser kleinbürgerlichen, reformistischen, ökonomisch von Grund aus reaktionären Opposition entgegenzutreten, sondern sich im Gegenteil praktisch mit ihr vereinigt hat.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917), in: Bd. 22: Lenin Werke, Berlin/DDR 1971, S. 292.}}<br />
<br />
== Imperialismus und demokratische Republik ==<br />
<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Imperialismus, Republik, Demokratie, Basis, Überbau, Reaktion <br />
<br />
''' Annahme 1 '''<br />
* Politisch ist der Imperialismus gegenüber dem Kapitalismus der freien Konkurrenz die Wendung von Demokratie zu Reaktion<br />
* Der ökonomischen Grundlage des Imperialismus, dem Monopol, entspricht politisch die Reaktion<br />
* Dies trifft sowohl auf die Politik des Imperialismus im Ausland, wie im eigenen Land zu <br />
* Imperialismus bedeutet “Negation” der Demokratie<br />
In seinem Artikel ''Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus' '' (1916) kritisierte Lenin die dem Marxismus feindliche Position der gegen die Partei auftretenden Gruppe Bucharin-Pjatakow und entwickelte gemäß den neuen historischen Verhältnissen das bolschewistische Programm zur nationalen Frage. Im folgenden Abschnitt beschrieb er den politischen Überbau, der sich aus der ökonomischen Basis des Imperialismus ergibt:<br />
{{Zitat|Ökonomisch ist der Imperialismus […] eine Stufe [des Kapitalismus], auf der die Produktion so sehr Groß- und Größtproduktion geworden ist, daß die freie Konkurrenz vom Monopol abgelöst wird. Das ist das ökonomische Wesen des Imperialismus. […] <br /> <br />Der politische Überbau über der neuen Ökonomik, über dem monopolistischen Kapitalismus (Imperialismus ist monopolistischer Kapitalismus) ist die Wendung von der Demokratie zur politischen Reaktion. Der freien Konkurrenz entspricht die Demokratie. Dem Monopol entspricht die politische Reaktion. „Das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft", sagt Rudolf Hilferding völlig richtig in seinem „Finanzkapital". <br /> <br />Die „Außenpolitik" von der Politik schlechthin zu trennen oder gar die Außenpolitik der Innenpolitik entgegenzustellen ist grundfalsch, unmarxistisch, unwissenschaftlich. Sowohl in der Außenpolitik wie auch gleicherweise in der Innenpolitik strebt der Imperialismus zur Verletzung der Demokratie, zur Reaktion. In diesem Sinne ist unbestreitbar, daß der Imperialismus „Negation" der Demokratie überhaupt, der ganzen Demokratie ist, keineswegs aber nur einer demokratischen Forderung, nämlich der Selbstbestimmung der Nationen.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus" (1924), in: Bd. 23: Lenin Werke, Berlin/DDR 1975, S. 34.}}<br />
<br />
<br />
''' Annahme 2 '''<br />
* Die Republik ist eine der möglichen Formen des politischen Überbaus der kapitalistischen Gesellschaft <br />
* Sie ist auch im Kapitalismus die demokratischste Form des Überbaus<br />
* Aber: Es besteht ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen dem ökonomischen Inhalt des Imperialismus und der politischen Form der Demokratie<br />
* Die demokratische Republik muss ihre ökonomische Grundlage, also ihren Klassencharakter und Eigentumsverhältnisse verleugnen und “Gleichheit zwischen Armen und Reichen” proklamieren. Sie widerspricht also dem Kapitalismus<br />
* Dieser Widerspruch verschärft sich durch den Imperialismus, durch die Ersetzung der freien Konkurrenz durch das Monopol<br />
{{Zitat|Die Republik ist eine der möglichen Formen des politischen Überbaus der kapitalistischen Gesellschaft, und zwar unter den modernen Verhältnissen die demokratischste Form. (…) Weiter. Welcher Art ist der Widerspruch zwischen Imperialismus und Demokratie? Es ist die Frage nach der Beziehung der Ökonomik zur Politik; nach der Beziehung der ökonomischen Verhältnisse und des ökonomischen Inhalts des Imperialismus zu einer der politischen Formen. […] Ist dies ein „logischer" Widerspruch zwischen zwei ökonomischen (1)? oder zwischen zwei politischen Erscheinungen bzw. Thesen (2)? oder zwischen einer ökonomischen und einer politischen Erscheinung bzw. These (3)? <br /> <br /> Denn das ist das Kernproblem, wenn die Frage der ökonomischen Unrealisierbarkeit oder Realisierbarkeit bei Existenz der einen oder der anderen politischen Form aufgeworfen wird! <br /> Hätte P . Kijewski diesen Kern nicht umgangen, so hätte er wahrscheinlich gesehen, daß der Widerspruch zwischen Imperialismus und Republik ein Widerspruch zwischen der Ökonomik des neuesten Kapitalismus (nämlich des monopolistischen Kapitalismus) und der politischen Demokratie schlechthin ist. Denn niemals wird P. Kijewski beweisen können, daß irgendeine bedeutende und grundlegende demokratische Maßnahme (Wahl der Beamten oder Offiziere durch das Volk, vollste Koalitions- and Versammlungsfreiheit u. dgl.) dem Imperialismus weniger widerspricht [...] als die Republik. <br /> Wir kommen auf diese Weise zu eben der Feststellung, die wir in den Thesen betonten: Der Imperialismus widerspricht, widerspricht „logisch" der ganzen politischen Demokratie schlechthin. <br /> <br /> Weiter. Warum paßt die Republik dem Imperialismus nicht in den Kram? Und wie „vereinbart" der Imperialismus seine Ökonomik mit der Republik? […] Also gerade um die Frage der „Antinomie" zwischen Ökonomik und Politik. Engels antwortet: ,... die demokratische Republik weiß offiziell nichts mehr von Besitzunterschieden' (zwischen den Bürgern). ,In ihr übt der Reichtum seine Macht indirekt, aber um so sichrer aus. Einerseits in der Form der direkten Beamtenkorruption, wofür Amerika klassisches Muster, andrerseits in der Form der Allianz von Regierung und Börse …'[…].Die demokratische Republik widerspricht [...] dem Kapitalismus, da sie „offiziell" den Reichen und den Armen gleichsetzt. Das ist ein Widerspruch zwischen der ökonomischen Basis und dem politischen Überbau. Zum Imperialismus steht die Republik im gleichen Widerspruch, vertieft und vervielfacht dadurch, daß die Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol die Realisierung der verschiedenen politischen Freiheiten noch mehr „erschwert".|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus" (1924), in: Bd. 23: Lenin Werke, Berlin/DDR 1975, S. 37-38.}}<br />
<br />
==Lenin über die Schwarzhundertschaften==<br />
<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Reaktion, Repression, Gewalt, revolutionäre Situation<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
* Gegen eine erstarkende revolutionäre Arbeiterbewegung benötigt die besitzende Klasse repressive Maßnahmen, die über den Wirkbereich von Polizei und Militär hinausgehen.<br />
* Die reaktionärsten Teile der Bevölkerung werden in der revolutionären Situation von der Regierung zur Verteidigung der besitzenden Klasse gegen die Arbeiterklasse rekrutiert.<br />
* Durch verschiedene Formen der Streuung von Hass werden Teile des Volkes gegeneinander aufgehetzt und Reaktionäre organisiert.<br />
* Der Klassenkampf gegen die ausbeutenden Teile der Bevölkerung liegt der politischen Umgestaltung zugrunde. Deswegen werden die proletarischen Massen gegen die Regierung und ihre organisierte Reaktion Widerstand leisten. <br />
* In der Organisierung der Reaktion und des direkten Bürgerkriegs drückt sich eine Zuspitzung des Klassenkampfes aus.<br />
<br />
Die Schwarze Hundert „Schwarzhundertschaften“ waren eine nationalistisch-terroristische Organisation im zaristischen Russland. Sie verübten in den Jahren vor und während der 1905 Revolution Terror gegen Revolutionäre und Pogrome an der jüdischen Bevölkerung. Die Schwarzhundertschaften waren der bewaffnete Arm des monarchistisch-reaktionären „Bund des russischen Volkes“. Der Bund erhielt große Zustimmung bei der Kirche und der zaristischen Regierung, Zar Nikolai II. war Ehrenmitglied. Lenin befasst sich in diesen Zeiten immer wieder mit dem Terror der Schwarzhunderter und ruft die Arbeiterschaft zur bewaffneten Gegenwehr auf.<br />
<br />
Folgenden Aufsatz verfasste Lenin im frühen Sommer 1905, also zu Beginn der Russischen Revolution. Er beschäftigt sich mit den reaktionären Maßnahmen der zaristischen Regierung gegen die revolutionären Bewegung:<br />
{{Zitat|Eine gute Sache für die Polizei ist diese „provisorische" Verordnung über verstärkte Sicherheitsmaßnahmen, die seit 1881 eines der stabilsten, eines der Grundgesetze des Russischen Reichs geworden ist. Die Polizei erhielt alle erdenklichen Rechte und Vollmachten, um „die Einwohnerschaft in der Hand zu halten“[…] Anderseits aber sind die außerordentlichen Unterdrückungsmaßnahmen, die vor fünfundzwanzig Jahren als außerordentliche gelten konnten, derart zur Gewohnheit geworden, daß auch die Bevölkerung, wenn man so sagen darf, sich ihnen angepaßt hat. Der repressive Charakter der außerordentlichen Maßnahmen verlor seine Wirkung, ebenso wie eine neue Sprungfeder durch langen und übermäßigen Gebrauch in ihrer Spannkraft nachläßt. […]Vorbei sind die siebziger Jahre, als die Kräfte einer solchen zweifellos vorhandenen und furchtgebietenden Partei „nur für einzelne Attentate, nicht aber für einen politischen Umsturz ausreichten". In jenen Zeiten, als „die illegale Agitation eine Stütze in einzelnen Personen und Zirkeln fand", hatte die neuerfundene Sprungfeder noch eine gewisse Spannkraft aufzuweisen. Doch wie sehr hat diese Sprungfeder jetzt nachgelassen, „bei dem heutigen Zustand der Gesellschaft, da sich in Rußland die Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung der Dinge und eine starke oppositionelle Bewegung breit entwickeln"! Wie sehr haben sich die außerordentlichen Sicherheitsmaßnahmen als […] sinnlos erwiesen, sobald […] genötigt war, sie tausendfach anzuwenden „gegen Arbeiter wegen Streiks, die friedlichen Charakter trugen und rein wirtschaftliche Beweggründe hatten", sobald man sogar Steine als eine in politischer Beziehung nicht ungefährliche Waffe qualifizieren mußte! </br> </br> […] Alles in dieser Verordnung hat sich als untauglich erwiesen, seit die revolutionäre Bewegung wirklich ins Volk gedrungen ist und sich unlöslich mit der Klassenbewegung der Arbeitermassen verbunden hat — alles, von der polizeilichen Meldepflicht bis zu den Kriegsgerichten. […] Das ist nichts anderes als der vollständige Bankrott der Polizeiordnung!</br> </br> […] Als es keine wirkliche revolutionäre Volksbewegung gab, als der politische Kampf noch nicht mit dem Klassenkampf zu einem Ganzen verbunden war, da genügten, weil es nur um einzelne Personen und Zirkel ging, bloße Polizeimaßnahmen. Gegen Klassen erwiesen sich diese Maßnahmen als bis zur Lächerlichkeit wirkunglos, und die Unzahl der Maßnahmen begann zu einem Hemmnis für die Arbeit der Polizei zu werden. Die einst respektgebietenden Paragraphen der Verordnung über verstärkte Sicher- heitsmaßnahmen wurden zu dürftigen, kleinlichen, spitzfindigen Schikanen, die sehr viel mehr die Unzufriedenheit der nicht zu den Revolutionären gehörenden „Einwohner" schüren, als daß sie ernsthaft die Revolutionäre treffen. Gegen die Volksrevolution, gegen den Klassenkampf kann man sich nicht auf die Polizei stützen, man muß sich ebenfalls auf das Volk, ebenfalls auf Klassen stützen'. Das ist die Moral der Denkschrift des Herrn Lopuchin. Und das ist auch die Moral, zu der die absolutistische Regierung in der Praxis gelangt. Die Sprungfedern der Polizeimaschine haben nachgelassen, militärische Kräfte allein genügen nicht. Man muß die nationale Zwietracht, die Rassenzwietracht schüren, man muß aus den Reihen der am wenigsten aufgeklärten Schichten der städtischen (und später selbstverständlich auch der ländlichen) Kleinbourgeoisie „Schwarzhundertschaften" rekrutieren, man muß versuchen, alle reaktionären Elemente in der Bevölkerung selbst zur Verteidigung des Throns zusammenzuschließen, man muß den Kampf der Polizei gegen Zirkel in einen Kampf des einen Teils des Volkes gegen den anderen Teil des Volkes verwandeln.</br> </br> So verfährt jetzt auch die Regierung: Sie hetzt in Baku die Tataren gegen die Armenier auf, sie versucht neue Judenpogrome hervorzurufen, sie organisiert Schwarzhunderschaften gegen Semstwoleute, Studenten und aufrührerische Gymnasiasten, sie appelliert an die treuuntertänigen Adligen und an die konservativen Elemente der Bauernschaft. Nun wohl! Wir Sozialdemokraten […] wissen, daß die Regierung jetzt, da die Arbeiter begonnen haben, den bewaffneten Widerstand gegen die Pogrombanditen zu organisieren, mit der Schürung der Rassenzwietracht kein großes Glück haben wird; wenn sich die Regierung aber auf die ausbeutenden Schichten der Kleinbourgeoisie stützt, wird sie die breiten, wirklich proletarischen Massen noch mehr gegen sich aufbringen. Wir haben niemals erwartet und erwarten auch jetzt nicht politische und soziale Umwälzungen von der „Einsicht" der Machthaber oder von dem Übertritt der Gebildeten auf die Seite der „Tugend". Wir haben immer gelehrt und lehren auch jetzt, daß es der Klassenkampf ist, der Kampf des ausgebeuteten Teils des Volkes gegen den ausbeutenden, der den politischen Umgestaltungen zugrunde liegt und letzten Endes das Schicksal aller solcher Umgestaltungen entscheidet. Wenn die Regierung den völligen Bankrott der polizeilichen Kleinkrämerei zugibt und zur direkten Organisierung des Bürgerkriegs übergeht, so beweist sie damit, daß die letzte Abrechnung naht. Um so besser. Sie beginnt den Bürgerkrieg. Um so besser. Wir sind auch für den Bürgerkrieg. Wenn wir uns irgendwo besonders sicher fühlen, so gerade auf diesem Gebiet, im Krieg der ungeheuren Masse des unterdrückten und rechtlosen, des werktätigen und die ganze Gesellschaft erhaltenden Millionenvolkes gegen das Häuf- lein privilegierter Nichtstuer. Die Regierung kann natürlich durch Entfachung der Rassenzwietracht und des nationalen Hasses die Entwicklung des Klassenkampfes eine Zeitlang hemmen, aber nur auf kurze Zeit, und zwar mit dem Ergebnis, daß sich der neue Kampf auf einem noch größeren Feld abspielen wird, daß das Volk noch erbitterter gegen die Selbstherrschaft sein wird. Beweis: die Auswirkungen des Pogroms in Baku, der die revolutionäre Stimmung aller Schichten gegen den Zarismus verzehnfacht hat. Die Regierung glaubte das Volk durch den Anblick des Bluts und der vielen Opfer der Straßenkämpfe einschüchtern zu können — in Wirklichkeit gewöhnt sie dem Volk ab, sich vor Blutvergießen, vor einem direkten bewaffneten Zusammenstoß zu fürchten. In Wirklichkeit betreibt sie eine so großzügige und so eindrucksvolle Agitation zu unseren Gunsten, wie wir sie uns nicht hätten träumen lassen. Vive le son du canon! sagen wir mit den Worten eines französischen revolutionären Liedes — „Es lebe der Donner der Kanonen!", es lebe die Revolution, es lebe der offene Volkskrieg gegen die zaristische Regierung und ihre Anhänger!|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Vorwort zur Broschüre „Denkschrift des Direktors des Polizeidepartements“, in: Bd. 8: Lenin Werke, Berlin/DDR 1959, S.191-194.}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
* In der Situation des Bürgerkrieges kommt es zu Zugeständnissen der reaktionären Kräfte an das Proletariat in Worten und gleichzeitig zur Bekämpfung derselben während der revolutionären Situation.<br />
{{Zitat|Die Entscheidung naht. Die neue politische Lage zeichnet sich mit erstaunlicher, nur revolutionären Epochen eigener Schnelligkeit ab. Die Regierung gab in Worten nach und begann gleichzeitig durch Taten den Angriff vorzubereiten.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.450.}}<br />
<br />
{{Zitat|Solange die faktische Macht des Zarismus nicht gestürzt ist, solange sind alle seine Zugeständnisse, sogar einschließlich der „konstituierenden" Versammlung, nichts als Blendwerk, Lug und Trug.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.451.}}<br />
<br />
{{Zitat|"Man hat uns Versammlungsfreiheit gewährt", schrieb das Streikkomitee (wir übersetzen aus dem Englischen ins Russische zurück, wodurch sich natürlich kleine Abweichungen vom Wortlaut ergeben), „aber unsere Versammlungen werden von Truppen umzingelt. Man hat uns Pressefreiheit gewährt, aber die Zensur besteht weiter. Man hat uns Freiheit der Wissenschaft versprochen, aber die Universität ist von Soldaten besetzt. Man hat uns Unantastbarkeit der Person gewährt, aber die Gefängnisse sind mit Verhafteten überfüllt. Man hat uns Witte beschert, aber Trepow ist nach wie vor da. Man hat uns eine Verfassung gewährt, aber die Selbstherrschaft besteht weiter. Man hat uns alles gegeben, aber wir haben nichts."|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.451.}}<br />
<br />
{{Zitat|Es wird berichtet, daß die russische Garnison einer starken Festung (Sveaborg) dem aufständischen Volk ihre Sympathien ausgedrückt und die Festung der Volksmiliz übergeben hat. Finnland jubelt. Der Zar macht Zugeständnisse, er ist bereit, den Landtag einzuberufen, hebt das gesetzwidrige Manifest vom 15. Februar 1899 auf, nimmt die „Demission" der vom Volk vertriebenen Senatoren an. Und zur selben Zeit rät das „Nowoje Wremja", alle finnischen Häfen zu blockieren und den Aufstand mit Waffengewalt niederzuschlagen.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.455.}}<br />
<br />
* Die besitzende Klasse und ihre Vertreter paktieren mit allen reaktionären Kräften. Der reaktionäre Charakter der Bourgeoisie im zaristischen Russland tritt im damaligen Pakt mit dem zaristischen Herrschaftsapparat zu Tage.<br />
* Die reaktionären staatlichen Gewaltapparate arbeiten mit nichtstaatlichen konterrevolutionären militanten Truppen zusammen.<br />
{{Zitat|Der Zar verspricht der Bourgeoisie von Tag zu Tag mehr, um zu sondieren, ob nicht endlich eine allgemeine Schwenkung der besitzenden Klassen in der Richtung zur „Ordnung" beginnt.| <br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.453.}}<br />
<br />
{{Zitat|Und wieder entfaltet sich vor uns, aber auf einer unvergleichlich höheren Entwicklungsstufe, das gleiche Bild, das wir am Anfang der Moskauer Streiks sahen: die Liberalen verhandeln, die Arbeiter kämpfen.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.453.}}<br />
<br />
{{Zitat|Trepow rächt sich für den Jubel des revolutionären Volkes (über die dem Zaren abgerungenen Zugeständnisse). Die Kosaken wüten. Immer öfter kommt es zu blutigen Zusammenstößen. Die Polizei organisiert offen Schwarzhundertschaften.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.455.}}<br />
<br />
* Die reaktionären Kräfte handeln im Klasseninteresse der Ausbeuter.<br />
* Im Angesicht der revolutionären Situation vereinen sich alle reaktionären Kräfte zur Verteidigung des Klasseninteresses der Ausbeutender gegen das Proletariat.<br />
{{Zitat|Es fragt sich, welches denn nun die soziale Basis der Partei der Rechten ist, welche Klasse sie vertritt, welcher Klasse sie dient. Die Rückkehr zu den Losungen der Leibeigenschaft, das Einstehen für alles Alte, alles Mittelalterliche im russischen Leben, die volle Zufriedenheit mit der Konstitution des 3. Juni, dieser Gutsbesitzerkonstitution, die Verteidigung der Privilegien des Adels und des Beamtentums - all das gibt eine klare Antwort auf unsere Frage. Die Rechten, das ist die Partei der feudalen Gutsbesitzer, des Rates des vereinigten Adels|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die politische Parteien in Russland, in: Bd. 18: Lenin Werke, Berlin/DDR 1974, S.32.}}<br />
<br />
{{Zitat|Die Oktobristen haben in der III. Duma 131 Abgeordnete, wobe natürlich auch die „rechten Oktobristen" in diese Zahl einbegriffen sind. Sie unterscheiden sich in der heutigen Politik in nichts Wesentlichem von den Rechten, es sei denn dadurch, daß ihre Partei außer dem Gutsbesitzer auch noch dem Großkapitalisten dient, dem altgläubigen Kaufmann, der Bourgeoisie, die das Erwachen der Arbeiter und dann auch der Bauern zu selbständigem Leben in solchen Schrecken versetzt hat, daß sie ganz und gar zur Verteidigung der alten Zustände zurückgekehrt ist. Es gibt Kapitalisten in Rußland - und ihrer sind nicht gerade wenig -, die mit ihren Arbeitern keineswegs besser umgehen als die Gutsbesitzer mit den ehemaligen Leibeigenen; die Arbeiter, der Handelsangestellte sind für sie ebenfalls Gesinde, Dienstleute. Niemand versteht diese alten Zustände besser zu verteidigen als die rechten Parteien, die Nationalisten und die Oktobristen. Zwar gibt es auch Kapitalisten, die in den Semstwo- und Städtetagungen von 1904 und 1905 eine „Konstitution" forderten, aber gegen die Arbeiter sind sie bereit, sich mit der Konstitution des 3.- Juni völlig zufriedenzugeben.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die politische Parteien in Russland, in: Bd. 18: Lenin Werke, Berlin/DDR 1974, S.32.}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
* Repressive Gewalt gegen die revolutionäre Bewegung gewinnt in einer revolutionären Situation an Bedeutung.<br />
{{Zitat|Warum haben nun dieser höchst mittelmäßige Polizist und seine ganz alltägliche „Arbeit" auf einmal eine so unermeßlich große Bedeutung gewonnen? Weil die Revolution einen unermeßlich großen Schritt vorwärts gemacht und die wirkliche Entscheidung näher gebracht hat.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.451.}}<br />
<br />
{{Zitat|Die Sitzungen der Reichsduma haben begonnen - in wahren Sturzbächen ergossen sich die liberal-bürgerlichen Reden vom friedlichen, konstitutionellen Weg -, und zugleich haben die von Agenten der Regierung organisierten Überfälle auf friedliche Demonstranten, Brandstiftungen in Häusern, wo Volksversammlungen stattfinden, und schließlich direkte Pogrome eingesetzt und sich immer mehr verstärkt.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Reaktion beginnt den bewaffneten Kampf, in: Bd. 10: Lenin Werke, Berlin/DDR 1970, S.514.}}<br />
<br />
* Die Bourgeoisie ist daran interessiert, die Arbeiterklasse von grundlegenden politischen und ökonomischen Fragen abzulenken und verschiedene Formen der reaktionären Politik zur Spaltung und Zersplitterung der Arbeiterklasse zu nutzen.<br />
{{Zitat|Die reaktionäre Bourgeoisie hat überall danach getrachtet und beginnt jetzt auch bei uns danach zu trachten, den religiösen Hader zu entfachen, um so die Aufmerksamkeit der Massen von den wirklich wichtigen und grundlegenden ökonomischen und politischen Fragen abzulenken, die das gesamtrussische Proletariat, das sich in seinem revolutionären Kampf zusammenschließt, jetzt praktisch löst. Diese reaktionäre Politik der Zersplitterung der proletarischen Kräfte, die sich heute hauptsächlich in Pogromen der Schwarzhunderter äußert, kann morgen sehr wohl auch irgendwelche raffinierteren Formen ersinnen. Wir werden ihr jeden falls die ruhige, beharrliche und geduldige, von jeder Aufbauschung zweitrangiger Meinungsverschiedenheiten freie Propaganda der proletarische Solidarität und der wissenschaftlichen Weltanschauung entgegenstellen.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Sozialismus und Religion, in: Bd. 10: Lenin Werke, Berlin/DDR 1970, S.74.}}<br />
<br />
* Die Reaktion wendet alle Formen der Gewalt gegen die revolutionäre Arbeiterklasse, ihre Verbündeten und andere Minderheiten an.<br />
{{Zitat|Zugleich mit dem Verfassungsmanifest der Selbstherrschaft begannen auch die Vorbeugungsmaßnahmen der Selbstherrschaft gegen die Verfassung. Die Schwarzhundertschaften fingen so zu wüten an, wie es Rußland noch nicht erlebt hatte. Berichte von Massakern und Pogromen, von unerhörten Bestialitäten kommen haufenweise aus allen Gegenden Rußlands. Es herrscht der weiße Terror, überall, wo nur irgend möglich, mobilisiert und organisiert die Polizei den Abschaum der kapitalistischen Gesellschaft zu Raub und Gewalttat, setzt sie die Hefe der städtischen Bevölkerung unter Alkohol, veranstaltet sie Judenpogrome, hetzt sie zu Mißhandlungen der „Studenten" und Rebellen auf, hilft sie die Semstwoleute „belehren". Die Konterrevolution tobt sich aus. Trepow „bewährt sich". Man schießt mit Mitrailleusen (Odessa), sticht Augen aus (Kiew), wirft Menschen vom fünften Stockwerk auf die Straße, stürmt ganze Häuser und liefert sie der Plünderung aus, legt Feuer an und erlaubt nicht, die Brände zu löschen, schießt alle nieder, die es wagen, sich den Schwarzhundert schaften zu widersetzen. Von Polen bis Sibirien, vom Finnischen Meerbusen bis zum Schwarzen Meer — überall ein und dasselbe Bild.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.453.}}<br />
<br />
{{Zitat|Man kann der alten Macht, die stets die Gesetze selbst gemacht hat und die mit den letzten, den verzweifeltsten, barbarischsten und bestialischsten Mitteln um ihre Existenz kämpft, nicht durch einen Appell an die Gesetzlichkeit Einhalt gebieten.</br> Der Pogrom in Bialystok ist ein besonders krasses Beispiel für diesen Beginn bewaffneter Aktionen der Regierung gegen das Volk. Es ist die alte, doch ewig neue - ewig bis zum Siege des Volkes, bis zur restlosen Hinwegfegung der alten Macht - Geschichte der russischen Pogrome! Hier einige Auszüge aus dem Telegramm Zirins, eines Wahlmanns der Bialystoker Bürger: „Es begann ein Judenpogrom, der von langer Hand vorbereitet war." „Entgegen verbreiteten Gerüchten trafen einen ganzen Tag lang aus dem Ministerium keinerlei Verfügungen ein." „Für den Pogrom war schon seit zwei Wochen eifrig agitiert worden; in den Straßen wurden besonders an den Abenden Flugblätter verteilt, die zu Mißhandlungen nicht nur von Juden, sondern auch von Intellektuellen aufforderten; die Polizei drückte dabei beide Augen zu." Das alte, bekannte Bild! Die Polizei bereitet von langer Hand den Pogrom vor. Die Polizei hetzt auf; in den Regierungsdruckereien werden Aufrufe zur Mißhandlung von Juden gedruckt. Die Polizei bleibt zu Beginn des Pogroms untätig. Das Militär sieht den Heldentaten der Schwarzhunderter schweigend zu. Und dann - dann setzt die gleiche Polizei die Komödie eines Untersuchungs- und Gerichtsverfahrens gegen die Pogromhelden in Szene. Untersuchung und Gericht durch Beamte der alten Macht führen stets zum gleichen Resultat: die Sache wird verschleppt, Schuldige an den Pogromen gibt es nicht, manchmal werden sogar die mißhandelten und zu Krüppeln geschlagenen Juden und Intellektuellen vor Gericht gezerrt, es vergehen Monate, und die alte, aber ewig neue Geschichte gerät in Vergessenheit - bis zum nächsten Pogrom.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Reaktion beginnt den bewaffneten Kampf, in: Bd. 10: Lenin Werke, Berlin/DDR 1970, S.515.}}<br />
<br />
* Das Schüren von Fremdenhass wird als Methode angewandt, um die eigentlichen Interessen der ausbeutenden Klasse zu verschleiern und von ihnen abzulenken.<br />
{{Zitat|Die Hetze gegen die Fremdstämmigen im allgemeinen und gegen die Juden im besonderen ist im Programm der Schwarzhunderter offen, klar und bestimmt formuliert. Wie stets sprechen sie hier gröber, rücksichtsloser, aufreizender das aus, was die übrigen Regierungsparteien mehr oder weniger „schamhaft" oder diplomatisch zu verstecken suchen.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die politische Parteien in Russland, in: Bd. 18: Lenin Werke, Berlin/DDR 1974, S.32.}}<br />
<br />
{{Zitat|Natürlich ist es unmöglich, geradeheraus über den Schutz der Interessen der Gutsbesitzer zu sprechen. Es wird von der Erhaltung der guten alten Zeit im allgemeinen gesprochen, man strengt sich nach Kräften an, Mißtrauen gegen die Fremdstämmigen, insbesondere gegen die Juden, zu säen, völlig unentwickelte, völlig unwissende Menschen zu Pogromen, zur Hetze gegen „den Jud" hinzureißen. Man bemüht sich, die Privilegien der Adligen, der Beamten und der Gutsbesitzer hinter Reden über die „Unterdrückung" der Russen durch die Fremdstämmigen zu verbergen. Solcherart ist die Partei der „Rechten".|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die politische Parteien in Russland, in: Bd. 18: Lenin Werke, Berlin/DDR 1974, S.34.}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
* Die außerhalb der Regierung organisierten Reaktionäre agieren scheinbar unabhängig.<br />
* In dieser Rolle besitzen sie Handlungsfreiheit, agieren allerdings im Sinne der Ausbeutenden.<br />
* Die vermeintliche Unabhängigkeit der außerhalb der Regierung organisierten Reaktion verschleiert das Handeln im Klasseninteresse der Ausbeutenden.<br />
{{Zitat|Eine Regierungsverlautbarung gibt — zur Genugtuung naiver Liberaler — zu, daß sich die Polizei an den Heldentaten der Schwarzhunderter beteiligt hat. Die vor der Regierung liebedienernde Presse (beispielsweise das „Nowoje Wremja") tut so, als verurteile sie die Ausschreitungen der Reaktionäre und natürlich auch die „Ausschreitungen" der Revolutionäre. Die extremen Vertreter der Reaktion (Pobedonoszew, Wladimir, Trepow) ziehen sich zurück, unzufrieden mit dem kleinlichen Spiel. Teilweise begreifen sie in ihrer Dummheit nicht, wie vorteilhaft dieses Spiel ist, durch das man dem Zarismus die größtmögliche Macht erhalten will; teilweise spekulieren sie — und spekulieren richtig — darauf, daß es für sie besser ist, völlig freie Hand zu haben und sich an demselben Spiel zu beteiligen, aber in einer anderen Rolle, nämlich in der Rolle „unabhängiger" Kämpfer für die Macht des Monarchen, in der Rolle „freier" Rächer für die (durch die Revolutionäre) „entweihten nationalen Gefühle des russischen Volkes", einfacher gesagt, in der Rolle von Führern der Schwarzhunderter. </br> Witte reibt sich angesichts der „großartigen" Erfolge seines erstaunlich schlauen Spiels vor Vergnügen die Hände. Er bewahrt die Unschuld des Liberalismus, bietet den Führern der Kadettenpartei (sogar Miljukow, laut Telegramm des Korrespondenten von „Le Temps") aufdringlich Ministerportefeuilles an, schreibt Herrn Struve eigenhändig einen Brief mit dem Angebot, in die Heimat zurückzukehren, und bemüht sich, den „Weißen" zu spielen, der den „Roten" wie den „Schwarzen" gleich fernsteht. Und gleichzeitig erwirbt er, während er die Unschuld bewahrt, auch noch Kapital, denn er bleibt das Haupt der zaristischen Regierung, die alle Macht in ihren Händen behält und nur auf einen günstigen Augenblickwartet, um zum entscheidenden Angriff auf die Revolution überzugehen.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Zwischen zwei Schlachten, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.460.}}<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Grundannahmen]]<br />
[[Kategorie: Grundannahme AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=AG_Staat,_Faschismus_und_Sozialdemokratie&diff=6057AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie2019-04-13T21:32:06Z<p>Dio: /* Grundannahmen Faschismus */</p>
<hr />
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[[Datei:Fancy Layout.jpg|mini]]<br />
<br />
==Einführung in die AG==<br />
<br />
Diese AG beschäftigt sich mit den Themen (bürgerlicher) Staat, Sozialdemokratie und Faschismus – also mit den verschiedenen Formen bürgerlicher Herrschaft im Kapitalismus und den politischen Kräften, die der Arbeiterbewegung und dem Sozialismus feindlich gegenüberstehen. Warum sind diese Themen für die kommunistische Weltbewegung auch heute noch von brennender Wichtigkeit? Zunächst weil die Behandlung dieser Fragen die unmittelbarsten Auswirkungen auf die politische Praxis hat. <br />
<br />
Die Haltung der Kommunisten zum '''bürgerlichen Staat''' gehört zu den wichtigsten Kernproblemen der revolutionären Strategie. Die falsche Behandlung dieser Frage in der Theorie muss unweigerlich zu schwerwiegenden Fehlern in der Praxis führen. Sollen Kommunisten sich an bürgerlichen Regierungen beteiligen? Lässt sich die Macht der Arbeiterklasse auf parlamentarischem Weg errichten? Kann der bürgerliche Staat reformiert und für den Aufbau des Sozialismus genutzt werden? Historisch waren Fehleinschätzungen in diesen Fragen das größte Einfallstor für Revisionismus und Opportunismus in der Arbeiterbewegung. <br />
<br />
Nicht weniger zentral ist die Einschätzung der Rolle der '''Sozialdemokratie''' durch die Kommunisten. Sind die Sozialdemokraten Gegner oder Bündnispartner im Kampf gegen die Bourgeoisie und für den Sozialismus? Gehört die Sozialdemokratie etwa nicht zur Arbeiterbewegung und zu den „Kräften des gesellschaftlichen Fortschritts“? Vertritt die Sozialdemokratie an der Regierungsmacht die Interessen der Arbeiterklasse oder die der Bourgeoise? Und lässt sich der Kapitalismus durch sozialdemokratische Reformen nicht schrittweise zügeln und immer "menschlicher" und "sozialer" einrichten?<br />
<br />
Und schließlich die Frage nach der richtigen Analyse des und die richtige Taktik im Kampf gegen den '''Faschismus''', die sich heute wieder mit wachsender Dringlichkeit stellt und der große Teile der deutschen Linken ratlos gegenüberstehen. Was waren die Ursachen für die historische Niederlage der Arbeiterbewegung im Kampf gegen den Faschismus? Welche Fehler haben die Kommunisten und die Arbeiterbewegung im Kampf gegen den Faschismus gemacht? Welche Schlussfolgerungen müssen wir daraus für heute ziehen? Und wie muss heute eine effektive antifaschistische Praxis und Bündnispolitik aussehen?<br />
<br />
Fehler und Widersprüche im Umgang mit all diesen Fragen haben den Kommunisten in der Vergangenheit die größten Verluste und die schwersten Niederlagen zugefügt – bis hin zu Spaltung, Verrat und annähernder Auslöschung. Wie könnten diese Probleme für die Kämpfe der Zukunft also nicht von größter Relevanz sein?<br />
<br />
Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bilden die [[AG_Staat,_Faschismus_und_Sozialdemokratie#Grundannahmen|'''Grundannahmen''']] von Marx, Engels und Lenin zu diesem Themenkomplex. Wir gehen im Sinne des historischen Materialismus davon aus, dass die menschliche Gesellschaft als dialektische Einheit von ökonomischer Basis und politisch-ideologischem Überbau aufgefasst werden muss. "Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewustsein" (Marx). Ohne eine Analyse der Basis, ihrer inneren Widersprüche und der in ihr wirkenden Bewegungsgesetze kann auch keine materialistische Analyse der Phänomene des Überbaus gelingen. Mit Lenin gehen wir davon aus, dass der Kapitalismus vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in sein monopolistisches Stadium übergegangen ist und sich als Imperialismus zum Weltsystem weiterentwickelt hat. Dieser Monopolkapitalismus bildet auch heute noch die ökonomische Basis, auf der sich die verschiedenen Ideologien der Bourgeoisie herausbilden. Der Faschismus und die Sozialdemokratie gehören sowohl als politische Strömungen als auch als Herrschaftsformen der Bourgeoise in diese Epoche. Sie sind Überbauphänomene des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus und müssen innerhalb dieses Gesamtzusammenhangs auf ihre jeweils spezifischen Formen, Funktionen und Klasseninhalte hin untersucht werden. In allen Varianten bürgerlicher Herrschaft haben wir es mit einem Zusammenspiel von ''Repression'' und ''Integration'' zu tun. Der bürgerliche Staat wendet immer Mittel der gewalttätigen Unterdrückung an, auch in der scheinbar demokratischsten Republik, er kombiniert diese aber immer auch mit Zugeständnissen und Formen der Einbindung der Arbeiterklasse, selbst in der offenen terroristischen Diktatur. Diese Formen gilt es, ausgehend von der marxistisch-leninistischen Staatstheorie, für das imperialistische Stadium des Kapitalismus konkret historisch-empirisch zu analysieren.<br />
<br />
Wir sind bei weitem nicht die Ersten, die sich diesen Fragen auf Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus widmen. Wir können nicht nur auf eine lange Tradition marxistischer Forschung und Diskussion, sondern auch auf eine lange Geschichte der praktischen Kampferfahrungen zurückgreifen. Diese Erfahrungen, sowie den Forschungsstand der Wissenschaften der sozialistischen Länder, wollen wir uns wieder aneignen. Sowohl in den historischen, als auch in den aktuellen Debatten innerhalb der kommunistischen Weltbewegung und der weiter gefassten internationalen „Linken“ wird deutlich, dass es in den Kernfragen der taktischen und strategischen Einschätzung der Rolle der Sozialdemokratie, des Faschismus und des bürgerlichen Staats große Unklarheit und tiefen Dissens gibt. Diesen [[AG_Staat,_Faschismus_und_Sozialdemokratie#Dissens|'''Dissens''']] wollen wir zunächst herausarbeiten und überblicksartig darstellen. <br />
<br />
Von dieser Grundlage ausgehend wollen wir die wichtigsten theoretischen Probleme und [[AG_Staat,_Faschismus_und_Sozialdemokratie#Offene_Fragen|'''offenen Fragen''']] herausarbeiten, an deren Klärung wir die nächsten Jahre systematisch arbeiten wollen. Das tun wir nicht aus einem rein akademischen Interesse, sondern weil wir diesen Schritt für die notwendige Bedingung zur Überwindung der tiefen Krise halten, in der die kommunistische- und Arbeiterbewegung heute steckt. Diesen Klärungsprozess wollen wir aber nicht allein im Hinterzimmer angehen – das wäre auch gar nicht möglich –, sondern wir wollen alle Menschen, die unser grundsätzliches Ziel der Überwindung des Kapitalismus und des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft teilen, dazu einladen, sich in diese Debatten einzubringen und an der Beantwortung der brennenden Fragen unserer Bewegung [[AG_Staat,_Faschismus_und_Sozialdemokratie#Mitmachen|'''mitzuarbeiten''']]. Wir arbeiten mit vereinten Kräften daran, einen geeigneten Rahmen für diesen Prozess bereitzustellen. Die Erarbeitung dieses Wiki ist aus unserer Sicht ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung.<br />
<br />
Der bisherige Diskussionsstand der Kommunistischen Organisation zu den Themen und Fragestellungen unserer AG kann in den [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/ '''Programmatischen Thesen'''] in den Unterkapiteln [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#__RefHeading___Toc1329_1760917594 Staat], [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#__RefHeading___Toc1333_1760917594 Faschismus und Antifaschismus] und [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#__RefHeading___Toc1347_1760917594 Kampf gegen Opportunismus und Revisionismus] nachgelesen werden.<br />
<br />
==Dissens==<br />
<br />
=== Dissens Staat ===<br />
Hier geben wir einen ersten groben Überblick über die wichtigsten marxistischen Kontroversen in der Staatsfrage. Dabei gehen wir zunächst historisch vor und beschäftigen uns mit den verschiedenen Strömungen und Tendenzen innerhalb der kommunistischen Weltbewegung und der breiter gefassten "Linken". Natürlich ist diese Darstellung noch nicht abgeschlossen und muss kontinuierlich weiter ausgearbeitet werden. Die jeweiligen Thesen und Kontroversen können im Folgenden nur skizzenhaft dargestellt werden. Dabei sollen aber sowohl ihre jeweiligen Vertreter als auch deren Kritiker nach Möglichkeit zumindest stichwortartig zu Wort kommen. Es ist klar, dass wir an dieser Stelle noch nicht die Ergebnisse vorlegen können, die im Klärungsprozess erst erarbeitet werden sollen. Vielmehr sind wir an dieser Stelle bestrebt, die Arbeitsgrundlage für diejenigen zu schaffen, die sich dieser Aufgabe in den nächsten Jahren annehmen wollen.<br />
<br />
* [[Einleitung Dissens Staat]]<br />
* [[Hintergrund: bürgerlicher Liberalismus und Staat]]<br />
* [[Klassisch-revisionistische Staatsauffassung (Bernstein, Kautsky)]]<br />
* [[Die Staatsfrage im sowjetischen Revisionismus]]<br />
* [[Die Staatsfrage im Maoismus]]<br />
* [[Eurokommunistische Staatsauffassung]]<br />
* [[„Antimonopolistische Demokratie“ (DKP)]]<br />
* [["Hegemonietheorie" (Gramsci), "Staat als Kräftverhältnis" (Poulantzas) und "Transformationsstrategie"]]<br />
* [[Staatsableitung, der Staat als Subjekt und Poulantzas Kritik an der Staatsableitung]]<br />
* [[Die "Regulationsschule" und die Theorie der "Akkumulationsregime"]]<br />
* [[Verstaatlichung als Schritt zum Sozialismus]]<br />
* [[„Demokratisierung“ als Schritt zum Sozialismus]]<br />
* [[„Arbeiterstaaten“ und „Volksrepubliken“]]<br />
* [[Anarchistische Staatskritik]]<br />
* [[„Antinationale“ Staatskritik]]<br />
* [[Opportunistische Auffassungen zum sozialistischen Staat: „Demokratischer Sozialismus“]]<br />
<br />
=== Dissens Faschismus und Sozialdemokratie ===<br />
Auf den folgenden Seiten findet sich ein grober Überblick über bestehenden Dissens in der kommunistischen Bewegung (und darüber hinaus) in Bezug auf Fragen des Faschismus und zur Einschätzung der Sozialdemokratie. Es ist klar, dass dieser Überblick nicht vollständig ist und ständig erweitert und verbessert werden muss. Die Darstellung beginnt mit einem kurzen Abriss der Diskussionen in der Kommunistischen Internationale (KI), an welche alle Diskussionen in der Kommunistischen Bewegung bis heute anknüpfen. Den Hauptteil bilden Darstellungen verschiedener Debatten und Dissense, die in der kommunistischen Bewegung bis heute eine Rolle spielen. Abschließend wird eine kurze Überblicksdarstellung über die verschiedenen Spielarten bürgerlicher Faschismuskonzeptionen gegeben. <br />
<br />
* [[Einleitung Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
* [[Die Diskussion in der KomIntern über Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
* [[Faschismus als Herrschaft von Teilen des Finanzkapitals]]<br />
* [[Faschismus und Bonapartismus]]<br />
* [[Faschismus als Bündnis vs. "Agententheorie"]]<br />
* [[Faschismus und Demokratie]]<br />
* [[Massenbewegung als Faschismuskriterium]]<br />
* [[Faschismus und Militärdiktatur]]<br />
* [[Sozialfaschismusthese]]<br />
* [[Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts]]<br />
* [[Breite Bündnisse]]<br />
* [[Bürgerliche Faschismustheorien]]<br />
<br />
==Offene Fragen==<br />
Unter dieser Rubrik wollen wir alle offenen Fragen sammeln, die im Prozess unserer Auseinandersetzung mit den Themenfeldern Staat, Sozialdemokratie und Faschismus und dem in diesem Zusammenhang stehenden Dissens aufgeworfen werden. Ihr könnt euch aktiv an dieser Sammlung beteiligen und uns noch Ergänzungen, Fragen und Anregungen schicken. <br />
<br />
===Offene Fragen Staat===<br />
* [[Was ist die materielle Basis für revisionistische Staatsauffassungen?]]<br />
* [[Wie setzt sich im Kapitalismus trotz entwickelter bürgerlicher Demokratie die "Diktatur der Bourgeoisie" durch?]]<br />
* [[Warum bleibt der bürgerliche Staat auch im Monopolkapitalismus "ideeller Gesamtkapitalist"?]]<br />
* [[Ist die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus revisionistisch?]]<br />
* [[Was genau bedeutet "relative Selbständigkeit" des Staates?]]<br />
* [[Woraus ergibt sich der historische "Reformspielraum" des bürgerlichen Staats?]]<br />
* [[Wie ist die Theorie des "tiefen Staats" aus marxistischer Sicht einzuschätzen?]]<br />
* [[Warum kann der imperialistische Staat nicht "demokratisiert" und zum Frieden gezwungen werden?]]<br />
* [[Was ist die Rolle des Nationalstaats im entwickelten imperialistischen Weltsystem?]]<br />
* [[Was ist die Rolle von Nation und Nationalismus im ideologischen Klassenkampf?]]<br />
* [[Wie lässt sich der Staat der BRD heute konkret charakterisieren?]]<br />
* [[Welche Erfahrungen gibt es mit der Regierungsbeteiligung von KPen?]]<br />
* [[Warum kann der bürgerliche Staat nicht auf friedlichem Weg in den Sozialismus überführt werden?]]<br />
* [[Müssen alle Teile des bürgerlichen Staats durch die Arbeiterklasse zerschlagen werden?]]<br />
* [[Was unterscheidet die bürgerliche von der proletarischen Demokratie?]]<br />
* [[Gibt es noch heute "Gladio" ähnliche Strukturen in der NATO und/oder der BRD (zur Desorganisierung der Arbeiterklasse oder zum organisierten Kampf gegen die organisierte Arbeiterklasse)?]]<br />
<br />
===Offene Fragen Faschismus===<br />
* [[Faschismusbegriff]]<br />
* [[Wann sprechen wir von einer faschistischen Bewegung?]]<br />
* Funktion und Form faschistischer Bewegungen<br />
* [[Formen und Methoden faschistischer Herrschaft]]<br />
* [[Querfrontbegriff]]<br />
* [[Rechtspopulismusbegriff]]<br />
* [[Antifaschismus]]<br />
* Antifaschismus vor '45 / Der antifaschistische Kampf der KPD<br />
** Rotfrontkämpferbund RFB<br />
** Antifaschistische Aktion AA<br />
* Antifaschismus nach '45<br />
** Autonome Antifa<br />
* Faschistische Bewegungen nach '45<br />
* Faschistische Bewegungen nach '89<br />
** [[Warum gab es nach der Konterrevolution in der ehemaligen DDR so viele Nazis?]]<br />
** Zum Begriff der Neuen Rechten<br />
** AfD<br />
*** [[Ist die AfD eine Arbeiterpartei?]]<br />
** Abgrenzung CSU - AfD<br />
** [[Sind "Antideutsche" Faschisten?]]<br />
* [[Faschistische Ideologie]]<br />
<br />
===Offene Fragen Sozialdemokratie===<br />
* [[Was hat es mit der linken Sozialdemokratie auf sich?]]<br />
* Programmatische und strategische Leitlinien der Sozialdemokratie heute<br />
* [[Wie sind PdL und SPD einzuschätzen? Kann man sie (noch) als Sozialdemokratisch bezeichnen?]]<br />
* [[Sind SPD und PdL Arbeiterparteien?]]<br />
<br />
==Grundannahmen==<br />
Dieser Abschnitt gibt einen systematischen Überblick über die wichtigsten Grundannahmen von Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir I. Lenin zum Themenkomplex unserer AG. Zweck dieser Zitatensammlung ist nicht, im dogmatischen Sinne eine Sammlung "fertiger, überhistorisch gültiger Wahrheiten" vorzulegen, in der alle Fragen schon für alle Zeiten gelöst sind. Vielmehr sollen die Grundannahmen sicherstellen, dass wir ein einheitliches Verständnis des marxistischen-leninistischen Grundvokabulars haben und unseren Bezug auf die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus transparent und nachvollziehbar machen.<br />
=== Grundannahmen Staat ===<br />
* [[Grundannahmen Staat]]<br />
# [[Grundannahmen_Staat#Historischer_Materialismus.2C_Basis_und_.C3.9Cberbau|Historischer Materialismus, Basis und Überbau]]<br />
# [[Grundannahmen_Staat#Wechselwirkung_zwischen_Basis_und_.C3.9Cberbau.3B_.E2.80.9Erelative_Selbst.C3.A4ndigkeit.E2.80.9C|Wechselwirkung zwischen Basis und Überbau; „relative Selbständigkeit“]]<br />
# [[Grundannahmen_Staat#Ursprung.2C_Geschichte_und_Wesen_des_.28Klassen-.29Staats|Ursprung, Geschichte und Wesen des (Klassen-)Staats]]<br />
# [[Grundannahmen_Staat#Entstehung_des_b.C3.BCrgerlichen_Staats_als_Nationalstaat|Entstehung des bürgerlichen Staats als Nationalstaat]]<br />
# [[Grundannahmen_Staat#.E2.80.9EDiktatur_der_Bourgeoisie.E2.80.9C:_Der_b.C3.BCrgerliche_Staat_als_Herrschafts-_und_Machtinstrument_des_Kapitals|„Diktatur der Bourgeoisie“: Der bürgerliche Staat als Herrschafts- und Machtinstrument des Kapitals]]<br />
# [[Grundannahmen_Staat#Der_b.C3.BCrgerliche_Staat_als_.E2.80.9Eideeller_Gesamtkapitalist.E2.80.9C|Der bürgerliche Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“]]<br />
# [[Grundannahmen_Staat#.E2.80.9EB.C3.BCrgerliche_Gleichheit.E2.80.9C_und_.E2.80.9Eb.C3.BCrgerliches_Recht.E2.80.9C|„Bürgerliche Gleichheit“ und „bürgerliches Recht“]]<br />
# [[Grundannahmen_Staat#Der_b.C3.BCrgerliche_Staat_als_.E2.80.9Escheinbar_.C3.BCber_den_Klassen_stehende_Macht.E2.80.9C|Der bürgerliche Staat als „scheinbar über den Klassen stehende Macht“]]<br />
# [[Grundannahmen_Staat#Der_Staat_als_.E2.80.9Eillusorische_Gemeinschaft.E2.80.9C|Der Staat als „illusorische Gemeinschaft“]]<br />
# [[Grundannahmen_Staat#Der_b.C3.BCrgerliche_Staat_im_Imperialismus|Der bürgerliche Staat im Imperialismus]]<br />
# [[Grundannahmen_Staat#Notwendigkeit_der_.E2.80.9EAufhebung.E2.80.9C_des_b.C3.BCrgerlichen_Staats|Notwendigkeit der „Aufhebung“ des bürgerlichen Staats]]<br />
<br />
=== Grundannahmen Sozialdemokratie ===<br />
* [[Grundannahmen Sozialdemokratie]]<br />
#[[Grundannahmen_Sozialdemokratie#Materielle_Basis_des_Opportunismus:_.22Arbeiteraristokratie.22_und_.22relativ_friedliche_Entwicklung_des_Kapitalismus.22|Materielle Basis des Opportunismus: "Arbeiteraristokratie" und "relativ friedliche Entwicklung des Kapitalismus"]]<br />
#[[Grundannahmen_Sozialdemokratie#Entwicklung_des_Opportunismus_und_Spaltung_der_Arbeiterbewegung|Entwicklung des Opportunismus und Spaltung der Arbeiterbewegung]]<br />
#[[Grundannahmen_Sozialdemokratie#Kampf_gegen_den_Einfluss_der_Sozialdemokratie_in_der_Arbeiterklasse|Kampf gegen den Einfluss der Sozialdemokratie in der Arbeiterklasse]]<br />
# [[Der Begriff der Sozialdemokratie]]<br />
<br />
=== Grundannahmen Faschismus ===<br />
* [[Grundannahmen Faschismus]]<br />
# [[Grundannahmen_Faschismus#Vorbemerkung| Vorbemerkung]]<br />
# [[Grundannahmen_Faschismus#Die_Tendenz_zur_Reaktion_im_Imperialismus|Die Tendenz zur Reaktion im Imperialismus]]<br />
# [[Grundannahmen_Faschismus#Imperialismus_und_demokratische_Republik|Imperialismus und demokratische Republik]]<br />
# [[Grundannahmen_Faschismus#Lenin_.C3.BCber_die_Schwarzhundertschaften|Lenin über die Schwarzhundertschaften]]<br />
<br />
== Mitmachen ==<br />
<br />
In den nächsten Monaten wollen wir uns an die systematische Beantwortung der Fragen machen - dabei kannst du mitmachen:<br><br />
<br />
* Diskutier mit<br />
** Du hast andere Erkenntnisse, Positionen zu bestimmten Fragen?<br />
** Du hast selbst offene Fragen zum Thema?<br />
* Einzelne Arbeitsaufträge übernehmen - in Theoriearbeit oder in praktischer Umsetzung<br />
* Dauerhaft mitarbeiten in der AG<br />
<br />
Wenn das interessant klingt oder dir noch andere Möglichkeiten einfallen, dich zu beteiligen, melde dich bei uns: [mailto:ag_staat@kommunistische.org ag_staat@kommunistische.org]<br />
<br />
*[[Aufgaben der AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat]]<br />
[[Kategorie: AG-Hauptseite]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Grundannahmen_Faschismus&diff=6056Grundannahmen Faschismus2019-04-13T21:28:55Z<p>Dio: /* Lenin über die Schwarzhundertschaften */</p>
<hr />
<div>Zurück zu [[AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
<br />
__INHALTSVERZEICHNIS_ERZWINGEN__<br />
<br />
== Vorbemerkung ==<br />
Wir haben es bei den Grundannahmen zum Faschismus mit dem „Problem“ zu tun, dass Faschismus begrifflich nicht bei den Klassikern auftaucht. Wir haben deswegen zum Einen solche Belegstellen aufgeführt, die das Verhältnis von Imperialismus und Reaktion aufzeigen, zum anderen haben wir Aussagen von Lenin über die Schwarzhundertschaften und den Terror der politischen Reaktion gegen die Russische Revolution 1905 aufgenommen. Die Schwarzhundertschaften weisen viele Merkmale auf, die wir von späteren faschistischen Bewegungen kennen, sowohl was die Wahl ihrer Mittel als auch ihre Ideologie angeht. Man könnte sie auch als „präfaschistische“ Bewegung bezeichnen. Besonders stellte Lenin ihr Verhältnis zur herrschenden Klasse dar – allerdings sind die Schwarzhunderter unserer Einschätzung nach keine Phäomene des Imperialismus und der Monopolbourgeoisie, sondern sie waren auch gegen die bürgerliche Revolution gerichtet und eng an das Klasseninteresse des Feudaladels und den zaristischen Herrschaftsapparat gebunden.<br />
<br />
Wir haben uns bewusst dazu entschieden, die Faschismus-Debatte und die grundlegenden Positionen der Kommunistischen Internationale (KI) nicht in die Grundannahmen aufzunehmen. So ist uns ein kritischer Abgleich der KI-Diskussionen mit den „Klassikern“ möglich. Nichtsdestrotz bilden die Analysen der KI für uns den wichtigsten Bezugspunkt in der Faschismusfrage. Sie werden im Abschnitt „Dissens“ bearbeitet und die Auseinandersetzung mit ihnen wird die Arbeit der AG während des Klärungsprozesses der nächtsen Jahre maßgeblich prägen.<br />
<br />
== Die Tendenz zur Reaktion im Imperialismus ==<br />
<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Imperialismus, Tendenz zur Reaktion <br />
<br />
''' Annahme 1 '''<br />
* Imperialismus ist (politisch) der Drang nach Gewalt und Reaktion<br />
In ''Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus'' (1917) beschrieb Lenin die Entstehung des imperialistischen Weltsystems und entwickelte die grundlegenden ökonomischen und politischen Wesensmerkmale des Imperialismus. In Kapitel VII ''Der Imperialismus als besonderes Stadium des Kapitalismus'' nahm er die verkürzte Imperialismusdefinition von Karl Kautsky auseinander:<br />
{{Zitat|Imperialismus ist Drang nach Annexionen - darauf läuft der politische Teil der Kautskyschen Definition hinaus. Er ist richtig, aber höchst unvollständig, denn politisch ist Imperialismus überhaupt Drang nach Gewalt und Reaktion.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917), in: Bd. 22: Lenin Werke, Berlin/DDR 1971, S. 272-273.}}<br />
<br />
* Zu den politischen Merkmalen des Imperialismus gehört die Reaktion auf ganzer Linie<br />
{{Zitat|Da zu den politischen Besonderheiten des Imperialismus die Reaktion auf der ganzen Linie sowie die Verstärkung der nationalen Unterdrückung in Verbindung mit dem Druck der Finanzoligarchie und mit der Beseitigung der freien Konkurrenz gehören, so tritt mit Beginn des 20. Jahrhunderts in fast allen imperialistischen Ländern eine kleinbürgerlich-demokratische Opposition gegen den Imperialismus auf. Und der Bruch Kautskys und der weitverbreiteten internationalen Strömung des Kautskyanertums mit dem Marxismus besteht gerade darin, daß Kautsky es nicht nur unterlassen, es nicht verstanden hat, dieser kleinbürgerlichen, reformistischen, ökonomisch von Grund aus reaktionären Opposition entgegenzutreten, sondern sich im Gegenteil praktisch mit ihr vereinigt hat.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917), in: Bd. 22: Lenin Werke, Berlin/DDR 1971, S. 292.}}<br />
<br />
== Imperialismus und demokratische Republik ==<br />
<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Imperialismus, Republik, Demokratie, Basis, Überbau, Reaktion <br />
<br />
''' Annahme 1 '''<br />
* Politisch ist der Imperialismus gegenüber dem Kapitalismus der freien Konkurrenz die Wendung von Demokratie zu Reaktion<br />
* Der ökonomischen Grundlage des Imperialismus, dem Monopol, entspricht politisch die Reaktion<br />
* Dies trifft sowohl auf die Politik des Imperialismus im Ausland, wie im eigenen Land zu <br />
* Imperialismus bedeutet “Negation” der Demokratie<br />
In seinem Artikel ''Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus' '' (1916) kritisierte Lenin die dem Marxismus feindliche Position der gegen die Partei auftretenden Gruppe Bucharin-Pjatakow und entwickelte gemäß den neuen historischen Verhältnissen das bolschewistische Programm zur nationalen Frage. Im folgenden Abschnitt beschrieb er den politischen Überbau, der sich aus der ökonomischen Basis des Imperialismus ergibt:<br />
{{Zitat|Ökonomisch ist der Imperialismus […] eine Stufe [des Kapitalismus], auf der die Produktion so sehr Groß- und Größtproduktion geworden ist, daß die freie Konkurrenz vom Monopol abgelöst wird. Das ist das ökonomische Wesen des Imperialismus. […] <br /> <br />Der politische Überbau über der neuen Ökonomik, über dem monopolistischen Kapitalismus (Imperialismus ist monopolistischer Kapitalismus) ist die Wendung von der Demokratie zur politischen Reaktion. Der freien Konkurrenz entspricht die Demokratie. Dem Monopol entspricht die politische Reaktion. „Das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft", sagt Rudolf Hilferding völlig richtig in seinem „Finanzkapital". <br /> <br />Die „Außenpolitik" von der Politik schlechthin zu trennen oder gar die Außenpolitik der Innenpolitik entgegenzustellen ist grundfalsch, unmarxistisch, unwissenschaftlich. Sowohl in der Außenpolitik wie auch gleicherweise in der Innenpolitik strebt der Imperialismus zur Verletzung der Demokratie, zur Reaktion. In diesem Sinne ist unbestreitbar, daß der Imperialismus „Negation" der Demokratie überhaupt, der ganzen Demokratie ist, keineswegs aber nur einer demokratischen Forderung, nämlich der Selbstbestimmung der Nationen.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus" (1924), in: Bd. 23: Lenin Werke, Berlin/DDR 1975, S. 34.}}<br />
<br />
<br />
''' Annahme 2 '''<br />
* Die Republik ist eine der möglichen Formen des politischen Überbaus der kapitalistischen Gesellschaft <br />
* Sie ist auch im Kapitalismus die demokratischste Form des Überbaus<br />
* Aber: Es besteht ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen dem ökonomischen Inhalt des Imperialismus und der politischen Form der Demokratie<br />
* Die demokratische Republik muss ihre ökonomische Grundlage, also ihren Klassencharakter und Eigentumsverhältnisse verleugnen und “Gleichheit zwischen Armen und Reichen” proklamieren. Sie widerspricht also dem Kapitalismus<br />
* Dieser Widerspruch verschärft sich durch den Imperialismus, durch die Ersetzung der freien Konkurrenz durch das Monopol<br />
{{Zitat|Die Republik ist eine der möglichen Formen des politischen Überbaus der kapitalistischen Gesellschaft, und zwar unter den modernen Verhältnissen die demokratischste Form. (…) Weiter. Welcher Art ist der Widerspruch zwischen Imperialismus und Demokratie? Es ist die Frage nach der Beziehung der Ökonomik zur Politik; nach der Beziehung der ökonomischen Verhältnisse und des ökonomischen Inhalts des Imperialismus zu einer der politischen Formen. […] Ist dies ein „logischer" Widerspruch zwischen zwei ökonomischen (1)? oder zwischen zwei politischen Erscheinungen bzw. Thesen (2)? oder zwischen einer ökonomischen und einer politischen Erscheinung bzw. These (3)? <br /> <br /> Denn das ist das Kernproblem, wenn die Frage der ökonomischen Unrealisierbarkeit oder Realisierbarkeit bei Existenz der einen oder der anderen politischen Form aufgeworfen wird! <br /> Hätte P . Kijewski diesen Kern nicht umgangen, so hätte er wahrscheinlich gesehen, daß der Widerspruch zwischen Imperialismus und Republik ein Widerspruch zwischen der Ökonomik des neuesten Kapitalismus (nämlich des monopolistischen Kapitalismus) und der politischen Demokratie schlechthin ist. Denn niemals wird P. Kijewski beweisen können, daß irgendeine bedeutende und grundlegende demokratische Maßnahme (Wahl der Beamten oder Offiziere durch das Volk, vollste Koalitions- and Versammlungsfreiheit u. dgl.) dem Imperialismus weniger widerspricht [...] als die Republik. <br /> Wir kommen auf diese Weise zu eben der Feststellung, die wir in den Thesen betonten: Der Imperialismus widerspricht, widerspricht „logisch" der ganzen politischen Demokratie schlechthin. <br /> <br /> Weiter. Warum paßt die Republik dem Imperialismus nicht in den Kram? Und wie „vereinbart" der Imperialismus seine Ökonomik mit der Republik? […] Also gerade um die Frage der „Antinomie" zwischen Ökonomik und Politik. Engels antwortet: ,... die demokratische Republik weiß offiziell nichts mehr von Besitzunterschieden' (zwischen den Bürgern). ,In ihr übt der Reichtum seine Macht indirekt, aber um so sichrer aus. Einerseits in der Form der direkten Beamtenkorruption, wofür Amerika klassisches Muster, andrerseits in der Form der Allianz von Regierung und Börse …'[…].Die demokratische Republik widerspricht [...] dem Kapitalismus, da sie „offiziell" den Reichen und den Armen gleichsetzt. Das ist ein Widerspruch zwischen der ökonomischen Basis und dem politischen Überbau. Zum Imperialismus steht die Republik im gleichen Widerspruch, vertieft und vervielfacht dadurch, daß die Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol die Realisierung der verschiedenen politischen Freiheiten noch mehr „erschwert".|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus" (1924), in: Bd. 23: Lenin Werke, Berlin/DDR 1975, S. 37-38.}}<br />
<br />
==Lenin über die Schwarzhundertschaften==<br />
<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Reaktion, Repression, Gewalt, revolutionäre Situation<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
* Gegen eine erstarkende revolutionäre Arbeiterbewegung benötigt die besitzende Klasse repressive Maßnahmen, die über den Wirkbereich von Polizei und Militär hinausgehen.<br />
* Die reaktionärsten Teile der Bevölkerung werden in der revolutionären Situation von der Regierung zur Verteidigung der besitzenden Klasse gegen die Arbeiterklasse rekrutiert.<br />
* Durch verschiedene Formen der Streuung von Hass werden Teile des Volkes gegeneinander aufgehetzt und Reaktionäre organisiert.<br />
* Der Klassenkampf gegen die ausbeutenden Teile der Bevölkerung liegt der politischen Umgestaltung zugrunde. Deswegen werden die proletarischen Massen gegen die Regierung und ihre organisierte Reaktion Widerstand leisten. <br />
* In der Organisierung der Reaktion und des direkten Bürgerkriegs drückt sich eine Zuspitzung des Klassenkampfes aus.<br />
<br />
Die Schwarze Hundert „Schwarzhundertschaften“ waren eine nationalistisch-terroristische Organisation im zaristischen Russland. Sie verübten in den Jahren vor und während der 1905 Revolution Terror gegen Revolutionäre und Pogrome an der jüdischen Bevölkerung. Die Schwarzhundertschaften waren der bewaffnete Arm des monarchistisch-reaktionären „Bund des russischen Volkes“. Der Bund erhielt große Zustimmung bei der Kirche und der zaristischen Regierung, Zar Nikolai II. war Ehrenmitglied. Lenin befasst sich in diesen Zeiten immer wieder mit dem Terror der Schwarzhunderter und ruft die Arbeiterschaft zur bewaffneten Gegenwehr auf.<br />
<br />
Folgenden Aufsatz verfasste Lenin im frühen Sommer 1905, also zu Beginn der Russischen Revolution. Er beschäftigt sich mit den reaktionären Maßnahmen der zaristischen Regierung gegen die revolutionären Bewegung:<br />
{{Zitat|Eine gute Sache für die Polizei ist diese „provisorische" Verordnung über verstärkte Sicherheitsmaßnahmen, die seit 1881 eines der stabilsten, eines der Grundgesetze des Russischen Reichs geworden ist. Die Polizei erhielt alle erdenklichen Rechte und Vollmachten, um „die Einwohnerschaft in der Hand zu halten“[…] Anderseits aber sind die außerordentlichen Unterdrückungsmaßnahmen, die vor fünfundzwanzig Jahren als außerordentliche gelten konnten, derart zur Gewohnheit geworden, daß auch die Bevölkerung, wenn man so sagen darf, sich ihnen angepaßt hat. Der repressive Charakter der außerordentlichen Maßnahmen verlor seine Wirkung, ebenso wie eine neue Sprungfeder durch langen und übermäßigen Gebrauch in ihrer Spannkraft nachläßt. […]Vorbei sind die siebziger Jahre, als die Kräfte einer solchen zweifellos vorhandenen und furchtgebietenden Partei „nur für einzelne Attentate, nicht aber für einen politischen Umsturz ausreichten". In jenen Zeiten, als „die illegale Agitation eine Stütze in einzelnen Personen und Zirkeln fand", hatte die neuerfundene Sprungfeder noch eine gewisse Spannkraft aufzuweisen. Doch wie sehr hat diese Sprungfeder jetzt nachgelassen, „bei dem heutigen Zustand der Gesellschaft, da sich in Rußland die Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung der Dinge und eine starke oppositionelle Bewegung breit entwickeln"! Wie sehr haben sich die außerordentlichen Sicherheitsmaßnahmen als […] sinnlos erwiesen, sobald […] genötigt war, sie tausendfach anzuwenden „gegen Arbeiter wegen Streiks, die friedlichen Charakter trugen und rein wirtschaftliche Beweggründe hatten", sobald man sogar Steine als eine in politischer Beziehung nicht ungefährliche Waffe qualifizieren mußte! </br> </br> […] Alles in dieser Verordnung hat sich als untauglich erwiesen, seit die revolutionäre Bewegung wirklich ins Volk gedrungen ist und sich unlöslich mit der Klassenbewegung der Arbeitermassen verbunden hat — alles, von der polizeilichen Meldepflicht bis zu den Kriegsgerichten. […] Das ist nichts anderes als der vollständige Bankrott der Polizeiordnung!</br> </br> […] Als es keine wirkliche revolutionäre Volksbewegung gab, als der politische Kampf noch nicht mit dem Klassenkampf zu einem Ganzen verbunden war, da genügten, weil es nur um einzelne Personen und Zirkel ging, bloße Polizeimaßnahmen. Gegen Klassen erwiesen sich diese Maßnahmen als bis zur Lächerlichkeit wirkunglos, und die Unzahl der Maßnahmen begann zu einem Hemmnis für die Arbeit der Polizei zu werden. Die einst respektgebietenden Paragraphen der Verordnung über verstärkte Sicher- heitsmaßnahmen wurden zu dürftigen, kleinlichen, spitzfindigen Schikanen, die sehr viel mehr die Unzufriedenheit der nicht zu den Revolutionären gehörenden „Einwohner" schüren, als daß sie ernsthaft die Revolutionäre treffen. Gegen die Volksrevolution, gegen den Klassenkampf kann man sich nicht auf die Polizei stützen, man muß sich ebenfalls auf das Volk, ebenfalls auf Klassen stützen'. Das ist die Moral der Denkschrift des Herrn Lopuchin. Und das ist auch die Moral, zu der die absolutistische Regierung in der Praxis gelangt. Die Sprungfedern der Polizeimaschine haben nachgelassen, militärische Kräfte allein genügen nicht. Man muß die nationale Zwietracht, die Rassenzwietracht schüren, man muß aus den Reihen der am wenigsten aufgeklärten Schichten der städtischen (und später selbstverständlich auch der ländlichen) Kleinbourgeoisie „Schwarzhundertschaften" rekrutieren, man muß versuchen, alle reaktionären Elemente in der Bevölkerung selbst zur Verteidigung des Throns zusammenzuschließen, man muß den Kampf der Polizei gegen Zirkel in einen Kampf des einen Teils des Volkes gegen den anderen Teil des Volkes verwandeln.</br> </br> So verfährt jetzt auch die Regierung: Sie hetzt in Baku die Tataren gegen die Armenier auf, sie versucht neue Judenpogrome hervorzurufen, sie organisiert Schwarzhunderschaften gegen Semstwoleute, Studenten und aufrührerische Gymnasiasten, sie appelliert an die treuuntertänigen Adligen und an die konservativen Elemente der Bauernschaft. Nun wohl! Wir Sozialdemokraten […] wissen, daß die Regierung jetzt, da die Arbeiter begonnen haben, den bewaffneten Widerstand gegen die Pogrombanditen zu organisieren, mit der Schürung der Rassenzwietracht kein großes Glück haben wird; wenn sich die Regierung aber auf die ausbeutenden Schichten der Kleinbourgeoisie stützt, wird sie die breiten, wirklich proletarischen Massen noch mehr gegen sich aufbringen. Wir haben niemals erwartet und erwarten auch jetzt nicht politische und soziale Umwälzungen von der „Einsicht" der Machthaber oder von dem Übertritt der Gebildeten auf die Seite der „Tugend". Wir haben immer gelehrt und lehren auch jetzt, daß es der Klassenkampf ist, der Kampf des ausgebeuteten Teils des Volkes gegen den ausbeutenden, der den politischen Umgestaltungen zugrunde liegt und letzten Endes das Schicksal aller solcher Umgestaltungen entscheidet. Wenn die Regierung den völligen Bankrott der polizeilichen Kleinkrämerei zugibt und zur direkten Organisierung des Bürgerkriegs übergeht, so beweist sie damit, daß die letzte Abrechnung naht. Um so besser. Sie beginnt den Bürgerkrieg. Um so besser. Wir sind auch für den Bürgerkrieg. Wenn wir uns irgendwo besonders sicher fühlen, so gerade auf diesem Gebiet, im Krieg der ungeheuren Masse des unterdrückten und rechtlosen, des werktätigen und die ganze Gesellschaft erhaltenden Millionenvolkes gegen das Häuf- lein privilegierter Nichtstuer. Die Regierung kann natürlich durch Entfachung der Rassenzwietracht und des nationalen Hasses die Entwicklung des Klassenkampfes eine Zeitlang hemmen, aber nur auf kurze Zeit, und zwar mit dem Ergebnis, daß sich der neue Kampf auf einem noch größeren Feld abspielen wird, daß das Volk noch erbitterter gegen die Selbstherrschaft sein wird. Beweis: die Auswirkungen des Pogroms in Baku, der die revolutionäre Stimmung aller Schichten gegen den Zarismus verzehnfacht hat. Die Regierung glaubte das Volk durch den Anblick des Bluts und der vielen Opfer der Straßenkämpfe einschüchtern zu können — in Wirklichkeit gewöhnt sie dem Volk ab, sich vor Blutvergießen, vor einem direkten bewaffneten Zusammenstoß zu fürchten. In Wirklichkeit betreibt sie eine so großzügige und so eindrucksvolle Agitation zu unseren Gunsten, wie wir sie uns nicht hätten träumen lassen. Vive le son du canon! sagen wir mit den Worten eines französischen revolutionären Liedes — „Es lebe der Donner der Kanonen!", es lebe die Revolution, es lebe der offene Volkskrieg gegen die zaristische Regierung und ihre Anhänger!|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Vorwort zur Broschüre „Denkschrift des Direktors des Polizeidepartements“, in: Bd. 8: Lenin Werke, Berlin/DDR 1959, S.191-194.}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
* In der Situation des Bürgerkrieges kommt es zu Zugeständnissen der reaktionären Kräfte an das Proletariat in Worten und gleichzeitig zur Bekämpfung derselben während der revolutionären Situation.<br />
{{Zitat|Die Entscheidung naht. Die neue politische Lage zeichnet sich mit erstaunlicher, nur revolutionären Epochen eigener Schnelligkeit ab. Die Regierung gab in Worten nach und begann gleichzeitig durch Taten den Angriff vorzubereiten.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.450.}}<br />
<br />
{{Zitat|Solange die faktische Macht des Zarismus nicht gestürzt ist, solange sind alle seine Zugeständnisse, sogar einschließlich der „konstituierenden" Versammlung, nichts als Blendwerk, Lug und Trug.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.451.}}<br />
<br />
{{Zitat|"Man hat uns Versammlungsfreiheit gewährt", schrieb das Streikkomitee (wir übersetzen aus dem Englischen ins Russische zurück, wodurch sich natürlich kleine Abweichungen vom Wortlaut ergeben), „aber unsere Versammlungen werden von Truppen umzingelt. Man hat uns Pressefreiheit gewährt, aber die Zensur besteht weiter. Man hat uns Freiheit der Wissenschaft versprochen, aber die Universität ist von Soldaten besetzt. Man hat uns Unantastbarkeit der Person gewährt, aber die Gefängnisse sind mit Verhafteten überfüllt. Man hat uns Witte beschert, aber Trepow ist nach wie vor da. Man hat uns eine Verfassung gewährt, aber die Selbstherrschaft besteht weiter. Man hat uns alles gegeben, aber wir haben nichts."|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.451.}}<br />
<br />
{{Zitat|Es wird berichtet, daß die russische Garnison einer starken Festung (Sveaborg) dem aufständischen Volk ihre Sympathien ausgedrückt und die Festung der Volksmiliz übergeben hat. Finnland jubelt. Der Zar macht Zugeständnisse, er ist bereit, den Landtag einzuberufen, hebt das gesetzwidrige Manifest vom 15. Februar 1899 auf, nimmt die „Demission" der vom Volk vertriebenen Senatoren an. Und zur selben Zeit rät das „Nowoje Wremja", alle finnischen Häfen zu blockieren und den Aufstand mit Waffengewalt niederzuschlagen.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.455.}}<br />
<br />
* Die besitzende Klasse und ihre Vertreter paktieren mit allen reaktionären Kräften. Der reaktionäre Charakter der Bourgeoisie im zaristischen Russland tritt im damaligen Pakt mit dem zaristischen Herrschaftsapparat zu Tage.<br />
* Die reaktionären staatlichen Gewaltapparate arbeiten mit nichtstaatlichen konterrevolutionären militanten Truppen zusammen.<br />
{{Zitat|Der Zar verspricht der Bourgeoisie von Tag zu Tag mehr, um zu sondieren, ob nicht endlich eine allgemeine Schwenkung der besitzenden Klassen in der Richtung zur „Ordnung" beginnt.| <br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.453.}}<br />
<br />
{{Zitat|Und wieder entfaltet sich vor uns, aber auf einer unvergleichlich höheren Entwicklungsstufe, das gleiche Bild, das wir am Anfang der Moskauer Streiks sahen: die Liberalen verhandeln, die Arbeiter kämpfen.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.453.}}<br />
<br />
{{Zitat|Trepow rächt sich für den Jubel des revolutionären Volkes (über die dem Zaren abgerungenen Zugeständnisse). Die Kosaken wüten. Immer öfter kommt es zu blutigen Zusammenstößen. Die Polizei organisiert offen Schwarzhundertschaften.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.455.}}<br />
<br />
* Die reaktionären Kräfte handeln im Klasseninteresse der Ausbeuter.<br />
* Im Angesicht der revolutionären Situation vereinen sich alle reaktionären Kräfte zur Verteidigung des Klasseninteresses der Ausbeutender gegen das Proletariat.<br />
{{Zitat|Es fragt sich, welches denn nun die soziale Basis der Partei der Rechten ist, welche Klasse sie vertritt, welcher Klasse sie dient. Die Rückkehr zu den Losungen der Leibeigenschaft, das Einstehen für alles Alte, alles Mittelalterliche im russischen Leben, die volle Zufriedenheit mit der Konstitution des 3. Juni, dieser Gutsbesitzerkonstitution, die Verteidigung der Privilegien des Adels und des Beamtentums - all das gibt eine klare Antwort auf unsere Frage. Die Rechten, das ist die Partei der feudalen Gutsbesitzer, des Rates des vereinigten Adels|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die politische Parteien in Russland, in: Bd. 18: Lenin Werke, Berlin/DDR 1974, S.32.}}<br />
<br />
{{Zitat|Die Oktobristen haben in der III. Duma 131 Abgeordnete, wobe natürlich auch die „rechten Oktobristen" in diese Zahl einbegriffen sind. Sie unterscheiden sich in der heutigen Politik in nichts Wesentlichem von den Rechten, es sei denn dadurch, daß ihre Partei außer dem Gutsbesitzer auch noch dem Großkapitalisten dient, dem altgläubigen Kaufmann, der Bourgeoisie, die das Erwachen der Arbeiter und dann auch der Bauern zu selbständigem Leben in solchen Schrecken versetzt hat, daß sie ganz und gar zur Verteidigung der alten Zustände zurückgekehrt ist. Es gibt Kapitalisten in Rußland - und ihrer sind nicht gerade wenig -, die mit ihren Arbeitern keineswegs besser umgehen als die Gutsbesitzer mit den ehemaligen Leibeigenen; die Arbeiter, der Handelsangestellte sind für sie ebenfalls Gesinde, Dienstleute. Niemand versteht diese alten Zustände besser zu verteidigen als die rechten Parteien, die Nationalisten und die Oktobristen. Zwar gibt es auch Kapitalisten, die in den Semstwo- und Städtetagungen von 1904 und 1905 eine „Konstitution" forderten, aber gegen die Arbeiter sind sie bereit, sich mit der Konstitution des 3.- Juni völlig zufriedenzugeben.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die politische Parteien in Russland, in: Bd. 18: Lenin Werke, Berlin/DDR 1974, S.32.}}<br />
<br />
'''Annahme 3'''<br />
<br />
* Repressive Gewalt gegen die revolutionäre Bewegung gewinnt in einer revolutionären Situation an Bedeutung.<br />
{{Zitat|Warum haben nun dieser höchst mittelmäßige Polizist und seine ganz alltägliche „Arbeit" auf einmal eine so unermeßlich große Bedeutung gewonnen? Weil die Revolution einen unermeßlich großen Schritt vorwärts gemacht und die wirkliche Entscheidung näher gebracht hat.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.451.}}<br />
<br />
{{Zitat|Die Sitzungen der Reichsduma haben begonnen - in wahren Sturzbächen ergossen sich die liberal-bürgerlichen Reden vom friedlichen, konstitutionellen Weg -, und zugleich haben die von Agenten der Regierung organisierten Überfälle auf friedliche Demonstranten, Brandstiftungen in Häusern, wo Volksversammlungen stattfinden, und schließlich direkte Pogrome eingesetzt und sich immer mehr verstärkt.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Reaktion beginnt den bewaffneten Kampf, in: Bd. 10: Lenin Werke, Berlin/DDR 1970, S.514.}}<br />
<br />
* Die Bourgeoisie ist daran interessiert, die Arbeiterklasse von grundlegenden politischen und ökonomischen Fragen abzulenken und verschiedene Formen der reaktionären Politik zur Spaltung und Zersplitterung der Arbeiterklasse zu nutzen.<br />
{{Zitat|Die reaktionäre Bourgeoisie hat überall danach getrachtet und beginnt jetzt auch bei uns danach zu trachten, den religiösen Hader zu entfachen, um so die Aufmerksamkeit der Massen von den wirklich wichtigen und grundlegenden ökonomischen und politischen Fragen abzulenken, die das gesamtrussische Proletariat, das sich in seinem revolutionären Kampf zusammenschließt, jetzt praktisch löst. Diese reaktionäre Politik der Zersplitterung der proletarischen Kräfte, die sich heute hauptsächlich in Pogromen der Schwarzhunderter äußert, kann morgen sehr wohl auch irgendwelche raffinierteren Formen ersinnen. Wir werden ihr jeden falls die ruhige, beharrliche und geduldige, von jeder Aufbauschung zweitrangiger Meinungsverschiedenheiten freie Propaganda der proletarische Solidarität und der wissenschaftlichen Weltanschauung entgegenstellen.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Sozialismus und Religion, in: Bd. 10: Lenin Werke, Berlin/DDR 1970, S.74.}}<br />
<br />
* Die Reaktion wendet alle Formen der Gewalt gegen die revolutionäre Arbeiterklasse, ihre Verbündeten und andere Minderheiten an.<br />
{{Zitat|Zugleich mit dem Verfassungsmanifest der Selbstherrschaft begannen auch die Vorbeugungsmaßnahmen der Selbstherrschaft gegen die Verfassung. Die Schwarzhundertschaften fingen so zu wüten an, wie es Rußland noch nicht erlebt hatte. Berichte von Massakern und Pogromen, von unerhörten Bestialitäten kommen haufenweise aus allen Gegenden Rußlands. Es herrscht der weiße Terror, überall, wo nur irgend möglich, mobilisiert und organisiert die Polizei den Abschaum der kapitalistischen Gesellschaft zu Raub und Gewalttat, setzt sie die Hefe der städtischen Bevölkerung unter Alkohol, veranstaltet sie Judenpogrome, hetzt sie zu Mißhandlungen der „Studenten" und Rebellen auf, hilft sie die Semstwoleute „belehren". Die Konterrevolution tobt sich aus. Trepow „bewährt sich". Man schießt mit Mitrailleusen (Odessa), sticht Augen aus (Kiew), wirft Menschen vom fünften Stockwerk auf die Straße, stürmt ganze Häuser und liefert sie der Plünderung aus, legt Feuer an und erlaubt nicht, die Brände zu löschen, schießt alle nieder, die es wagen, sich den Schwarzhundert schaften zu widersetzen. Von Polen bis Sibirien, vom Finnischen Meerbusen bis zum Schwarzen Meer — überall ein und dasselbe Bild.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.453.}}<br />
<br />
{{Zitat|Man kann der alten Macht, die stets die Gesetze selbst gemacht hat und die mit den letzten, den verzweifeltsten, barbarischsten und bestialischsten Mitteln um ihre Existenz kämpft, nicht durch einen Appell an die Gesetzlichkeit Einhalt gebieten.</br> Der Pogrom in Bialystok ist ein besonders krasses Beispiel für diesen Beginn bewaffneter Aktionen der Regierung gegen das Volk. Es ist die alte, doch ewig neue - ewig bis zum Siege des Volkes, bis zur restlosen Hinwegfegung der alten Macht - Geschichte der russischen Pogrome! Hier einige Auszüge aus dem Telegramm Zirins, eines Wahlmanns der Bialystoker Bürger: „Es begann ein Judenpogrom, der von langer Hand vorbereitet war." „Entgegen verbreiteten Gerüchten trafen einen ganzen Tag lang aus dem Ministerium keinerlei Verfügungen ein." „Für den Pogrom war schon seit zwei Wochen eifrig agitiert worden; in den Straßen wurden besonders an den Abenden Flugblätter verteilt, die zu Mißhandlungen nicht nur von Juden, sondern auch von Intellektuellen aufforderten; die Polizei drückte dabei beide Augen zu." Das alte, bekannte Bild! Die Polizei bereitet von langer Hand den Pogrom vor. Die Polizei hetzt auf; in den Regierungsdruckereien werden Aufrufe zur Mißhandlung von Juden gedruckt. Die Polizei bleibt zu Beginn des Pogroms untätig. Das Militär sieht den Heldentaten der Schwarzhunderter schweigend zu. Und dann - dann setzt die gleiche Polizei die Komödie eines Untersuchungs- und Gerichtsverfahrens gegen die Pogromhelden in Szene. Untersuchung und Gericht durch Beamte der alten Macht führen stets zum gleichen Resultat: die Sache wird verschleppt, Schuldige an den Pogromen gibt es nicht, manchmal werden sogar die mißhandelten und zu Krüppeln geschlagenen Juden und Intellektuellen vor Gericht gezerrt, es vergehen Monate, und die alte, aber ewig neue Geschichte gerät in Vergessenheit - bis zum nächsten Pogrom.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Reaktion beginnt den bewaffneten Kampf, in: Bd. 10: Lenin Werke, Berlin/DDR 1970, S.515.}}<br />
<br />
* Das Schüren von Fremdenhass wird als Methode angewandt, um die eigentlichen Interessen der ausbeutenden Klasse zu verschleiern und von ihnen abzulenken.<br />
{{Zitat|Die Hetze gegen die Fremdstämmigen im allgemeinen und gegen die Juden im besonderen ist im Programm der Schwarzhunderter offen, klar und bestimmt formuliert. Wie stets sprechen sie hier gröber, rücksichtsloser, aufreizender das aus, was die übrigen Regierungsparteien mehr oder weniger „schamhaft" oder diplomatisch zu verstecken suchen.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die politische Parteien in Russland, in: Bd. 18: Lenin Werke, Berlin/DDR 1974, S.32.}}<br />
<br />
{{Zitat|Natürlich ist es unmöglich, geradeheraus über den Schutz der Interessen der Gutsbesitzer zu sprechen. Es wird von der Erhaltung der guten alten Zeit im allgemeinen gesprochen, man strengt sich nach Kräften an, Mißtrauen gegen die Fremdstämmigen, insbesondere gegen die Juden, zu säen, völlig unentwickelte, völlig unwissende Menschen zu Pogromen, zur Hetze gegen „den Jud" hinzureißen. Man bemüht sich, die Privilegien der Adligen, der Beamten und der Gutsbesitzer hinter Reden über die „Unterdrückung" der Russen durch die Fremdstämmigen zu verbergen. Solcherart ist die Partei der „Rechten".|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die politische Parteien in Russland, in: Bd. 18: Lenin Werke, Berlin/DDR 1974, S.34.}}<br />
<br />
'''Annahme 4'''<br />
<br />
* Die außerhalb der Regierung organisierten Reaktionäre agieren scheinbar unabhängig.<br />
* In dieser Rolle besitzen sie Handlungsfreiheit, agieren allerdings im Sinne der Ausbeutenden.<br />
* Die vermeintliche Unabhängigkeit der außerhalb der Regierung organisierten Reaktion verschleiert das Handeln im Klasseninteresse der Ausbeutenden.<br />
{{Zitat|Eine Regierungsverlautbarung gibt — zur Genugtuung naiver Liberaler — zu, daß sich die Polizei an den Heldentaten der Schwarzhunderter beteiligt hat. Die vor der Regierung liebedienernde Presse (beispielsweise das „Nowoje Wremja") tut so, als verurteile sie die Ausschreitungen der Reaktionäre und natürlich auch die „Ausschreitungen" der Revolutionäre. Die extremen Vertreter der Reaktion (Pobedonoszew, Wladimir, Trepow) ziehen sich zurück, unzufrieden mit dem kleinlichen Spiel. Teilweise begreifen sie in ihrer Dummheit nicht, wie vorteilhaft dieses Spiel ist, durch das man dem Zarismus die größtmögliche Macht erhalten will; teilweise spekulieren sie — und spekulieren richtig — darauf, daß es für sie besser ist, völlig freie Hand zu haben und sich an demselben Spiel zu beteiligen, aber in einer anderen Rolle, nämlich in der Rolle „unabhängiger" Kämpfer für die Macht des Monarchen, in der Rolle „freier" Rächer für die (durch die Revolutionäre) „entweihten nationalen Gefühle des russischen Volkes", einfacher gesagt, in der Rolle von Führern der Schwarzhunderter. </br> Witte reibt sich angesichts der „großartigen" Erfolge seines erstaunlich schlauen Spiels vor Vergnügen die Hände. Er bewahrt die Unschuld des Liberalismus, bietet den Führern der Kadettenpartei (sogar Miljukow, laut Telegramm des Korrespondenten von „Le Temps") aufdringlich Ministerportefeuilles an, schreibt Herrn Struve eigenhändig einen Brief mit dem Angebot, in die Heimat zurückzukehren, und bemüht sich, den „Weißen" zu spielen, der den „Roten" wie den „Schwarzen" gleich fernsteht. Und gleichzeitig erwirbt er, während er die Unschuld bewahrt, auch noch Kapital, denn er bleibt das Haupt der zaristischen Regierung, die alle Macht in ihren Händen behält und nur auf einen günstigen Augenblickwartet, um zum entscheidenden Angriff auf die Revolution überzugehen.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Zwischen zwei Schlachten, in: Bd. 9: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.460.}}<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Grundannahmen]]<br />
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<hr />
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<br />
__INHALTSVERZEICHNIS_ERZWINGEN__<br />
<br />
== Vorbemerkung ==<br />
Wir haben es bei den Grundannahmen zum Faschismus mit dem „Problem“ zu tun, dass Faschismus begrifflich nicht bei den Klassikern auftaucht. Wir haben deswegen zum Einen solche Belegstellen aufgeführt, die das Verhältnis von Imperialismus und Reaktion aufzeigen, zum anderen haben wir Aussagen von Lenin über die Schwarzhundertschaften und den Terror der politischen Reaktion gegen die Russische Revolution 1905 aufgenommen. Die Schwarzhundertschaften weisen viele Merkmale auf, die wir von späteren faschistischen Bewegungen kennen, sowohl was die Wahl ihrer Mittel als auch ihre Ideologie angeht. Man könnte sie auch als „präfaschistische“ Bewegung bezeichnen. Besonders stellte Lenin ihr Verhältnis zur herrschenden Klasse dar – allerdings sind die Schwarzhunderter unserer Einschätzung nach keine Phäomene des Imperialismus und der Monopolbourgeoisie, sondern sie waren auch gegen die bürgerliche Revolution gerichtet und eng an das Klasseninteresse des Feudaladels und den zaristischen Herrschaftsapparat gebunden.<br />
<br />
Wir haben uns bewusst dazu entschieden, die Faschismus-Debatte und die grundlegenden Positionen der Kommunistischen Internationale (KI) nicht in die Grundannahmen aufzunehmen. So ist uns ein kritischer Abgleich der KI-Diskussionen mit den „Klassikern“ möglich. Nichtsdestrotz bilden die Analysen der KI für uns den wichtigsten Bezugspunkt in der Faschismusfrage. Sie werden im Abschnitt „Dissens“ bearbeitet und die Auseinandersetzung mit ihnen wird die Arbeit der AG während des Klärungsprozesses der nächtsen Jahre maßgeblich prägen.<br />
<br />
== Die Tendenz zur Reaktion im Imperialismus ==<br />
<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Imperialismus, Tendenz zur Reaktion <br />
<br />
''' Annahme 1 '''<br />
* Imperialismus ist (politisch) der Drang nach Gewalt und Reaktion<br />
In ''Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus'' (1917) beschrieb Lenin die Entstehung des imperialistischen Weltsystems und entwickelte die grundlegenden ökonomischen und politischen Wesensmerkmale des Imperialismus. In Kapitel VII ''Der Imperialismus als besonderes Stadium des Kapitalismus'' nahm er die verkürzte Imperialismusdefinition von Karl Kautsky auseinander:<br />
{{Zitat|Imperialismus ist Drang nach Annexionen - darauf läuft der politische Teil der Kautskyschen Definition hinaus. Er ist richtig, aber höchst unvollständig, denn politisch ist Imperialismus überhaupt Drang nach Gewalt und Reaktion.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917), in: Bd. 22: Lenin Werke, Berlin/DDR 1971, S. 272-273.}}<br />
<br />
* Zu den politischen Merkmalen des Imperialismus gehört die Reaktion auf ganzer Linie<br />
{{Zitat|Da zu den politischen Besonderheiten des Imperialismus die Reaktion auf der ganzen Linie sowie die Verstärkung der nationalen Unterdrückung in Verbindung mit dem Druck der Finanzoligarchie und mit der Beseitigung der freien Konkurrenz gehören, so tritt mit Beginn des 20. Jahrhunderts in fast allen imperialistischen Ländern eine kleinbürgerlich-demokratische Opposition gegen den Imperialismus auf. Und der Bruch Kautskys und der weitverbreiteten internationalen Strömung des Kautskyanertums mit dem Marxismus besteht gerade darin, daß Kautsky es nicht nur unterlassen, es nicht verstanden hat, dieser kleinbürgerlichen, reformistischen, ökonomisch von Grund aus reaktionären Opposition entgegenzutreten, sondern sich im Gegenteil praktisch mit ihr vereinigt hat.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917), in: Bd. 22: Lenin Werke, Berlin/DDR 1971, S. 292.}}<br />
<br />
== Imperialismus und demokratische Republik ==<br />
<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Imperialismus, Republik, Demokratie, Basis, Überbau, Reaktion <br />
<br />
''' Annahme 1 '''<br />
* Politisch ist der Imperialismus gegenüber dem Kapitalismus der freien Konkurrenz die Wendung von Demokratie zu Reaktion<br />
* Der ökonomischen Grundlage des Imperialismus, dem Monopol, entspricht politisch die Reaktion<br />
* Dies trifft sowohl auf die Politik des Imperialismus im Ausland, wie im eigenen Land zu <br />
* Imperialismus bedeutet “Negation” der Demokratie<br />
In seinem Artikel ''Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus' '' (1916) kritisierte Lenin die dem Marxismus feindliche Position der gegen die Partei auftretenden Gruppe Bucharin-Pjatakow und entwickelte gemäß den neuen historischen Verhältnissen das bolschewistische Programm zur nationalen Frage. Im folgenden Abschnitt beschrieb er den politischen Überbau, der sich aus der ökonomischen Basis des Imperialismus ergibt:<br />
{{Zitat|Ökonomisch ist der Imperialismus […] eine Stufe [des Kapitalismus], auf der die Produktion so sehr Groß- und Größtproduktion geworden ist, daß die freie Konkurrenz vom Monopol abgelöst wird. Das ist das ökonomische Wesen des Imperialismus. […] <br /> <br />Der politische Überbau über der neuen Ökonomik, über dem monopolistischen Kapitalismus (Imperialismus ist monopolistischer Kapitalismus) ist die Wendung von der Demokratie zur politischen Reaktion. Der freien Konkurrenz entspricht die Demokratie. Dem Monopol entspricht die politische Reaktion. „Das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft", sagt Rudolf Hilferding völlig richtig in seinem „Finanzkapital". <br /> <br />Die „Außenpolitik" von der Politik schlechthin zu trennen oder gar die Außenpolitik der Innenpolitik entgegenzustellen ist grundfalsch, unmarxistisch, unwissenschaftlich. Sowohl in der Außenpolitik wie auch gleicherweise in der Innenpolitik strebt der Imperialismus zur Verletzung der Demokratie, zur Reaktion. In diesem Sinne ist unbestreitbar, daß der Imperialismus „Negation" der Demokratie überhaupt, der ganzen Demokratie ist, keineswegs aber nur einer demokratischen Forderung, nämlich der Selbstbestimmung der Nationen.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus" (1924), in: Bd. 23: Lenin Werke, Berlin/DDR 1975, S. 34.}}<br />
<br />
<br />
''' Annahme 2 '''<br />
* Die Republik ist eine der möglichen Formen des politischen Überbaus der kapitalistischen Gesellschaft <br />
* Sie ist auch im Kapitalismus die demokratischste Form des Überbaus<br />
* Aber: Es besteht ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen dem ökonomischen Inhalt des Imperialismus und der politischen Form der Demokratie<br />
* Die demokratische Republik muss ihre ökonomische Grundlage, also ihren Klassencharakter und Eigentumsverhältnisse verleugnen und “Gleichheit zwischen Armen und Reichen” proklamieren. Sie widerspricht also dem Kapitalismus<br />
* Dieser Widerspruch verschärft sich durch den Imperialismus, durch die Ersetzung der freien Konkurrenz durch das Monopol<br />
{{Zitat|Die Republik ist eine der möglichen Formen des politischen Überbaus der kapitalistischen Gesellschaft, und zwar unter den modernen Verhältnissen die demokratischste Form. (…) Weiter. Welcher Art ist der Widerspruch zwischen Imperialismus und Demokratie? Es ist die Frage nach der Beziehung der Ökonomik zur Politik; nach der Beziehung der ökonomischen Verhältnisse und des ökonomischen Inhalts des Imperialismus zu einer der politischen Formen. […] Ist dies ein „logischer" Widerspruch zwischen zwei ökonomischen (1)? oder zwischen zwei politischen Erscheinungen bzw. Thesen (2)? oder zwischen einer ökonomischen und einer politischen Erscheinung bzw. These (3)? <br /> <br /> Denn das ist das Kernproblem, wenn die Frage der ökonomischen Unrealisierbarkeit oder Realisierbarkeit bei Existenz der einen oder der anderen politischen Form aufgeworfen wird! <br /> Hätte P . Kijewski diesen Kern nicht umgangen, so hätte er wahrscheinlich gesehen, daß der Widerspruch zwischen Imperialismus und Republik ein Widerspruch zwischen der Ökonomik des neuesten Kapitalismus (nämlich des monopolistischen Kapitalismus) und der politischen Demokratie schlechthin ist. Denn niemals wird P. Kijewski beweisen können, daß irgendeine bedeutende und grundlegende demokratische Maßnahme (Wahl der Beamten oder Offiziere durch das Volk, vollste Koalitions- and Versammlungsfreiheit u. dgl.) dem Imperialismus weniger widerspricht [...] als die Republik. <br /> Wir kommen auf diese Weise zu eben der Feststellung, die wir in den Thesen betonten: Der Imperialismus widerspricht, widerspricht „logisch" der ganzen politischen Demokratie schlechthin. <br /> <br /> Weiter. Warum paßt die Republik dem Imperialismus nicht in den Kram? Und wie „vereinbart" der Imperialismus seine Ökonomik mit der Republik? […] Also gerade um die Frage der „Antinomie" zwischen Ökonomik und Politik. Engels antwortet: ,... die demokratische Republik weiß offiziell nichts mehr von Besitzunterschieden' (zwischen den Bürgern). ,In ihr übt der Reichtum seine Macht indirekt, aber um so sichrer aus. Einerseits in der Form der direkten Beamtenkorruption, wofür Amerika klassisches Muster, andrerseits in der Form der Allianz von Regierung und Börse …'[…].Die demokratische Republik widerspricht [...] dem Kapitalismus, da sie „offiziell" den Reichen und den Armen gleichsetzt. Das ist ein Widerspruch zwischen der ökonomischen Basis und dem politischen Überbau. Zum Imperialismus steht die Republik im gleichen Widerspruch, vertieft und vervielfacht dadurch, daß die Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol die Realisierung der verschiedenen politischen Freiheiten noch mehr „erschwert".|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus" (1924), in: Bd. 23: Lenin Werke, Berlin/DDR 1975, S. 37-38.}}<br />
<br />
==Lenin über die Schwarzhundertschaften==<br />
<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Reaktion<br />
<br />
'''Annahme 1'''<br />
<br />
* Gegen eine erstarkende revolutionäre Arbeiterbewegung benötigt die besitzende Klasse repressive Maßnahmen, die über den Wirkbereich von Polizei und Militär hinausgehen.<br />
* Die reaktionärsten Teile der Bevölkerung werden in der revolutionären Situation von der Regierung zur Verteidigung der besitzenden Klasse gegen die Arbeiterklasse rekrutiert.<br />
* Durch verschiedene Formen der Streuung von Hass werden Teile des Volkes gegeneinander aufgehetzt und Reaktionäre organisiert.<br />
* Der Klassenkampf gegen die ausbeutenden Teile der Bevölkerung liegt der politischen Umgestaltung zugrunde. Deswegen werden die proletarischen Massen gegen die Regierung und ihre organisierte Reaktion Widerstand leisten. <br />
* In der Organisierung der Reaktion und des direkten Bürgerkriegs drückt sich eine Zuspitzung des Klassenkampfes aus.<br />
<br />
Die Schwarze Hundert „Schwarzhundertschaften“ waren eine nationalistisch-terroristische Organisation im zaristischen Russland. Sie verübten in den Jahren vor und während der 1905 Revolution Terror gegen Revolutionäre und Pogrome an der jüdischen Bevölkerung. Die Schwarzhundertschaften waren der bewaffnete Arm des monarchistisch-reaktionären „Bund des russischen Volkes“. Der Bund erhielt große Zustimmung bei der Kirche und der zaristischen Regierung, Zar Nikolai II. war Ehrenmitglied. Lenin befasst sich in diesen Zeiten immer wieder mit dem Terror der Schwarzhunderter und ruft die Arbeiterschaft zur bewaffneten Gegenwehr auf.<br />
<br />
Folgenden Aufsatz verfasste Lenin im frühen Sommer 1905, also zu Beginn der Russischen Revolution. Er beschäftigt sich mit den reaktionären Maßnahmen der zaristischen Regierung gegen die revolutionären Bewegung:<br />
{{Zitat|Eine gute Sache für die Polizei ist diese „provisorische" Verordnung über verstärkte Sicherheitsmaßnahmen, die seit 1881 eines der stabilsten, eines der Grundgesetze des Russischen Reichs geworden ist. Die Polizei erhielt alle erdenklichen Rechte und Vollmachten, um „die Einwohnerschaft in der Hand zu halten“[…] Anderseits aber sind die außerordentlichen Unterdrückungsmaßnahmen, die vor fünfundzwanzig Jahren als außerordentliche gelten konnten, derart zur Gewohnheit geworden, daß auch die Bevölkerung, wenn man so sagen darf, sich ihnen angepaßt hat. Der repressive Charakter der außerordentlichen Maßnahmen verlor seine Wirkung, ebenso wie eine neue Sprungfeder durch langen und übermäßigen Gebrauch in ihrer Spannkraft nachläßt. […]Vorbei sind die siebziger Jahre, als die Kräfte einer solchen zweifellos vorhandenen und furchtgebietenden Partei „nur für einzelne Attentate, nicht aber für einen politischen Umsturz ausreichten". In jenen Zeiten, als „die illegale Agitation eine Stütze in einzelnen Personen und Zirkeln fand", hatte die neuerfundene Sprungfeder noch eine gewisse Spannkraft aufzuweisen. Doch wie sehr hat diese Sprungfeder jetzt nachgelassen, „bei dem heutigen Zustand der Gesellschaft, da sich in Rußland die Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung der Dinge und eine starke oppositionelle Bewegung breit entwickeln"! Wie sehr haben sich die außerordentlichen Sicherheitsmaßnahmen als […] sinnlos erwiesen, sobald […] genötigt war, sie tausendfach anzuwenden „gegen Arbeiter wegen Streiks, die friedlichen Charakter trugen und rein wirtschaftliche Beweggründe hatten", sobald man sogar Steine als eine in politischer Beziehung nicht ungefährliche Waffe qualifizieren mußte! </br> </br> […] Alles in dieser Verordnung hat sich als untauglich erwiesen, seit die revolutionäre Bewegung wirklich ins Volk gedrungen ist und sich unlöslich mit der Klassenbewegung der Arbeitermassen verbunden hat — alles, von der polizeilichen Meldepflicht bis zu den Kriegsgerichten. […] Das ist nichts anderes als der vollständige Bankrott der Polizeiordnung!</br> </br> […] Als es keine wirkliche revolutionäre Volksbewegung gab, als der politische Kampf noch nicht mit dem Klassenkampf zu einem Ganzen verbunden war, da genügten, weil es nur um einzelne Personen und Zirkel ging, bloße Polizeimaßnahmen. Gegen Klassen erwiesen sich diese Maßnahmen als bis zur Lächerlichkeit wirkunglos, und die Unzahl der Maßnahmen begann zu einem Hemmnis für die Arbeit der Polizei zu werden. Die einst respektgebietenden Paragraphen der Verordnung über verstärkte Sicher- heitsmaßnahmen wurden zu dürftigen, kleinlichen, spitzfindigen Schikanen, die sehr viel mehr die Unzufriedenheit der nicht zu den Revolutionären gehörenden „Einwohner" schüren, als daß sie ernsthaft die Revolutionäre treffen. Gegen die Volksrevolution, gegen den Klassenkampf kann man sich nicht auf die Polizei stützen, man muß sich ebenfalls auf das Volk, ebenfalls auf Klassen stützen'. Das ist die Moral der Denkschrift des Herrn Lopuchin. Und das ist auch die Moral, zu der die absolutistische Regierung in der Praxis gelangt. Die Sprungfedern der Polizeimaschine haben nachgelassen, militärische Kräfte allein genügen nicht. Man muß die nationale Zwietracht, die Rassenzwietracht schüren, man muß aus den Reihen der am wenigsten aufgeklärten Schichten der städtischen (und später selbstverständlich auch der ländlichen) Kleinbourgeoisie „Schwarzhundertschaften" rekrutieren, man muß versuchen, alle reaktionären Elemente in der Bevölkerung selbst zur Verteidigung des Throns zusammenzuschließen, man muß den Kampf der Polizei gegen Zirkel in einen Kampf des einen Teils des Volkes gegen den anderen Teil des Volkes verwandeln.</br> </br> So verfährt jetzt auch die Regierung: Sie hetzt in Baku die Tataren gegen die Armenier auf, sie versucht neue Judenpogrome hervorzurufen, sie organisiert Schwarzhunderschaften gegen Semstwoleute, Studenten und aufrührerische Gymnasiasten, sie appelliert an die treuuntertänigen Adligen und an die konservativen Elemente der Bauernschaft. Nun wohl! Wir Sozialdemokraten […] wissen, daß die Regierung jetzt, da die Arbeiter begonnen haben, den bewaffneten Widerstand gegen die Pogrombanditen zu organisieren, mit der Schürung der Rassenzwietracht kein großes Glück haben wird; wenn sich die Regierung aber auf die ausbeutenden Schichten der Kleinbourgeoisie stützt, wird sie die breiten, wirklich proletarischen Massen noch mehr gegen sich aufbringen. Wir haben niemals erwartet und erwarten auch jetzt nicht politische und soziale Umwälzungen von der „Einsicht" der Machthaber oder von dem Übertritt der Gebildeten auf die Seite der „Tugend". Wir haben immer gelehrt und lehren auch jetzt, daß es der Klassenkampf ist, der Kampf des ausgebeuteten Teils des Volkes gegen den ausbeutenden, der den politischen Umgestaltungen zugrunde liegt und letzten Endes das Schicksal aller solcher Umgestaltungen entscheidet. Wenn die Regierung den völligen Bankrott der polizeilichen Kleinkrämerei zugibt und zur direkten Organisierung des Bürgerkriegs übergeht, so beweist sie damit, daß die letzte Abrechnung naht. Um so besser. Sie beginnt den Bürgerkrieg. Um so besser. Wir sind auch für den Bürgerkrieg. Wenn wir uns irgendwo besonders sicher fühlen, so gerade auf diesem Gebiet, im Krieg der ungeheuren Masse des unterdrückten und rechtlosen, des werktätigen und die ganze Gesellschaft erhaltenden Millionenvolkes gegen das Häuf- lein privilegierter Nichtstuer. Die Regierung kann natürlich durch Entfachung der Rassenzwietracht und des nationalen Hasses die Entwicklung des Klassenkampfes eine Zeitlang hemmen, aber nur auf kurze Zeit, und zwar mit dem Ergebnis, daß sich der neue Kampf auf einem noch größeren Feld abspielen wird, daß das Volk noch erbitterter gegen die Selbstherrschaft sein wird. Beweis: die Auswirkungen des Pogroms in Baku, der die revolutionäre Stimmung aller Schichten gegen den Zarismus verzehnfacht hat. Die Regierung glaubte das Volk durch den Anblick des Bluts und der vielen Opfer der Straßenkämpfe einschüchtern zu können — in Wirklichkeit gewöhnt sie dem Volk ab, sich vor Blutvergießen, vor einem direkten bewaffneten Zusammenstoß zu fürchten. In Wirklichkeit betreibt sie eine so großzügige und so eindrucksvolle Agitation zu unseren Gunsten, wie wir sie uns nicht hätten träumen lassen. Vive le son du canon! sagen wir mit den Worten eines französischen revolutionären Liedes — „Es lebe der Donner der Kanonen!", es lebe die Revolution, es lebe der offene Volkskrieg gegen die zaristische Regierung und ihre Anhänger!|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Vorwort zur Broschüre „Denkschrift des Direktors des Polizeidepartements“, in: Bd. 8: Lenin Werke, Berlin/DDR 1959, S.191-194.}}<br />
<br />
'''Annahme 2'''<br />
<br />
* In der Situation des Bürgerkrieges kommt es zu Zugeständnissen der reaktionären Kräfte an das Proletariat in Worten und gleichzeitig zur Bekämpfung derselben während der revolutionären Situation.<br />
{{Zitat|Die Entscheidung naht. Die neue politische Lage zeichnet sich mit erstaunlicher, nur revolutionären Epochen eigener Schnelligkeit ab. Die Regierung gab in Worten nach und begann gleichzeitig durch Taten den Angriff vorzubereiten.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 8: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.450.}}<br />
<br />
{{Zitat|Solange die faktische Macht des Zarismus nicht gestürzt ist, solange sind alle seine Zugeständnisse, sogar einschließlich der „konstituierenden" Versammlung, nichts als Blendwerk, Lug und Trug.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 8: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.451.}}<br />
<br />
{{Zitat|"Man hat uns Versammlungsfreiheit gewährt", schrieb das Streikkomitee (wir übersetzen aus dem Englischen ins Russische zurück, wodurch sich natürlich kleine Abweichungen vom Wortlaut ergeben), „aber unsere Versammlungen werden von Truppen umzingelt. Man hat uns Pressefreiheit gewährt, aber die Zensur besteht weiter. Man hat uns Freiheit der Wissenschaft versprochen, aber die Universität ist von Soldaten besetzt. Man hat uns Unantastbarkeit der Person gewährt, aber die Gefängnisse sind mit Verhafteten überfüllt. Man hat uns Witte beschert, aber Trepow ist nach wie vor da. Man hat uns eine Verfassung gewährt, aber die Selbstherrschaft besteht weiter. Man hat uns alles gegeben, aber wir haben nichts."|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 8: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.451.}}<br />
<br />
{{Zitat|Es wird berichtet, daß die russische Garnison einer starken Festung (Sveaborg) dem aufständischen Volk ihre Sympathien ausgedrückt und die Festung der Volksmiliz übergeben hat. Finnland jubelt. Der Zar macht Zugeständnisse, er ist bereit, den Landtag einzuberufen, hebt das gesetzwidrige Manifest vom 15. Februar 1899 auf, nimmt die „Demission" der vom Volk vertriebenen Senatoren an. Und zur selben Zeit rät das „Nowoje Wremja", alle finnischen Häfen zu blockieren und den Aufstand mit Waffengewalt niederzuschlagen.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Die Entscheidung naht, in: Bd. 8: Lenin Werke, Berlin/DDR 1957, S.455.}}<br />
<br />
* Die besitzende Klasse und ihre Vertreter paktieren mit allen reaktionären Kräften. Der reaktionäre Charakter der Bourgeoisie im zaristischen Russland tritt im damaligen Pakt mit dem zaristischen Herrschaftsapparat zu Tage.<br />
* Die reaktionären staatlichen Gewaltapparate arbeiten mit nichtstaatlichen konterrevolutionären militanten Truppen zusammen.<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Grundannahmen]]<br />
[[Kategorie: Grundannahme AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Sozialfaschismusthese&diff=6047Sozialfaschismusthese2019-04-11T10:37:39Z<p>Dio: /* Was steht dazu in den Programmatischen Thesen? */</p>
<hr />
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<br />
== Worum geht es? ==<br />
Der Begriff “Sozialfaschismus” als Bezeichnung für die Politik der Führung der SPD wurde durch verschiedene Aussagen und Losungen der KomIntern und der KPD in der Weimarer Republik geprägt. Mit dem Begriff sollte deren reaktionäre und arbeiterfeindliche Rolle aufgezeigt werden. <br />
<br />
Kaum eine politische Orientierung hat in der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung eine so große Kontroverse ausgelöst wie die sogenannte Sozialfaschismusthese. Nach 1945 herrschte sowohl unter DDR-Historikern als auch unter DKP-Theoretikern weitgehende Einigkeit darüber, dass die Sozialfaschismusthese (gemeinsam mit der revolutionären Gewerkschaftsoppositionspolitik) der KPD in der Weimarer Republik ein Fehler – wenn nicht sogar der aller verhängnisvollste – gewesen sei und zu großen Problemen im Kampf gegen den Faschismus geführt habe. Die Theorie vom Sozialfaschismus habe den qualitativen Unterschied zwischen der bürgerlichen Demokratie und faschistischer Herrschaft relativiert und sei ein wichtiger Grund für das Scheitern einer erfolgreichen Einheitsfront mit der Sozialdemokratie gewesen. Sie habe Unterschiede zwischen der sozialdemokratischen Basis und der faschistischen Bewegung nicht erkannt. Teilweise wird sogar explizit die Sozialfaschismusthese verantwortlich gemacht für das Scheitern des antifaschistischen Widerstands und den Machtantritt der Faschisten. <br />
<br />
Der VII. Weltkongress mit den Beschlüssen zur Einheits- und Volksfrontpolitik wird als Korrektur und Abkehr von der Sozialfaschismusthese bewertet und ist in diesem Sinne der zentrale Bezugspunkt für die antifaschistische Strategie und Taktik der Kommunisten auch nach 1945, insbesondere auch was die Neu-Ausrichtung des Verhältnisses zur Sozialdemokratie betrifft ([[Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts |siehe auch Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts]]).<br />
<br />
== Welche Positionen gibt es? Wer vertritt sie? ==<br />
=== Historischer Überblick ===<br />
Den historischen Hintergrund der Sozialfaschismusthese bildete laut Kurt Gossweiler “[d]as Erlebnis, dass die sozialdemokratischen Führer fähig waren, Millionen Proletarier auf die Schlachtfelder des imperialistischen Krieges zu jagen; dass sie fähig waren, im Bündnis mit den kaiserlichen Generälen das revolutionäre deutsche Proletariat abzuschlachten und seine Führer kaltblütig ermorden zu lassen, – diese Erlebnisse haben den Grundstein zur Theorie vom Sozialfaschismus gelegt”.<ref>Gossweiler, Kurt: Zur Strategie und Taktik der KPD in der Weimarer Republik, 2002.</ref><br />
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Erstmalig taucht der Begriff wahrscheinlich in den Diskussionen des Exekutivkomitees der KomIntern (EKKI) Anfang 1924 um den gescheiterten Hamburger Aufstand auf. Als bekanntester Ausspruch wird Josef Stalin zitiert, der die Sozialdemokratie als “Zwillingsbruder” des Faschismus bezeichnete.<ref>Stalin, Josef: Zur internationalen Lage, Berlin/DDR 1952, S.253.</ref> Damit war gemeint, dass sowohl Sozialdemokratie als auch Faschismus Stützen des imperialistischen Systems seien. Ein Bündnis mit der Führung der SPD wurde durch die KPD abgelehnt. Diese Linie wurde auf dem 6. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1928 bestätigt und weiter ausgearbeitet. <br />
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Sieben Jahre später auf dem VII. Weltkongress der Komintern 1935 beschloss der Kongress dann die Abkehr von der Theorie des Sozialfaschismus und außerdem die taktische Neuorientierung auf die Volksfront. Die These vom Sozialfaschismus wurde als Hindernis im Ringen um eine proletarische Einheitsfront bewertet (Pieck 1935). Im Gegensatz zur Sozialfaschismusthese orientierte die Volksfrontpolitik nun auf eine Aktionseinheit der Kommunisten und der Sozialdemokraten im Kampf gegen den Faschismus und unter bestimmten Bedingungen sogar auf die Bildung gemeinsamer Volksfront-Regierungen (so z.B. in Frankreich und Spanien). Auf der einen Seite betonten mehrere Redner, dass es richtig gewesen sei, vor 1930 den scharfen Kampf gegen die SPD geführt zu haben (Pieck 1935), auf der anderen Seite, grenzte sich insbesondere Dimitroff mehrmals von “sektiererischen Fehlern” der Vergangenheit ab und bezog dies auch auf die Bündnispolitik der KPD. <ref>Dimitroff, Georgi: Arbeiterklasse gegen Faschismus, 1935.</ref> Inwiefern die Abkehr von der Sozialfaschismusthese Ergebnis taktischer oder grundsätzlicher Erwägungen war, muss noch untersucht werden.<ref>Vgl. Stoodt, Hans Christioph: Volksfront, breites Bündnis, Antimonopolistische Demokratie, 2017. URL: http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2017/03/volksfront-breites-buendnis-antimonopolistische-demokratie/ (27.12.2018). </ref><br />
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Eine genaue Bewertung der Diskussionen des 7.Weltkongresses und dessen Folgen steht für uns noch an. Für die große Mehrheit der deutschen kommunistischen Bewegung schienen nach dem Zweiten Weltkrieg die Lehren der Vergangenheit allerdings eindeutig zu sein: Sowohl in der jungen DDR als auch in der sich erst wieder konstituierenden, dann ab August 1956 erneut illegalen KPD war man sich einig darin, dass die These vom Sozialfaschismus einer der gravierendsten Fehler der kommunistischen Weltbewegung (KWB) vor 1933 gewesen war. Viele gingen sogar so weit, dass die Überwindung der Sozialfaschismusthese und die Einsicht in die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie und anderen „fortschrittlichen Kräften“ die zentrale Lehre aus dem deutschen Faschismus gewesen sei. Die Vorwürfe, die der KPD gemacht wurden und bis heute im Raum stehen, lassen sich wie folgt zusammenfassen: <br />
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* Sie habe keine Unterscheidung zwischen “Sozialfaschisten” und “Nationalfaschisten” getroffen, Faschismus und Sozialdemokratie also gleichgesetzt und gleichermaßen bekämpft. <br />
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* Die KPD habe die bürgerlich-demokratische Herrschaft und die faschistische Diktatur gleichgesetzt. Sie hätte ein Bündnis mit der Führung der SPD zur Verteidigung demokratischer Errungenschaften frühzeitig eingehen sollen. So habe sie den Widerstand gegen den Faschismus geschwächt. <br />
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* Die KPD habe den Unterschied in der sozialen Basis der Sozialdemokratie und der faschistischen Bewegung nicht erkannt. So habe die sie die faschistische Massenbewegung unterschätzt. <br />
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* Der Begriff Sozialfaschismus war massenfeindlich, weil er nicht schaffte, den Unterschied zwischen sozialdemokratischer Basis und Führung differenziert zu vermitteln und so den Aufbau einer “Einheitsfront von unten” verhinderte. <br />
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Dies sind auch Vorwürfe, die den Kommunisten von Seite bürgerlicher Antikommunisten und der Sozialdemokratie gemacht werden. Sie suchen so ihre arbeiterfeindliche und verräterische Rolle in der Weimarer Republik und ihre Schuld an der Machtübertragung an die NSDAP zu vertuschen. Die SPD hatte in der Weimarer Republik ihrerseits selbst eine aggressiv antikommunistische Propaganda der systematischen Gleichsetzung von Kommunismus und Faschismus betrieben – musste sich im antikommunistischen Klima des Kalten Krieges jedoch nie für diese „rotlackierte-Faschisten“-These rechtfertigen, geschweige denn sich den Vorwurf einer Mitschuld am Aufstieg des Faschismus gefallen lassen. Sie lag mit ihrer damaligen Politik rückblickend ganz auf der Linie der Totalitarismus-Doktrin der Nachkriegszeit und damit völlig im Einklang mit der Staatsraison der BRD. Das Erkenntnissinteresse der kommunistischen Bewegung kann dagegen nicht in der Diffamierung der damaligen Genossen oder in ahistorischen Schuldzuweisungen und Abrechnungen liegen, sondern richtet sich ganz auf die Frage nach den Ursachen unserer historischen Niederlage, nach den Fehlern, die die KPD und die Arbeiterklasse so viele Opfer gekostet hat. <br />
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Im Folgenden will dieser Artikel einen ersten Überblick über die verschiedenen Einschätzungen zur Sozialfaschismusthese innerhalb des Spektrums der deutschen kommunistischen Bewegung geben.<br />
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=== DKP ===<br />
Die DKP bewertete und bewertet die Sozialfaschismusthese als den größten Fehler der deutschen Kommunisten. Viele DKPler geben in der Regel der KI, aber insbesondere dem Einfluss Josef Stalins die Schuld daran, die deutschen Kommunisten in ihrer Einschätzung irregeleitet und dazu gebracht zu haben, die SPD als "sozialfaschistisch" zu bekämpfen, anstatt ihr gegenüber eine Einheitsfrontpolitik zu betreiben. In dem Buch “25 Jahre DKP” herausgegeben vom ehemaligen Vorsitzenden der DKP, Heinz Stehr und seinem damaligen Stellvertreter Rolf Priemer, entwickelten verschiedene damalige Leitungsmitglieder der DKP Grundpositionen zu Geschichte und Ideologie der DKP. In dem Abschnitt zur Parteifrage heißt es: <br />
{{Zitat |Denken wir nur an ein Beispiel, an den 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale von 1934 [sic!] [gemeint ist 1935; Anm. Autor] und die Brüsseler Konferenz der KPD im Jahr darauf. Dort erfolgte eine kritische Aufarbeitung der Erfahrungen im Kampf gegen den Faschismus, die Korrektur eigener Fehler, wie z. B. der „Sozialfaschismusthese". Es wurde eine antifaschistische Einheitsfrontstrategie entwickelt, die bis heute zu den Grundlagen kommunistischer Politik zählt. […] Es bleibt dabei eine bittere Wahrheit, daß auch nach dem 7. Weltkongreß durch den Stalinschen Dogmatismus der kommunistischen Bewegung schlimmer Schaden entstand, durch seine Willkürherrschaft tiefe Wunden geschlagen wurden.|Freyeisen, Bruni et al.: Aufzeichnungen über die Parteifrage, Essen 1993, S.43.}} <br />
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Der Umschwung zur "Volksfront"-Politik, so die übliche Einschätzung in der DKP, sei zwar richtig gewesen, allerdings zu spät vollzogen worden. Es hätte bereits frühzeitig auf ein Bündnis mit der Führung der SPD gesetzt werden sollen. Auch der VI. Weltkongress habe noch eine falsche Faschismusanalyse vertreten. Die Kommunisten hätten zu diesem Zeitpunkt die Weimarer Republik verteidigen müssen, anstatt für die sozialistische Revolution zu kämpfen, liest man etwa in einem DKP Bildungsheft von 2011. <br />
{{Zitat |So wurde auf dem Vl. Weltkongress der Komintern vom Ende der zwanziger Jahre eingeschätzt, eine neue Epoche der Kriege und Revolutionen beginne. Diese Einschätzung war ja nicht durchweg falsch, wurde jedoch mit der Folgerung verbunden, der bürgerliche Demokratie-Typus sei historisch überholt, denn die Revolution stehe auf der Tagesordnung[…].Das wurde teils unzureichenden, teils direkt falschen Faschismus-Analyse (Sozialfaschismus-”Theorie”) verbunden und führte dazu, dass die Kommunisten in Deutschland ihre historische Aufgabe bei der Verteidigung der Weimarer Republik verkannten.|DKP-Bildungsheft: Imperialistischer Staat und Demokratie, 2011, S.15.}} <br />
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Vor allem habe die Sozialfaschismusthese den Unterschied zwischen der bürgerlichen Demokratie und der faschistischen Diktatur nicht erkannt und so den Widerstand massiv geschwächt. Der führende DKP-Theoretiker Josef Schleifstein schreibt dazu: <br />
{{Zitat |Dies wurde durch die Schlußfolgerung ergänzt, dass man mit der ‚Konstruierung eines Gegensatzes zwischen Faschismus und der bürgerlichen Demokratie sowie zwischen den parlamentarischen Formen der Diktatur der Bourgeoisie und den offenen faschistischen Formen‘ aufhören müsse. Es ist klar, daß dies nicht nur die Herstellung der Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Massen gegen faschistische Gefahr erschweren, sondern auch zu einer Unterschätzung dieser Gefahr führen mußte. So wurde der für die Kampfbedingungen der Arbeiterklasse bedeutsame Unterschied zwischen bürgerlich-parlamentarischen und faschistischen Herrschaftsmethoden der Bourgeoisie negiert[…].|Schleifstein, Josef: Die „Sozialfaschismus“-These: Zu ihrem geschichtlichen Hintergrund, Essen 1980.}} <br />
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Mit dem VII. Weltkongress hatte die Bewegung, so die DKP-Position, diese historische Lektion aber gelernt – und bewahrt sie seither in der Strategie der Antimonopolistischen Demokratie (AMD), welche u.a. zentral mit dem 7.Weltkongress begründet wird <ref>vgl. Stoodt, HC.: Volksfront, breites Bündnis, Antimonopolistische Demokratie, Frankfurt, 2017. </ref><ref>vgl. Spanidis, Thanasis: Der VII. Weltkongress und seine Folgen, 2017. </ref> obwohl die antifaschistische Volksfront-Taktik nie als langfristige und allgemeingültige Strategie gedacht war und auch nicht als solche beschlossen wurde.<ref>vgl. Stoodt, HC.: Volksfront, breites Bündnis, Antimonopolistische Demokratie, Frankfurt 2017. </ref> Die praktischen Folgerungen sind weitreichend – im Programm von 1978 betonte die DKP ausdrücklich ihr freundschaftliches Verhältnis zur Sozialdemokratie und bekundigte ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der SPD ([[Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts|siehe auch Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts]] oder auch [[„Antimonopolistische Demokratie“ (DKP)| Antimonopolistische Demokratie]]).<ref>DKP: Protokoll des Mannheimer Parteitags der Deutschen Kommunistischen Partei, Mannheim 1978, S.259. </ref><br />
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Allerdings gibt es Teile der DKP und einige DDR-Historiker, die anerkennen, dass die historischen Erfahrungen seit 1914 – vor allem während der Novemberrevolution und der Weimarer Republik – der Sozialfaschismusthese große Plausibilität gaben. So zum Beispiel Josef Schleifstein in seiner Monographie “Die Sozialfaschismusthese”, in welcher er ausführlich den Verrat der SPD an der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik nachzeichnet. <br />
{{Zitat |Nur auf diesem Hintergrund wird die ‚Sozialfaschismus‘-These überhaupt verständlich. Sie hat zweifellos die Herstellung einer gemeinsamen Front gegen den Faschismus erschwert. Aber sie war nicht die Ursache, sondern die Reaktion auf die sozialdemokratische Politik seit dem August 1914 und seit der Novemberrevolution 1918.|Schleifstein, Josef: Die „Sozialfaschismus“-These: Zu ihrem geschichtlichen Hintergrund, Essen 1980.}} <br />
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Die “linken” Kräfte in der DKP stimmen der Analyse, die Sozialdemokratie sei die "soziale Hauptstütze" (KI Programm 1928) des Imperialismus für den Ersten Weltkrieg, die Novemberrevolution und den größeren Teil der Geschichte der Weimarer Republik, zu. Die Orientierung, die rechte Führung der SPD zu bekämpfen und den Einfluss des Opportunismus in der Arbeiterklasse zurückzudrängen war demnach richtig. Der Fehler der Komintern und der deutschen Kommunisten bestand im Wesentlichen darin, zu spät erkannt zu haben, dass die Bourgeoisie sich mit dem Faschismus eine "zweite Hauptstütze" aufgebaut hatte und auf die Integrationsfunktion der Sozialdemokratie für die Vorbereitung des nächsten imperialistischen Krieges nicht mehr angewiesen war.<br />
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=== Kurt Gossweiler / DDR ===<br />
Die Auffassungen in DKP und DDR zur Sozialfaschismusthese waren wohl überwiegend deckungsgleich. Eine tiefergehende Recherche über eventuellen Dissens innerhalb der DDR-Wissenschaft steht aber noch an. Exemplarisch für die Bewertung der Sozialfaschismusthese seitens der DDR-Historiographie kann die Studie “Zur Strategie und Taktik der KPD” des DDR-Historikers Kurt Gossweiler deswegen nicht genannt werden, weil sie zwar 1957 von ihm verfasst wurde, allerdings erst viele Jahre später nach der Konterrevolution veröffentlicht wurde (2002). Trotzdem kann sie als interessanter Einblick in interne Diskussionen unter DDR-Historikern eingeschätzt werden. Gossweiler zusammenfassendes Urteil über die These vom Sozialfaschismus ist: <br />
{{Zitat |Obwohl die Kennzeichnung der Politik der rechtssozialistischen Führer als Politik des schändlichsten Verrats an den Interessen der Arbeiterklasse und der Wegbereitung für den Faschismus vollkommen richtig war, waren die wesentlichsten Schlussfolgerungen, die seitens der K.I. und der KPD daraus gezogen wurden, irrig. Das betrifft vor allem die Theorie des “Sozialfaschismus”; die Einschätzung der SPD als Hauptstütze der Bourgeoisie bis 1933 und die These, dass der Hauptstoß gegen die SPD geführt werden müsse.|Gossweiler, Kurt: Zur Strategie und Taktik der KPD in der Weimarer Republik, 2002.}}<br />
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Er spricht sich klar gegen Illusionen über die sozialdemokratischen Führer aus, deren “offizielle Strategie” die “Verewigung der Spaltung” der Arbeiter sei.Es sei aber die Aufgabe der Kommunisten gewesen, den Arbeitern selbst die Möglichkeit zu geben, sich davon zu überzeugen, dass “nur die Kommunisten Vorkämpfer der Arbeitereinheit, die rechten sozialdemokratischen und Gewerkschaftsführer aber verantwortlich für die Spaltung und deren Aufrechterhaltung sind.”<ref>ebd. </ref> Das hätte eine “solche elastische Taktik” erfordert, “dass es auch den raffiniertesten Manövern der rechten Führer nicht gelingt, die Kommunisten in den Augen der Massen als Gegner der Arbeitereinheit hinzustellen […]”.<ref>ebd., S.X-Y. </ref> Die These vom Sozialfaschismus habe es den Führern der Sozialdemokratie leicht gemacht, die KPD als Gegner der Einheit zu brandmarken: <br />
{{Zitat |Diese mehrfachen, demagogischen Angebote der SPD-Führung an die KPD wurden von ihr abgelehnt mit der Begründung: Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Arbeitern – ja, mit den sozialfaschistischen Führern – niemals. Diese starre Festlegung der KPD hat es den sozialdemokratischen Führern überhaupt erst erlaubt, solche demagogischen Einheitsfrontangebote zu starten, da sie von vornherein wussten, dass keine Gefahr ihrer Annahme bestand. [… ]|ebd.}} <br />
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Er betont aber, dass die Sozialfaschismusthese die historische Widerspiegelung des Verrats der Sozialdemokratie war und nicht lediglich dem “Dogmatismus” einzelner Köpfe wie Stalin entsprang: <br />
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{{Zitat |Durch die Ereignisse in Italien, Bulgarien und Deutschland war auch die Frage des Verhältnisses zwischen Faschismus und Sozialdemokratie aufgeworfen worden. In allen diesen Ländern hatte sich gezeigt, dass die Spitzen der sozialdemokratischen Parteien und der reformistischen Gewerkschaften zu einer Verständigung mit dem Faschismus zu kommen suchten. […] Die Theorie von den ‚Zwillingsbrüdern‘ kann nicht als die Theorie eines Einzelnen, Stalins, betrachtet werden, sondern sie war die Auffassung der übergroßen Mehrzahl aller führenden Köpfe der Kommunistischen Internationale, gebildet auf Grund der Erfahrungen der Jahre 1920 bis 1924.|ebd.}}<br />
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Trotzdem hält er die “die Gleichsetzung von Faschismus und Sozialdemokratie” für einen Fehler, sie “war theoretisch falsch und praktisch von verhängnisvollster Auswirkung, weil sie eine wichtige theoretische Begründung für all die linkssektiererischen Fehler in der darauffolgenden Zeit […] wurde”. Das gleiche gelte für die Einordnung der linken Sozialdemokratie als größten Feind der Arbeiterbewegung: “Ein weiterer Ausdruck der Abweichung in der Richtung des linken Sektierertums war auch die neuerliche schematische Abstempelung aller linken SP-Führer als der gefährlichsten Feinde der Arbeiterbewegung”.<ref>ebd. </ref> <br />
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Gossweiler kritisiert schließlich den Begriff Sozialfaschismus als schematische und unscharfe Weiterentwicklung der Leninschen Begriffe von „Sozialimperialismus“ und „Sozialchauvinismus“. Er kritisiert die KPD und KI für ihr fehlendes Verständnis der Unterschiede der Basis und der Herrschaftsformen von Sozialdemokratie und Faschismus. <br />
{{Zitat |Die Formulierung “Sozialfaschismus” wäre nur dann zutreffend, wenn die SPD zum Träger der faschistischen Diktatur, d.h. der offenen, terroristischen Diktatur über die gesamte Arbeiterklasse und deren Organisationen werden könnte, ohne dass sie damit aufhörte, Sozialdemokratie zu sein, d.h. Agentur der Bourgeoisie, deren spezifischer Wert für die Bourgeoisie darin besteht, dass sie das Vertrauen eines erheblichen Teiles der organisierten Arbeiterklasse besitzt. Das aber ist unmöglich. Die Sozialdemokratie kann direkter Träger der bürgerlichen Herrschaft nur unter der Bedingung sein, dass ihr die Bourgeoisie ein Mindestmaß an Spielraum zur Vertretung ökonomischer und politischer Forderungen der Arbeiterklasse lässt, d.h. unter der Bedingung, dass noch ein Mindestmaß an bürgerlicher Demokratie erhalten bleibt.|ebd.}} <br />
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Die Gewalt in der Herrschaft der Sozialdemokratie sei eher die Ausnahme, nicht die Hauptmethode. Die Sozialdemokratie könne es sich nicht leisten, ihre gesamte Basis zu verprellen. “Zur Ausübung der faschistischen Diktatur muss sich deshalb die Bourgeoisie andere Instrumente schaffen, nicht etwa, weil Sozialdemokratie und Faschismus dem Klasseninhalt ihrer Politik nach unversöhnliche Gegensätze bilden würden, sondern weil die Art und Weise, wie beide die Bourgeoisie vor dem Ansturm der Arbeiterklasse zu bewahren suchen, in ihrem Hauptakzent verschieden sind.”<ref>ebd. </ref> Nichtsdestotrotz ist es nur die Sozialdemokratie, die den Faschismus an die Macht verhelfen kann, sie ist “für die Bourgeoisie dennoch von großer Wichtigkeit in der Übergangsphase von der bürgerlichen Demokratie zur faschistischen Diktatur. In dieser für die Bourgeoisie kritischen Situation des Überganges von der einen zur anderen Herrschaftsform […] hat die Sozialdemokratie die Funktion, die Bourgeoisie gegen die Angriffe der Arbeiterklasse abzuschirmen. Ob sie diese Funktion zu erfüllen vermag oder nicht, hängt weitgehend davon ab, ob die kommunistische Partei ihr erlaubt, diese Rolle zu spielen.”<ref>ebd. </ref> ([[Antifaschismus |Siehe Antifaschistische Strategie]] und [[Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts|Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts]])<br />
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=== K-Gruppen ===<br />
Ein vollständiger Überblick über die verschiedenen Haltungen der maoistischen K-Gruppen in Westdeutschland zur Sozialfaschismus-Frage kann hier nicht erfolgen. Allgemein kann gesagt werden, dass die Mehrzahl die Einschätzung der SPD als sozialfaschistisch durch die KPD für einen Fehler hielt oder zumindest nicht auf die SPD nach 1945 anwenden mochte. Es gab aber auch solche Gruppen, die die Sozialfaschismusthese in ihrer Grundaussage als richtig einstuften, oder sogar die Kennzeichnung “sozialfaschistisch” auf die SPD und teilweise auch die Sowjetunion anwendeten. <br />
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Ein Beispiel für einen positiven Bezug auf die Grundaussage der Sozialfaschismusthese ist die Dissertation des KPD/Aufbauorganisation (KPD/AO) - (später KPD) Theoretikers Alexander von Plato. Er vertritt die Auffassung, dass die Analyse der KPD die SPD sei die “Steigbügelhalterin” des Faschismus gewesen, durchaus richtig war und dass es tatsächlich viele “Überschneidungen zwischen sozialdemokratischen und faschistischen Maßnahmen” in der Weimarer Republik gegeben habe.<ref>Von Plato, Alexander: Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik, Berlin 1973, S.324-331.</ref> Er führt aus: <br />
{{Zitat |Die Geschichte der SPD beweist weiterhin, dass der Vorwurf der KPD und der Komintern, die SPD-Führung sei sozialfaschistisch, Gültigkeit besaß: Sowohl in ihrer Politik der Verelendung der Arbeiterklasse als auch in ihrem Terror, sowie in ihrem Arrangement mit den Nationalsozialisten und schließlich in ihrer Ideologie wies die deutsche Sozialdemokratie dem Faschismus den Weg und erleichterte der NSDAP ihren Aufstieg. Die SPD war [...] einer der Wegbereiter des Faschismus.|Von Plato, Alexander: Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik, Berlin 1973, S.328f.}}<br />
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Diese Position findet sich heute wieder beim Kommunistischer Aufbau (KA) in ihrer Broschüre “Die historische Bolschewisierung”, dort übernehmen sie weitestgehend die Einschätzung Platos.<ref>vgl. Kommunistischer Aufbau: Die historische Bolschewisierung, 2015, S.17-19.</ref> <br />
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Zum Teil findet sich bei den K-Gruppen auch eine Übertragung der Sozialfaschismusthese auf den real existierenden Sozialismus und Gleichsetzung von Faschismus und Sowjetunion. Im Zentralorgan der KPD-AO (später KPD), der Roten Fahne, hieß es 1976: <br />
{{Zitat |Daher ist es völlig richtig, die Diktatur der Bourgeoisie in der Sowjetunion als sozialfaschistische Diktatur zu kennzeichnen, die sich – je nach besonderen Bedürfnissen der Täuschung oder Niederhaltung – hinter den Aushängeschildern ‚Staat des ganzen Volkes‘ oder ‚Diktatur des Proletariats‘ versteckt. Auch Hitler erklärte seinen faschistischen Terrorstaat zum Ausdruck einer ,Volksgemeinschaft’, in dem es angeblich keine Klassen mehr gäbe, auch er bediente sich sozialistischer Phrasen, um über den Klassencharakter der faschistischen Herrschaft zu täuschen. Der Unterschied zwischen Hitler und den neuen Zaren besteht allein darin, dass diese die faschistische Unterdrückungsmaschine und die sozialistischen Phrasen noch umfassender und perfekter ausgebaut haben.|zitiert nach Fischer, Michael: Horst Mahler. Biographische Studie zu Antisemitismus, Antiamerikanismus und Versuchen deutscher Schuldabwehr, Karlsruhe 2014, S.266.}} <br />
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Auch die DDR war nicht vor dem Faschismusvorwurf sicher. In der Zeitung der “Roten Hilfe” der KPD (AO) hieß es: “Ein Teil unseres Volkes muss unter dem Faschismus des DDR Regimes leben”.<ref>Ebd.</ref> <br />
Die kommunistischen Parteien des “Sowjetlagers” waren aus Sicht einiger K-Gruppen also zu den Hauptvertretern eines “Sozialfaschismus” und damit zum Hauptfeind erklärt worden, selbst in der Situation des Sturzes der Salazar-Diktatur, sah z.B. die KPD (AO) die Hauptgefahr in einer "sozialfaschistischen Diktatur" getragen durch die sowjetnahe PCP.<ref>Steffen, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971-1991, 2002, S.116.</ref> <br />
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Der Kommunistische Arbeiterbund (KAB) lehnte den Begriff ab und betonte die Notwendigkeit breiter antifaschistischer Bündnisse.<ref>vgl. ebd., S.49.</ref> Allerdings leiste die Sozialdemokratie ihren Beitrag zur Faschisierung der Gesellschaft, z.B. durch Notstandsgesetzgebung.<ref>ebd.</ref> <br />
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Der Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW) gab im September 1975 einen Artikel von Joscha Schmierer zum Thema Sozialfaschismus in einer Broschüre heraus. Diese war u.a. eine Reaktion auf die Dissertation Platos und Publikationen in der KPD-AO Zeitung Rote Fahne. Diese würde in “apologetischer Weise” die Sozialfaschismus-These behandeln, die in der Praxis die Entstehung einer Aktionseinheit der Arbeiter verhindert habe.<ref>Schmierer, Joscha: Sozialfaschismusthese und politische Programmatik der KPD 1928-33 (Sept. 1975) Materialien zur Analyse von Opposition, 1975, S.6f.</ref> Zusammenfassend trifft der KBW-Autor die Einschätzung: “Die Sozialfaschismusthese ist […] eine von mehreren wichtigen Abweichungen vom Marxismus-Leninismus, die die Politik der Komintern und insbesondere die Politik der KPD nach dem VI. Weltkongress kennzeichneten. […] Durch den VII. Weltkongress wurden diese Fehler korrigiert”.<ref>ebd., S.5f.</ref> Allerdings habe der VII. Weltkongress, die Sozialfaschismus-These nur “unter der Hand”<ref>ebd., S.13</ref> revidiert, dies zeige die Schwäche des VII. Weltkongresses, “die in einer Verharmlosung der Sozialfaschismus-These und der durch sie verursachten Fehler bestand”<ref>ebd.</ref>. <br />
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Der Kommunistische Bund (KB) beschäftigte sich in den 70ern und frühen 80ern schwerpunktmäßig mit der “Faschisierung” der Gesellschaft. Laut dieser These muss der Übergang von der bürgerlichen Demokratie zur „offenen terroristischen Diktatur“ nicht unbedingt plötzlich (z.B. durch einen Putsch) vollzogen werden, sondern kann sich auch unter formaler Beibehaltung der bürgerlichen Institutionen schleichend vollziehen (etwa durch die Einführung von Notstandsgesetzen und eine allmähliche Militarisierung). Zur Rolle der SPD in diesem Prozess, analysieren sie, dass diese die Faschisierung vorantreibe, aber selbst keine Faschisten seien.<ref>Steffen, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971-1991, 2002, S.127.</ref> Die SPD sei im Vergleich zu CDU das kleinere Übel, gegen die CDU sei folglich der Hauptstoß zu führen. Der KB rief als Konsequenz auch zeitweise zur Wahl der SPD auf und unterbreiteten ihnen Kooperationsangebote – bis hin zur ihrem Aufruf 1972 Willy Brandt zu wählen.<ref>ebd., S.135f. und 140.</ref><br />
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Insgesamt finden sich im Spektrum der K-Gruppen alle Positionen zur Sozialfaschismusthese wieder, die es in der kommunistischen Bewegung insgesamt gibt.<br />
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=== MLPD ===<br />
Die MLPD verurteilte zwar auf der einen Seite die Sozialfaschismusthese der KI und KPD als falsch und mitverantwortlich für das Scheitern der Einheitsfront<ref>MLPD: Fremdwörter und Begriffserklärungen, Essen 2000, S.13</ref>, benutzt selbst aber den Begriff “sozialfaschistisch” um eine bestimmte Form der Demagogie zu kennzeichnen, Sozialfaschismus sei “Politik, die sich sozial nennt, aber in Wirklichkeit Faschismus ist, gewaltsame Unterdrückung der Arbeiterbewegung”.<ref>Ebd.</ref> “Als Reaktion auf die siegreiche Oktoberrevolution […] errichteten die Monopole 1933 eine faschistische Diktatur zum Erhalt ihrer Macht […] und benutzten eine rassistische, die Begriffe des Sozialismus missbrauchende sozialfaschistische Demagogie.”<ref>MLPD: Türkei. Erdogan-Gegner schließen sich zusammen, 2016, S.33.</ref> Aber die MLPD verwendet den Begriff 'Sozialfaschismus' nicht nur historisch, sondern auch programmatisch mit Bezug auf die Gegenwart: “Die MLPD (…) hilft den Massen, den Einfluss sozialfaschistischer Demagogie sowie nationalistische und rassistische Vorurteile zu überwinden.”<ref>MLPD: Türkei. Erdogan-Gegner schließen sich zusammen, 2016, S.142.</ref> Wer die Träger dieser sozialfaschistischen Demagogie sind, wird z.B. in einem Interview mit Stefan Engel 2015 der Roten Fahne konkretisiert. Der ehemalige Parteivorsitzende sagt in Bezug auf den “IS”, dieser praktiziere eine “Neue Art des Faschismus” und könne mit seiner “sozialfaschisischen Demagogie” besonders viele Jugendliche aus Europa in seinen Bann ziehen.<ref>Engel, Stefan: Der Stimmungsumschwung 2015 und der X. Parteitag der MLPD, in: Rote Fahne 2015. </ref> <br />
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Die MLPD-Definition von “Sozialfaschimus” ist also eher zu verstehen als Synonym zur Formulierung von der "sozialen Demagogie der Faschisten”. Mit der Kennzeichnung von reaktionärer Politik der Sozialdemokratie wie durch die Weimarer KPD, hat das also nichts zu tun. In Bezug auf die SPD wird auf die Analyse MLPD-Mitbegründers Willi Dickhut verwiesen: “Die Diffamierung aller Sozialdemokraten als Sozialfaschisten zerstörte bestehende Kontakte zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten und verhinderte die Schaffung einer proletarischen Einheitsfront, die als starkes Rückgrat einer breiten antifaschistischen Aktionseinheit die Machtübernahme Hitlers hätte verhindern können.”<ref>zitiert nach MLPD: Wie und warum die Herrschenden die Geschichte fälschen, 2013.</ref><br />
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Auch wenn die MLPD den Begriff des Sozialfaschismus nicht für die SPD gebrauchen wollte, schien sie (zu diesem Zeitpunkt noch als KABD) keinen Widerspruch darin zu sehen, Anfang der 1980er die sowjetische Politik als “sozialfaschistisch” zu bezeichnen. Angesichts der Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 durch die Volksrepublik sprach die MLPD von einer “Errichtung der sozialfaschistischen Diktatur in Polen” unter dem Druck der Sowjetunion.<ref>MLPD: Vor 30 Jahren: Errichtung der sozialfaschistischen Diktatur in Polen, 2011.</ref><br />
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=== Trotzkisten ===<br />
Leo Trotzki schrieb früh aus dem Exil vehement gegen die Sozialfaschismusthese an und forderte in diversen Artikeln ein engeres Bündnis zwischen KPD und SPD. Seine Differenzen mit der Führung der KPD lagen nicht hauptsächlich in der Einschätzung des Charakters der SPD, allerdings betonte er die feste Verbindung der Sozialdemokratie zu bürgerlich-demokratischen “pazifistischen” Herrschaftsformen und wollte sie so bündnisfähig machen (vgl. Trotzki 1933).<ref>vgl. Trotzki, Leo: Vor der Entscheidung, 1933.</ref> 1930 schrieb Trotzki über die Sozialfaschismusthese: <br />
{{Zitat |Die Kommunistische Partei hat sich trotz ausnehmend günstiger Bedingungen als zu schwach erwiesen, das Gebilde der Sozialdemokratie mit Hilfe der Formel des »Sozialfaschismus« zu erschüttern; […] Mag die Feststellung, daß die Sozialdemokratie durch ihre gesamte Politik das Aufblühen des Faschismus vorbereitet, noch so richtig sein, so ist es nicht weniger richtig, daß der Faschismus vor allem für die Sozialdemokratie selbst eine tödliche Drohung darstellt, deren ganze Herrlichkeit untrennbar mit den parlamentarisch-demokratisch-pazifistischen Regierungsformen verknüpft ist. […] Die Politik der Einheitsfront der Arbeiter gegen den Faschismus ist ein Erfordernis der gesamten Situation; […]. Die Bedingung des Erfolges ist das Fallenlassen von Theorie und Praxis des »Sozialfaschismus«, deren Schädlichkeit unter den gegenwärtigen Bedingungen katastrophal wird.|Trotzki, Leo: Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland, 1930.}} <br />
An gleicher Stelle forderte er vehement das Organisationsbündnis mit den sozialdemokratischen Parteien und Fraktionen.<ref>Ebd.</ref> <br />
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Die trotzkistische Bewegung wie auch bürgerliche Wissenschaftler nach 1945, haben Trotzki als eine Art frühen und tragischen “Propheten” stilisiert, der als einer der ersten die verhängnisvollen Fehler der KI und KPD-Führung in Bezug auf den Sozialfaschismus erkannt habe, und vor allem als einer der wenigen auf die Gefahr des Faschismus hingewiesen habe. Außerdem als mutige Opposition gegen den “Stalinismus”.<ref>vgl. Brauns, Nick: Der Machtlose Prophet. Trotzkis Warnungen vor dem Nationalsozialismus, 1999.</ref><ref>vgl. Koch, Nikolas: Trotzki. Frühe Hinweise, 2010. </ref> <br />
<br />
Heute findet die Verbreitung der Thesen Trotzkis v.a. durch trotzkistische Gruppierungen und Zeitungen statt. Hier zu nennen sind das News-Portal “Klasse gegen Klasse”, die Marx21-Plattform, die SAV, außerdem Autoren wie Nick Brauns, der regelmäßig auch in nicht-trotzkistischen Zeitungen wie der Jungen Welt publiziert. Gemeinsam ist ihnen die Einschätzung der Sozialfaschismusthese als “ultralinken Fehler”<ref>Stanicic, Sascha: Welcher Weg zum Sozialismus? Eine kritische Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis von Linksruck, Berlin 2001, S.25. </ref>, und als einer der Hauptgründe der Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung: “Die Sozialfaschismustheorie verhinderte nicht nur eine Einheitsfrontpolitik auf Seiten der KPD, sie führte auch dazu, dass die KPD-Mitgliedschaft die besondere Bedrohung, die durch die Nazis für die Arbeiterklasse ausging nicht erkannte”.<ref>Kühne, Steve: Vor 80 Jahren: Das Kapital bringt Hitler an die Macht, 2013.</ref> Sie sehen in dem Bestreben kleiner trotzkistischer Gruppen in der Weimarer Republik die wahren Vertreter der Einheitsfront.<ref>ebd.</ref> Aber auch im klassischen Antifaspektrum findet durchaus positiver Bezug auf die SF-Analyse von Trotzki statt (s.u.). Verbunden wird die positive Bezugnahme auf Trotzki oft mit einem Angriff auf Ernst Thälmann, der als Stalins langer Arm aufgefasst wird.<ref>vgl. Bois, Marcel: Ernst Thälmann: Der Politiker Hinter Dem Mythos, 2018.</ref> So schreibt Brauns in der Jungen Welt in einem Artikel über Ernst Thälmann, dieser trage Mitverantwortung an der Niederlage der Arbeiterbewegung durch das Vertreten der Sozialfaschismusthese: <br />
{{Zitat |Es gibt nur die seit 50 Jahren wiedergekäute Thälmann-Legende. […] Doch um wieviel mehr wäre Thälmann ein politischer Bankrotteur zu nennen, der mit seiner Linie des scharfen Kampfes gegen den »Sozialfaschismus« der SPD die Mitverantwortung für die Kapitulation der deutschen Arbeiterbewegung vor Hitler trägt?|Brauns, Nick: Geschichten um Teddy. Materialistische Geschichtsforschung statt linker Legendenbildung, in: Junge Welt, 03.05.2003}}<br />
<br />
Die SAV fasst Trotzkis Position, dieses “Kämpfers gegen Kapitalismus und Stalinismus ” wie folgt zusammen: <br />
{{Zitat |Ein Wesenszug des Faschismus lag in seiner existenziellen Bedrohung auch für diese Arbeiterparteien mit bürgerlicher Führung. […] Auf dieser Grundlage forderte Trotzki die Bildung einer Einheitsfront: Gemeinsamer Kampf gegen den Faschismus auf der Grundlage einer scharfen Trennung zwischen den Organisationen der Arbeiterklasse auf der einen und den Parteien des Kapitals auf der anderen Seite. […] Einem solchen Appell zu einer Einheitsfront aller Arbeiterorganisationen hätten sich auch sozialdemokratische Parteien und Gewerkschaften nicht entziehen können […] Forderungen [wie] zum Beispiel eine Entmachtung der hinter den Faschisten stehenden Kapitalisten, hätten sich recht natürlich aus dem gemeinsamen Kampf heraus entwickelt. Aus dem Kampf aller Arbeiterorganisationen gegen die unmittelbare Bedrohung des Faschismus hätte sich der Kampf […] für revolutionär-sozialistische Ideen entwickelt, als einzigem Ausweg vor der kapitalistischen Konterrevolution in Gestalt des Nationalsozialismus entwickelt.|Kimmerle, Stephan: Wer war Leo Trotzki? Kämpfer gegen Kapitalismus und Stalinismus, 2000.}} <br />
<br />
Auch hier zeichnet sich die oben angesprochene Widersprüchlichkeit ab. Auf der einen Seite solle dieses Bündnis eine scharfe Trennlinie zu den bürgerlichen Parteien entwickeln, auf der anderen Seite teilten diese die grundlegende Abwehr des Faschismus und es sei möglich auf Basis eines solchen Bündnis “revolutionär-sozialistische Ideen” zu entwickeln. Viele Trotzkisten beziehen sich auf eine kleine trotzkistische Gruppe in der Weimarer KPD-Opposition, die “Linke Opposition (LO)”.<ref>vgl. Flakin, Wladek: Vergessene KommunistInnen, 2013.</ref><ref>vgl. Kropf, Albert: Von der Republik zum Bürgerkrieg, 2006.</ref><br />
<br />
=== Linksradikale Antifas ===<br />
In der linksradikalen Antifabewegung ist gemäß ihrer Neigung zum Sozialdemokratismus und Antikommunismus auch bei den mit der historischen Arbeiterbewegung sympathisierenden Teilen schnell der “stalinistische” Kurs der KPD als Schuldiger für die Niederlage ausgemacht. Sie betrachten den Kampf gegen die Sozialdemokratie teils stark vereinfachend als einen Kampf gegen “Abweichler” und projizieren aktuelle Diskussionen auf die Weimarer Republik, indem sie der KPD die Spaltung einer damaligen “Linken” vorwerfen, die im antifaschistischen Kampf über alle Differenzen hinweg hätte vereint werden müssen. So schreibt die A.L.I. aus Göttingen 2014: <br />
{{Zitat | 1=Die Machtkämpfe innerhalb der KPdSU nach Lenins Tod 1924, die sich vor allem zwischen Stalin und Trotzki abspielten, waren die Grundlage für die „Sozialfaschismusthese“, die in Deutschland verfolgt wurde: Stalin und seine Anhänger bereiteten sich auf einen Kampf vor gegen alle, die nicht ihre Linie verfolgten. Sie trafen Absprachen mit der Leitung der KPD, die auch in Deutschland den Kampf gegen „abweichende Kräfte“ führen sollte. So wurde nun die SPD als „sozialfaschistisch“ betrachtet und musste nach dieser Logik als erstes bekämpft werden. Dies verkannte nicht nur die Gefahr des Faschismus, sondern vertiefte auch die Spaltung und Schwächung der Linken. | 2=Broschüre der Antifaschistischen Linken International: Antifaschistische Geschichtspolitik, Göttingen 2014, S.12.}} <br />
<br />
Der der autonomen Szene angehörige Schriftsteller Bernd Langer erklärt in der Flugschrift anlässlich des 80-jährigen Jubiläums der Antifaschistischer Aktion sogar die SFT als taktischen Schachzug Stalins um das “geheime Bündnis” zwischen Deutschland und der Sowjetunion nicht zu gefährden: <br />
{{Zitat | 1=Dass die Sozialfaschismus-Politik zur weltweiten Richtschnur der Kommunisten wurde, hatte seine Gründe in der Sowjetunion. Dort hatte sich Josef Stalin 1927 endgültig als unumschränkter Alleinherrscher durchgesetzt. Hinsichtlich Deutschlands hatte der Diktator aufgrund eines geheimen Rüstungsabkommens ein besonderes Interesse. Die Reichswehr half, die Rote Armee aufzubauen. Im Gegenzug konnten sich deutsche Soldaten auf russischem Gebiet an Waffen ausbilden, die ihnen der Versailler Vertrag in Deutschland verbot. Dieses Geheimabkommen gefährdete die SPD, denn sie propagierte einen gegen die Sowjetunion gerichteten Kurs und strebte eine Annäherung mit Frankreich an. | 2=Langer, Bernd: 80 Jahre Antifaschistische Aktion, Göttingen 2012, S.15.}} <br />
<br />
Auch Langer kann aber nicht leugnen, dass die SF-These eine reale Grundlage in den Erfahrungen der KPD mit der SPD hatte.<ref>Ebd.</ref> <br />
<br />
Exemplarisch für Positionen in der Radikalen Linken noch zu nennen, ist das als Einführungsbuch konzipierte ''Antifa'' von einem Autorenkollektiv aus der Frankfurter antifaschistischen “Linken”. Nicht genug, dass die Autoren über die Rolle der SPD in der Niederschlagung der Novemberrevolution, dem Aufbau der Freikorps, dem Aufbau eines arbeiterfeindlichen Polizeiregimes weitgehend schweigen. Sie machen sich auch gar nicht erst die Mühe, die Sozialfaschismusthese inhaltlich zu widerlegen. Es genügt die für sich selbst sprechende Betitelung des entsprechenden Buchabschnitts als “Sozialfaschismusthese und Siegeszug des Faschismus” (Keller et. Al, S.26).<ref>Keller, Mirja et al: Antifa. Geschichte und Organisierung, Stuttgart 2011, S.26. </ref> Die Autoren scheuen sich auch nicht, Mythen aus der Totalitarismus-Mottenkiste zu holen. Nicht nur habe die KPD “absurderweise” der SPD Schuld am Erstarken des Faschismus gegeben, sondern auch die NSDAP punktuell in ihre Einheitsfront einbezogen: <br />
{{Zitat | 1=Als infolge der Notverordnungen […] die Löhne bei den Berliner Verkehrsbetrieben gesenkt werden sollten, unternahm die KPD ihren politisch fatalsten Versuch einer »Einheitsfront« der ArbeiterInnenklasse. In der Leitung des am 2.November 1932 ausgerufenen Streiks saßen neben KPD-Angehörigen und SozialdemokratInnen auch zwei Mitglieder der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganistion. Die reale Zusammenarbeit zwischen KommunistInnen und Nazis war zwar begrenzt, das politische Signal war jedoch fatal. Der BVG-Streik […] zeigt die grobe Fehleinschätzung des Nationalsozialismus durch die KPD. | 2=Keller, Mirja et al: Antifa. Geschichte und Organisierung, Stuttgart 2011, S.26.}} <br />
<br />
Damit haben sie das “Paradepferd der Totalitarismustheorie” (Oltmann 1982) herbeizitiert, und liegen dennoch in der historischen Bewertung komplett daneben. In Wirklichkeit war das Agieren der KPD im BVG-Streik ein taktischer Schachzug zur Entlarvung der arbeiterfeindlichen Haltung der NSDAP. Ihr Ziel war es deren soziale Demagogie vor den Hitleranhängern in der Arbeiterschaft aufzudecken. Es handelt sich hier keinesfalls um eine Zusammenarbeit mit NS-Organisationen.<ref>vgl. Oltmann, Joachim: Das Paradepferd der Totalitarismustheorie. Der Streik der Berliner Verkehrsarbeiter im November 1932, Berlin 1892.</ref> Ihr Beleg für diese Behauptung stammt übrigens bezeichnenderweise aus einer Publikation der Landeszentrale für politische Bildung. Der Band aus dem Schmetterling-Verlag, der auch von der Bundeszentrale für politische Bildung stammen könnte, gehört natürlich nicht mehr in die innerkommunistische Debatte. Allerdings haben solche Positionen Einfluss in weiten Teilen der antifaschistischen Linken und tragen zur Verbreitung von antikommunistischem Bewusstsein in dieser bei. <br />
<br />
Auffällig ist bei all diesen Gruppierungen ein positiver Bezug auf die Analysen von Thalheimer und Trotzki in Bezug auf die Sozialfaschismusthese.<br />
<br />
== Bezug zu den Grundannahmen ==<br />
<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
<br />
== Was steht dazu in den Programmatischen Thesen? ==<br />
Siehe hierzu den Abschnitt zum [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#5_Faschismus_und_Antifaschismus Faschismus und Antifaschismus] in unseren ''Programmatischen Thesen''.<br />
<br />
Darin äußern wir uns nicht konkret zur sogenannten Sozialfaschismusthese, schreiben aber zum Verhältnis von Faschismus und Sozialdemokratie:<br />
{{Zitat|In Bezug auf den Faschismus wollen wir uns beispielsweise damit beschäftigen, wie die historisch auftretenden Varianten dieser Herrschaftsform sich unterschieden, was sie gemeinsam hatten und was allgemeine Charakteristika des Faschismus sind. Wir wollen uns auch mit dem Verhältnis von Sozialdemokratie und Faschismus historisch und aktuell auseinandersetzen, wie zum Beispiel der Rolle der Sozialdemokratie in Bezug auf den Aufstieg und die Machtübertragung des Faschismus in verschiedenen Ländern. Wir gehen davon aus, dass sozialdemokratische und faschistische Ideologie und Methoden der kapitalistischen Herrschaftsausübung sich nicht prinzipiell ausschließen. Dies zeigen uns die bitteren Erfahrungen der Arbeiterklasse mit der vielfältigen Zusammenarbeit zwischen sozialdemokratischer Führung und faschistischen Strukturen während und nach der Novemberrevolution bis zur Errichtung der faschistischen Diktatur 1933.<br>Für zentral halten wir auch die Beschäftigung mit den Erfahrungen des antifaschistischen Kampfes der Kommunisten, insbesondere mit der Frage, wie der Faschismus in Deutschland 1933 siegen konnte und mit den Orientierungen, die von der Kommunistischen Internationale im Zuge der Volksfront- und Einheitsfrontpolitik in den 1930er Jahren beschlossen wurden. Wir wollen der Frage nachgehen, welche Widersprüche und Mängel in der Faschismusanalyse existieren. Das betrifft grundsätzlich die Frage, wie der Begriff Faschismus zu verstehen und anzuwenden ist. Schließlich stellt sich auch heute zentral die Frage, mit welcher bündnispolitischen Orientierung der Faschismus wirksam bekämpft werden kann.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.12-13.}}<br />
<br />
== Arbeitsschritte / Klärung des Dissens ==<br />
Folgende inhaltliche Fragen ergeben sich aus dem Dissens zur Sozialfaschismusthese. Zu ihrer Beantwortung müssen Untersuchungen des historischen Materials und der dokumentierten Diskussionen angestellt werden.<br />
* Diskussion und “Paradigmenwechsel” in der KI nachvollziehen, wo taucht der Begriff zum ersten Mal auf? Welche strategische Position nahm die KI in ihrem Programm von 1928 zur Sozialdemokratie ein? Welche verschiedenen Phasen gab es im Verhältnis der KPD zur Sozialdemokratie? <br />
* Wie war die Unterscheidung in “National-” und “Sozialfaschismus” durch die KI begründet? Wie bewerten wir diese Unterscheidung heute? Um sie zu verstehen, müssen wir auch noch besser verstehen, was die KI zu diesem Zeitpunkt unter “Faschismus” verstanden hatte, wir reden hier schließlich von der Zeit vor der faschistischen Diktatur. <br />
* Hat die KPD zu spät die Gefahr des Faschismus erkannt? Hat sie den Masseneinfluss der NSDAP unterschätzt? Lag wirklich der Fehler der KPD darin, dass sie zu spät erkannt hatte, dass der Faschismus an Stelle der Sozialdemokratie zur sozialen “Hauptstütze” des Imperialismus werden sollte? <br />
* Welche Differenzen gab es in der Einschätzung der Sozialdemokratie und der drohenden faschistischen Diktatur zwischen der KPD-Führung und dem EKKI? (siehe insbesondere die Dokumente: Dok. 234: [Moskau], 13.1.193, Dok 242: [Moskau], 26.4.1930, Dok 275: [Moskau], 1.12.1931, Dok. 282: [Berlin], 20.2.1932–23.2.1932) <br />
* Es braucht eine gute Zusammenstellung von Material welches dann ausgewertet werden soll. Bestehende Materialisammlung (z.B. “doc” s.u.) müssen kritisch eingeschätzt werden – welche Stellen wurden herausgekürzt und was ist deren Inhalt? <br />
* In der Diskussion um die Sozialfaschismusthese muss getrennt werden zwischen einer Bewertung des Inhalts dieser, der praktischen Ableitungen und der Bewertung des Begriffes andererseits. <br />
* Wie sahen die Einheitsfrontbemühungen in der Praxis aus? <br />
* Gab es in der DDR auch eine kontroverse Diskussion über die Bewertung der “Sozialfaschismusthese”? <br />
* Folgende These muss überprüft werden: Sozialdemokratie und Faschismus haben auf unterschiedliche Weise beide die Funktion, die Herrschaft des Kapitals zu sichern und eine Revolution zu verhindern. Die Sozialdemokratie besitzt allerdings andere Merkmale als der Faschismus und die sozialdemokratische Ideologie unterscheidet sich von der faschistischen. Die Unterschiede müssen beachtet werden, um die Massen über ihren Charakter aufzuklären und den Kampf gegen sie richtig organisieren zu können. Objektiv hat die Politik der Führung der Sozialdemokratie in Partei und Gewerkschaften das Anwachsen des Faschismus und die Errichtung der offenen Diktatur durch die Bekämpfung der revolutionären Arbeiterbewegung, durch die Unterstützung der Angriffe des Kapitals, durch Ablehnung von gemeinsamen Widerstandsaktionen und das Angebot der Mitarbeit im Nazi-Staat. Auch in der Folgezeit hat sie jede Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei abgelehnt, obwohl zehntausende Sozialdemokraten in den Konzentrationslagern litten und ein Teil aktiv gegen die Faschisten kämpfte - zum Teil auch zusammen mit den Kommunisten. Das Verhältnis von Sozialdemokratie und Faschismus ist deshalb genau zu untersuchen und nicht einfach mit Verweis auf die „Sozialfaschismusthese“ abzutun, ebenso wenig wie es richtig wäre, Unterschiede insbesondere in der Klassenzusammensetzung und der subjektiven Haltung zu ignorieren.<br />
<br />
== Literatur zum Thema ==<br />
* Autonome Antifa (M): Geschichte der Antifaschistischen Aktion in: Nadir, Göttingen 1995, URL: https://www.nadir.org/nadir/initiativ/aam/broschueren/hist/antifak.html (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Bahne, Siegfried: „Sozialfaschismus“ in Deutschland. Zur Geschichte eines politischen Begriffs, in: International Review of Social History 10, Assen (Niederlande) 1965, S.211-245.<br />
<br />
* Bois, Marcel: Ernst Thälmann. Der Politiker hinter dem Mythos in: Marx21, 18.08.2018, URL: https://www.marx21.de/ernst-thaelmann-der-politiker-hinter-dem-mythos/ (letzter Zugriff: 02.12.2019).<br />
<br />
* Brauns, Nick: »4. August der Kommunistischen Internationale«. Trotzkis Schriften über den deutschen Faschismus in einer Neuausgabe in: Junge Welt, 16.10.1999, Url: https://www.jungewelt.de/artikel/13205.4-august-der-kommunistischen-internationale.html (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Brauns, Nick: Der Machtlose Prophet. Trotzkis Warnungen vor dem Nationalsozialismus in: Nikolaus Brauns, 1999, Url: http://www.nikolaus-brauns.de/Der_machtlose_Prophet.htm (letzter Zugriff 02.01.2019).<br />
<br />
* Brauns, Nick: Geschichten um Teddy. Materialistische Geschichtsforschung statt linker Legendenbildung, in: Junge Welt, 03.05.2003, URL: https://www.jungewelt.de/artikel/36704.geschichten-um-teddy.html (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Brauns, Nick: SPD läßt schießen, in: Junge Welt, 30.04.2009, URL: https://www.jungewelt.de/artikel/124326.spd-l%C3%A4%C3%9Ft-schie%C3%9Fen.html (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Sohn-Rethel, Alfred: Die soziale Rekonsolidierung des Kapitalismus, in: Deutsche Führerbriefe, Nr. 72 und 73, Berlin 16. und 20.09.1932. <br />
<br />
* Doc: Komintern Dokumente 1918 - 1943. Deutschland Russland. Bd. 3 URL: https://www.degruyter.com/downloadpdf/books/9783110339789/9783110339789.699/9783110339789.699.pdf (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Dimitroff, Georgi: Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale. im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus in: mlwerke, 1935, URL: http://www.mlwerke.de/gd/gd_001.htm (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* DKP: Protokoll des Mannheimer Parteitags der Deutschen Kommunistischen Partei, Mannheim 1978. <br />
<br />
* Engel, Stefan: Der Stimmungsumschwung 2015 und der X. Parteitag der MLPD in: Rote Fahne, 2015, URL: https://www.mlpd.de/2015/kw52/der-stimmungsumschwung-2015-und-der-x-parteitag-der-mlpd (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Fischer, Michael: Horst Mahler. Biographische Studie zu Antisemitismus, Antiamerikanismus und Versuchen deutscher Schuldabwehr, Karlsruhe 2014. <br />
<br />
* Flakin, Wladek: Vergessene KommunistInnen in: Klasse gegen Klasse, 11.09.2015, URL: https://www.klassegegenklasse.org/vergessene-kommunistinnen/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Freyeisen, Bruni/ Schneider, Lilo /Fritsch, Kurt/ Priemer, Rolf /Köbele, Patrick: Aufzeichnungen über die Parteifrage, in: Rolf Priemer/ Heinz Stehr (Hrsg.): 25 Jahre DKP. Eine Geschichte ohne Ende, Essen 1993. <br />
<br />
* Gossweiler, Kurt: Zur Strategie und Taktik der KPD in der Weimarer Republik (geschrieben APRIL BIS JUNI 1957), in: Schriftenreihe der KPD Heft 78 I u. II, 2002. <br />
<br />
* Keller, Mirja/ Kögler, Lena/ Krawinkel, Moritz/ Schlemmermeyer, Jan: Antifa. Geschichte und Organisierung, Stuttgart 2011. <br />
<br />
* Kimmerle, Stephan: Wer war Leo Trotzki? Kämpfer gegen Kapitalismus und Stalinismus in: Sozialismus Info, 2000, Url: https://www.sozialismus.info/sav/wer-war-leo-trotzki/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Koch, Nikolas: Trotzki. Frühe Hinweise in: Marx21, 12.01.2010, URL: https://www.marx21.de/12-01-10-gegen-nazis/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* KommAufbau, Die historische Bolschewisierung, S. 17- 19. URL: <br />
<br />
* Klönne, Arno: Sozialdemokratie - eine Agentur kapitalistischer Interessen? in: Lenk, Kurt, Klönne, Arno/ Rosenbaum, Wolf/ Stuby, Gerhard (Hrsg.): Der bürgerliche Staat der Gegenwart, Hamburg 1972, S.57-86.<br />
<br />
* Kropf, Albert: Von der Republik zum Bürgerkrieg in: Sozialismus Info, 21.08.2006, URL: https://www.sozialismus.info/2006/08/11730/ (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Kühne, Steve: Vor 80 Jahren. Das Kapital bringt Hitler an die Macht in: Sozialismus Info, 13.01.2013, URL: https://www.sozialismus.info/2013/01/vor-80-jahren-das-kapital-bringt-hitler-an-die-macht/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Langer, Bernd: 80 Jahre Antifaschistische Aktion in: Blogsport, Göttingen 2012, URL: http://antifaeu.blogsport.de/images/80J_AA_web.pdf (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Lewerenz, Elfriede: Die Analyse des Faschismus durch die Kommunistische Internationale, Berlin 1975.<br />
<br />
* MLPD: Sozialfaschismus, in: Fremdwörter und Begriffserklärungen, Essen 2000, S. 94. <br />
<br />
* MLPD: Türkei. Erdogan-Gegner schließen sich zusammen in: MLPD, 2016, URL: https://www.mlpd.de/2016/kw33/tuerkei-erdogan-gegner-schliessen-sich-zusammen (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* MLPD: Vor 30 Jahren: Errichtung der sozialfaschistischen Diktatur in Polen in: MLPD, 2011, URL: https://www.mlpd.de/2011/kw50/vor-30-jahren-errichtung-der-sozialfaschistischen-diktatur-in-polen (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* MLPD: Wie und warum die Herrschenden die Geschichte fälschen in: MLPD, 2013, URL: https://www.mlpd.de/2013/kw04/wie-und-warum-die-herrschenden-die-geschichte-faelschen (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Oltmann, Joachim: Das Paradepferd der Totalitarismustheorie. Der Streik der Berliner Verkehrsarbeiter im November 1932, in: horizont - Sozialistische Wochenzeitung der DDR für internationale Politik und Wirtschaft, 1982 Berlin. <br />
<br />
* Pjatnitzki, Ossip A.: Die faschistische Diktatur in Deutschland, Broschüre, 1934. <br />
<br />
* Plato, Alexander von: Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik, Berlin 1973. <br />
<br />
* Priemer, Rolf/ Stehr, Heinz (Hrsg.): 25 Jahre DKP. Eine Geschichte ohne Ende, Essen 1993. <br />
<br />
* Schleifstein, Josef: Die „Sozialfaschismus“-These: Zu ihrem geschichtlichen Hintergrund in: DKP, Essen 1980, URL: http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2015/07/die-sozialfaschismus-these/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Schmierer, Joscha: Sozialfaschismusthese und politische Programmatik der KPD 1928-33 (Sept. 1975) Materialien zur Analyse von Opposition digitalisiert von Jürgen Schröder in: Mao-Projekt, Berlin 21.9.2016, URL: https://www.mao-projekt.de/BRD/ORG/KBW/KBW_1975_Sozialfaschismus.shtml (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Stalin, Josef: Zur internationalen Lage, in: J.W. Stalin Werke Bd. 6, S. 251–269. <br />
<br />
* Stanicic, Sascha: Welcher Weg zum Sozialismus? Eine kritische Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis von Linksruck, Berlin 2001. <br />
<br />
* Steffen, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971-1991 in: Archiv Uni Marburg, 2002, URL: http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2002/0060/pdf/dsm.pdf (zletzter Zugriff: 02.01.2018).<br />
<br />
* Stoodt, Hans Christoph: Volksfront, breites Bündnis, Antimonopolistische Demokratie, 2017. URL: http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2017/03/volksfront-breites-buendnis-antimonopolistische-demokratie/ (27.12.2018). <br />
<br />
* Trotzki, Leo: Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland in: mlwerke, 1930, URL: http://www.mlwerke.de/tr/1930/300926a.htm (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Trotzki, Leo: Vor der Entscheidung in: Sozialistische Klassiker 2.0, 1933, URL: https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1933/leo-trotzki-vor-der-entscheidung (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Grundannahmen_Faschismus&diff=6045Grundannahmen Faschismus2019-04-10T10:02:23Z<p>Dio: </p>
<hr />
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<br />
__INHALTSVERZEICHNIS_ERZWINGEN__<br />
<br />
== Vorbemerkung ==<br />
Wir haben es bei den Grundannahmen zum Faschismus mit dem „Problem“ zu tun, dass Faschismus begrifflich nicht bei den Klassikern auftaucht. Wir haben deswegen zum Einen solche Belegstellen aufgeführt, die das Verhältnis von Imperialismus und Reaktion aufzeigen, zum anderen haben wir Aussagen von Lenin über die Schwarzhundertschaften und den Terror der politischen Reaktion gegen die Russische Revolution 1905 aufgenommen. Die Schwarzhundertschaften weisen viele Merkmale auf, die wir von späteren faschistischen Bewegungen kennen, sowohl was die Wahl ihrer Mittel als auch ihre Ideologie angeht. Man könnte sie auch als „präfaschistische“ Bewegung bezeichnen. Besonders stellte Lenin ihr Verhältnis zur herrschenden Klasse dar – allerdings sind die Schwarzhunderter unserer Einschätzung nach keine Phäomene des Imperialismus und der Monopolbourgeoisie, sondern sie waren auch gegen die bürgerliche Revolution gerichtet und eng an das Klasseninteresse des Feudaladels und den zaristischen Herrschaftsapparat gebunden.<br />
<br />
Wir haben uns bewusst dazu entschieden, die Faschismus-Debatte und die grundlegenden Positionen der Kommunistischen Internationale (KI) nicht in die Grundannahmen aufzunehmen. So ist uns ein kritischer Abgleich der KI-Diskussionen mit den „Klassikern“ möglich. Nichtsdestrotz bilden die Analysen der KI für uns den wichtigsten Bezugspunkt in der Faschismusfrage. Sie werden im Abschnitt „Dissens“ bearbeitet und die Auseinandersetzung mit ihnen wird die Arbeit der AG während des Klärungsprozesses der nächtsen Jahre maßgeblich prägen.<br />
<br />
== Die Tendenz zur Reaktion im Imperialismus ==<br />
<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Imperialismus, Tendenz zur Reaktion <br />
<br />
''' Annahme 1 '''<br />
* Imperialismus ist (politisch) der Drang nach Gewalt und Reaktion<br />
In ''Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus'' (1917) beschrieb Lenin die Entstehung des imperialistischen Weltsystems und entwickelte die grundlegenden ökonomischen und politischen Wesensmerkmale des Imperialismus. In Kapitel VII ''Der Imperialismus als besonderes Stadium des Kapitalismus'' nahm er die verkürzte Imperialismusdefinition von Karl Kautsky auseinander:<br />
{{Zitat|Imperialismus ist Drang nach Annexionen - darauf läuft der politische Teil der Kautskyschen Definition hinaus. Er ist richtig, aber höchst unvollständig, denn politisch ist Imperialismus überhaupt Drang nach Gewalt und Reaktion.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917), in: Bd. 22: Lenin Werke, Berlin/DDR 1971, S. 272-273.}}<br />
<br />
* Zu den politischen Merkmalen des Imperialismus gehört die Reaktion auf ganzer Linie<br />
{{Zitat|Da zu den politischen Besonderheiten des Imperialismus die Reaktion auf der ganzen Linie sowie die Verstärkung der nationalen Unterdrückung in Verbindung mit dem Druck der Finanzoligarchie und mit der Beseitigung der freien Konkurrenz gehören, so tritt mit Beginn des 20. Jahrhunderts in fast allen imperialistischen Ländern eine kleinbürgerlich-demokratische Opposition gegen den Imperialismus auf. Und der Bruch Kautskys und der weitverbreiteten internationalen Strömung des Kautskyanertums mit dem Marxismus besteht gerade darin, daß Kautsky es nicht nur unterlassen, es nicht verstanden hat, dieser kleinbürgerlichen, reformistischen, ökonomisch von Grund aus reaktionären Opposition entgegenzutreten, sondern sich im Gegenteil praktisch mit ihr vereinigt hat.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917), in: Bd. 22: Lenin Werke, Berlin/DDR 1971, S. 292.}}<br />
<br />
== Imperialismus und demokratische Republik ==<br />
<br />
''' Schlagworte '''<br />
<br />
Imperialismus, Republik, Demokratie, Basis, Überbau, Reaktion <br />
<br />
''' Annahme 1 '''<br />
* Politisch ist der Imperialismus gegenüber dem Kapitalismus der freien Konkurrenz die Wendung von Demokratie zu Reaktion<br />
* Der ökonomischen Grundlage des Imperialismus, dem Monopol, entspricht politisch die Reaktion<br />
* Dies trifft sowohl auf die Politik des Imperialismus im Ausland, wie im eigenen Land zu <br />
* Imperialismus bedeutet “Negation” der Demokratie<br />
In seinem Artikel ''Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus' '' (1916) kritisierte Lenin die dem Marxismus feindliche Position der gegen die Partei auftretenden Gruppe Bucharin-Pjatakow und entwickelte gemäß den neuen historischen Verhältnissen das bolschewistische Programm zur nationalen Frage. Im folgenden Abschnitt beschrieb er den politischen Überbau, der sich aus der ökonomischen Basis des Imperialismus ergibt:<br />
{{Zitat|Ökonomisch ist der Imperialismus […] eine Stufe [des Kapitalismus], auf der die Produktion so sehr Groß- und Größtproduktion geworden ist, daß die freie Konkurrenz vom Monopol abgelöst wird. Das ist das ökonomische Wesen des Imperialismus. […] <br /> <br />Der politische Überbau über der neuen Ökonomik, über dem monopolistischen Kapitalismus (Imperialismus ist monopolistischer Kapitalismus) ist die Wendung von der Demokratie zur politischen Reaktion. Der freien Konkurrenz entspricht die Demokratie. Dem Monopol entspricht die politische Reaktion. „Das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft", sagt Rudolf Hilferding völlig richtig in seinem „Finanzkapital". <br /> <br />Die „Außenpolitik" von der Politik schlechthin zu trennen oder gar die Außenpolitik der Innenpolitik entgegenzustellen ist grundfalsch, unmarxistisch, unwissenschaftlich. Sowohl in der Außenpolitik wie auch gleicherweise in der Innenpolitik strebt der Imperialismus zur Verletzung der Demokratie, zur Reaktion. In diesem Sinne ist unbestreitbar, daß der Imperialismus „Negation" der Demokratie überhaupt, der ganzen Demokratie ist, keineswegs aber nur einer demokratischen Forderung, nämlich der Selbstbestimmung der Nationen.|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus" (1924), in: Bd. 23: Lenin Werke, Berlin/DDR 1975, S. 34.}}<br />
<br />
<br />
''' Annahme 2 '''<br />
* Die Republik ist eine der möglichen Formen des politischen Überbaus der kapitalistischen Gesellschaft <br />
* Sie ist auch im Kapitalismus die demokratischste Form des Überbaus<br />
* Aber: Es besteht ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen dem ökonomischen Inhalt des Imperialismus und der politischen Form der Demokratie<br />
* Die demokratische Republik muss ihre ökonomische Grundlage, also ihren Klassencharakter und Eigentumsverhältnisse verleugnen und “Gleichheit zwischen Armen und Reichen” proklamieren. Sie widerspricht also dem Kapitalismus<br />
* Dieser Widerspruch verschärft sich durch den Imperialismus, durch die Ersetzung der freien Konkurrenz durch das Monopol<br />
{{Zitat|Die Republik ist eine der möglichen Formen des politischen Überbaus der kapitalistischen Gesellschaft, und zwar unter den modernen Verhältnissen die demokratischste Form. (…) Weiter. Welcher Art ist der Widerspruch zwischen Imperialismus und Demokratie? Es ist die Frage nach der Beziehung der Ökonomik zur Politik; nach der Beziehung der ökonomischen Verhältnisse und des ökonomischen Inhalts des Imperialismus zu einer der politischen Formen. […] Ist dies ein „logischer" Widerspruch zwischen zwei ökonomischen (1)? oder zwischen zwei politischen Erscheinungen bzw. Thesen (2)? oder zwischen einer ökonomischen und einer politischen Erscheinung bzw. These (3)? <br /> <br /> Denn das ist das Kernproblem, wenn die Frage der ökonomischen Unrealisierbarkeit oder Realisierbarkeit bei Existenz der einen oder der anderen politischen Form aufgeworfen wird! <br /> Hätte P . Kijewski diesen Kern nicht umgangen, so hätte er wahrscheinlich gesehen, daß der Widerspruch zwischen Imperialismus und Republik ein Widerspruch zwischen der Ökonomik des neuesten Kapitalismus (nämlich des monopolistischen Kapitalismus) und der politischen Demokratie schlechthin ist. Denn niemals wird P. Kijewski beweisen können, daß irgendeine bedeutende und grundlegende demokratische Maßnahme (Wahl der Beamten oder Offiziere durch das Volk, vollste Koalitions- and Versammlungsfreiheit u. dgl.) dem Imperialismus weniger widerspricht [...] als die Republik. <br /> Wir kommen auf diese Weise zu eben der Feststellung, die wir in den Thesen betonten: Der Imperialismus widerspricht, widerspricht „logisch" der ganzen politischen Demokratie schlechthin. <br /> <br /> Weiter. Warum paßt die Republik dem Imperialismus nicht in den Kram? Und wie „vereinbart" der Imperialismus seine Ökonomik mit der Republik? […] Also gerade um die Frage der „Antinomie" zwischen Ökonomik und Politik. Engels antwortet: ,... die demokratische Republik weiß offiziell nichts mehr von Besitzunterschieden' (zwischen den Bürgern). ,In ihr übt der Reichtum seine Macht indirekt, aber um so sichrer aus. Einerseits in der Form der direkten Beamtenkorruption, wofür Amerika klassisches Muster, andrerseits in der Form der Allianz von Regierung und Börse …'[…].Die demokratische Republik widerspricht [...] dem Kapitalismus, da sie „offiziell" den Reichen und den Armen gleichsetzt. Das ist ein Widerspruch zwischen der ökonomischen Basis und dem politischen Überbau. Zum Imperialismus steht die Republik im gleichen Widerspruch, vertieft und vervielfacht dadurch, daß die Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol die Realisierung der verschiedenen politischen Freiheiten noch mehr „erschwert".|<br />
Lenin, Wladimir Iljitsch: Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus" (1924), in: Bd. 23: Lenin Werke, Berlin/DDR 1975, S. 37-38.}}<br />
<br />
==Lenin über die Schwarzhundertschaften==<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Grundannahmen]]<br />
[[Kategorie: Grundannahme AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Die_Diskussion_in_der_KomIntern_%C3%BCber_Faschismus_und_Sozialdemokratie&diff=5964Die Diskussion in der KomIntern über Faschismus und Sozialdemokratie2019-03-18T16:00:39Z<p>Dio: </p>
<hr />
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<br />
== Überblick ==<br />
<br />
== Die Entwicklung der Faschismusbestimmung in der Kommunistischen Internationale ==<br />
<br />
Diese Seite befindet sich in Arbeit.<br />
<br />
== Welche Positionen gibt es? Wer vertritt sie? ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
<br />
== Abgleich mit den Grundannahmen ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
<br />
== Welche Arbeitsschritte schließen sich an?==<br />
<br />
Dokumente der Kommunistischen Internationale (KI) durchsehen; Diskussionen über den Faschismus und über Sozialdemokratie systematisieren und auswerten.<br />
<br />
== Bezug zu den Programmatischen Thesen ==<br />
Siehe hierzu den Abschnitt [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#5_Faschismus_und_Antifaschismus zum Faschismus und Antifaschismus] in den ''Programmatischen Thesen''.<br />
<br />
Bezüglich der Diskussion in der KomIntern schreiben wir:<br />
{{Zitat|Die Analyse der Kommunistischen Internationale, die den Faschismus als Diktatur des Finanzkapitals erkannte und das Kapital als Kraft hinter faschistischen Bewegungen und Parteien benannte, hat nichts an ihrer Richtigkeit verloren. Im Gegenteil: Sie wurde und wird bis heute durch Erfahrung bestätigt. Diese Bestimmung des Faschismus sollte allerdings nicht so verstanden werden, dass damit im Faschismus das nicht-monopolistische Kapital völlig von der Herrschaft im Staat ausgeschlossen wäre. Auch die Formulierung der Komintern, wonach der Faschismus lediglich die Diktatur der am meisten reaktionären Teile des Finanzkapitals sei, muss in diesem Sinne hinterfragt werden. Daraus wurden in der Geschichte der kommunistischen Bewegung problematische Vorstellungen über Bündnisse bis hinein in Teile der Monopolbourgeoisie abgeleitet.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S. 11.}}<br />
<br />
== Literatur zum Thema ==<br />
*Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED; Lewerenz, Elfriede (Hrsg.): VII. Kongress der Kommunistischen Internationale. Referate und Resolutionen, Berlin 1975. <br />
<br />
*Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED; Mammach, Klaus (Hrsg.): Die Berner Konferenz der KPD. 30. Januar – 1. Februar 1939, Berlin 1974. <br />
<br />
*Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED; Mammach, Klaus (Hrsg.): Die Brüsseler Konferenz der KPD. 3.- 15. Oktober 1935, Berlin 1975.<br />
<br />
*Lewerenz, Elfriede: Zur Bestimmung des imperialistischen Wesens des Faschismus durch die Kommunistische Internationale (1922 bis 1935), in: Kurt Gossweiler, Dietrich Eichholtz (Hrsg.): Faschismusforschung, Köln 1980.<br />
<br />
*Schleifstein, Josef: Die Sozialfaschismus-These, Frankfurt a. M. 1980, URL:http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2015/07/die-sozialfaschismus-these (letzter Zugriff 28.12.2018).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Staatsmonopolistischer_Kapitalismus&diff=5963Staatsmonopolistischer Kapitalismus2019-03-18T09:12:14Z<p>Dio: </p>
<hr />
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<br />
Die meisten Varianten der Strategie der Übergänge, insbesondere die [[„Antimonopolistische_Demokratie“_(DKP)|antimonopolistische Strategie]] der DKP, beziehen sich auf die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (Stamokap-Theorie). In unseren ''Programmatischen Thesen'' schreiben wir dazu:<br />
{{Zitat|Wir wollen uns mit der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus auseinandersetzen und kritisch herausarbeiten, welche Inhalte und welche Interpretationen dieser Theorie der Realität entsprechen. Dabei werden u.a. folgende Fragen eine Rolle spielen: Auf welche Weise zeigt sich konkret die besondere Rolle des Monopolkapitals im Verhältnis zum Staat? Welche Interpretationen der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus haben die Entstehung der falschen Strategie der „antimonopolistischen Übergänge“ in der kommunistischen Bewegung begünstigt?|<br />
Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, 2018, S.8.}}<br />
<br />
Daran schließen sich weitere Fragen an: <br />
<br />
* Was sind die konkreten Formen der „Verflechtung“ zwischen Staat und Monopolen im Imperialismus? Wie verändert sich dadurch der Charakter des bürgerlichen Staats (z.B. im Vergleich zur Phase der freien Konkurrenz)?<br />
<br />
* Bleibt der Staat auch im staatsmonopolistischen Kapitalismus [[Grundannahmen_Staat#Der_b.C3.BCrgerliche_Staat_als_.E2.80.9Eideeller_Gesamtkapitalist.E2.80.9C|ideeller Gesamtkapitalist]], der das langfristige Interesse der Gesamtbourgeoisie durchsetzt, oder fungiert er mehr und mehr als Instrument der Monopolbourgeoisie, die ihre Partikularinteressen nun mit Hilfe des Staats gegen die nicht-monopolistische Bourgeoisie durchsetzt?<br />
<br />
* Über welche konkreten Mechanismen der Integration verfügt der Staat im Stamokap? Wie organisiert er die Bourgeoisie als herrschende Klasse und wie gelingt ihm die Integration und Niederhaltung der Arbeiterklasse? Welche Mechanismen hat der BRD-Staat seit 1945 konkret herausgebildet und eingesetzt.<br />
<br />
* Daran anschließend die Frage: Entsteht im Monopolkapitalismus ein neuer Interessengegensatz zwischen Monopolkapital und nicht-monopolistischen Kapitalisten, der ein strategisches Bündnis der Arbeiterklasse mit der kleinen und mittleren Bourgeoisie möglich macht? <br />
<br />
==Aufgaben==<br />
<br />
* Einen Überblick über die marxistische Literatur und Debatte zur Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus erarbeiten. Gibt es verschiedenen Strömungen und Varianten innerhalb der Stamokap-Theorie? Wie lassen sich diese voneinander abgrenzen? Wie müssen sie jeweils eingeschätzt werden?<br />
<br />
* Klären: Welche Schlussfolgerungen wurden aus der Stamokap-Theorie mit Blick auf den Charakter des bürgerlichen Staats und die Strategie der Kommunisten gezogen?<br />
<br />
==AG-Überschneidungen==<br />
<br />
* Die Fragen zur Stamokap-Theorie müssen in enger Zusammenarbeit mit der [[AG_Politische_Ökonomie_des_Imperialismus|AG Politische Ökonomie des Imperialismus]] und der [[AG_Revolutionäre_Arbeiterbewegung_und_Kommunistische_Partei|AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei]] bearbeitet werden. Hier der Link zum Dissens [[Monopole_und_Staat#Staatsmonopolistischer_Kapitalismus|Staatsmonopolistischer Kapitalismus]] der AG Politische Ökonomie des Imperialismus.<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Offene Fragen]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=B%C3%BCrgerliche_Faschismustheorien&diff=5962Bürgerliche Faschismustheorien2019-03-18T08:49:28Z<p>Dio: /* Was steht dazu in den Programmatischen Thesen */</p>
<hr />
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<br />
<br />
== Worum geht es ==<br />
Wir stehen vor einer Fülle an bürgerlicher Faschismusforschung. Dabei werden verschiedenste Ansätze - ideengeschichtliche, sozialpsychologische<ref>Vgl. Westphal, Reinhard: Psychologische Theorien über den Faschismus, in: Das Argument 32, 1965.</ref>, strukturalistische etc.<ref>G. Lozek / R. Richter, Zur Auseinandersetzung mit vorherrschenden bürgerlichen Faschismustheorien, in: D. Eichholtz / K. Gossweiler (Hrsg.), Faschismus Forschung, Pahl-Rugenstein Verlag 1980, S. 418 -451, S. 417.</ref> - verfolgt. Die bürgerliche Forschung über den Faschismus wird in verschiedenen Disziplinen betrieben: in der Geschichtswisenschaft, in den Politikwissenschaften, der Psychologie, der Ökonomie und Anderen. <br />
<br />
Ein Hoch erlebte die akademische Faschismusforschung in den 1960er und 1970er Jahren. Damals gab es viele Arbeiten, die eine umfassende Faschismusbestimmung zum Ziel hatten. Aktuell entstehen vorwiegend eher Arbeiten zu einzelnen Phänomen wie einzelnen Gruppierungen der sogenannten Neuen Rechten, außerdem unzählige Detailstudien über den historischen deutschen Faschismus und Faschismus in anderen Ländern. Die politische Bandbreite der verschiedenen Theorien reicht von reaktionären, chauvinistischen bis hin zu links-bürgerlichen und sogenannten ''kritischen'' Ansätzen. Die verschiedenen Faschismuskonzeptionen beziehen sich sowohl auf den historischen Faschismus als auch auf Phänomene und Bewegungen nach 1945. Auch unter den Vertretern der bürgerlichen Faschismustheorien gab es zeitweise heftige Auseinandersetzungen, wie z.B. im sogenannten ''Historikerstreik'' (Habermas, Nolte). In jüngster Vergangenheit gibt es den zunehmenden Versuch den Faschismusbegriff von rechter Seite aufzugreifen, ihn antikommunistisch zu wenden und ihn so vollends auszuhöhlen. Dies geschieht zum Beispiel bei Pegida-Protesten oder durch die AfD. Gegendemonstranten und Antifaschisten werden als ''Faschisten'' difamiert. Oder rechte Hetzer verschleiern ihren antimuslimischen Rassismus als Kampf gegen den ''Islamfaschismus''. <br />
<br />
Die DDR-Faschismusforschung hat jahrzehntelang wichtige Auseinandersetzungen mit den bürgerlichen Wissenschaften geführt. Es ging hier nie nur um historische Abläufe, sondern im Kern um den inneren Zusammenhang zwischen [[AG_Deutscher_Imperialismus|Imperialismus]] und [[Grundannahmen_Faschismus|Faschismus]]. Die Auseinandersetzung um den Faschismusbegriff gehörte damals zu den wichtigsten Feldern im ideologischen Klassenkampf zwischen Sozialismus und Imperialismus. Nicht zuletzt, weil die Legitimationsideologie der BRD maßgeblich auf der oberflächlichen Abgrenzung vom Faschismus beruhte, während es im westdeutschen Staatsapparat gleichzeitig massive personelle, institutionelle und ideologische Kontinuitäten gab und die ökonomische Basis der Gesellschaft, die den Faschismus hervorgebracht hatte, nach wie vor intakt war. <br />
<br />
Auch antifaschistische Wissenschaftler in der BRD haben sich entschieden den bürgerlichen Versuchen einer Revision und Relativierung des Faschismus und der Schuld des deutschen Imperialismus entgegengestellt. Zu nennen sind hier stellvertretend Reinhard Opitz, Wolfgang Abendroth und die ''Marburger Schule''. <br />
<br />
Die Auseinandersetzung mit den bürgerlichen Faschismustheorien hat immer noch große Bedeutung für uns: Für die Herstellung von Klassenbewusstsein, für unseren antifaschistischen Kampf – denn diese bürgerlichen Faschismustheorien sind es, die in der Arbeiterklasse tagtäglich durch das Bildungssystem und die Medien verbreitet werden. Sie führen zu vielen falschen Vorstellungen über die Geschichte Deutschlands und über den deutschen Staat, zu einer Verschleierung der wirklichen Verantwortlichen für die Gräuel des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges. Falsche Faschismuserklärungen sind aber auch eines der wichtigsten Instrumente der Herrschenden zur Verschleierung der Gesetzmäßigkeiten der Geschichte: Geschichte wird so unerklärlich, als Ergebnis der Taten ''großer'' oder eben ''teuflischer'' Männer. Das revolutionäre Potenzial und die Macht der kämpfenden Massen wird verschleiert. Apathie, Zynismus und falsche Identifikationsmomente sind die Folgen. Der Kampf um die richtige Faschismustheorie ist auch der Kampf für die Wiederaneignung des Kampfes der Arbeiterbewegung und damit seiner heroischen Kämpfer und Vorbilder. <br />
<br />
Die Beschäftigung mit und das Erkennen von bürgerlichen Vorstellungen ist aber auch der einzige Weg, den Opportunismus in der kommunistische Bewegung zu erkennen und zu überwinden. Denn die Debatten in der Kommunistischen Weltbewegung finden nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum statt, sondern inmitten der ideologischen Hegemonie des Klassengegners. Letztendlich sind alle falschen Vorstellungen Möglichkeiten des Eindringens bürgerlicher Ideologien in die Arbeiterbewegung. Auf der anderen Seite verarbeiteten auch bürgerliche Theorien Versatzstücke an sozialistischen und marxistischen Erkenntnissen. Dies macht es oft noch schwerer, ihren bürgerlichen Kern zu entdecken. <br />
<br />
=== Welche Positionen & Thesen gibt es ===<br />
{{Zitat|Im engeren Sinne wird die bürgerliche Faschismusgeschichtsschreibung von zwei Zielstellungen bestimmt: Erstens das kapitalistische System vom Schandmal des Faschismus reinzuwaschen, d.h. faschistische Bewegungen und vor allem faschistische Herrschaftsformen als etwas der ‚westlichen‘, der ‚demokratisch-pluralistischen Gesellschaft‘ Wesensfremdes hinzustellen; zweitens zugleich die faschistischen Bewegungen, Herrschaftsformen und -methoden auf ihre Brauchbarkeit für die Stabilisierung des kapitalistischen Systems nach innen sowie für sein expansives Vorgehen nach außen zu untersuchen.<ref>Ebd. S.418</ref>|}}<br />
<br />
Zwei Grundlinien der bürgerlichen Faschismuskonzeptionen lassen sich grob voneinander abgrenzen: <br />
<br />
1.) offen reaktionär-rehabilitionistische, oft auch sehr antikomplexe und vereinfachende, reduktionistische Theorien, hierzu zählen z.B. die Führertheorie und die Totalitarismusdoktrin. Spätestens ab den 1970ern waren deren Vertreter offen antikommunistisch. <br />
<br />
2.) Versuche der komplexeren Erfassungen des Faschismus, die allerdings mit Fehlannahmen arbeiteten und letztendlich objektiv auch Relativierungen der marxistischen Faschismustheorien bedeuteten. Diese Konzeptionen berücksichtigen oft soziale und ökonomische Faktoren, entstanden auch aus der Tatsache heraus, dass die Ergebnisse der Diskussionen in der Kommunistischen Internationalen und der marxistisch-leninistischen Forschung nicht mehr ignoriert werden konnten. <br />
<br />
Die bürgerliche Faschismusforschung erweist sich seit ihren Anfängen als unfähig, das Wesen des Faschismus richtig zu fassen. Da ihnen ein historisch-materialistisches Geschichtsverständnis fehlt, sind sie unfähig, den Faschismus (Überbau) als Phänomen des Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium (Basis) zu begreifen.<ref>Vgl. ebd. S. 420</ref><br />
<br />
=== Kurzer Historischer Abriss ===<br />
In den 1920er und 1930er Jahre begriffen viele den Faschismus als ausschließlich italienisches Phänomen. Während eine solche Auffassung zu diesem Zeitpunkt verständlich war, wurde sie nach dem Krieg in problematischer Weise von Theoretikern wie Renzo de Felice aufgegriffen, der für einen Faschismusbegriff argumentiert, der auf Mussolinis Herrschaft beschränkt ist. <br />
<br />
In den Jahren zwischen 1933-45 zeichneten sich die Arbeiten zum Faschismus durch eine Konzentration auf Deutschland aus. Viele Arbeiten über den Faschismus entstanden in der Emigration, darunter die von Arthur Rosenberg, Max Horkheimer und Otto Bauer. In eine andere Richtung ging die ''Totalitarismustheorie'', die in den USA entstand.<ref>Vgl. ebd. S.420f</ref> Diese erklärte den Faschismus als ''totalitäre'' Herrschaft, der sie die bürgerliche Demokratie gegenüberstellten. Die Beschreibung als ''totalitär'' wurde zugleich auf die marxistisch-leninistische Partei und die Sowjetunion ausgeweitet. Sie gewann in der Nachkriegszeit weiter an Bedeutung und wurde im Zug des Kalten Krieges weiterentwickelt. Die Gleichsetzung der Sowjetunion und des ''Nationalsozialismus'' als ''totalitäre'' Regime entsprachen perfekt dem Ideologiebedarf des US-Imperialismus. Wichtige Vertreter dieses Ansatzes waren Carl J. Friedrich und Hannah Arendt. Letztere wird auch in linken Kreisen zum Teil wohlwollend gelesen. Bis heute ist die Totalitarismustheorie eine wichtige imperialistische Propagandadoktrin, die sich in verschiedenen Abwandlungen (''Hufeisentheorie, Extremismustheorie'') in Schulbüchern, beim Verfassungsschutz und als Ideologie der bürgerlichen Parteien findet. <br />
<br />
In der BRD-Historiographie dominierten bald nach Kriegsende Versuche, den Faschismus zu mystifizieren, in dem Hitler zum Alleinschuldigen erklärt wurde, der das deutsche Volk verführt habe (Joachim Fest u.a.). Diese ''Führertheorie'' (''Hitlerismus'') löste für die deutsche Nachkriegsgesellschaft unbequeme Fragen und diente der Entschuldigung des deutschen Kapitals und der deutschen Eliten, die nun wieder die führenden Positionen im BRD-Staat besetzen konnten. Bis heute ist die ''Führertheorie'' in Deutschland weit verbreitet, nicht nur in populärwissenschaftlichen Dokumentation, die massenmedial weite Verbreitung finden, sondern auch im bundesdeutschen Schulunterricht und in der Unterhaltungsliteratur (z.B. der Bestseller ''Er ist wieder da''). <br />
<br />
Doch die bürgerliche Wissenschaft konnte die Ergebnisse und Überlegenheit der marxistischen Forschung nicht komplett ignorieren. Ab den 1960ern entwickelten sich in der bürgerlichen Wissenschaft zunehmend komplexere Theorien, wozu außerdem die veränderte politische Situation beitrug. Der Zusammenhang zwischen Faschismus und Imperialismus konnte nicht mehr vollständig verschleiert werden – zumindest die Rolle der Industriemonopole musste erklärt werden. Hier zu nennen sind beispielsweise strukturalistische Ansätze, wie der von Wolfgang Schieder oder verschiedene Varianten einer ''Modernisierungstheorie'' (Dahrendorf, Mommsen). Letztere besagt, der Faschismus sei eine mögliche Stufe auf der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften gewesen und dreht sich um die Frage, ob der Faschismus – der sonst häufig als ''antimodern'' charakterisiert wurde – nicht einen „Stoß in die Modernität”<ref>Ebd. S.428</ref> zur Folge hatte. Diese Theorien sind zum einen Zugeständnisse der westdeutschen Historiografie an die marxistisch-leninistische Forschung, da sie mit sozialen und ökonomischen Faktoren operieren. Auf der anderen Seite führten sie durch ihren Einfluss in antifaschistischen Kreisen auch zu Desorientierung und Verwässerung, da sie z.B. die konkrete Kritik des Imperialismus durch eine allgemeine Zivilisationskritik ersetzten. <br />
<br />
In den 1970ern und frühen 1980ern gewannen folgende Modelle (wieder) an Bedeutung: Das sogenannte ''Gruppenmodell'' (Neumann, Schweitzer), welches von einer Machtteilung zwischen den verschiedenen Gruppen im Faschismus (Partei, Armee, Bürokratie und Industrie) ausgeht.<ref>Vgl. ebd. S.430</ref> Auch Varianten der auf Thalheimer zurückgehenden [[Faschismus_und_Bonapartismus|Bonapartismustheorie]] galten nun zunehmend als marxistische Theorien, die der ''sowjet-treuen'' Forschung entgegengestellt wurden. Außerdem wurde in Auseinandersetzung sozialdemokratischer Wissenschaftler mit Lenins Imperialismustheorie das Konzept des [[Der_Platz_des_Imperialismus_in_der_Geschichte#Zur_Theorie|organisierten Kapitalismus]] in Anlehnung an das Kapitalismusmodell von Max Weber, entwickelt und mit der Faschismusfrage verbunden.<ref>Vgl. ebd. S.433</ref> “Faschistische Diktaturen figurieren in dieser Lesart als Hilfsmittel, um in hochentwickelten kapitalistischen Ländern Konzentrations- und Zentralisationstendenzen in der Ökonomie zu verstärken und dabei zugleich die Massen zu disziplinieren.”<ref>Vgl. ebd. S.434</ref> <br />
<br />
Einen weiteren Zweig der bürgerlichen Faschismusforschung bildet das Bestreben, den Volksmassen die Schuld am Faschismus zuzuschieben. Diese Bestrebung finden ihren Ausdruck in der Behauptung, der Faschismus sei aus dem Nationalismus von unten, sogar als ''nationalistischer'' Klassenkampf an die Macht gekommen.<ref>Vgl. ebd. S.440</ref> Nach Ende des Krieges gewannen außerhalb Deutschlands Deutungen an Einfluss, die den Faschismus als „deutschen Sonderweg“, als „nationalistische Volksbewegung” begriffen, die im „deutschen Wesen“ angelegt sei.<ref>Ebd. S.422</ref> Daraus wurde die ''Kollektivschuldthese'' und die These der ''nationalen Singularität'' abgeleitet. Diese Thesen gehen davon aus, dass nicht etwa die Monopolbourgeoisie oder andere gesellschaftliche Eliten die faschistische Bewegung aufgebaut und an die Macht gebracht hätten. Sondern die fanatisierten Massen, allen voran die Arbeiterklasse, hätten den Faschismus und dessen Verbrechen zu verantworten. Entsprechende Kampagnen wurden zum Beispiel von der ''Psychological Warfare Division'' der allierten Streitkräfte kreiert, bei der in Deutschland Plakate mit Bildern aus den KZs mit Aufschriften wie ''Diese Schandtaten: Eure Schuld'' aufgehängt wurden. Ähnliche Richtungen, die sich vor allem auf die empirische Erforschung sozialer Bewegungen und deren Zusammensetzung konzentrieren, erklären den Faschismus aus der sozialen und politischen Situation einzelner Gruppen, meist dem städtischen Kleinbürgertum, als eigenständige Bewegung dieser Schichten (''Mittelstandsthese''). Außerdem wird die Selbstdarstellung der NSDAP übernommen und diese als eine wahrhafte ''Volkspartei'' gedeutet, in welcher verschiedene soziale Gruppen ihre Interessen gewahrt sahen. Noch verfälschender und antikommunistisch motiviert, sind solche Ansätze, die eine ''wesensbedingte Affinität'' zwischen Arbeiterklasse und Faschismus zu finden suchen. Solche Versuche, wie von Karl Dietrich Bracher, übernehmen die demagogische Selbstbezeichnung der Faschisten als ''sozialistisch'' und ''Arbeiterpartei''. Um mehr Differenziertheit bemüht sind Anschauungen, die eine militaristische und reaktionäre deutsche Denk- und Wesenstradition als ursächlich für den deutschen imperialistischen Expansionismus und die faschistische Diktatur ausmachen. Das demokratische Erbe Deutschlands wird dabei negiert und im Extremfall ein völkerpsychologisch-biologistisches Bild eines deutschen Wesens gezeichnet. Aber auch Vorstellungen wie der Faschismus als Verwirklichung des deutschen Nationalgedanken sind nach wie vor verbreitet. <br />
<br />
Zum Schluss sind noch subjektivistische Theorien zu nennen, die bis heute großen Einfluss haben. Ihr Geschichtsverständnis ist durch eine Verabsolutierung und Überbetonung des subjektiven Faktors gekennzeichnet. Am krassesten zeigt sich diese Psychologisierung in der Fülle an ''Hitler-Darstellungen''.<br />
<br />
=== Zusammenfassung ===<br />
Trotz ihrer großen Unterschiede und teilweise entgegengesetzen politischen Grundannahmen vereint die bürgerlichen Faschismuskonzeptionen allesamt die Ablehnung der marxistisch-leninistischen Faschismustheorie. Es sind hauptsächlich drei Vorwürfe, die sie der marxistisch-leninistischen Forschnung machen: 1.) Sie stünde in Widerspruch & Diskrepanz zu empirischer historischer Forschung. 2.)Dogmatismus: Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Faschismus 3.) Die sozialistische Faschismusforschung betreibe eine unzulässige Übertragung der Erfahrungen des deutschen Faschismus auf andere Länder und Bewegungen.<ref>Vgl. ebd. S. 447</ref><br />
<br />
== Bezug zu den Grundannahmen ==<br />
<br />
Ist in Arbeit.<br />
<br />
== Was steht dazu in den Programmatischen Thesen ==<br />
Siehe hierzu die Abschnitte zum [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#4_Der_Imperialismus Imperialismus], zum [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#5_Faschismus_und_Antifaschismus Faschismus und Antifaschismus] und zum [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#12_Der_Kampf_gegen_Opportunismus_und_Revisionismus Kampf gegen Opportunismus und Revisionismus] in den ''Programmatischen Thesen''.<br />
<br />
Unsere weltanschauliche Grundlage ist der wissenschaftliche Sozialismus. Deshalb halten wir auch in den ''Programmatischen Thesen'' fest:<br />
{{Zitat|Wenn wir die Gesellschaft verändern wollen, müssen wir diese verstehen. Das können wir nur mit einer wissenschaftlichen Herangehensweise. Eine solche Herangehensweise zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht bei der Betrachtung von Erscheinungen stehen bleibt, sondern diese auf der Grundlage der ihnen innewohnenden Gesetzmäßigkeiten untersucht.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.4.}}<br />
<br />
Zum Zusammenhang von Imperialismus und Faschismus äußern wir uns folgendermaßen:<br />
{{Zitat|Der heutige Kapitalismus ist imperialistischer Kapitalismus. […] Im Imperialismus ist der Drang zum internationalen Kapitalexport enorm erhöht. Weil die territoriale Aufteilung der Welt unter die imperialistischen Staaten und Monopolgruppen abgeschlossen ist, geht das internationale Agieren des Kapitals mit dem ständigen Drang zur Neuaufteilung einher. </br> </br>Das bedeutet Konflikte, Reibereien und schließlich auch Krieg. Der Imperialismus produziert Reaktion nach innen und Aggression nach außen. Imperialismus ist zwar mehr als nur aggressive Außenpolitik und militärische Aggression, aber diese Phänomene sind keine Abweichungen, sondern Wesenseigenschaften des Systems.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.8.}}<br />
{{Zitat|Als eine Gesellschaftsform, die von sich aus zur Reaktion tendiert, beinhaltet der Imperialismus ständig die Möglichkeit des Faschismus.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.11.}}<br />
<br />
In Bezug auf den bürgerlichen Faschismusbegriff schreiben wir:<br />
{{Zitat|Andere Faschismuserklärungen, die den Faschismus beispielsweise als eine Herrschaft von Einzelpersonen oder aber des Kleinbürgertums oder gar der Massen darstellen, sind falsch. Sie tragen zum Verständnis des Faschismus nichts bei und dienen objektiv dazu, die Bourgeoisie und ihren Staat von der Verantwortung für den Faschismus reinzuwaschen oder ihre Rolle zu relativieren.</br> </br> In bürgerlichen, aber auch in marxistischen Kreisen gibt es oft die Tendenz, den Faschismus in der Analyse als Gegenmodell der bürgerlichen Demokratie gegenüberzustellen. Damit ist jedoch eine falsche Vorstellung über die bürgerliche Klassenherrschaft verbunden, die in jedem Fall eine Klassendiktatur ist und entsprechend den Bedürfnissen des Kapitals und den Kräfteverhältnissen im Klassenkampf zwischen offenen und verdeckten Formen der Diktatur wechseln kann. Weder der Faschismus noch die bürgerliche Demokratie dürfen klassenneutral betrachtet werden. </br> </br> Ein weiterer häufiger Fehler besteht darin, relativ wahllos alle als schlecht empfundenen Regierungen, Länder oder Bewegungen als faschistisch zu bezeichnen. Damit wird der Faschismusbegriff ebenfalls von seinem Klasseninhalt getrennt und auf einen moralisierenden Kampfbegriff reduziert.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.11.}}<br />
<br />
{{Zitat|Die illusionäre Vorstellung, der Faschismus sei eine der bürgerlichen Demokratie absolut entgegengesetzte Herrschaftsform, läuft auf die Verteidigung des Kapitalismus in seinen weniger autoritären Varianten hinaus und unterminiert damit letzten Endes auch den antifaschistischen Kampf.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.12.}}<br />
<br />
== Arbeitsschritte ==<br />
1. Ergänzen weiterer zentraler bürgerlicher Faschismustheoretiker. Es fehlen in dieser Überblickstellung u.A. noch: <br />
* Der Faschismus wird mit Methoden der Sozialpsychologie erklärt. Frankfurter Schule - Theorien des autoritären Charakters (Horkheimer, Adorno) - freudianische - sozialpsychologische Ansätze (Und früher: Wilhelm Reich's ''Massenpsychologie''), Erich Fromm's ''Furcht vor der Freiheit''<br />
* Ernst Nolte <br />
* Faschismus als Bündnis <br />
* Zivilsationsbruch <br />
* Poststrukturalistische Ansätze <br />
* Faschismus als „palingenetischer Ultranationalismus“ (Roger Griffin) <br />
* Antideutsche Faschismustheorien (stehen in der Traditionslinie der ''kritischen Theorie''), dabei vor allem Moishe Postone und die diversen Antisemitismus-Theorien. <br />
<br />
2. Generell muss die jüngste Faschismusforschung noch besser erfasst werden. Das betrifft den Zeitraum ab 1989. Welche Auswirkung hatte die Konterrevolution auf die Entwicklung bürgerlicher Faschismustheorie? Welche Theorien sind heute am meisten verbreitet? In welchen Teilen der Arbeiterklasse spielen welche Erklärungsmodelle die größte Rolle? Wie könnte sinnvolle Gegenaufklärung aussehen. Insbesondere solche Theorien die im Massenbewusstsein besonders großen Einfluss haben, sind für uns besonders relevant. Ebenso solche die in linken Kreisen große Verbreitung haben. <br />
<br />
3. Die Literatur aus DDR und BRD, die eine sehr umfassende Auseinandersetzung mit diesen Theorien bereits geleistet hat, muss systematisch erfasst werden und wieder genutzt werden.<br />
<br />
== Literatur / Quellen ==<br />
*Eichholtz, D./Gossweiler, K.: Faschismus Forschung, Köln 1980. <br />
<br />
*Haug, Wolfgang et al: Ideologische Komponenten in den Theorien über den Faschismus, in: Das Argument 33, Hamburg 1965, S.1-34<br />
<br />
*Kühnl, Reinhard: Faschismustheorien und Politik. Die Entwicklung der Faschismusdiskussion in der Bundesrepublik Deutschland, in: Faschismustheorien. Ein Leitfaden, 1990 Distel Verlag. <br />
<br />
*Lozek, G./ Richter R: Zur Auseinandersetzung mit vorherrschenden bürgerlichen Faschismustheorien, in: Eichholtz, D./ Gossweiler, K. (Hrsg.): Faschismus Forschung, Berlin 1980, S. 418 -451.<br />
<br />
*Westphal, Reinhard: Psychologische Theorien über den Faschismus, in: Das Argument 32, Hamburg 1965.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Massenbewegung_als_Faschismuskriterium&diff=5961Massenbewegung als Faschismuskriterium2019-03-17T14:31:15Z<p>Dio: </p>
<hr />
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== Worum geht'? ==<br />
Es geht bei dieser Debatte um die Frage, ob das Vorhandensein einer Massenbewegung ein notwendiges Faschismuskriterium ist. Diejenigen die das Vorhandensein einer Massenbewegung als Voraussetzung sehen, um von einer faschistischen Diktatur zu sprechen argumentieren damit, dass sonst die Abgrenzung von Faschismus zu anderen Formen diktatorischer Herrschaft, wie z.B. einer Militärdiktatur unmöglich sei. Kritiker dieses Abgrenzungsmerkmal sehen gerade darin ein formalistisches Herangehen. Für sie können sowohl offene Diktaturen, welche durch eine Massenbewegung, als auch solche, die durch einen Militärputsch installiert wurden, als “faschistisch” bezeichnet werden.<br />
<br />
== Welche Positionen gibt es? Wer vertritt sie? ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
<br />
== Abgleich mit den Grundannahmen ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
<br />
== Welche Arbeitsschritte schließen sich an? ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
<br />
== Bezug zu den Programmatischen Thesen ==<br />
<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
<br />
== Literatur ==<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Faschismus_als_B%C3%BCndnis_vs._%22Agententheorie%22&diff=5960Faschismus als Bündnis vs. "Agententheorie"2019-03-17T14:29:28Z<p>Dio: /* Bezug zu den Grundannahmen */</p>
<hr />
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<br />
== Überblick ==<br />
Insbesondere der DDR-Forschung zum Faschismus, aber auch bereits der KomIntern-Definition wird unterstellt, sie vertrete eine “Agententheorie”, indem sie Hitler als nichts weiteres als den bezahlten „Agenten“ des Monopolkapitals darstellen würde. Die Kritiker beschreiben deswegen als Gegenmodell den Faschismus als Bündnis verschiedener gesellschaftlicher Gruppen mit Dominanz des Monopolkapitals. Diese Vorstellung wird zum Teil auch unter marxistischen Wissenschaftlern vertreten, auch standen deren Vertreter oft der DDR-Forschung am nächsten und waren an einer Auseinandersetzung mit dieser interessiert. <br />
<br />
=== Geschichte & Positionen ===<br />
In welchem Verhältnis standen faschistische Partei und das deutsche Monopolkapital? Wie ist der Aufstieg der NSDAP zu erklären? Hintergrund der Bündnistheorie bildet die Feststellung auch nicht-marxistischer Wissenschaftler, dass die faschistische Partei nicht gänzlich aus eigener Kraft an die Macht habe kommen können. Sie habe der Unterstützung der „Traditionelle Eliten in Wirtschaft, Staatsapparat und Militär”<ref>Kühnl, Reinhard: Faschismustheorien, Hamburg 1979, S.184.</ref> bedurft (z. B. Mommsen, Winkler, Schoenbaum). Dieses Bündnis ist ein Bündnis auf der Grundlage überschneidender Interessen, hauptsächlich die Niederhaltung der Arbeiterbewegung. Allerdings habe dieses Bündnis nach Ansicht einiger seiner Vertreter nicht lange angehalten, die faschistische Partei habe schnell „ihre Bündnispartner und deren Hoffnungen betrogen und eine schrankenlose Diktatur errichtet […], der die ‚traditionellen Führungsschichten‘ ebenso unterworfen gewesen seien wie die übrige Bevölkerung” <br />
([[Bürgerliche Faschismustheorien |siehe auch bürgerliche Faschismustheorien]]). <ref>Ebd., S.222.</ref> <br />
<br />
Linke westdeutsche Faschismusforscher versuchten dagegen eine Vereinigung der Bündnistheorie mit der marxistischen Faschismusinterpretation aus der Komintern-Tradition. Vor allem zu nennen sind hier Politikwissenschaftler der Marburger Schule, die als marxistisch und ab den 70ern als DKP-nah galt. Paradigmatisch für diese Schule ist die Analyse von Wolfgang Abendroth: <br />
{{Zitat |Die Oligopole hatten jedoch spätestens seit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise einsehen müssen, daß der konjunkturelle Prozeß ohne Mithilfe der öffentlichen Gewalt nicht gesteuert werden konnte, wenn auch eventuell nur in der Weise, daß sie sich formell gemeinsam der quasi schiedsrichterlichen Entscheidung durch die öffentliche Gewalt unterwarfen. Auf dieser Situation beruhte die Wendung zum Faschismus, wie sie 1922 in Italien, 1933 in Deutschland und in Österreich durchgespielt worden ist […] Dadurch wurde es […] möglich, daß diese Parteien und ihre militärischen Verbände in Zusammenarbeit mit der traditionellen Staatsorganisation die Unterdrückungsfunktion der öffentlichen Gewalt gegenüber den Unterklassen generalisierten und extrem verstärkten[…].|Kühnl, Reinhard: Faschismustheorien, Hamburg 1979, S.214.}} <br />
Interessant ist vor allem, dass Abendroth anscheinend für die Zeit vor dem Faschismus von einem Dualismus von Staat, (Para-)Militär und Monopolkapital ausgeht. Erst so kann schließlich ein Bündnis zwischen davor getrennten Gruppen, geschlossen werden. <br />
<br />
Die Auseinandersetzung zwischen DDR-Historiographie und Vertretern der Marburger Schule lässt sich gut anhand der Debatte zwischen Kurt Gossweiler und Reinhard Kühnl nachvollziehen. Während Kurt Gossweiler die These vertritt, die NSDAP hätte ohne die Finanzierung und die Förderung durch das deutsche Monopolkapital ein “Sektendasein” gefristet <ref>vgl. ebd., S.241.</ref>, kritisiert der westdeutsche Historiker Reinhard Kühnl solche Vorstellungen der damaligen DDR-Forschung und auch von DKP-Historikern wie Reinhard Opitz. Eine solche ”Agententheorie” in der Hitler eben nur ein bezahlter Agent des MoKap gewesen sei, käme einer ”Verschwörungstheorie” nahe. Der Masseneinfluss der NSDAP müsse insbesondere durch die Weltwirtschaftskrise und die objektive Lage des Kleinbürgertums erklärt werden, welches es anfällig für faschistische Propaganda gemacht habe und sich ”antibürgerlich” gegeben habe. Er kritisiert stellvertretend für viele linke Westhistoriker die „staatssozialistische“ Forschung dafür, dass sie sozialpsychologischen Faktoren zu wenig Beachtung schenke. Außerdem sei die Verwobenheit zwischen Monopolkapital weniger ”unmittelbar”, sondern eher strukturell-systemisch in ihrer Komplexität zu fassen: <br />
{{Zitat |Die in der Tat bestehende Kausalbeziehung zwischen Kapitalismus und Faschismus wird hier allzu direkt und personalistisch-voluntaristisch aufgefasst, so dass die Nähe zu Verschwörungstheorien nicht zu übersehen ist. Tatsächlich muss diese Verbindung stärker als eine vermittelte und strukturelle gesehen werden. Nicht die direkte Unterstützung des Großkapitals bewirkte den Faschismus, sondern die im kapitalistischen System begründete Wirtschaftskrise trieb die verängstigten Massen, vorab die proletarisierten […] zum Faschismus[…].| Kühnl, Reinhard: Faschismustheorien, Hamburg 1979, S.228.}} <br />
Kühnl betont dagegen den Charakter des Faschismus als den eines Bündnisses zwischen faschistischer Partei, Vertretern des Großkapitals, des Militärs und der obersten Beamtenschicht, welches sich durch gleichartige Ziele und Gegner der Verbündeten auszeichnete.<ref>vgl. ebd., S.209.</ref> <br />
<br />
In einer Antwort auf Kühnl, wirft Gossweiler diesem eine Verkürzung der KI-Definition mit dem Ziel, diese widerlegen zu können, vor. Seine wissenschaftliche Analyse sei letztendlich oberflächlich, da es nicht um die soziale Herkunft des Personals der faschistischen Partei, sondern eine Wesensbestimmung des Faschismus gehe müsse. Kühnl gehe von einer “partiellen Verselbständigung der Exekutive”<ref>Gossweiler, Kurt: Über Wesen und Funktion des Faschismus, Frankfurt am Main 1972, S.14.</ref> aus. Dessen Analyse, dass Konflikte zwischen den verschiedenen Machtgruppen des Kapitals nicht zu regeln waren und sie deswegen eine unabhängige ”Instanz benötigten, die zu verbindlichen Entscheidungen in der Lage war.”<ref>Kühnl zitiert nach ebd., S.14.</ref> laufe auf die gleiche Argumentation wie die unmarxistische Bonapartismustheorie hinaus ([[Faschismus und Bonapartismus |siehe Dissens ”Bonapartismustheorie”]]).<ref>Ebd.</ref> <br />
<br />
Eine ähnliche Stoßrichtung wie Kühnl verfolgt auch Nicos Poulantzas, der seine Ablehnung der „Agententheorie“ mit einer Kritik an der "Sozialfaschismusthese" verbindet. Diese habe sich fatal auf die politische Strategie der Kommunisten in der Weimarer Republik ausgewirkt, da sie die NSDAP lediglich als "besoldete Agenten" des Großkapitals eingeschätzt habe, „[o]bgleich das organisatorische Verhältnis der faschistischen Partei zur Bourgeoisie viel komplexer“ gewesen sei. <ref>Poulantzas, Nicos: Faschismus und Diktatur. Die Kommunistische Internationale und der Faschismus, München 1973, S. 86 zitiert nach Saage, Richard: Faschismus. Konzeptionen und historische Kontexte, Wiesbaden 2007, S.35.</ref><br />
<br />
== Bezug zu den Grundannahmen ==<br />
<br />
Dieser Abschnitt ist in Arbeit.<br />
<br />
== Arbeitsschritte / Klärung des Dissenses ==<br />
<br />
*Untersuchen wo heute die Bündnistheorie in der Linken vertreten wird (VVN & Co.) <br />
<br />
*Weitere Vertreter, auch aktuelle benennen: Wippermann & Co. <br />
<br />
*Verhältnis der “traditionellen Rechten” zu den Faschisten nachvollziehen und historisch aufarbeiten. Sowohl theoretisch als auch historisch-empirisch zu klären ist die Frage nach dem Inhalt des „Klassencharakter“-Begriffs in den Analysen der Komintern. War damit die empirische Klassenzusammensetzung der faschistischen Bewegung, also die jeweilige Klassenzugehörigkeit der in ihr organisierten oder ihn nahestehenden Individuen gemeint? Oder ging es vor allem darum, welche Klasse ihre strategische Ausrichtung besonders beeinflusste und wessen Klasseninteresse sich in ihr letzten Endes durchsetze.<br />
<br />
==Bezug zu den Programmatischen Thesen==<br />
Siehe hierzu die Abschnitte in den ''Programmatischen Thesen'' [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#3_Der_Staat zum Staat] und zum [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#5_Faschismus_und_Antifaschismus Faschismus und Antifaschismus].<br />
<br />
In den ''Programmatischen Thesen'' halten wir fest, dass der Staat keine „unabhängige Instanz“ oder „neutral“ sein kann. Der bürgerliche Staat ist ideeller Gesamtkapitalist:<br />
{{Zitat|Er vertritt grundsätzlich die Interessen der ganzen Bourgeoisie, insbesondere aber die Interessen der mächtigsten Teile darin. Er ist eine „Maschine zur Niederhaltung der unterdrückten, ausgebeuteten Klasse“ (Engels, MEW 21, S. 170f.). Er wendet letztlich alle Formen von Gewalt an, verbreitet aber auch die bürgerliche Ideologie und betreibt die Einbindung von Teilen der Arbeiterklasse durch Zugeständnisse, um die ausgebeutete Klasse niederzuhalten.|Kommunistische Organisation, Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.8.}}<br />
<br />
Wir beziehen uns in den ''Programmatischen Thesen'' konkret auf die Analysen der KomIntern:<br />
{{Zitat|Die Analyse der Kommunistischen Internationale, die den Faschismus als Diktatur des Finanzkapitals erkannte und das Kapital als Kraft hinter faschistischen Bewegungen und Parteien benannte, hat nichts an ihrer Richtigkeit verloren. Im Gegenteil: Sie wurde und wird bis heute durch Erfahrung bestätigt. Diese Bestimmung des Faschismus sollte allerdings nicht so verstanden werden, dass damit im Faschismus das nicht-monopolistische Kapital völlig von der Herrschaft im Staat ausgeschlossen wäre. Auch die Formulierung der Komintern, wonach der Faschismus lediglich die Diktatur der am meisten reaktionären Teile des Finanzkapitals sei, muss in diesem Sinne hinterfragt werden. Daraus wurden in der Geschichte der kommunistischen Bewegung problematische Vorstellungen über Bündnisse bis hinein in Teile der Monopolbourgeoisie abgeleitet.| Kommunistische Organisation, Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.11.}}<br />
<br />
Wir schreiben weiterhin:<br />
{{Zitat|[…] die bürgerliche Klassenherrschaft […], die in jedem Fall eine Klassendiktatur ist und entsprechend den Bedürfnissen des Kapitals und den Kräfteverhältnissen im Klassenkampf zwischen offenen und verdeckten Formen der Diktatur wechseln kann. Weder der Faschismus noch die bürgerliche Demokratie dürfen klassenneutral betrachtet werden.|Kommunistische Organisation, Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.11.}}<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* Gossweiler, Kurt: Über Wesen und Funktion des Faschismus, in: Kurt Gossweiler, Reinhard Kühnl, Reinhard Opitz (Hrsg.): Faschismus. Entstehung und Verhinderung, Frankfurt am Main 1972, S. 3-38. <br />
* Kühnl, Reinhard: Faschismus als Bündnis, in: Kühnl, Reinhard (Hrsg.): Faschismustheorien. Texte zur Faschismusdiskussion 2. Ein Leitfaden, Hamburg 1979, S.167-208. <br />
* Kühnl, Reinhard: Faschismus als Diktatur des Monopolkapitals, in: Kühnl, Reinhard (Hrsg): Faschismustheorien. Texte zur Faschismusdiskussion 2. Ein Leitfaden, Hamburg 1979, S. 213-250. <br />
* Poulantzas, Nicos: Faschismus und Diktatur. Die Kommunistische Internationale und der Faschismus. Übersetzung aus dem Französischen und dt. Bearbeitung Hartmut Mehringer, München 1973. <br />
* Saage, Richard: Faschismus. Konzeptionen und historische Kontexte, Wiesbaden 2007.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=B%C3%BCrgerliche_Faschismustheorien&diff=5959Bürgerliche Faschismustheorien2019-03-17T14:27:52Z<p>Dio: /* Literatur / Quellen */</p>
<hr />
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<br />
<br />
== Worum geht es ==<br />
Wir stehen vor einer Fülle an bürgerlicher Faschismusforschung. Dabei werden verschiedenste Ansätze - ideengeschichtliche, sozialpsychologische<ref>Vgl. Westphal, Reinhard: Psychologische Theorien über den Faschismus, in: Das Argument 32, 1965.</ref>, strukturalistische etc.<ref>G. Lozek / R. Richter, Zur Auseinandersetzung mit vorherrschenden bürgerlichen Faschismustheorien, in: D. Eichholtz / K. Gossweiler (Hrsg.), Faschismus Forschung, Pahl-Rugenstein Verlag 1980, S. 418 -451, S. 417.</ref> - verfolgt. Die bürgerliche Forschung über den Faschismus wird in verschiedenen Disziplinen betrieben: in der Geschichtswisenschaft, in den Politikwissenschaften, der Psychologie, der Ökonomie und Anderen. <br />
<br />
Ein Hoch erlebte die akademische Faschismusforschung in den 1960er und 1970er Jahren. Damals gab es viele Arbeiten, die eine umfassende Faschismusbestimmung zum Ziel hatten. Aktuell entstehen vorwiegend eher Arbeiten zu einzelnen Phänomen wie einzelnen Gruppierungen der sogenannten Neuen Rechten, außerdem unzählige Detailstudien über den historischen deutschen Faschismus und Faschismus in anderen Ländern. Die politische Bandbreite der verschiedenen Theorien reicht von reaktionären, chauvinistischen bis hin zu links-bürgerlichen und sogenannten ''kritischen'' Ansätzen. Die verschiedenen Faschismuskonzeptionen beziehen sich sowohl auf den historischen Faschismus als auch auf Phänomene und Bewegungen nach 1945. Auch unter den Vertretern der bürgerlichen Faschismustheorien gab es zeitweise heftige Auseinandersetzungen, wie z.B. im sogenannten ''Historikerstreik'' (Habermas, Nolte). In jüngster Vergangenheit gibt es den zunehmenden Versuch den Faschismusbegriff von rechter Seite aufzugreifen, ihn antikommunistisch zu wenden und ihn so vollends auszuhöhlen. Dies geschieht zum Beispiel bei Pegida-Protesten oder durch die AfD. Gegendemonstranten und Antifaschisten werden als ''Faschisten'' difamiert. Oder rechte Hetzer verschleiern ihren antimuslimischen Rassismus als Kampf gegen den ''Islamfaschismus''. <br />
<br />
Die DDR-Faschismusforschung hat jahrzehntelang wichtige Auseinandersetzungen mit den bürgerlichen Wissenschaften geführt. Es ging hier nie nur um historische Abläufe, sondern im Kern um den inneren Zusammenhang zwischen [[AG_Deutscher_Imperialismus|Imperialismus]] und [[Grundannahmen_Faschismus|Faschismus]]. Die Auseinandersetzung um den Faschismusbegriff gehörte damals zu den wichtigsten Feldern im ideologischen Klassenkampf zwischen Sozialismus und Imperialismus. Nicht zuletzt, weil die Legitimationsideologie der BRD maßgeblich auf der oberflächlichen Abgrenzung vom Faschismus beruhte, während es im westdeutschen Staatsapparat gleichzeitig massive personelle, institutionelle und ideologische Kontinuitäten gab und die ökonomische Basis der Gesellschaft, die den Faschismus hervorgebracht hatte, nach wie vor intakt war. <br />
<br />
Auch antifaschistische Wissenschaftler in der BRD haben sich entschieden den bürgerlichen Versuchen einer Revision und Relativierung des Faschismus und der Schuld des deutschen Imperialismus entgegengestellt. Zu nennen sind hier stellvertretend Reinhard Opitz, Wolfgang Abendroth und die ''Marburger Schule''. <br />
<br />
Die Auseinandersetzung mit den bürgerlichen Faschismustheorien hat immer noch große Bedeutung für uns: Für die Herstellung von Klassenbewusstsein, für unseren antifaschistischen Kampf – denn diese bürgerlichen Faschismustheorien sind es, die in der Arbeiterklasse tagtäglich durch das Bildungssystem und die Medien verbreitet werden. Sie führen zu vielen falschen Vorstellungen über die Geschichte Deutschlands und über den deutschen Staat, zu einer Verschleierung der wirklichen Verantwortlichen für die Gräuel des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges. Falsche Faschismuserklärungen sind aber auch eines der wichtigsten Instrumente der Herrschenden zur Verschleierung der Gesetzmäßigkeiten der Geschichte: Geschichte wird so unerklärlich, als Ergebnis der Taten ''großer'' oder eben ''teuflischer'' Männer. Das revolutionäre Potenzial und die Macht der kämpfenden Massen wird verschleiert. Apathie, Zynismus und falsche Identifikationsmomente sind die Folgen. Der Kampf um die richtige Faschismustheorie ist auch der Kampf für die Wiederaneignung des Kampfes der Arbeiterbewegung und damit seiner heroischen Kämpfer und Vorbilder. <br />
<br />
Die Beschäftigung mit und das Erkennen von bürgerlichen Vorstellungen ist aber auch der einzige Weg, den Opportunismus in der kommunistische Bewegung zu erkennen und zu überwinden. Denn die Debatten in der Kommunistischen Weltbewegung finden nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum statt, sondern inmitten der ideologischen Hegemonie des Klassengegners. Letztendlich sind alle falschen Vorstellungen Möglichkeiten des Eindringens bürgerlicher Ideologien in die Arbeiterbewegung. Auf der anderen Seite verarbeiteten auch bürgerliche Theorien Versatzstücke an sozialistischen und marxistischen Erkenntnissen. Dies macht es oft noch schwerer, ihren bürgerlichen Kern zu entdecken. <br />
<br />
=== Welche Positionen & Thesen gibt es ===<br />
{{Zitat|Im engeren Sinne wird die bürgerliche Faschismusgeschichtsschreibung von zwei Zielstellungen bestimmt: Erstens das kapitalistische System vom Schandmal des Faschismus reinzuwaschen, d.h. faschistische Bewegungen und vor allem faschistische Herrschaftsformen als etwas der ‚westlichen‘, der ‚demokratisch-pluralistischen Gesellschaft‘ Wesensfremdes hinzustellen; zweitens zugleich die faschistischen Bewegungen, Herrschaftsformen und -methoden auf ihre Brauchbarkeit für die Stabilisierung des kapitalistischen Systems nach innen sowie für sein expansives Vorgehen nach außen zu untersuchen.<ref>Ebd. S.418</ref>|}}<br />
<br />
Zwei Grundlinien der bürgerlichen Faschismuskonzeptionen lassen sich grob voneinander abgrenzen: <br />
<br />
1.) offen reaktionär-rehabilitionistische, oft auch sehr antikomplexe und vereinfachende, reduktionistische Theorien, hierzu zählen z.B. die Führertheorie und die Totalitarismusdoktrin. Spätestens ab den 1970ern waren deren Vertreter offen antikommunistisch. <br />
<br />
2.) Versuche der komplexeren Erfassungen des Faschismus, die allerdings mit Fehlannahmen arbeiteten und letztendlich objektiv auch Relativierungen der marxistischen Faschismustheorien bedeuteten. Diese Konzeptionen berücksichtigen oft soziale und ökonomische Faktoren, entstanden auch aus der Tatsache heraus, dass die Ergebnisse der Diskussionen in der Kommunistischen Internationalen und der marxistisch-leninistischen Forschung nicht mehr ignoriert werden konnten. <br />
<br />
Die bürgerliche Faschismusforschung erweist sich seit ihren Anfängen als unfähig, das Wesen des Faschismus richtig zu fassen. Da ihnen ein historisch-materialistisches Geschichtsverständnis fehlt, sind sie unfähig, den Faschismus (Überbau) als Phänomen des Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium (Basis) zu begreifen.<ref>Vgl. ebd. S. 420</ref><br />
<br />
=== Kurzer Historischer Abriss ===<br />
In den 1920er und 1930er Jahre begriffen viele den Faschismus als ausschließlich italienisches Phänomen. Während eine solche Auffassung zu diesem Zeitpunkt verständlich war, wurde sie nach dem Krieg in problematischer Weise von Theoretikern wie Renzo de Felice aufgegriffen, der für einen Faschismusbegriff argumentiert, der auf Mussolinis Herrschaft beschränkt ist. <br />
<br />
In den Jahren zwischen 1933-45 zeichneten sich die Arbeiten zum Faschismus durch eine Konzentration auf Deutschland aus. Viele Arbeiten über den Faschismus entstanden in der Emigration, darunter die von Arthur Rosenberg, Max Horkheimer und Otto Bauer. In eine andere Richtung ging die ''Totalitarismustheorie'', die in den USA entstand.<ref>Vgl. ebd. S.420f</ref> Diese erklärte den Faschismus als ''totalitäre'' Herrschaft, der sie die bürgerliche Demokratie gegenüberstellten. Die Beschreibung als ''totalitär'' wurde zugleich auf die marxistisch-leninistische Partei und die Sowjetunion ausgeweitet. Sie gewann in der Nachkriegszeit weiter an Bedeutung und wurde im Zug des Kalten Krieges weiterentwickelt. Die Gleichsetzung der Sowjetunion und des ''Nationalsozialismus'' als ''totalitäre'' Regime entsprachen perfekt dem Ideologiebedarf des US-Imperialismus. Wichtige Vertreter dieses Ansatzes waren Carl J. Friedrich und Hannah Arendt. Letztere wird auch in linken Kreisen zum Teil wohlwollend gelesen. Bis heute ist die Totalitarismustheorie eine wichtige imperialistische Propagandadoktrin, die sich in verschiedenen Abwandlungen (''Hufeisentheorie, Extremismustheorie'') in Schulbüchern, beim Verfassungsschutz und als Ideologie der bürgerlichen Parteien findet. <br />
<br />
In der BRD-Historiographie dominierten bald nach Kriegsende Versuche, den Faschismus zu mystifizieren, in dem Hitler zum Alleinschuldigen erklärt wurde, der das deutsche Volk verführt habe (Joachim Fest u.a.). Diese ''Führertheorie'' (''Hitlerismus'') löste für die deutsche Nachkriegsgesellschaft unbequeme Fragen und diente der Entschuldigung des deutschen Kapitals und der deutschen Eliten, die nun wieder die führenden Positionen im BRD-Staat besetzen konnten. Bis heute ist die ''Führertheorie'' in Deutschland weit verbreitet, nicht nur in populärwissenschaftlichen Dokumentation, die massenmedial weite Verbreitung finden, sondern auch im bundesdeutschen Schulunterricht und in der Unterhaltungsliteratur (z.B. der Bestseller ''Er ist wieder da''). <br />
<br />
Doch die bürgerliche Wissenschaft konnte die Ergebnisse und Überlegenheit der marxistischen Forschung nicht komplett ignorieren. Ab den 1960ern entwickelten sich in der bürgerlichen Wissenschaft zunehmend komplexere Theorien, wozu außerdem die veränderte politische Situation beitrug. Der Zusammenhang zwischen Faschismus und Imperialismus konnte nicht mehr vollständig verschleiert werden – zumindest die Rolle der Industriemonopole musste erklärt werden. Hier zu nennen sind beispielsweise strukturalistische Ansätze, wie der von Wolfgang Schieder oder verschiedene Varianten einer ''Modernisierungstheorie'' (Dahrendorf, Mommsen). Letztere besagt, der Faschismus sei eine mögliche Stufe auf der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften gewesen und dreht sich um die Frage, ob der Faschismus – der sonst häufig als ''antimodern'' charakterisiert wurde – nicht einen „Stoß in die Modernität”<ref>Ebd. S.428</ref> zur Folge hatte. Diese Theorien sind zum einen Zugeständnisse der westdeutschen Historiografie an die marxistisch-leninistische Forschung, da sie mit sozialen und ökonomischen Faktoren operieren. Auf der anderen Seite führten sie durch ihren Einfluss in antifaschistischen Kreisen auch zu Desorientierung und Verwässerung, da sie z.B. die konkrete Kritik des Imperialismus durch eine allgemeine Zivilisationskritik ersetzten. <br />
<br />
In den 1970ern und frühen 1980ern gewannen folgende Modelle (wieder) an Bedeutung: Das sogenannte ''Gruppenmodell'' (Neumann, Schweitzer), welches von einer Machtteilung zwischen den verschiedenen Gruppen im Faschismus (Partei, Armee, Bürokratie und Industrie) ausgeht.<ref>Vgl. ebd. S.430</ref> Auch Varianten der auf Thalheimer zurückgehenden [[Faschismus_und_Bonapartismus|Bonapartismustheorie]] galten nun zunehmend als marxistische Theorien, die der ''sowjet-treuen'' Forschung entgegengestellt wurden. Außerdem wurde in Auseinandersetzung sozialdemokratischer Wissenschaftler mit Lenins Imperialismustheorie das Konzept des [[Der_Platz_des_Imperialismus_in_der_Geschichte#Zur_Theorie|organisierten Kapitalismus]] in Anlehnung an das Kapitalismusmodell von Max Weber, entwickelt und mit der Faschismusfrage verbunden.<ref>Vgl. ebd. S.433</ref> “Faschistische Diktaturen figurieren in dieser Lesart als Hilfsmittel, um in hochentwickelten kapitalistischen Ländern Konzentrations- und Zentralisationstendenzen in der Ökonomie zu verstärken und dabei zugleich die Massen zu disziplinieren.”<ref>Vgl. ebd. S.434</ref> <br />
<br />
Einen weiteren Zweig der bürgerlichen Faschismusforschung bildet das Bestreben, den Volksmassen die Schuld am Faschismus zuzuschieben. Diese Bestrebung finden ihren Ausdruck in der Behauptung, der Faschismus sei aus dem Nationalismus von unten, sogar als ''nationalistischer'' Klassenkampf an die Macht gekommen.<ref>Vgl. ebd. S.440</ref> Nach Ende des Krieges gewannen außerhalb Deutschlands Deutungen an Einfluss, die den Faschismus als „deutschen Sonderweg“, als „nationalistische Volksbewegung” begriffen, die im „deutschen Wesen“ angelegt sei.<ref>Ebd. S.422</ref> Daraus wurde die ''Kollektivschuldthese'' und die These der ''nationalen Singularität'' abgeleitet. Diese Thesen gehen davon aus, dass nicht etwa die Monopolbourgeoisie oder andere gesellschaftliche Eliten die faschistische Bewegung aufgebaut und an die Macht gebracht hätten. Sondern die fanatisierten Massen, allen voran die Arbeiterklasse, hätten den Faschismus und dessen Verbrechen zu verantworten. Entsprechende Kampagnen wurden zum Beispiel von der ''Psychological Warfare Division'' der allierten Streitkräfte kreiert, bei der in Deutschland Plakate mit Bildern aus den KZs mit Aufschriften wie ''Diese Schandtaten: Eure Schuld'' aufgehängt wurden. Ähnliche Richtungen, die sich vor allem auf die empirische Erforschung sozialer Bewegungen und deren Zusammensetzung konzentrieren, erklären den Faschismus aus der sozialen und politischen Situation einzelner Gruppen, meist dem städtischen Kleinbürgertum, als eigenständige Bewegung dieser Schichten (''Mittelstandsthese''). Außerdem wird die Selbstdarstellung der NSDAP übernommen und diese als eine wahrhafte ''Volkspartei'' gedeutet, in welcher verschiedene soziale Gruppen ihre Interessen gewahrt sahen. Noch verfälschender und antikommunistisch motiviert, sind solche Ansätze, die eine ''wesensbedingte Affinität'' zwischen Arbeiterklasse und Faschismus zu finden suchen. Solche Versuche, wie von Karl Dietrich Bracher, übernehmen die demagogische Selbstbezeichnung der Faschisten als ''sozialistisch'' und ''Arbeiterpartei''. Um mehr Differenziertheit bemüht sind Anschauungen, die eine militaristische und reaktionäre deutsche Denk- und Wesenstradition als ursächlich für den deutschen imperialistischen Expansionismus und die faschistische Diktatur ausmachen. Das demokratische Erbe Deutschlands wird dabei negiert und im Extremfall ein völkerpsychologisch-biologistisches Bild eines deutschen Wesens gezeichnet. Aber auch Vorstellungen wie der Faschismus als Verwirklichung des deutschen Nationalgedanken sind nach wie vor verbreitet. <br />
<br />
Zum Schluss sind noch subjektivistische Theorien zu nennen, die bis heute großen Einfluss haben. Ihr Geschichtsverständnis ist durch eine Verabsolutierung und Überbetonung des subjektiven Faktors gekennzeichnet. Am krassesten zeigt sich diese Psychologisierung in der Fülle an ''Hitler-Darstellungen''.<br />
<br />
=== Zusammenfassung ===<br />
Trotz ihrer großen Unterschiede und teilweise entgegengesetzen politischen Grundannahmen vereint die bürgerlichen Faschismuskonzeptionen allesamt die Ablehnung der marxistisch-leninistischen Faschismustheorie. Es sind hauptsächlich drei Vorwürfe, die sie der marxistisch-leninistischen Forschnung machen: 1.) Sie stünde in Widerspruch & Diskrepanz zu empirischer historischer Forschung. 2.)Dogmatismus: Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Faschismus 3.) Die sozialistische Faschismusforschung betreibe eine unzulässige Übertragung der Erfahrungen des deutschen Faschismus auf andere Länder und Bewegungen.<ref>Vgl. ebd. S. 447</ref><br />
<br />
== Bezug zu den Grundannahmen ==<br />
<br />
Ist in Arbeit.<br />
<br />
== Was steht dazu in den Programmatischen Thesen ==<br />
"Andere Faschismuserklärungen, die den Faschismus beispielsweise als eine Herrschaft von Einzelpersonen oder aber des Kleinbürgertums oder gar der Massen darstellen, sind falsch. Sie tragen zum Verständnis des Faschismus nichts bei und dienen objektiv dazu, die Bourgeoisie und ihren Staat von der Verantwortung für den Faschismus reinzuwaschen oder ihre Rolle zu relativieren."<ref>K.O., Programmatische Thesen, Abschnitt Faschismus und Antifaschismus</ref><br />
<br />
== Arbeitsschritte ==<br />
1. Ergänzen weiterer zentraler bürgerlicher Faschismustheoretiker. Es fehlen in dieser Überblickstellung u.A. noch: <br />
* Der Faschismus wird mit Methoden der Sozialpsychologie erklärt. Frankfurter Schule - Theorien des autoritären Charakters (Horkheimer, Adorno) - freudianische - sozialpsychologische Ansätze (Und früher: Wilhelm Reich's ''Massenpsychologie''), Erich Fromm's ''Furcht vor der Freiheit''<br />
* Ernst Nolte <br />
* Faschismus als Bündnis <br />
* Zivilsationsbruch <br />
* Poststrukturalistische Ansätze <br />
* Faschismus als „palingenetischer Ultranationalismus“ (Roger Griffin) <br />
* Antideutsche Faschismustheorien (stehen in der Traditionslinie der ''kritischen Theorie''), dabei vor allem Moishe Postone und die diversen Antisemitismus-Theorien. <br />
<br />
2. Generell muss die jüngste Faschismusforschung noch besser erfasst werden. Das betrifft den Zeitraum ab 1989. Welche Auswirkung hatte die Konterrevolution auf die Entwicklung bürgerlicher Faschismustheorie? Welche Theorien sind heute am meisten verbreitet? In welchen Teilen der Arbeiterklasse spielen welche Erklärungsmodelle die größte Rolle? Wie könnte sinnvolle Gegenaufklärung aussehen. Insbesondere solche Theorien die im Massenbewusstsein besonders großen Einfluss haben, sind für uns besonders relevant. Ebenso solche die in linken Kreisen große Verbreitung haben. <br />
<br />
3. Die Literatur aus DDR und BRD, die eine sehr umfassende Auseinandersetzung mit diesen Theorien bereits geleistet hat, muss systematisch erfasst werden und wieder genutzt werden.<br />
<br />
== Literatur / Quellen ==<br />
*Eichholtz, D./Gossweiler, K.: Faschismus Forschung, Köln 1980. <br />
<br />
*Haug, Wolfgang et al: Ideologische Komponenten in den Theorien über den Faschismus, in: Das Argument 33, Hamburg 1965, S.1-34<br />
<br />
*Kühnl, Reinhard: Faschismustheorien und Politik. Die Entwicklung der Faschismusdiskussion in der Bundesrepublik Deutschland, in: Faschismustheorien. Ein Leitfaden, 1990 Distel Verlag. <br />
<br />
*Lozek, G./ Richter R: Zur Auseinandersetzung mit vorherrschenden bürgerlichen Faschismustheorien, in: Eichholtz, D./ Gossweiler, K. (Hrsg.): Faschismus Forschung, Berlin 1980, S. 418 -451.<br />
<br />
*Westphal, Reinhard: Psychologische Theorien über den Faschismus, in: Das Argument 32, Hamburg 1965.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=B%C3%BCrgerliche_Faschismustheorien&diff=5958Bürgerliche Faschismustheorien2019-03-17T14:24:36Z<p>Dio: /* Welche Positionen & Thesen gibt es */</p>
<hr />
<div>Zurück zu [[AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br><br />
<br />
<br />
== Worum geht es ==<br />
Wir stehen vor einer Fülle an bürgerlicher Faschismusforschung. Dabei werden verschiedenste Ansätze - ideengeschichtliche, sozialpsychologische<ref>Vgl. Westphal, Reinhard: Psychologische Theorien über den Faschismus, in: Das Argument 32, 1965.</ref>, strukturalistische etc.<ref>G. Lozek / R. Richter, Zur Auseinandersetzung mit vorherrschenden bürgerlichen Faschismustheorien, in: D. Eichholtz / K. Gossweiler (Hrsg.), Faschismus Forschung, Pahl-Rugenstein Verlag 1980, S. 418 -451, S. 417.</ref> - verfolgt. Die bürgerliche Forschung über den Faschismus wird in verschiedenen Disziplinen betrieben: in der Geschichtswisenschaft, in den Politikwissenschaften, der Psychologie, der Ökonomie und Anderen. <br />
<br />
Ein Hoch erlebte die akademische Faschismusforschung in den 1960er und 1970er Jahren. Damals gab es viele Arbeiten, die eine umfassende Faschismusbestimmung zum Ziel hatten. Aktuell entstehen vorwiegend eher Arbeiten zu einzelnen Phänomen wie einzelnen Gruppierungen der sogenannten Neuen Rechten, außerdem unzählige Detailstudien über den historischen deutschen Faschismus und Faschismus in anderen Ländern. Die politische Bandbreite der verschiedenen Theorien reicht von reaktionären, chauvinistischen bis hin zu links-bürgerlichen und sogenannten ''kritischen'' Ansätzen. Die verschiedenen Faschismuskonzeptionen beziehen sich sowohl auf den historischen Faschismus als auch auf Phänomene und Bewegungen nach 1945. Auch unter den Vertretern der bürgerlichen Faschismustheorien gab es zeitweise heftige Auseinandersetzungen, wie z.B. im sogenannten ''Historikerstreik'' (Habermas, Nolte). In jüngster Vergangenheit gibt es den zunehmenden Versuch den Faschismusbegriff von rechter Seite aufzugreifen, ihn antikommunistisch zu wenden und ihn so vollends auszuhöhlen. Dies geschieht zum Beispiel bei Pegida-Protesten oder durch die AfD. Gegendemonstranten und Antifaschisten werden als ''Faschisten'' difamiert. Oder rechte Hetzer verschleiern ihren antimuslimischen Rassismus als Kampf gegen den ''Islamfaschismus''. <br />
<br />
Die DDR-Faschismusforschung hat jahrzehntelang wichtige Auseinandersetzungen mit den bürgerlichen Wissenschaften geführt. Es ging hier nie nur um historische Abläufe, sondern im Kern um den inneren Zusammenhang zwischen [[AG_Deutscher_Imperialismus|Imperialismus]] und [[Grundannahmen_Faschismus|Faschismus]]. Die Auseinandersetzung um den Faschismusbegriff gehörte damals zu den wichtigsten Feldern im ideologischen Klassenkampf zwischen Sozialismus und Imperialismus. Nicht zuletzt, weil die Legitimationsideologie der BRD maßgeblich auf der oberflächlichen Abgrenzung vom Faschismus beruhte, während es im westdeutschen Staatsapparat gleichzeitig massive personelle, institutionelle und ideologische Kontinuitäten gab und die ökonomische Basis der Gesellschaft, die den Faschismus hervorgebracht hatte, nach wie vor intakt war. <br />
<br />
Auch antifaschistische Wissenschaftler in der BRD haben sich entschieden den bürgerlichen Versuchen einer Revision und Relativierung des Faschismus und der Schuld des deutschen Imperialismus entgegengestellt. Zu nennen sind hier stellvertretend Reinhard Opitz, Wolfgang Abendroth und die ''Marburger Schule''. <br />
<br />
Die Auseinandersetzung mit den bürgerlichen Faschismustheorien hat immer noch große Bedeutung für uns: Für die Herstellung von Klassenbewusstsein, für unseren antifaschistischen Kampf – denn diese bürgerlichen Faschismustheorien sind es, die in der Arbeiterklasse tagtäglich durch das Bildungssystem und die Medien verbreitet werden. Sie führen zu vielen falschen Vorstellungen über die Geschichte Deutschlands und über den deutschen Staat, zu einer Verschleierung der wirklichen Verantwortlichen für die Gräuel des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges. Falsche Faschismuserklärungen sind aber auch eines der wichtigsten Instrumente der Herrschenden zur Verschleierung der Gesetzmäßigkeiten der Geschichte: Geschichte wird so unerklärlich, als Ergebnis der Taten ''großer'' oder eben ''teuflischer'' Männer. Das revolutionäre Potenzial und die Macht der kämpfenden Massen wird verschleiert. Apathie, Zynismus und falsche Identifikationsmomente sind die Folgen. Der Kampf um die richtige Faschismustheorie ist auch der Kampf für die Wiederaneignung des Kampfes der Arbeiterbewegung und damit seiner heroischen Kämpfer und Vorbilder. <br />
<br />
Die Beschäftigung mit und das Erkennen von bürgerlichen Vorstellungen ist aber auch der einzige Weg, den Opportunismus in der kommunistische Bewegung zu erkennen und zu überwinden. Denn die Debatten in der Kommunistischen Weltbewegung finden nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum statt, sondern inmitten der ideologischen Hegemonie des Klassengegners. Letztendlich sind alle falschen Vorstellungen Möglichkeiten des Eindringens bürgerlicher Ideologien in die Arbeiterbewegung. Auf der anderen Seite verarbeiteten auch bürgerliche Theorien Versatzstücke an sozialistischen und marxistischen Erkenntnissen. Dies macht es oft noch schwerer, ihren bürgerlichen Kern zu entdecken. <br />
<br />
=== Welche Positionen & Thesen gibt es ===<br />
{{Zitat|Im engeren Sinne wird die bürgerliche Faschismusgeschichtsschreibung von zwei Zielstellungen bestimmt: Erstens das kapitalistische System vom Schandmal des Faschismus reinzuwaschen, d.h. faschistische Bewegungen und vor allem faschistische Herrschaftsformen als etwas der ‚westlichen‘, der ‚demokratisch-pluralistischen Gesellschaft‘ Wesensfremdes hinzustellen; zweitens zugleich die faschistischen Bewegungen, Herrschaftsformen und -methoden auf ihre Brauchbarkeit für die Stabilisierung des kapitalistischen Systems nach innen sowie für sein expansives Vorgehen nach außen zu untersuchen.<ref>Ebd. S.418</ref>|}}<br />
<br />
Zwei Grundlinien der bürgerlichen Faschismuskonzeptionen lassen sich grob voneinander abgrenzen: <br />
<br />
1.) offen reaktionär-rehabilitionistische, oft auch sehr antikomplexe und vereinfachende, reduktionistische Theorien, hierzu zählen z.B. die Führertheorie und die Totalitarismusdoktrin. Spätestens ab den 1970ern waren deren Vertreter offen antikommunistisch. <br />
<br />
2.) Versuche der komplexeren Erfassungen des Faschismus, die allerdings mit Fehlannahmen arbeiteten und letztendlich objektiv auch Relativierungen der marxistischen Faschismustheorien bedeuteten. Diese Konzeptionen berücksichtigen oft soziale und ökonomische Faktoren, entstanden auch aus der Tatsache heraus, dass die Ergebnisse der Diskussionen in der Kommunistischen Internationalen und der marxistisch-leninistischen Forschung nicht mehr ignoriert werden konnten. <br />
<br />
Die bürgerliche Faschismusforschung erweist sich seit ihren Anfängen als unfähig, das Wesen des Faschismus richtig zu fassen. Da ihnen ein historisch-materialistisches Geschichtsverständnis fehlt, sind sie unfähig, den Faschismus (Überbau) als Phänomen des Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium (Basis) zu begreifen.<ref>Vgl. ebd. S. 420</ref><br />
<br />
=== Kurzer Historischer Abriss ===<br />
In den 1920er und 1930er Jahre begriffen viele den Faschismus als ausschließlich italienisches Phänomen. Während eine solche Auffassung zu diesem Zeitpunkt verständlich war, wurde sie nach dem Krieg in problematischer Weise von Theoretikern wie Renzo de Felice aufgegriffen, der für einen Faschismusbegriff argumentiert, der auf Mussolinis Herrschaft beschränkt ist. <br />
<br />
In den Jahren zwischen 1933-45 zeichneten sich die Arbeiten zum Faschismus durch eine Konzentration auf Deutschland aus. Viele Arbeiten über den Faschismus entstanden in der Emigration, darunter die von Arthur Rosenberg, Max Horkheimer und Otto Bauer. In eine andere Richtung ging die ''Totalitarismustheorie'', die in den USA entstand.<ref>Vgl. ebd. S.420f</ref> Diese erklärte den Faschismus als ''totalitäre'' Herrschaft, der sie die bürgerliche Demokratie gegenüberstellten. Die Beschreibung als ''totalitär'' wurde zugleich auf die marxistisch-leninistische Partei und die Sowjetunion ausgeweitet. Sie gewann in der Nachkriegszeit weiter an Bedeutung und wurde im Zug des Kalten Krieges weiterentwickelt. Die Gleichsetzung der Sowjetunion und des ''Nationalsozialismus'' als ''totalitäre'' Regime entsprachen perfekt dem Ideologiebedarf des US-Imperialismus. Wichtige Vertreter dieses Ansatzes waren Carl J. Friedrich und Hannah Arendt. Letztere wird auch in linken Kreisen zum Teil wohlwollend gelesen. Bis heute ist die Totalitarismustheorie eine wichtige imperialistische Propagandadoktrin, die sich in verschiedenen Abwandlungen (''Hufeisentheorie, Extremismustheorie'') in Schulbüchern, beim Verfassungsschutz und als Ideologie der bürgerlichen Parteien findet. <br />
<br />
In der BRD-Historiographie dominierten bald nach Kriegsende Versuche, den Faschismus zu mystifizieren, in dem Hitler zum Alleinschuldigen erklärt wurde, der das deutsche Volk verführt habe (Joachim Fest u.a.). Diese ''Führertheorie'' (''Hitlerismus'') löste für die deutsche Nachkriegsgesellschaft unbequeme Fragen und diente der Entschuldigung des deutschen Kapitals und der deutschen Eliten, die nun wieder die führenden Positionen im BRD-Staat besetzen konnten. Bis heute ist die ''Führertheorie'' in Deutschland weit verbreitet, nicht nur in populärwissenschaftlichen Dokumentation, die massenmedial weite Verbreitung finden, sondern auch im bundesdeutschen Schulunterricht und in der Unterhaltungsliteratur (z.B. der Bestseller ''Er ist wieder da''). <br />
<br />
Doch die bürgerliche Wissenschaft konnte die Ergebnisse und Überlegenheit der marxistischen Forschung nicht komplett ignorieren. Ab den 1960ern entwickelten sich in der bürgerlichen Wissenschaft zunehmend komplexere Theorien, wozu außerdem die veränderte politische Situation beitrug. Der Zusammenhang zwischen Faschismus und Imperialismus konnte nicht mehr vollständig verschleiert werden – zumindest die Rolle der Industriemonopole musste erklärt werden. Hier zu nennen sind beispielsweise strukturalistische Ansätze, wie der von Wolfgang Schieder oder verschiedene Varianten einer ''Modernisierungstheorie'' (Dahrendorf, Mommsen). Letztere besagt, der Faschismus sei eine mögliche Stufe auf der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften gewesen und dreht sich um die Frage, ob der Faschismus – der sonst häufig als ''antimodern'' charakterisiert wurde – nicht einen „Stoß in die Modernität”<ref>Ebd. S.428</ref> zur Folge hatte. Diese Theorien sind zum einen Zugeständnisse der westdeutschen Historiografie an die marxistisch-leninistische Forschung, da sie mit sozialen und ökonomischen Faktoren operieren. Auf der anderen Seite führten sie durch ihren Einfluss in antifaschistischen Kreisen auch zu Desorientierung und Verwässerung, da sie z.B. die konkrete Kritik des Imperialismus durch eine allgemeine Zivilisationskritik ersetzten. <br />
<br />
In den 1970ern und frühen 1980ern gewannen folgende Modelle (wieder) an Bedeutung: Das sogenannte ''Gruppenmodell'' (Neumann, Schweitzer), welches von einer Machtteilung zwischen den verschiedenen Gruppen im Faschismus (Partei, Armee, Bürokratie und Industrie) ausgeht.<ref>Vgl. ebd. S.430</ref> Auch Varianten der auf Thalheimer zurückgehenden [[Faschismus_und_Bonapartismus|Bonapartismustheorie]] galten nun zunehmend als marxistische Theorien, die der ''sowjet-treuen'' Forschung entgegengestellt wurden. Außerdem wurde in Auseinandersetzung sozialdemokratischer Wissenschaftler mit Lenins Imperialismustheorie das Konzept des [[Der_Platz_des_Imperialismus_in_der_Geschichte#Zur_Theorie|organisierten Kapitalismus]] in Anlehnung an das Kapitalismusmodell von Max Weber, entwickelt und mit der Faschismusfrage verbunden.<ref>Vgl. ebd. S.433</ref> “Faschistische Diktaturen figurieren in dieser Lesart als Hilfsmittel, um in hochentwickelten kapitalistischen Ländern Konzentrations- und Zentralisationstendenzen in der Ökonomie zu verstärken und dabei zugleich die Massen zu disziplinieren.”<ref>Vgl. ebd. S.434</ref> <br />
<br />
Einen weiteren Zweig der bürgerlichen Faschismusforschung bildet das Bestreben, den Volksmassen die Schuld am Faschismus zuzuschieben. Diese Bestrebung finden ihren Ausdruck in der Behauptung, der Faschismus sei aus dem Nationalismus von unten, sogar als ''nationalistischer'' Klassenkampf an die Macht gekommen.<ref>Vgl. ebd. S.440</ref> Nach Ende des Krieges gewannen außerhalb Deutschlands Deutungen an Einfluss, die den Faschismus als „deutschen Sonderweg“, als „nationalistische Volksbewegung” begriffen, die im „deutschen Wesen“ angelegt sei.<ref>Ebd. S.422</ref> Daraus wurde die ''Kollektivschuldthese'' und die These der ''nationalen Singularität'' abgeleitet. Diese Thesen gehen davon aus, dass nicht etwa die Monopolbourgeoisie oder andere gesellschaftliche Eliten die faschistische Bewegung aufgebaut und an die Macht gebracht hätten. Sondern die fanatisierten Massen, allen voran die Arbeiterklasse, hätten den Faschismus und dessen Verbrechen zu verantworten. Entsprechende Kampagnen wurden zum Beispiel von der ''Psychological Warfare Division'' der allierten Streitkräfte kreiert, bei der in Deutschland Plakate mit Bildern aus den KZs mit Aufschriften wie ''Diese Schandtaten: Eure Schuld'' aufgehängt wurden. Ähnliche Richtungen, die sich vor allem auf die empirische Erforschung sozialer Bewegungen und deren Zusammensetzung konzentrieren, erklären den Faschismus aus der sozialen und politischen Situation einzelner Gruppen, meist dem städtischen Kleinbürgertum, als eigenständige Bewegung dieser Schichten (''Mittelstandsthese''). Außerdem wird die Selbstdarstellung der NSDAP übernommen und diese als eine wahrhafte ''Volkspartei'' gedeutet, in welcher verschiedene soziale Gruppen ihre Interessen gewahrt sahen. Noch verfälschender und antikommunistisch motiviert, sind solche Ansätze, die eine ''wesensbedingte Affinität'' zwischen Arbeiterklasse und Faschismus zu finden suchen. Solche Versuche, wie von Karl Dietrich Bracher, übernehmen die demagogische Selbstbezeichnung der Faschisten als ''sozialistisch'' und ''Arbeiterpartei''. Um mehr Differenziertheit bemüht sind Anschauungen, die eine militaristische und reaktionäre deutsche Denk- und Wesenstradition als ursächlich für den deutschen imperialistischen Expansionismus und die faschistische Diktatur ausmachen. Das demokratische Erbe Deutschlands wird dabei negiert und im Extremfall ein völkerpsychologisch-biologistisches Bild eines deutschen Wesens gezeichnet. Aber auch Vorstellungen wie der Faschismus als Verwirklichung des deutschen Nationalgedanken sind nach wie vor verbreitet. <br />
<br />
Zum Schluss sind noch subjektivistische Theorien zu nennen, die bis heute großen Einfluss haben. Ihr Geschichtsverständnis ist durch eine Verabsolutierung und Überbetonung des subjektiven Faktors gekennzeichnet. Am krassesten zeigt sich diese Psychologisierung in der Fülle an ''Hitler-Darstellungen''.<br />
<br />
=== Zusammenfassung ===<br />
Trotz ihrer großen Unterschiede und teilweise entgegengesetzen politischen Grundannahmen vereint die bürgerlichen Faschismuskonzeptionen allesamt die Ablehnung der marxistisch-leninistischen Faschismustheorie. Es sind hauptsächlich drei Vorwürfe, die sie der marxistisch-leninistischen Forschnung machen: 1.) Sie stünde in Widerspruch & Diskrepanz zu empirischer historischer Forschung. 2.)Dogmatismus: Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Faschismus 3.) Die sozialistische Faschismusforschung betreibe eine unzulässige Übertragung der Erfahrungen des deutschen Faschismus auf andere Länder und Bewegungen.<ref>Vgl. ebd. S. 447</ref><br />
<br />
== Bezug zu den Grundannahmen ==<br />
<br />
Ist in Arbeit.<br />
<br />
== Was steht dazu in den Programmatischen Thesen ==<br />
"Andere Faschismuserklärungen, die den Faschismus beispielsweise als eine Herrschaft von Einzelpersonen oder aber des Kleinbürgertums oder gar der Massen darstellen, sind falsch. Sie tragen zum Verständnis des Faschismus nichts bei und dienen objektiv dazu, die Bourgeoisie und ihren Staat von der Verantwortung für den Faschismus reinzuwaschen oder ihre Rolle zu relativieren."<ref>K.O., Programmatische Thesen, Abschnitt Faschismus und Antifaschismus</ref><br />
<br />
== Arbeitsschritte ==<br />
1. Ergänzen weiterer zentraler bürgerlicher Faschismustheoretiker. Es fehlen in dieser Überblickstellung u.A. noch: <br />
* Der Faschismus wird mit Methoden der Sozialpsychologie erklärt. Frankfurter Schule - Theorien des autoritären Charakters (Horkheimer, Adorno) - freudianische - sozialpsychologische Ansätze (Und früher: Wilhelm Reich's ''Massenpsychologie''), Erich Fromm's ''Furcht vor der Freiheit''<br />
* Ernst Nolte <br />
* Faschismus als Bündnis <br />
* Zivilsationsbruch <br />
* Poststrukturalistische Ansätze <br />
* Faschismus als „palingenetischer Ultranationalismus“ (Roger Griffin) <br />
* Antideutsche Faschismustheorien (stehen in der Traditionslinie der ''kritischen Theorie''), dabei vor allem Moishe Postone und die diversen Antisemitismus-Theorien. <br />
<br />
2. Generell muss die jüngste Faschismusforschung noch besser erfasst werden. Das betrifft den Zeitraum ab 1989. Welche Auswirkung hatte die Konterrevolution auf die Entwicklung bürgerlicher Faschismustheorie? Welche Theorien sind heute am meisten verbreitet? In welchen Teilen der Arbeiterklasse spielen welche Erklärungsmodelle die größte Rolle? Wie könnte sinnvolle Gegenaufklärung aussehen. Insbesondere solche Theorien die im Massenbewusstsein besonders großen Einfluss haben, sind für uns besonders relevant. Ebenso solche die in linken Kreisen große Verbreitung haben. <br />
<br />
3. Die Literatur aus DDR und BRD, die eine sehr umfassende Auseinandersetzung mit diesen Theorien bereits geleistet hat, muss systematisch erfasst werden und wieder genutzt werden.<br />
<br />
== Literatur / Quellen ==<br />
Eichholtz, Dietrich /Gossweiler, Kurt: Faschismus Forschung, Köln 1980. <br />
<br />
Haug, Wolfgang et al: Ideologische Komponenten in den Theorien über den Faschismus, in: Das Argument 33, Hamburg 1965, S.1-34<br />
<br />
Kühnl, Reinhard: Faschismustheorien und Politik. Die Entwicklung der Faschismusdiskussion in der Bundesrepublik Deutschland, in: Faschismustheorien. Ein Leitfaden, 1990 Distel Verlag. <br />
<br />
G. Lozek / R. Richter, Zur Auseinandersetzung mit vorherrschenden bürgerlichen Faschismustheorien, in: D. Eichholtz / K. Gossweiler (Hrsg.), Faschismus Forschung, Pahl-Rugenstein Verlag 1980, S. 418 -451.<br />
<br />
Westphal, Reinhard: Psychologische Theorien über den Faschismus, in: Das Argument 32, Hamburg 1965.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=B%C3%BCrgerliche_Faschismustheorien&diff=5957Bürgerliche Faschismustheorien2019-03-17T14:24:06Z<p>Dio: /* Welche Positionen & Thesen gibt es */</p>
<hr />
<div>Zurück zu [[AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br><br />
<br />
<br />
== Worum geht es ==<br />
Wir stehen vor einer Fülle an bürgerlicher Faschismusforschung. Dabei werden verschiedenste Ansätze - ideengeschichtliche, sozialpsychologische<ref>Vgl. Westphal, Reinhard: Psychologische Theorien über den Faschismus, in: Das Argument 32, 1965.</ref>, strukturalistische etc.<ref>G. Lozek / R. Richter, Zur Auseinandersetzung mit vorherrschenden bürgerlichen Faschismustheorien, in: D. Eichholtz / K. Gossweiler (Hrsg.), Faschismus Forschung, Pahl-Rugenstein Verlag 1980, S. 418 -451, S. 417.</ref> - verfolgt. Die bürgerliche Forschung über den Faschismus wird in verschiedenen Disziplinen betrieben: in der Geschichtswisenschaft, in den Politikwissenschaften, der Psychologie, der Ökonomie und Anderen. <br />
<br />
Ein Hoch erlebte die akademische Faschismusforschung in den 1960er und 1970er Jahren. Damals gab es viele Arbeiten, die eine umfassende Faschismusbestimmung zum Ziel hatten. Aktuell entstehen vorwiegend eher Arbeiten zu einzelnen Phänomen wie einzelnen Gruppierungen der sogenannten Neuen Rechten, außerdem unzählige Detailstudien über den historischen deutschen Faschismus und Faschismus in anderen Ländern. Die politische Bandbreite der verschiedenen Theorien reicht von reaktionären, chauvinistischen bis hin zu links-bürgerlichen und sogenannten ''kritischen'' Ansätzen. Die verschiedenen Faschismuskonzeptionen beziehen sich sowohl auf den historischen Faschismus als auch auf Phänomene und Bewegungen nach 1945. Auch unter den Vertretern der bürgerlichen Faschismustheorien gab es zeitweise heftige Auseinandersetzungen, wie z.B. im sogenannten ''Historikerstreik'' (Habermas, Nolte). In jüngster Vergangenheit gibt es den zunehmenden Versuch den Faschismusbegriff von rechter Seite aufzugreifen, ihn antikommunistisch zu wenden und ihn so vollends auszuhöhlen. Dies geschieht zum Beispiel bei Pegida-Protesten oder durch die AfD. Gegendemonstranten und Antifaschisten werden als ''Faschisten'' difamiert. Oder rechte Hetzer verschleiern ihren antimuslimischen Rassismus als Kampf gegen den ''Islamfaschismus''. <br />
<br />
Die DDR-Faschismusforschung hat jahrzehntelang wichtige Auseinandersetzungen mit den bürgerlichen Wissenschaften geführt. Es ging hier nie nur um historische Abläufe, sondern im Kern um den inneren Zusammenhang zwischen [[AG_Deutscher_Imperialismus|Imperialismus]] und [[Grundannahmen_Faschismus|Faschismus]]. Die Auseinandersetzung um den Faschismusbegriff gehörte damals zu den wichtigsten Feldern im ideologischen Klassenkampf zwischen Sozialismus und Imperialismus. Nicht zuletzt, weil die Legitimationsideologie der BRD maßgeblich auf der oberflächlichen Abgrenzung vom Faschismus beruhte, während es im westdeutschen Staatsapparat gleichzeitig massive personelle, institutionelle und ideologische Kontinuitäten gab und die ökonomische Basis der Gesellschaft, die den Faschismus hervorgebracht hatte, nach wie vor intakt war. <br />
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Auch antifaschistische Wissenschaftler in der BRD haben sich entschieden den bürgerlichen Versuchen einer Revision und Relativierung des Faschismus und der Schuld des deutschen Imperialismus entgegengestellt. Zu nennen sind hier stellvertretend Reinhard Opitz, Wolfgang Abendroth und die ''Marburger Schule''. <br />
<br />
Die Auseinandersetzung mit den bürgerlichen Faschismustheorien hat immer noch große Bedeutung für uns: Für die Herstellung von Klassenbewusstsein, für unseren antifaschistischen Kampf – denn diese bürgerlichen Faschismustheorien sind es, die in der Arbeiterklasse tagtäglich durch das Bildungssystem und die Medien verbreitet werden. Sie führen zu vielen falschen Vorstellungen über die Geschichte Deutschlands und über den deutschen Staat, zu einer Verschleierung der wirklichen Verantwortlichen für die Gräuel des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges. Falsche Faschismuserklärungen sind aber auch eines der wichtigsten Instrumente der Herrschenden zur Verschleierung der Gesetzmäßigkeiten der Geschichte: Geschichte wird so unerklärlich, als Ergebnis der Taten ''großer'' oder eben ''teuflischer'' Männer. Das revolutionäre Potenzial und die Macht der kämpfenden Massen wird verschleiert. Apathie, Zynismus und falsche Identifikationsmomente sind die Folgen. Der Kampf um die richtige Faschismustheorie ist auch der Kampf für die Wiederaneignung des Kampfes der Arbeiterbewegung und damit seiner heroischen Kämpfer und Vorbilder. <br />
<br />
Die Beschäftigung mit und das Erkennen von bürgerlichen Vorstellungen ist aber auch der einzige Weg, den Opportunismus in der kommunistische Bewegung zu erkennen und zu überwinden. Denn die Debatten in der Kommunistischen Weltbewegung finden nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum statt, sondern inmitten der ideologischen Hegemonie des Klassengegners. Letztendlich sind alle falschen Vorstellungen Möglichkeiten des Eindringens bürgerlicher Ideologien in die Arbeiterbewegung. Auf der anderen Seite verarbeiteten auch bürgerliche Theorien Versatzstücke an sozialistischen und marxistischen Erkenntnissen. Dies macht es oft noch schwerer, ihren bürgerlichen Kern zu entdecken. <br />
<br />
=== Welche Positionen & Thesen gibt es ===<br />
''"Im engeren Sinne wird die bürgerliche Faschismusgeschichtsschreibung von zwei Zielstellungen bestimmt: Erstens das kapitalistische System vom Schandmal des Faschismus reinzuwaschen, d.h. faschistische Bewegungen und vor allem faschistische Herrschaftsformen als etwas der ‚westlichen‘, der ‚demokratisch-pluralistischen Gesellschaft‘ Wesensfremdes hinzustellen; zweitens zugleich die faschistischen Bewegungen, Herrschaftsformen und -methoden auf ihre Brauchbarkeit für die Stabilisierung des kapitalistischen Systems nach innen sowie für sein expansives Vorgehen nach außen zu untersuchen."''<ref>Ebd. S.418</ref><br />
<br />
Zwei Grundlinien der bürgerlichen Faschismuskonzeptionen lassen sich grob voneinander abgrenzen: <br />
<br />
1.) offen reaktionär-rehabilitionistische, oft auch sehr antikomplexe und vereinfachende, reduktionistische Theorien, hierzu zählen z.B. die Führertheorie und die Totalitarismusdoktrin. Spätestens ab den 1970ern waren deren Vertreter offen antikommunistisch. <br />
<br />
2.) Versuche der komplexeren Erfassungen des Faschismus, die allerdings mit Fehlannahmen arbeiteten und letztendlich objektiv auch Relativierungen der marxistischen Faschismustheorien bedeuteten. Diese Konzeptionen berücksichtigen oft soziale und ökonomische Faktoren, entstanden auch aus der Tatsache heraus, dass die Ergebnisse der Diskussionen in der Kommunistischen Internationalen und der marxistisch-leninistischen Forschung nicht mehr ignoriert werden konnten. <br />
<br />
Die bürgerliche Faschismusforschung erweist sich seit ihren Anfängen als unfähig, das Wesen des Faschismus richtig zu fassen. Da ihnen ein historisch-materialistisches Geschichtsverständnis fehlt, sind sie unfähig, den Faschismus (Überbau) als Phänomen des Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium (Basis) zu begreifen.<ref>Vgl. ebd. S. 420</ref><br />
<br />
=== Kurzer Historischer Abriss ===<br />
In den 1920er und 1930er Jahre begriffen viele den Faschismus als ausschließlich italienisches Phänomen. Während eine solche Auffassung zu diesem Zeitpunkt verständlich war, wurde sie nach dem Krieg in problematischer Weise von Theoretikern wie Renzo de Felice aufgegriffen, der für einen Faschismusbegriff argumentiert, der auf Mussolinis Herrschaft beschränkt ist. <br />
<br />
In den Jahren zwischen 1933-45 zeichneten sich die Arbeiten zum Faschismus durch eine Konzentration auf Deutschland aus. Viele Arbeiten über den Faschismus entstanden in der Emigration, darunter die von Arthur Rosenberg, Max Horkheimer und Otto Bauer. In eine andere Richtung ging die ''Totalitarismustheorie'', die in den USA entstand.<ref>Vgl. ebd. S.420f</ref> Diese erklärte den Faschismus als ''totalitäre'' Herrschaft, der sie die bürgerliche Demokratie gegenüberstellten. Die Beschreibung als ''totalitär'' wurde zugleich auf die marxistisch-leninistische Partei und die Sowjetunion ausgeweitet. Sie gewann in der Nachkriegszeit weiter an Bedeutung und wurde im Zug des Kalten Krieges weiterentwickelt. Die Gleichsetzung der Sowjetunion und des ''Nationalsozialismus'' als ''totalitäre'' Regime entsprachen perfekt dem Ideologiebedarf des US-Imperialismus. Wichtige Vertreter dieses Ansatzes waren Carl J. Friedrich und Hannah Arendt. Letztere wird auch in linken Kreisen zum Teil wohlwollend gelesen. Bis heute ist die Totalitarismustheorie eine wichtige imperialistische Propagandadoktrin, die sich in verschiedenen Abwandlungen (''Hufeisentheorie, Extremismustheorie'') in Schulbüchern, beim Verfassungsschutz und als Ideologie der bürgerlichen Parteien findet. <br />
<br />
In der BRD-Historiographie dominierten bald nach Kriegsende Versuche, den Faschismus zu mystifizieren, in dem Hitler zum Alleinschuldigen erklärt wurde, der das deutsche Volk verführt habe (Joachim Fest u.a.). Diese ''Führertheorie'' (''Hitlerismus'') löste für die deutsche Nachkriegsgesellschaft unbequeme Fragen und diente der Entschuldigung des deutschen Kapitals und der deutschen Eliten, die nun wieder die führenden Positionen im BRD-Staat besetzen konnten. Bis heute ist die ''Führertheorie'' in Deutschland weit verbreitet, nicht nur in populärwissenschaftlichen Dokumentation, die massenmedial weite Verbreitung finden, sondern auch im bundesdeutschen Schulunterricht und in der Unterhaltungsliteratur (z.B. der Bestseller ''Er ist wieder da''). <br />
<br />
Doch die bürgerliche Wissenschaft konnte die Ergebnisse und Überlegenheit der marxistischen Forschung nicht komplett ignorieren. Ab den 1960ern entwickelten sich in der bürgerlichen Wissenschaft zunehmend komplexere Theorien, wozu außerdem die veränderte politische Situation beitrug. Der Zusammenhang zwischen Faschismus und Imperialismus konnte nicht mehr vollständig verschleiert werden – zumindest die Rolle der Industriemonopole musste erklärt werden. Hier zu nennen sind beispielsweise strukturalistische Ansätze, wie der von Wolfgang Schieder oder verschiedene Varianten einer ''Modernisierungstheorie'' (Dahrendorf, Mommsen). Letztere besagt, der Faschismus sei eine mögliche Stufe auf der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften gewesen und dreht sich um die Frage, ob der Faschismus – der sonst häufig als ''antimodern'' charakterisiert wurde – nicht einen „Stoß in die Modernität”<ref>Ebd. S.428</ref> zur Folge hatte. Diese Theorien sind zum einen Zugeständnisse der westdeutschen Historiografie an die marxistisch-leninistische Forschung, da sie mit sozialen und ökonomischen Faktoren operieren. Auf der anderen Seite führten sie durch ihren Einfluss in antifaschistischen Kreisen auch zu Desorientierung und Verwässerung, da sie z.B. die konkrete Kritik des Imperialismus durch eine allgemeine Zivilisationskritik ersetzten. <br />
<br />
In den 1970ern und frühen 1980ern gewannen folgende Modelle (wieder) an Bedeutung: Das sogenannte ''Gruppenmodell'' (Neumann, Schweitzer), welches von einer Machtteilung zwischen den verschiedenen Gruppen im Faschismus (Partei, Armee, Bürokratie und Industrie) ausgeht.<ref>Vgl. ebd. S.430</ref> Auch Varianten der auf Thalheimer zurückgehenden [[Faschismus_und_Bonapartismus|Bonapartismustheorie]] galten nun zunehmend als marxistische Theorien, die der ''sowjet-treuen'' Forschung entgegengestellt wurden. Außerdem wurde in Auseinandersetzung sozialdemokratischer Wissenschaftler mit Lenins Imperialismustheorie das Konzept des [[Der_Platz_des_Imperialismus_in_der_Geschichte#Zur_Theorie|organisierten Kapitalismus]] in Anlehnung an das Kapitalismusmodell von Max Weber, entwickelt und mit der Faschismusfrage verbunden.<ref>Vgl. ebd. S.433</ref> “Faschistische Diktaturen figurieren in dieser Lesart als Hilfsmittel, um in hochentwickelten kapitalistischen Ländern Konzentrations- und Zentralisationstendenzen in der Ökonomie zu verstärken und dabei zugleich die Massen zu disziplinieren.”<ref>Vgl. ebd. S.434</ref> <br />
<br />
Einen weiteren Zweig der bürgerlichen Faschismusforschung bildet das Bestreben, den Volksmassen die Schuld am Faschismus zuzuschieben. Diese Bestrebung finden ihren Ausdruck in der Behauptung, der Faschismus sei aus dem Nationalismus von unten, sogar als ''nationalistischer'' Klassenkampf an die Macht gekommen.<ref>Vgl. ebd. S.440</ref> Nach Ende des Krieges gewannen außerhalb Deutschlands Deutungen an Einfluss, die den Faschismus als „deutschen Sonderweg“, als „nationalistische Volksbewegung” begriffen, die im „deutschen Wesen“ angelegt sei.<ref>Ebd. S.422</ref> Daraus wurde die ''Kollektivschuldthese'' und die These der ''nationalen Singularität'' abgeleitet. Diese Thesen gehen davon aus, dass nicht etwa die Monopolbourgeoisie oder andere gesellschaftliche Eliten die faschistische Bewegung aufgebaut und an die Macht gebracht hätten. Sondern die fanatisierten Massen, allen voran die Arbeiterklasse, hätten den Faschismus und dessen Verbrechen zu verantworten. Entsprechende Kampagnen wurden zum Beispiel von der ''Psychological Warfare Division'' der allierten Streitkräfte kreiert, bei der in Deutschland Plakate mit Bildern aus den KZs mit Aufschriften wie ''Diese Schandtaten: Eure Schuld'' aufgehängt wurden. Ähnliche Richtungen, die sich vor allem auf die empirische Erforschung sozialer Bewegungen und deren Zusammensetzung konzentrieren, erklären den Faschismus aus der sozialen und politischen Situation einzelner Gruppen, meist dem städtischen Kleinbürgertum, als eigenständige Bewegung dieser Schichten (''Mittelstandsthese''). Außerdem wird die Selbstdarstellung der NSDAP übernommen und diese als eine wahrhafte ''Volkspartei'' gedeutet, in welcher verschiedene soziale Gruppen ihre Interessen gewahrt sahen. Noch verfälschender und antikommunistisch motiviert, sind solche Ansätze, die eine ''wesensbedingte Affinität'' zwischen Arbeiterklasse und Faschismus zu finden suchen. Solche Versuche, wie von Karl Dietrich Bracher, übernehmen die demagogische Selbstbezeichnung der Faschisten als ''sozialistisch'' und ''Arbeiterpartei''. Um mehr Differenziertheit bemüht sind Anschauungen, die eine militaristische und reaktionäre deutsche Denk- und Wesenstradition als ursächlich für den deutschen imperialistischen Expansionismus und die faschistische Diktatur ausmachen. Das demokratische Erbe Deutschlands wird dabei negiert und im Extremfall ein völkerpsychologisch-biologistisches Bild eines deutschen Wesens gezeichnet. Aber auch Vorstellungen wie der Faschismus als Verwirklichung des deutschen Nationalgedanken sind nach wie vor verbreitet. <br />
<br />
Zum Schluss sind noch subjektivistische Theorien zu nennen, die bis heute großen Einfluss haben. Ihr Geschichtsverständnis ist durch eine Verabsolutierung und Überbetonung des subjektiven Faktors gekennzeichnet. Am krassesten zeigt sich diese Psychologisierung in der Fülle an ''Hitler-Darstellungen''.<br />
<br />
=== Zusammenfassung ===<br />
Trotz ihrer großen Unterschiede und teilweise entgegengesetzen politischen Grundannahmen vereint die bürgerlichen Faschismuskonzeptionen allesamt die Ablehnung der marxistisch-leninistischen Faschismustheorie. Es sind hauptsächlich drei Vorwürfe, die sie der marxistisch-leninistischen Forschnung machen: 1.) Sie stünde in Widerspruch & Diskrepanz zu empirischer historischer Forschung. 2.)Dogmatismus: Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Faschismus 3.) Die sozialistische Faschismusforschung betreibe eine unzulässige Übertragung der Erfahrungen des deutschen Faschismus auf andere Länder und Bewegungen.<ref>Vgl. ebd. S. 447</ref><br />
<br />
== Bezug zu den Grundannahmen ==<br />
<br />
Ist in Arbeit.<br />
<br />
== Was steht dazu in den Programmatischen Thesen ==<br />
"Andere Faschismuserklärungen, die den Faschismus beispielsweise als eine Herrschaft von Einzelpersonen oder aber des Kleinbürgertums oder gar der Massen darstellen, sind falsch. Sie tragen zum Verständnis des Faschismus nichts bei und dienen objektiv dazu, die Bourgeoisie und ihren Staat von der Verantwortung für den Faschismus reinzuwaschen oder ihre Rolle zu relativieren."<ref>K.O., Programmatische Thesen, Abschnitt Faschismus und Antifaschismus</ref><br />
<br />
== Arbeitsschritte ==<br />
1. Ergänzen weiterer zentraler bürgerlicher Faschismustheoretiker. Es fehlen in dieser Überblickstellung u.A. noch: <br />
* Der Faschismus wird mit Methoden der Sozialpsychologie erklärt. Frankfurter Schule - Theorien des autoritären Charakters (Horkheimer, Adorno) - freudianische - sozialpsychologische Ansätze (Und früher: Wilhelm Reich's ''Massenpsychologie''), Erich Fromm's ''Furcht vor der Freiheit''<br />
* Ernst Nolte <br />
* Faschismus als Bündnis <br />
* Zivilsationsbruch <br />
* Poststrukturalistische Ansätze <br />
* Faschismus als „palingenetischer Ultranationalismus“ (Roger Griffin) <br />
* Antideutsche Faschismustheorien (stehen in der Traditionslinie der ''kritischen Theorie''), dabei vor allem Moishe Postone und die diversen Antisemitismus-Theorien. <br />
<br />
2. Generell muss die jüngste Faschismusforschung noch besser erfasst werden. Das betrifft den Zeitraum ab 1989. Welche Auswirkung hatte die Konterrevolution auf die Entwicklung bürgerlicher Faschismustheorie? Welche Theorien sind heute am meisten verbreitet? In welchen Teilen der Arbeiterklasse spielen welche Erklärungsmodelle die größte Rolle? Wie könnte sinnvolle Gegenaufklärung aussehen. Insbesondere solche Theorien die im Massenbewusstsein besonders großen Einfluss haben, sind für uns besonders relevant. Ebenso solche die in linken Kreisen große Verbreitung haben. <br />
<br />
3. Die Literatur aus DDR und BRD, die eine sehr umfassende Auseinandersetzung mit diesen Theorien bereits geleistet hat, muss systematisch erfasst werden und wieder genutzt werden.<br />
<br />
== Literatur / Quellen ==<br />
Eichholtz, Dietrich /Gossweiler, Kurt: Faschismus Forschung, Köln 1980. <br />
<br />
Haug, Wolfgang et al: Ideologische Komponenten in den Theorien über den Faschismus, in: Das Argument 33, Hamburg 1965, S.1-34<br />
<br />
Kühnl, Reinhard: Faschismustheorien und Politik. Die Entwicklung der Faschismusdiskussion in der Bundesrepublik Deutschland, in: Faschismustheorien. Ein Leitfaden, 1990 Distel Verlag. <br />
<br />
G. Lozek / R. Richter, Zur Auseinandersetzung mit vorherrschenden bürgerlichen Faschismustheorien, in: D. Eichholtz / K. Gossweiler (Hrsg.), Faschismus Forschung, Pahl-Rugenstein Verlag 1980, S. 418 -451.<br />
<br />
Westphal, Reinhard: Psychologische Theorien über den Faschismus, in: Das Argument 32, Hamburg 1965.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
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<hr />
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<br />
== Worum geht es? ==<br />
Der Begriff “Sozialfaschismus” als Bezeichnung für die Politik der Führung der SPD wurde durch verschiedene Aussagen und Losungen der KomIntern und der KPD in der Weimarer Republik geprägt. Mit dem Begriff sollte deren reaktionäre und arbeiterfeindliche Rolle aufgezeigt werden. <br />
<br />
Kaum eine politische Orientierung hat in der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung eine so große Kontroverse ausgelöst wie die sogenannte Sozialfaschismusthese. Nach 1945 herrschte sowohl unter DDR-Historikern als auch unter DKP-Theoretikern weitgehende Einigkeit darüber, dass die Sozialfaschismusthese (gemeinsam mit der revolutionären Gewerkschaftsoppositionspolitik) der KPD in der Weimarer Republik ein Fehler – wenn nicht sogar der aller verhängnisvollste – gewesen sei und zu großen Problemen im Kampf gegen den Faschismus geführt habe. Die Theorie vom Sozialfaschismus habe den qualitativen Unterschied zwischen der bürgerlichen Demokratie und faschistischer Herrschaft relativiert und sei ein wichtiger Grund für das Scheitern einer erfolgreichen Einheitsfront mit der Sozialdemokratie gewesen. Sie habe Unterschiede zwischen der sozialdemokratischen Basis und der faschistischen Bewegung nicht erkannt. Teilweise wird sogar explizit die Sozialfaschismusthese verantwortlich gemacht für das Scheitern des antifaschistischen Widerstands und den Machtantritt der Faschisten. <br />
<br />
Der VII. Weltkongress mit den Beschlüssen zur Einheits- und Volksfrontpolitik wird als Korrektur und Abkehr von der Sozialfaschismusthese bewertet und ist in diesem Sinne der zentrale Bezugspunkt für die antifaschistische Strategie und Taktik der Kommunisten auch nach 1945, insbesondere auch was die Neu-Ausrichtung des Verhältnisses zur Sozialdemokratie betrifft ([[Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts |siehe auch Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts]]).<br />
<br />
== Welche Positionen gibt es? Wer vertritt sie? ==<br />
=== Historischer Überblick ===<br />
Den historischen Hintergrund der Sozialfaschismusthese bildete laut Kurt Gossweiler “[d]as Erlebnis, dass die sozialdemokratischen Führer fähig waren, Millionen Proletarier auf die Schlachtfelder des imperialistischen Krieges zu jagen; dass sie fähig waren, im Bündnis mit den kaiserlichen Generälen das revolutionäre deutsche Proletariat abzuschlachten und seine Führer kaltblütig ermorden zu lassen, – diese Erlebnisse haben den Grundstein zur Theorie vom Sozialfaschismus gelegt”.<ref>Gossweiler, Kurt: Zur Strategie und Taktik der KPD in der Weimarer Republik, 2002.</ref><br />
<br />
Erstmalig taucht der Begriff wahrscheinlich in den Diskussionen des Exekutivkomitees der KomIntern (EKKI) Anfang 1924 um den gescheiterten Hamburger Aufstand auf. Als bekanntester Ausspruch wird Josef Stalin zitiert, der die Sozialdemokratie als “Zwillingsbruder” des Faschismus bezeichnete.<ref>Stalin, Josef: Zur internationalen Lage, Berlin/DDR 1952, S.253.</ref> Damit war gemeint, dass sowohl Sozialdemokratie als auch Faschismus Stützen des imperialistischen Systems seien. Ein Bündnis mit der Führung der SPD wurde durch die KPD abgelehnt. Diese Linie wurde auf dem 6. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1928 bestätigt und weiter ausgearbeitet. <br />
<br />
Sieben Jahre später auf dem VII. Weltkongress der Komintern 1935 beschloss der Kongress dann die Abkehr von der Theorie des Sozialfaschismus und außerdem die taktische Neuorientierung auf die Volksfront. Die These vom Sozialfaschismus wurde als Hindernis im Ringen um eine proletarische Einheitsfront bewertet (Pieck 1935). Im Gegensatz zur Sozialfaschismusthese orientierte die Volksfrontpolitik nun auf eine Aktionseinheit der Kommunisten und der Sozialdemokraten im Kampf gegen den Faschismus und unter bestimmten Bedingungen sogar auf die Bildung gemeinsamer Volksfront-Regierungen (so z.B. in Frankreich und Spanien). Auf der einen Seite betonten mehrere Redner, dass es richtig gewesen sei, vor 1930 den scharfen Kampf gegen die SPD geführt zu haben (Pieck 1935), auf der anderen Seite, grenzte sich insbesondere Dimitroff mehrmals von “sektiererischen Fehlern” der Vergangenheit ab und bezog dies auch auf die Bündnispolitik der KPD. <ref>Dimitroff, Georgi: Arbeiterklasse gegen Faschismus, 1935.</ref> Inwiefern die Abkehr von der Sozialfaschismusthese Ergebnis taktischer oder grundsätzlicher Erwägungen war, muss noch untersucht werden.<ref>Vgl. Stoodt, Hans Christioph: Volksfront, breites Bündnis, Antimonopolistische Demokratie, 2017. URL: http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2017/03/volksfront-breites-buendnis-antimonopolistische-demokratie/ (27.12.2018). </ref><br />
<br />
Eine genaue Bewertung der Diskussionen des 7.Weltkongresses und dessen Folgen steht für uns noch an. Für die große Mehrheit der deutschen kommunistischen Bewegung schienen nach dem Zweiten Weltkrieg die Lehren der Vergangenheit allerdings eindeutig zu sein: Sowohl in der jungen DDR als auch in der sich erst wieder konstituierenden, dann ab August 1956 erneut illegalen KPD war man sich einig darin, dass die These vom Sozialfaschismus einer der gravierendsten Fehler der kommunistischen Weltbewegung (KWB) vor 1933 gewesen war. Viele gingen sogar so weit, dass die Überwindung der Sozialfaschismusthese und die Einsicht in die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie und anderen „fortschrittlichen Kräften“ die zentrale Lehre aus dem deutschen Faschismus gewesen sei. Die Vorwürfe, die der KPD gemacht wurden und bis heute im Raum stehen, lassen sich wie folgt zusammenfassen: <br />
<br />
* Sie habe keine Unterscheidung zwischen “Sozialfaschisten” und “Nationalfaschisten” getroffen, Faschismus und Sozialdemokratie also gleichgesetzt und gleichermaßen bekämpft. <br />
<br />
* Die KPD habe die bürgerlich-demokratische Herrschaft und die faschistische Diktatur gleichgesetzt. Sie hätte ein Bündnis mit der Führung der SPD zur Verteidigung demokratischer Errungenschaften frühzeitig eingehen sollen. So habe sie den Widerstand gegen den Faschismus geschwächt. <br />
<br />
* Die KPD habe den Unterschied in der sozialen Basis der Sozialdemokratie und der faschistischen Bewegung nicht erkannt. So habe die sie die faschistische Massenbewegung unterschätzt. <br />
<br />
* Der Begriff Sozialfaschismus war massenfeindlich, weil er nicht schaffte, den Unterschied zwischen sozialdemokratischer Basis und Führung differenziert zu vermitteln und so den Aufbau einer “Einheitsfront von unten” verhinderte. <br />
<br />
Dies sind auch Vorwürfe, die den Kommunisten von Seite bürgerlicher Antikommunisten und der Sozialdemokratie gemacht werden. Sie suchen so ihre arbeiterfeindliche und verräterische Rolle in der Weimarer Republik und ihre Schuld an der Machtübertragung an die NSDAP zu vertuschen. Die SPD hatte in der Weimarer Republik ihrerseits selbst eine aggressiv antikommunistische Propaganda der systematischen Gleichsetzung von Kommunismus und Faschismus betrieben – musste sich im antikommunistischen Klima des Kalten Krieges jedoch nie für diese „rotlackierte-Faschisten“-These rechtfertigen, geschweige denn sich den Vorwurf einer Mitschuld am Aufstieg des Faschismus gefallen lassen. Sie lag mit ihrer damaligen Politik rückblickend ganz auf der Linie der Totalitarismus-Doktrin der Nachkriegszeit und damit völlig im Einklang mit der Staatsraison der BRD. Das Erkenntnissinteresse der kommunistischen Bewegung kann dagegen nicht in der Diffamierung der damaligen Genossen oder in ahistorischen Schuldzuweisungen und Abrechnungen liegen, sondern richtet sich ganz auf die Frage nach den Ursachen unserer historischen Niederlage, nach den Fehlern, die die KPD und die Arbeiterklasse so viele Opfer gekostet hat. <br />
<br />
Im Folgenden will dieser Artikel einen ersten Überblick über die verschiedenen Einschätzungen zur Sozialfaschismusthese innerhalb des Spektrums der deutschen kommunistischen Bewegung geben.<br />
<br />
=== DKP ===<br />
Die DKP bewertete und bewertet die Sozialfaschismusthese als den größten Fehler der deutschen Kommunisten. Viele DKPler geben in der Regel der KI, aber insbesondere dem Einfluss Josef Stalins die Schuld daran, die deutschen Kommunisten in ihrer Einschätzung irregeleitet und dazu gebracht zu haben, die SPD als "sozialfaschistisch" zu bekämpfen, anstatt ihr gegenüber eine Einheitsfrontpolitik zu betreiben. In dem Buch “25 Jahre DKP” herausgegeben vom ehemaligen Vorsitzenden der DKP, Heinz Stehr und seinem damaligen Stellvertreter Rolf Priemer, entwickelten verschiedene damalige Leitungsmitglieder der DKP Grundpositionen zu Geschichte und Ideologie der DKP. In dem Abschnitt zur Parteifrage heißt es: <br />
{{Zitat |Denken wir nur an ein Beispiel, an den 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale von 1934 [sic!] [gemeint ist 1935; Anm. Autor] und die Brüsseler Konferenz der KPD im Jahr darauf. Dort erfolgte eine kritische Aufarbeitung der Erfahrungen im Kampf gegen den Faschismus, die Korrektur eigener Fehler, wie z. B. der „Sozialfaschismusthese". Es wurde eine antifaschistische Einheitsfrontstrategie entwickelt, die bis heute zu den Grundlagen kommunistischer Politik zählt. […] Es bleibt dabei eine bittere Wahrheit, daß auch nach dem 7. Weltkongreß durch den Stalinschen Dogmatismus der kommunistischen Bewegung schlimmer Schaden entstand, durch seine Willkürherrschaft tiefe Wunden geschlagen wurden.|Freyeisen, Bruni et al.: Aufzeichnungen über die Parteifrage, Essen 1993, S.43.}} <br />
<br />
Der Umschwung zur "Volksfront"-Politik, so die übliche Einschätzung in der DKP, sei zwar richtig gewesen, allerdings zu spät vollzogen worden. Es hätte bereits frühzeitig auf ein Bündnis mit der Führung der SPD gesetzt werden sollen. Auch der VI. Weltkongress habe noch eine falsche Faschismusanalyse vertreten. Die Kommunisten hätten zu diesem Zeitpunkt die Weimarer Republik verteidigen müssen, anstatt für die sozialistische Revolution zu kämpfen, liest man etwa in einem DKP Bildungsheft von 2011. <br />
{{Zitat |So wurde auf dem Vl. Weltkongress der Komintern vom Ende der zwanziger Jahre eingeschätzt, eine neue Epoche der Kriege und Revolutionen beginne. Diese Einschätzung war ja nicht durchweg falsch, wurde jedoch mit der Folgerung verbunden, der bürgerliche Demokratie-Typus sei historisch überholt, denn die Revolution stehe auf der Tagesordnung[…].Das wurde teils unzureichenden, teils direkt falschen Faschismus-Analyse (Sozialfaschismus-”Theorie”) verbunden und führte dazu, dass die Kommunisten in Deutschland ihre historische Aufgabe bei der Verteidigung der Weimarer Republik verkannten.|DKP-Bildungsheft: Imperialistischer Staat und Demokratie, 2011, S.15.}} <br />
<br />
Vor allem habe die Sozialfaschismusthese den Unterschied zwischen der bürgerlichen Demokratie und der faschistischen Diktatur nicht erkannt und so den Widerstand massiv geschwächt. Der führende DKP-Theoretiker Josef Schleifstein schreibt dazu: <br />
{{Zitat |Dies wurde durch die Schlußfolgerung ergänzt, dass man mit der ‚Konstruierung eines Gegensatzes zwischen Faschismus und der bürgerlichen Demokratie sowie zwischen den parlamentarischen Formen der Diktatur der Bourgeoisie und den offenen faschistischen Formen‘ aufhören müsse. Es ist klar, daß dies nicht nur die Herstellung der Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Massen gegen faschistische Gefahr erschweren, sondern auch zu einer Unterschätzung dieser Gefahr führen mußte. So wurde der für die Kampfbedingungen der Arbeiterklasse bedeutsame Unterschied zwischen bürgerlich-parlamentarischen und faschistischen Herrschaftsmethoden der Bourgeoisie negiert[…].|Schleifstein, Josef: Die „Sozialfaschismus“-These: Zu ihrem geschichtlichen Hintergrund, Essen 1980.}} <br />
<br />
Mit dem VII. Weltkongress hatte die Bewegung, so die DKP-Position, diese historische Lektion aber gelernt – und bewahrt sie seither in der Strategie der Antimonopolistischen Demokratie (AMD), welche u.a. zentral mit dem 7.Weltkongress begründet wird <ref>vgl. Stoodt, HC.: Volksfront, breites Bündnis, Antimonopolistische Demokratie, Frankfurt, 2017. </ref><ref>vgl. Spanidis, Thanasis: Der VII. Weltkongress und seine Folgen, 2017. </ref> obwohl die antifaschistische Volksfront-Taktik nie als langfristige und allgemeingültige Strategie gedacht war und auch nicht als solche beschlossen wurde.<ref>vgl. Stoodt, HC.: Volksfront, breites Bündnis, Antimonopolistische Demokratie, Frankfurt 2017. </ref> Die praktischen Folgerungen sind weitreichend – im Programm von 1978 betonte die DKP ausdrücklich ihr freundschaftliches Verhältnis zur Sozialdemokratie und bekundigte ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der SPD ([[Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts|siehe auch Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts]] oder auch [[„Antimonopolistische Demokratie“ (DKP)| Antimonopolistische Demokratie]]).<ref>DKP: Protokoll des Mannheimer Parteitags der Deutschen Kommunistischen Partei, Mannheim 1978, S.259. </ref><br />
<br />
Allerdings gibt es Teile der DKP und einige DDR-Historiker, die anerkennen, dass die historischen Erfahrungen seit 1914 – vor allem während der Novemberrevolution und der Weimarer Republik – der Sozialfaschismusthese große Plausibilität gaben. So zum Beispiel Josef Schleifstein in seiner Monographie “Die Sozialfaschismusthese”, in welcher er ausführlich den Verrat der SPD an der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik nachzeichnet. <br />
{{Zitat |Nur auf diesem Hintergrund wird die ‚Sozialfaschismus‘-These überhaupt verständlich. Sie hat zweifellos die Herstellung einer gemeinsamen Front gegen den Faschismus erschwert. Aber sie war nicht die Ursache, sondern die Reaktion auf die sozialdemokratische Politik seit dem August 1914 und seit der Novemberrevolution 1918.|Schleifstein, Josef: Die „Sozialfaschismus“-These: Zu ihrem geschichtlichen Hintergrund, Essen 1980.}} <br />
<br />
Die “linken” Kräfte in der DKP stimmen der Analyse, die Sozialdemokratie sei die "soziale Hauptstütze" (KI Programm 1928) des Imperialismus für den Ersten Weltkrieg, die Novemberrevolution und den größeren Teil der Geschichte der Weimarer Republik, zu. Die Orientierung, die rechte Führung der SPD zu bekämpfen und den Einfluss des Opportunismus in der Arbeiterklasse zurückzudrängen war demnach richtig. Der Fehler der Komintern und der deutschen Kommunisten bestand im Wesentlichen darin, zu spät erkannt zu haben, dass die Bourgeoisie sich mit dem Faschismus eine "zweite Hauptstütze" aufgebaut hatte und auf die Integrationsfunktion der Sozialdemokratie für die Vorbereitung des nächsten imperialistischen Krieges nicht mehr angewiesen war.<br />
<br />
=== Kurt Gossweiler / DDR ===<br />
Die Auffassungen in DKP und DDR zur Sozialfaschismusthese waren wohl überwiegend deckungsgleich. Eine tiefergehende Recherche über eventuellen Dissens innerhalb der DDR-Wissenschaft steht aber noch an. Exemplarisch für die Bewertung der Sozialfaschismusthese seitens der DDR-Historiographie kann die Studie “Zur Strategie und Taktik der KPD” des DDR-Historikers Kurt Gossweiler deswegen nicht genannt werden, weil sie zwar 1957 von ihm verfasst wurde, allerdings erst viele Jahre später nach der Konterrevolution veröffentlicht wurde (2002). Trotzdem kann sie als interessanter Einblick in interne Diskussionen unter DDR-Historikern eingeschätzt werden. Gossweiler zusammenfassendes Urteil über die These vom Sozialfaschismus ist: <br />
{{Zitat |Obwohl die Kennzeichnung der Politik der rechtssozialistischen Führer als Politik des schändlichsten Verrats an den Interessen der Arbeiterklasse und der Wegbereitung für den Faschismus vollkommen richtig war, waren die wesentlichsten Schlussfolgerungen, die seitens der K.I. und der KPD daraus gezogen wurden, irrig. Das betrifft vor allem die Theorie des “Sozialfaschismus”; die Einschätzung der SPD als Hauptstütze der Bourgeoisie bis 1933 und die These, dass der Hauptstoß gegen die SPD geführt werden müsse.|Gossweiler, Kurt: Zur Strategie und Taktik der KPD in der Weimarer Republik, 2002.}}<br />
<br />
Er spricht sich klar gegen Illusionen über die sozialdemokratischen Führer aus, deren “offizielle Strategie” die “Verewigung der Spaltung” der Arbeiter sei.Es sei aber die Aufgabe der Kommunisten gewesen, den Arbeitern selbst die Möglichkeit zu geben, sich davon zu überzeugen, dass “nur die Kommunisten Vorkämpfer der Arbeitereinheit, die rechten sozialdemokratischen und Gewerkschaftsführer aber verantwortlich für die Spaltung und deren Aufrechterhaltung sind.”<ref>ebd. </ref> Das hätte eine “solche elastische Taktik” erfordert, “dass es auch den raffiniertesten Manövern der rechten Führer nicht gelingt, die Kommunisten in den Augen der Massen als Gegner der Arbeitereinheit hinzustellen […]”.<ref>ebd., S.X-Y. </ref> Die These vom Sozialfaschismus habe es den Führern der Sozialdemokratie leicht gemacht, die KPD als Gegner der Einheit zu brandmarken: <br />
{{Zitat |Diese mehrfachen, demagogischen Angebote der SPD-Führung an die KPD wurden von ihr abgelehnt mit der Begründung: Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Arbeitern – ja, mit den sozialfaschistischen Führern – niemals. Diese starre Festlegung der KPD hat es den sozialdemokratischen Führern überhaupt erst erlaubt, solche demagogischen Einheitsfrontangebote zu starten, da sie von vornherein wussten, dass keine Gefahr ihrer Annahme bestand. [… ]|ebd.}} <br />
<br />
Er betont aber, dass die Sozialfaschismusthese die historische Widerspiegelung des Verrats der Sozialdemokratie war und nicht lediglich dem “Dogmatismus” einzelner Köpfe wie Stalin entsprang: <br />
<br />
{{Zitat |Durch die Ereignisse in Italien, Bulgarien und Deutschland war auch die Frage des Verhältnisses zwischen Faschismus und Sozialdemokratie aufgeworfen worden. In allen diesen Ländern hatte sich gezeigt, dass die Spitzen der sozialdemokratischen Parteien und der reformistischen Gewerkschaften zu einer Verständigung mit dem Faschismus zu kommen suchten. […] Die Theorie von den ‚Zwillingsbrüdern‘ kann nicht als die Theorie eines Einzelnen, Stalins, betrachtet werden, sondern sie war die Auffassung der übergroßen Mehrzahl aller führenden Köpfe der Kommunistischen Internationale, gebildet auf Grund der Erfahrungen der Jahre 1920 bis 1924.|ebd.}}<br />
<br />
Trotzdem hält er die “die Gleichsetzung von Faschismus und Sozialdemokratie” für einen Fehler, sie “war theoretisch falsch und praktisch von verhängnisvollster Auswirkung, weil sie eine wichtige theoretische Begründung für all die linkssektiererischen Fehler in der darauffolgenden Zeit […] wurde”. Das gleiche gelte für die Einordnung der linken Sozialdemokratie als größten Feind der Arbeiterbewegung: “Ein weiterer Ausdruck der Abweichung in der Richtung des linken Sektierertums war auch die neuerliche schematische Abstempelung aller linken SP-Führer als der gefährlichsten Feinde der Arbeiterbewegung”.<ref>ebd. </ref> <br />
<br />
Gossweiler kritisiert schließlich den Begriff Sozialfaschismus als schematische und unscharfe Weiterentwicklung der Leninschen Begriffe von „Sozialimperialismus“ und „Sozialchauvinismus“. Er kritisiert die KPD und KI für ihr fehlendes Verständnis der Unterschiede der Basis und der Herrschaftsformen von Sozialdemokratie und Faschismus. <br />
{{Zitat |Die Formulierung “Sozialfaschismus” wäre nur dann zutreffend, wenn die SPD zum Träger der faschistischen Diktatur, d.h. der offenen, terroristischen Diktatur über die gesamte Arbeiterklasse und deren Organisationen werden könnte, ohne dass sie damit aufhörte, Sozialdemokratie zu sein, d.h. Agentur der Bourgeoisie, deren spezifischer Wert für die Bourgeoisie darin besteht, dass sie das Vertrauen eines erheblichen Teiles der organisierten Arbeiterklasse besitzt. Das aber ist unmöglich. Die Sozialdemokratie kann direkter Träger der bürgerlichen Herrschaft nur unter der Bedingung sein, dass ihr die Bourgeoisie ein Mindestmaß an Spielraum zur Vertretung ökonomischer und politischer Forderungen der Arbeiterklasse lässt, d.h. unter der Bedingung, dass noch ein Mindestmaß an bürgerlicher Demokratie erhalten bleibt.|ebd.}} <br />
<br />
Die Gewalt in der Herrschaft der Sozialdemokratie sei eher die Ausnahme, nicht die Hauptmethode. Die Sozialdemokratie könne es sich nicht leisten, ihre gesamte Basis zu verprellen. “Zur Ausübung der faschistischen Diktatur muss sich deshalb die Bourgeoisie andere Instrumente schaffen, nicht etwa, weil Sozialdemokratie und Faschismus dem Klasseninhalt ihrer Politik nach unversöhnliche Gegensätze bilden würden, sondern weil die Art und Weise, wie beide die Bourgeoisie vor dem Ansturm der Arbeiterklasse zu bewahren suchen, in ihrem Hauptakzent verschieden sind.”<ref>ebd. </ref> Nichtsdestotrotz ist es nur die Sozialdemokratie, die den Faschismus an die Macht verhelfen kann, sie ist “für die Bourgeoisie dennoch von großer Wichtigkeit in der Übergangsphase von der bürgerlichen Demokratie zur faschistischen Diktatur. In dieser für die Bourgeoisie kritischen Situation des Überganges von der einen zur anderen Herrschaftsform […] hat die Sozialdemokratie die Funktion, die Bourgeoisie gegen die Angriffe der Arbeiterklasse abzuschirmen. Ob sie diese Funktion zu erfüllen vermag oder nicht, hängt weitgehend davon ab, ob die kommunistische Partei ihr erlaubt, diese Rolle zu spielen.”<ref>ebd. </ref> ([[Antifaschismus |Siehe Antifaschistische Strategie]] und [[Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts|Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts]])<br />
<br />
=== K-Gruppen ===<br />
Ein vollständiger Überblick über die verschiedenen Haltungen der maoistischen K-Gruppen in Westdeutschland zur Sozialfaschismus-Frage kann hier nicht erfolgen. Allgemein kann gesagt werden, dass die Mehrzahl die Einschätzung der SPD als sozialfaschistisch durch die KPD für einen Fehler hielt oder zumindest nicht auf die SPD nach 1945 anwenden mochte. Es gab aber auch solche Gruppen, die die Sozialfaschismusthese in ihrer Grundaussage als richtig einstuften, oder sogar die Kennzeichnung “sozialfaschistisch” auf die SPD und teilweise auch die Sowjetunion anwendeten. <br />
<br />
Ein Beispiel für einen positiven Bezug auf die Grundaussage der Sozialfaschismusthese ist die Dissertation des KPD/Aufbauorganisation (KPD/AO) - (später KPD) Theoretikers Alexander von Plato. Er vertritt die Auffassung, dass die Analyse der KPD die SPD sei die “Steigbügelhalterin” des Faschismus gewesen, durchaus richtig war und dass es tatsächlich viele “Überschneidungen zwischen sozialdemokratischen und faschistischen Maßnahmen” in der Weimarer Republik gegeben habe.<ref>Von Plato, Alexander: Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik, Berlin 1973, S.324-331.</ref> Er führt aus: <br />
{{Zitat |Die Geschichte der SPD beweist weiterhin, dass der Vorwurf der KPD und der Komintern, die SPD-Führung sei sozialfaschistisch, Gültigkeit besaß: Sowohl in ihrer Politik der Verelendung der Arbeiterklasse als auch in ihrem Terror, sowie in ihrem Arrangement mit den Nationalsozialisten und schließlich in ihrer Ideologie wies die deutsche Sozialdemokratie dem Faschismus den Weg und erleichterte der NSDAP ihren Aufstieg. Die SPD war [...] einer der Wegbereiter des Faschismus.|Von Plato, Alexander: Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik, Berlin 1973, S.328f.}}<br />
<br />
Diese Position findet sich heute wieder beim Kommunistischer Aufbau (KA) in ihrer Broschüre “Die historische Bolschewisierung”, dort übernehmen sie weitestgehend die Einschätzung Platos.<ref>vgl. Kommunistischer Aufbau: Die historische Bolschewisierung, 2015, S.17-19.</ref> <br />
<br />
Zum Teil findet sich bei den K-Gruppen auch eine Übertragung der Sozialfaschismusthese auf den real existierenden Sozialismus und Gleichsetzung von Faschismus und Sowjetunion. Im Zentralorgan der KPD-AO (später KPD), der Roten Fahne, hieß es 1976: <br />
{{Zitat |Daher ist es völlig richtig, die Diktatur der Bourgeoisie in der Sowjetunion als sozialfaschistische Diktatur zu kennzeichnen, die sich – je nach besonderen Bedürfnissen der Täuschung oder Niederhaltung – hinter den Aushängeschildern ‚Staat des ganzen Volkes‘ oder ‚Diktatur des Proletariats‘ versteckt. Auch Hitler erklärte seinen faschistischen Terrorstaat zum Ausdruck einer ,Volksgemeinschaft’, in dem es angeblich keine Klassen mehr gäbe, auch er bediente sich sozialistischer Phrasen, um über den Klassencharakter der faschistischen Herrschaft zu täuschen. Der Unterschied zwischen Hitler und den neuen Zaren besteht allein darin, dass diese die faschistische Unterdrückungsmaschine und die sozialistischen Phrasen noch umfassender und perfekter ausgebaut haben.|zitiert nach Fischer, Michael: Horst Mahler. Biographische Studie zu Antisemitismus, Antiamerikanismus und Versuchen deutscher Schuldabwehr, Karlsruhe 2014, S.266.}} <br />
<br />
Auch die DDR war nicht vor dem Faschismusvorwurf sicher. In der Zeitung der “Roten Hilfe” der KPD (AO) hieß es: “Ein Teil unseres Volkes muss unter dem Faschismus des DDR Regimes leben”.<ref>Ebd.</ref> <br />
Die kommunistischen Parteien des “Sowjetlagers” waren aus Sicht einiger K-Gruppen also zu den Hauptvertretern eines “Sozialfaschismus” und damit zum Hauptfeind erklärt worden, selbst in der Situation des Sturzes der Salazar-Diktatur, sah z.B. die KPD (AO) die Hauptgefahr in einer "sozialfaschistischen Diktatur" getragen durch die sowjetnahe PCP.<ref>Steffen, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971-1991, 2002, S.116.</ref> <br />
<br />
Der Kommunistische Arbeiterbund (KAB) lehnte den Begriff ab und betonte die Notwendigkeit breiter antifaschistischer Bündnisse.<ref>vgl. ebd., S.49.</ref> Allerdings leiste die Sozialdemokratie ihren Beitrag zur Faschisierung der Gesellschaft, z.B. durch Notstandsgesetzgebung.<ref>ebd.</ref> <br />
<br />
Der Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW) gab im September 1975 einen Artikel von Joscha Schmierer zum Thema Sozialfaschismus in einer Broschüre heraus. Diese war u.a. eine Reaktion auf die Dissertation Platos und Publikationen in der KPD-AO Zeitung Rote Fahne. Diese würde in “apologetischer Weise” die Sozialfaschismus-These behandeln, die in der Praxis die Entstehung einer Aktionseinheit der Arbeiter verhindert habe.<ref>Schmierer, Joscha: Sozialfaschismusthese und politische Programmatik der KPD 1928-33 (Sept. 1975) Materialien zur Analyse von Opposition, 1975, S.6f.</ref> Zusammenfassend trifft der KBW-Autor die Einschätzung: “Die Sozialfaschismusthese ist […] eine von mehreren wichtigen Abweichungen vom Marxismus-Leninismus, die die Politik der Komintern und insbesondere die Politik der KPD nach dem VI. Weltkongress kennzeichneten. […] Durch den VII. Weltkongress wurden diese Fehler korrigiert”.<ref>ebd., S.5f.</ref> Allerdings habe der VII. Weltkongress, die Sozialfaschismus-These nur “unter der Hand”<ref>ebd., S.13</ref> revidiert, dies zeige die Schwäche des VII. Weltkongresses, “die in einer Verharmlosung der Sozialfaschismus-These und der durch sie verursachten Fehler bestand”<ref>ebd.</ref>. <br />
<br />
Der Kommunistische Bund (KB) beschäftigte sich in den 70ern und frühen 80ern schwerpunktmäßig mit der “Faschisierung” der Gesellschaft. Laut dieser These muss der Übergang von der bürgerlichen Demokratie zur „offenen terroristischen Diktatur“ nicht unbedingt plötzlich (z.B. durch einen Putsch) vollzogen werden, sondern kann sich auch unter formaler Beibehaltung der bürgerlichen Institutionen schleichend vollziehen (etwa durch die Einführung von Notstandsgesetzen und eine allmähliche Militarisierung). Zur Rolle der SPD in diesem Prozess, analysieren sie, dass diese die Faschisierung vorantreibe, aber selbst keine Faschisten seien.<ref>Steffen, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971-1991, 2002, S.127.</ref> Die SPD sei im Vergleich zu CDU das kleinere Übel, gegen die CDU sei folglich der Hauptstoß zu führen. Der KB rief als Konsequenz auch zeitweise zur Wahl der SPD auf und unterbreiteten ihnen Kooperationsangebote – bis hin zur ihrem Aufruf 1972 Willy Brandt zu wählen.<ref>ebd., S.135f. und 140.</ref><br />
<br />
Insgesamt finden sich im Spektrum der K-Gruppen alle Positionen zur Sozialfaschismusthese wieder, die es in der kommunistischen Bewegung insgesamt gibt.<br />
<br />
=== MLPD ===<br />
Die MLPD verurteilte zwar auf der einen Seite die Sozialfaschismusthese der KI und KPD als falsch und mitverantwortlich für das Scheitern der Einheitsfront<ref>MLPD: Fremdwörter und Begriffserklärungen, Essen 2000, S.13</ref>, benutzt selbst aber den Begriff “sozialfaschistisch” um eine bestimmte Form der Demagogie zu kennzeichnen, Sozialfaschismus sei “Politik, die sich sozial nennt, aber in Wirklichkeit Faschismus ist, gewaltsame Unterdrückung der Arbeiterbewegung”.<ref>Ebd.</ref> “Als Reaktion auf die siegreiche Oktoberrevolution […] errichteten die Monopole 1933 eine faschistische Diktatur zum Erhalt ihrer Macht […] und benutzten eine rassistische, die Begriffe des Sozialismus missbrauchende sozialfaschistische Demagogie.”<ref>MLPD: Türkei. Erdogan-Gegner schließen sich zusammen, 2016, S.33.</ref> Aber die MLPD verwendet den Begriff 'Sozialfaschismus' nicht nur historisch, sondern auch programmatisch mit Bezug auf die Gegenwart: “Die MLPD (…) hilft den Massen, den Einfluss sozialfaschistischer Demagogie sowie nationalistische und rassistische Vorurteile zu überwinden.”<ref>MLPD: Türkei. Erdogan-Gegner schließen sich zusammen, 2016, S.142.</ref> Wer die Träger dieser sozialfaschistischen Demagogie sind, wird z.B. in einem Interview mit Stefan Engel 2015 der Roten Fahne konkretisiert. Der ehemalige Parteivorsitzende sagt in Bezug auf den “IS”, dieser praktiziere eine “Neue Art des Faschismus” und könne mit seiner “sozialfaschisischen Demagogie” besonders viele Jugendliche aus Europa in seinen Bann ziehen.<ref>Engel, Stefan: Der Stimmungsumschwung 2015 und der X. Parteitag der MLPD, in: Rote Fahne 2015. </ref> <br />
<br />
Die MLPD-Definition von “Sozialfaschimus” ist also eher zu verstehen als Synonym zur Formulierung von der "sozialen Demagogie der Faschisten”. Mit der Kennzeichnung von reaktionärer Politik der Sozialdemokratie wie durch die Weimarer KPD, hat das also nichts zu tun. In Bezug auf die SPD wird auf die Analyse MLPD-Mitbegründers Willi Dickhut verwiesen: “Die Diffamierung aller Sozialdemokraten als Sozialfaschisten zerstörte bestehende Kontakte zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten und verhinderte die Schaffung einer proletarischen Einheitsfront, die als starkes Rückgrat einer breiten antifaschistischen Aktionseinheit die Machtübernahme Hitlers hätte verhindern können.”<ref>zitiert nach MLPD: Wie und warum die Herrschenden die Geschichte fälschen, 2013.</ref><br />
<br />
Auch wenn die MLPD den Begriff des Sozialfaschismus nicht für die SPD gebrauchen wollte, schien sie (zu diesem Zeitpunkt noch als KABD) keinen Widerspruch darin zu sehen, Anfang der 1980er die sowjetische Politik als “sozialfaschistisch” zu bezeichnen. Angesichts der Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 durch die Volksrepublik sprach die MLPD von einer “Errichtung der sozialfaschistischen Diktatur in Polen” unter dem Druck der Sowjetunion.<ref>MLPD: Vor 30 Jahren: Errichtung der sozialfaschistischen Diktatur in Polen, 2011.</ref><br />
<br />
=== Trotzkisten ===<br />
Leo Trotzki schrieb früh aus dem Exil vehement gegen die Sozialfaschismusthese an und forderte in diversen Artikeln ein engeres Bündnis zwischen KPD und SPD. Seine Differenzen mit der Führung der KPD lagen nicht hauptsächlich in der Einschätzung des Charakters der SPD, allerdings betonte er die feste Verbindung der Sozialdemokratie zu bürgerlich-demokratischen “pazifistischen” Herrschaftsformen und wollte sie so bündnisfähig machen (vgl. Trotzki 1933).<ref>vgl. Trotzki, Leo: Vor der Entscheidung, 1933.</ref> 1930 schrieb Trotzki über die Sozialfaschismusthese: <br />
{{Zitat |Die Kommunistische Partei hat sich trotz ausnehmend günstiger Bedingungen als zu schwach erwiesen, das Gebilde der Sozialdemokratie mit Hilfe der Formel des »Sozialfaschismus« zu erschüttern; […] Mag die Feststellung, daß die Sozialdemokratie durch ihre gesamte Politik das Aufblühen des Faschismus vorbereitet, noch so richtig sein, so ist es nicht weniger richtig, daß der Faschismus vor allem für die Sozialdemokratie selbst eine tödliche Drohung darstellt, deren ganze Herrlichkeit untrennbar mit den parlamentarisch-demokratisch-pazifistischen Regierungsformen verknüpft ist. […] Die Politik der Einheitsfront der Arbeiter gegen den Faschismus ist ein Erfordernis der gesamten Situation; […]. Die Bedingung des Erfolges ist das Fallenlassen von Theorie und Praxis des »Sozialfaschismus«, deren Schädlichkeit unter den gegenwärtigen Bedingungen katastrophal wird.|Trotzki, Leo: Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland, 1930.}} <br />
An gleicher Stelle forderte er vehement das Organisationsbündnis mit den sozialdemokratischen Parteien und Fraktionen.<ref>Ebd.</ref> <br />
<br />
Die trotzkistische Bewegung wie auch bürgerliche Wissenschaftler nach 1945, haben Trotzki als eine Art frühen und tragischen “Propheten” stilisiert, der als einer der ersten die verhängnisvollen Fehler der KI und KPD-Führung in Bezug auf den Sozialfaschismus erkannt habe, und vor allem als einer der wenigen auf die Gefahr des Faschismus hingewiesen habe. Außerdem als mutige Opposition gegen den “Stalinismus”.<ref>vgl. Brauns, Nick: Der Machtlose Prophet. Trotzkis Warnungen vor dem Nationalsozialismus, 1999.</ref><ref>vgl. Koch, Nikolas: Trotzki. Frühe Hinweise, 2010. </ref> <br />
<br />
Heute findet die Verbreitung der Thesen Trotzkis v.a. durch trotzkistische Gruppierungen und Zeitungen statt. Hier zu nennen sind das News-Portal “Klasse gegen Klasse”, die Marx21-Plattform, die SAV, außerdem Autoren wie Nick Brauns, der regelmäßig auch in nicht-trotzkistischen Zeitungen wie der Jungen Welt publiziert. Gemeinsam ist ihnen die Einschätzung der Sozialfaschismusthese als “ultralinken Fehler”<ref>Stanicic, Sascha: Welcher Weg zum Sozialismus? Eine kritische Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis von Linksruck, Berlin 2001, S.25. </ref>, und als einer der Hauptgründe der Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung: “Die Sozialfaschismustheorie verhinderte nicht nur eine Einheitsfrontpolitik auf Seiten der KPD, sie führte auch dazu, dass die KPD-Mitgliedschaft die besondere Bedrohung, die durch die Nazis für die Arbeiterklasse ausging nicht erkannte”.<ref>Kühne, Steve: Vor 80 Jahren: Das Kapital bringt Hitler an die Macht, 2013.</ref> Sie sehen in dem Bestreben kleiner trotzkistischer Gruppen in der Weimarer Republik die wahren Vertreter der Einheitsfront.<ref>ebd.</ref> Aber auch im klassischen Antifaspektrum findet durchaus positiver Bezug auf die SF-Analyse von Trotzki statt (s.u.). Verbunden wird die positive Bezugnahme auf Trotzki oft mit einem Angriff auf Ernst Thälmann, der als Stalins langer Arm aufgefasst wird.<ref>vgl. Bois, Marcel: Ernst Thälmann: Der Politiker Hinter Dem Mythos, 2018.</ref> So schreibt Brauns in der Jungen Welt in einem Artikel über Ernst Thälmann, dieser trage Mitverantwortung an der Niederlage der Arbeiterbewegung durch das Vertreten der Sozialfaschismusthese: <br />
{{Zitat |Es gibt nur die seit 50 Jahren wiedergekäute Thälmann-Legende. […] Doch um wieviel mehr wäre Thälmann ein politischer Bankrotteur zu nennen, der mit seiner Linie des scharfen Kampfes gegen den »Sozialfaschismus« der SPD die Mitverantwortung für die Kapitulation der deutschen Arbeiterbewegung vor Hitler trägt?|Brauns, Nick: Geschichten um Teddy. Materialistische Geschichtsforschung statt linker Legendenbildung, in: Junge Welt, 03.05.2003}}<br />
<br />
Die SAV fasst Trotzkis Position, dieses “Kämpfers gegen Kapitalismus und Stalinismus ” wie folgt zusammen: <br />
{{Zitat |Ein Wesenszug des Faschismus lag in seiner existenziellen Bedrohung auch für diese Arbeiterparteien mit bürgerlicher Führung. […] Auf dieser Grundlage forderte Trotzki die Bildung einer Einheitsfront: Gemeinsamer Kampf gegen den Faschismus auf der Grundlage einer scharfen Trennung zwischen den Organisationen der Arbeiterklasse auf der einen und den Parteien des Kapitals auf der anderen Seite. […] Einem solchen Appell zu einer Einheitsfront aller Arbeiterorganisationen hätten sich auch sozialdemokratische Parteien und Gewerkschaften nicht entziehen können […] Forderungen [wie] zum Beispiel eine Entmachtung der hinter den Faschisten stehenden Kapitalisten, hätten sich recht natürlich aus dem gemeinsamen Kampf heraus entwickelt. Aus dem Kampf aller Arbeiterorganisationen gegen die unmittelbare Bedrohung des Faschismus hätte sich der Kampf […] für revolutionär-sozialistische Ideen entwickelt, als einzigem Ausweg vor der kapitalistischen Konterrevolution in Gestalt des Nationalsozialismus entwickelt.|Kimmerle, Stephan: Wer war Leo Trotzki? Kämpfer gegen Kapitalismus und Stalinismus, 2000.}} <br />
<br />
Auch hier zeichnet sich die oben angesprochene Widersprüchlichkeit ab. Auf der einen Seite solle dieses Bündnis eine scharfe Trennlinie zu den bürgerlichen Parteien entwickeln, auf der anderen Seite teilten diese die grundlegende Abwehr des Faschismus und es sei möglich auf Basis eines solchen Bündnis “revolutionär-sozialistische Ideen” zu entwickeln. Viele Trotzkisten beziehen sich auf eine kleine trotzkistische Gruppe in der Weimarer KPD-Opposition, die “Linke Opposition (LO)”.<ref>vgl. Flakin, Wladek: Vergessene KommunistInnen, 2013.</ref><ref>vgl. Kropf, Albert: Von der Republik zum Bürgerkrieg, 2006.</ref><br />
<br />
=== Linksradikale Antifas ===<br />
In der linksradikalen Antifabewegung ist gemäß ihrer Neigung zum Sozialdemokratismus und Antikommunismus auch bei den mit der historischen Arbeiterbewegung sympathisierenden Teilen schnell der “stalinistische” Kurs der KPD als Schuldiger für die Niederlage ausgemacht. Sie betrachten den Kampf gegen die Sozialdemokratie teils stark vereinfachend als einen Kampf gegen “Abweichler” und projizieren aktuelle Diskussionen auf die Weimarer Republik, indem sie der KPD die Spaltung einer damaligen “Linken” vorwerfen, die im antifaschistischen Kampf über alle Differenzen hinweg hätte vereint werden müssen. So schreibt die A.L.I. aus Göttingen 2014: <br />
{{Zitat | 1=Die Machtkämpfe innerhalb der KPdSU nach Lenins Tod 1924, die sich vor allem zwischen Stalin und Trotzki abspielten, waren die Grundlage für die „Sozialfaschismusthese“, die in Deutschland verfolgt wurde: Stalin und seine Anhänger bereiteten sich auf einen Kampf vor gegen alle, die nicht ihre Linie verfolgten. Sie trafen Absprachen mit der Leitung der KPD, die auch in Deutschland den Kampf gegen „abweichende Kräfte“ führen sollte. So wurde nun die SPD als „sozialfaschistisch“ betrachtet und musste nach dieser Logik als erstes bekämpft werden. Dies verkannte nicht nur die Gefahr des Faschismus, sondern vertiefte auch die Spaltung und Schwächung der Linken. | 2=Broschüre der Antifaschistischen Linken International: Antifaschistische Geschichtspolitik, Göttingen 2014, S.12.}} <br />
<br />
Der der autonomen Szene angehörige Schriftsteller Bernd Langer erklärt in der Flugschrift anlässlich des 80-jährigen Jubiläums der Antifaschistischer Aktion sogar die SFT als taktischen Schachzug Stalins um das “geheime Bündnis” zwischen Deutschland und der Sowjetunion nicht zu gefährden: <br />
{{Zitat | 1=Dass die Sozialfaschismus-Politik zur weltweiten Richtschnur der Kommunisten wurde, hatte seine Gründe in der Sowjetunion. Dort hatte sich Josef Stalin 1927 endgültig als unumschränkter Alleinherrscher durchgesetzt. Hinsichtlich Deutschlands hatte der Diktator aufgrund eines geheimen Rüstungsabkommens ein besonderes Interesse. Die Reichswehr half, die Rote Armee aufzubauen. Im Gegenzug konnten sich deutsche Soldaten auf russischem Gebiet an Waffen ausbilden, die ihnen der Versailler Vertrag in Deutschland verbot. Dieses Geheimabkommen gefährdete die SPD, denn sie propagierte einen gegen die Sowjetunion gerichteten Kurs und strebte eine Annäherung mit Frankreich an. | 2=Langer, Bernd: 80 Jahre Antifaschistische Aktion, Göttingen 2012, S.15.}} <br />
<br />
Auch Langer kann aber nicht leugnen, dass die SF-These eine reale Grundlage in den Erfahrungen der KPD mit der SPD hatte.<ref>Ebd.</ref> <br />
<br />
Exemplarisch für Positionen in der Radikalen Linken noch zu nennen, ist das als Einführungsbuch konzipierte ''Antifa'' von einem Autorenkollektiv aus der Frankfurter antifaschistischen “Linken”. Nicht genug, dass die Autoren über die Rolle der SPD in der Niederschlagung der Novemberrevolution, dem Aufbau der Freikorps, dem Aufbau eines arbeiterfeindlichen Polizeiregimes weitgehend schweigen. Sie machen sich auch gar nicht erst die Mühe, die Sozialfaschismusthese inhaltlich zu widerlegen. Es genügt die für sich selbst sprechende Betitelung des entsprechenden Buchabschnitts als “Sozialfaschismusthese und Siegeszug des Faschismus” (Keller et. Al, S.26).<ref>Keller, Mirja et al: Antifa. Geschichte und Organisierung, Stuttgart 2011, S.26. </ref> Die Autoren scheuen sich auch nicht, Mythen aus der Totalitarismus-Mottenkiste zu holen. Nicht nur habe die KPD “absurderweise” der SPD Schuld am Erstarken des Faschismus gegeben, sondern auch die NSDAP punktuell in ihre Einheitsfront einbezogen: <br />
{{Zitat | 1=Als infolge der Notverordnungen […] die Löhne bei den Berliner Verkehrsbetrieben gesenkt werden sollten, unternahm die KPD ihren politisch fatalsten Versuch einer »Einheitsfront« der ArbeiterInnenklasse. In der Leitung des am 2.November 1932 ausgerufenen Streiks saßen neben KPD-Angehörigen und SozialdemokratInnen auch zwei Mitglieder der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganistion. Die reale Zusammenarbeit zwischen KommunistInnen und Nazis war zwar begrenzt, das politische Signal war jedoch fatal. Der BVG-Streik […] zeigt die grobe Fehleinschätzung des Nationalsozialismus durch die KPD. | 2=Keller, Mirja et al: Antifa. Geschichte und Organisierung, Stuttgart 2011, S.26.}} <br />
<br />
Damit haben sie das “Paradepferd der Totalitarismustheorie” (Oltmann 1982) herbeizitiert, und liegen dennoch in der historischen Bewertung komplett daneben. In Wirklichkeit war das Agieren der KPD im BVG-Streik ein taktischer Schachzug zur Entlarvung der arbeiterfeindlichen Haltung der NSDAP. Ihr Ziel war es deren soziale Demagogie vor den Hitleranhängern in der Arbeiterschaft aufzudecken. Es handelt sich hier keinesfalls um eine Zusammenarbeit mit NS-Organisationen.<ref>vgl. Oltmann, Joachim: Das Paradepferd der Totalitarismustheorie. Der Streik der Berliner Verkehrsarbeiter im November 1932, Berlin 1892.</ref> Ihr Beleg für diese Behauptung stammt übrigens bezeichnenderweise aus einer Publikation der Landeszentrale für politische Bildung. Der Band aus dem Schmetterling-Verlag, der auch von der Bundeszentrale für politische Bildung stammen könnte, gehört natürlich nicht mehr in die innerkommunistische Debatte. Allerdings haben solche Positionen Einfluss in weiten Teilen der antifaschistischen Linken und tragen zur Verbreitung von antikommunistischem Bewusstsein in dieser bei. <br />
<br />
Auffällig ist bei all diesen Gruppierungen ein positiver Bezug auf die Analysen von Thalheimer und Trotzki in Bezug auf die Sozialfaschismusthese.<br />
<br />
== Bezug zu den Grundannahmen ==<br />
<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
<br />
== Was steht dazu in den Programmatischen Thesen? ==<br />
Siehe hierzu den Abschnitt zum [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#5_Faschismus_und_Antifaschismus Faschismus und Antifaschismus] in unseren ''Programmatischen Thesen''.<br />
<br />
Darin äußern wir uns nicht konkret zur sogenannten Sozialfaschismusthese, schreiben aber Verhältnis von Faschismus und Sozialdemokratie:<br />
{{Zitat|In Bezug auf den Faschismus wollen wir uns beispielsweise damit beschäftigen, wie die historisch auftretenden Varianten dieser Herrschaftsform sich unterschieden, was sie gemeinsam hatten und was allgemeine Charakteristika des Faschismus sind. Wir wollen uns auch mit dem Verhältnis von Sozialdemokratie und Faschismus historisch und aktuell auseinandersetzen, wie zum Beispiel der Rolle der Sozialdemokratie in Bezug auf den Aufstieg und die Machtübertragung des Faschismus in verschiedenen Ländern. Wir gehen davon aus, dass sozialdemokratische und faschistische Ideologie und Methoden der kapitalistischen Herrschaftsausübung sich nicht prinzipiell ausschließen. Dies zeigen uns die bitteren Erfahrungen der Arbeiterklasse mit der vielfältigen Zusammenarbeit zwischen sozialdemokratischer Führung und faschistischen Strukturen während und nach der Novemberrevolution bis zur Errichtung der faschistischen Diktatur 1933.<br>Für zentral halten wir auch die Beschäftigung mit den Erfahrungen des antifaschistischen Kampfes der Kommunisten, insbesondere mit der Frage, wie der Faschismus in Deutschland 1933 siegen konnte und mit den Orientierungen, die von der Kommunistischen Internationale im Zuge der Volksfront- und Einheitsfrontpolitik in den 1930er Jahren beschlossen wurden. Wir wollen der Frage nachgehen, welche Widersprüche und Mängel in der Faschismusanalyse existieren. Das betrifft grundsätzlich die Frage, wie der Begriff Faschismus zu verstehen und anzuwenden ist. Schließlich stellt sich auch heute zentral die Frage, mit welcher bündnispolitischen Orientierung der Faschismus wirksam bekämpft werden kann.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.12-13.}}<br />
<br />
== Arbeitsschritte / Klärung des Dissens ==<br />
Folgende inhaltliche Fragen ergeben sich aus dem Dissens zur Sozialfaschismusthese. Zu ihrer Beantwortung müssen Untersuchungen des historischen Materials und der dokumentierten Diskussionen angestellt werden.<br />
* Diskussion und “Paradigmenwechsel” in der KI nachvollziehen, wo taucht der Begriff zum ersten Mal auf? Welche strategische Position nahm die KI in ihrem Programm von 1928 zur Sozialdemokratie ein? Welche verschiedenen Phasen gab es im Verhältnis der KPD zur Sozialdemokratie? <br />
* Wie war die Unterscheidung in “National-” und “Sozialfaschismus” durch die KI begründet? Wie bewerten wir diese Unterscheidung heute? Um sie zu verstehen, müssen wir auch noch besser verstehen, was die KI zu diesem Zeitpunkt unter “Faschismus” verstanden hatte, wir reden hier schließlich von der Zeit vor der faschistischen Diktatur. <br />
* Hat die KPD zu spät die Gefahr des Faschismus erkannt? Hat sie den Masseneinfluss der NSDAP unterschätzt? Lag wirklich der Fehler der KPD darin, dass sie zu spät erkannt hatte, dass der Faschismus an Stelle der Sozialdemokratie zur sozialen “Hauptstütze” des Imperialismus werden sollte? <br />
* Welche Differenzen gab es in der Einschätzung der Sozialdemokratie und der drohenden faschistischen Diktatur zwischen der KPD-Führung und dem EKKI? (siehe insbesondere die Dokumente: Dok. 234: [Moskau], 13.1.193, Dok 242: [Moskau], 26.4.1930, Dok 275: [Moskau], 1.12.1931, Dok. 282: [Berlin], 20.2.1932–23.2.1932) <br />
* Es braucht eine gute Zusammenstellung von Material welches dann ausgewertet werden soll. Bestehende Materialisammlung (z.B. “doc” s.u.) müssen kritisch eingeschätzt werden – welche Stellen wurden herausgekürzt und was ist deren Inhalt? <br />
* In der Diskussion um die Sozialfaschismusthese muss getrennt werden zwischen einer Bewertung des Inhalts dieser, der praktischen Ableitungen und der Bewertung des Begriffes andererseits. <br />
* Wie sahen die Einheitsfrontbemühungen in der Praxis aus? <br />
* Gab es in der DDR auch eine kontroverse Diskussion über die Bewertung der “Sozialfaschismusthese”? <br />
* Folgende These muss überprüft werden: Sozialdemokratie und Faschismus haben auf unterschiedliche Weise beide die Funktion, die Herrschaft des Kapitals zu sichern und eine Revolution zu verhindern. Die Sozialdemokratie besitzt allerdings andere Merkmale als der Faschismus und die sozialdemokratische Ideologie unterscheidet sich von der faschistischen. Die Unterschiede müssen beachtet werden, um die Massen über ihren Charakter aufzuklären und den Kampf gegen sie richtig organisieren zu können. Objektiv hat die Politik der Führung der Sozialdemokratie in Partei und Gewerkschaften das Anwachsen des Faschismus und die Errichtung der offenen Diktatur durch die Bekämpfung der revolutionären Arbeiterbewegung, durch die Unterstützung der Angriffe des Kapitals, durch Ablehnung von gemeinsamen Widerstandsaktionen und das Angebot der Mitarbeit im Nazi-Staat. Auch in der Folgezeit hat sie jede Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei abgelehnt, obwohl zehntausende Sozialdemokraten in den Konzentrationslagern litten und ein Teil aktiv gegen die Faschisten kämpfte - zum Teil auch zusammen mit den Kommunisten. Das Verhältnis von Sozialdemokratie und Faschismus ist deshalb genau zu untersuchen und nicht einfach mit Verweis auf die „Sozialfaschismusthese“ abzutun, ebenso wenig wie es richtig wäre, Unterschiede insbesondere in der Klassenzusammensetzung und der subjektiven Haltung zu ignorieren.<br />
<br />
== Literatur zum Thema ==<br />
* Autonome Antifa (M): Geschichte der Antifaschistischen Aktion in: Nadir, Göttingen 1995, URL: https://www.nadir.org/nadir/initiativ/aam/broschueren/hist/antifak.html (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Bahne, Siegfried: „Sozialfaschismus“ in Deutschland. Zur Geschichte eines politischen Begriffs, in: International Review of Social History 10, Assen (Niederlande) 1965, S.211-245.<br />
<br />
* Bois, Marcel: Ernst Thälmann. Der Politiker hinter dem Mythos in: Marx21, 18.08.2018, URL: https://www.marx21.de/ernst-thaelmann-der-politiker-hinter-dem-mythos/ (letzter Zugriff: 02.12.2019).<br />
<br />
* Brauns, Nick: »4. August der Kommunistischen Internationale«. Trotzkis Schriften über den deutschen Faschismus in einer Neuausgabe in: Junge Welt, 16.10.1999, Url: https://www.jungewelt.de/artikel/13205.4-august-der-kommunistischen-internationale.html (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Brauns, Nick: Der Machtlose Prophet. Trotzkis Warnungen vor dem Nationalsozialismus in: Nikolaus Brauns, 1999, Url: http://www.nikolaus-brauns.de/Der_machtlose_Prophet.htm (letzter Zugriff 02.01.2019).<br />
<br />
* Brauns, Nick: Geschichten um Teddy. Materialistische Geschichtsforschung statt linker Legendenbildung, in: Junge Welt, 03.05.2003, URL: https://www.jungewelt.de/artikel/36704.geschichten-um-teddy.html (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Brauns, Nick: SPD läßt schießen, in: Junge Welt, 30.04.2009, URL: https://www.jungewelt.de/artikel/124326.spd-l%C3%A4%C3%9Ft-schie%C3%9Fen.html (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Sohn-Rethel, Alfred: Die soziale Rekonsolidierung des Kapitalismus, in: Deutsche Führerbriefe, Nr. 72 und 73, Berlin 16. und 20.09.1932. <br />
<br />
* Doc: Komintern Dokumente 1918 - 1943. Deutschland Russland. Bd. 3 URL: https://www.degruyter.com/downloadpdf/books/9783110339789/9783110339789.699/9783110339789.699.pdf (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Dimitroff, Georgi: Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale. im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus in: mlwerke, 1935, URL: http://www.mlwerke.de/gd/gd_001.htm (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* DKP: Protokoll des Mannheimer Parteitags der Deutschen Kommunistischen Partei, Mannheim 1978. <br />
<br />
* Engel, Stefan: Der Stimmungsumschwung 2015 und der X. Parteitag der MLPD in: Rote Fahne, 2015, URL: https://www.mlpd.de/2015/kw52/der-stimmungsumschwung-2015-und-der-x-parteitag-der-mlpd (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Fischer, Michael: Horst Mahler. Biographische Studie zu Antisemitismus, Antiamerikanismus und Versuchen deutscher Schuldabwehr, Karlsruhe 2014. <br />
<br />
* Flakin, Wladek: Vergessene KommunistInnen in: Klasse gegen Klasse, 11.09.2015, URL: https://www.klassegegenklasse.org/vergessene-kommunistinnen/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Freyeisen, Bruni/ Schneider, Lilo /Fritsch, Kurt/ Priemer, Rolf /Köbele, Patrick: Aufzeichnungen über die Parteifrage, in: Rolf Priemer/ Heinz Stehr (Hrsg.): 25 Jahre DKP. Eine Geschichte ohne Ende, Essen 1993. <br />
<br />
* Gossweiler, Kurt: Zur Strategie und Taktik der KPD in der Weimarer Republik (geschrieben APRIL BIS JUNI 1957), in: Schriftenreihe der KPD Heft 78 I u. II, 2002. <br />
<br />
* Keller, Mirja/ Kögler, Lena/ Krawinkel, Moritz/ Schlemmermeyer, Jan: Antifa. Geschichte und Organisierung, Stuttgart 2011. <br />
<br />
* Kimmerle, Stephan: Wer war Leo Trotzki? Kämpfer gegen Kapitalismus und Stalinismus in: Sozialismus Info, 2000, Url: https://www.sozialismus.info/sav/wer-war-leo-trotzki/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Koch, Nikolas: Trotzki. Frühe Hinweise in: Marx21, 12.01.2010, URL: https://www.marx21.de/12-01-10-gegen-nazis/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* KommAufbau, Die historische Bolschewisierung, S. 17- 19. URL: <br />
<br />
* Klönne, Arno: Sozialdemokratie - eine Agentur kapitalistischer Interessen? in: Lenk, Kurt, Klönne, Arno/ Rosenbaum, Wolf/ Stuby, Gerhard (Hrsg.): Der bürgerliche Staat der Gegenwart, Hamburg 1972, S.57-86.<br />
<br />
* Kropf, Albert: Von der Republik zum Bürgerkrieg in: Sozialismus Info, 21.08.2006, URL: https://www.sozialismus.info/2006/08/11730/ (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Kühne, Steve: Vor 80 Jahren. Das Kapital bringt Hitler an die Macht in: Sozialismus Info, 13.01.2013, URL: https://www.sozialismus.info/2013/01/vor-80-jahren-das-kapital-bringt-hitler-an-die-macht/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Langer, Bernd: 80 Jahre Antifaschistische Aktion in: Blogsport, Göttingen 2012, URL: http://antifaeu.blogsport.de/images/80J_AA_web.pdf (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Lewerenz, Elfriede: Die Analyse des Faschismus durch die Kommunistische Internationale, Berlin 1975.<br />
<br />
* MLPD: Sozialfaschismus, in: Fremdwörter und Begriffserklärungen, Essen 2000, S. 94. <br />
<br />
* MLPD: Türkei. Erdogan-Gegner schließen sich zusammen in: MLPD, 2016, URL: https://www.mlpd.de/2016/kw33/tuerkei-erdogan-gegner-schliessen-sich-zusammen (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* MLPD: Vor 30 Jahren: Errichtung der sozialfaschistischen Diktatur in Polen in: MLPD, 2011, URL: https://www.mlpd.de/2011/kw50/vor-30-jahren-errichtung-der-sozialfaschistischen-diktatur-in-polen (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* MLPD: Wie und warum die Herrschenden die Geschichte fälschen in: MLPD, 2013, URL: https://www.mlpd.de/2013/kw04/wie-und-warum-die-herrschenden-die-geschichte-faelschen (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Oltmann, Joachim: Das Paradepferd der Totalitarismustheorie. Der Streik der Berliner Verkehrsarbeiter im November 1932, in: horizont - Sozialistische Wochenzeitung der DDR für internationale Politik und Wirtschaft, 1982 Berlin. <br />
<br />
* Pjatnitzki, Ossip A.: Die faschistische Diktatur in Deutschland, Broschüre, 1934. <br />
<br />
* Plato, Alexander von: Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik, Berlin 1973. <br />
<br />
* Priemer, Rolf/ Stehr, Heinz (Hrsg.): 25 Jahre DKP. Eine Geschichte ohne Ende, Essen 1993. <br />
<br />
* Schleifstein, Josef: Die „Sozialfaschismus“-These: Zu ihrem geschichtlichen Hintergrund in: DKP, Essen 1980, URL: http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2015/07/die-sozialfaschismus-these/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Schmierer, Joscha: Sozialfaschismusthese und politische Programmatik der KPD 1928-33 (Sept. 1975) Materialien zur Analyse von Opposition digitalisiert von Jürgen Schröder in: Mao-Projekt, Berlin 21.9.2016, URL: https://www.mao-projekt.de/BRD/ORG/KBW/KBW_1975_Sozialfaschismus.shtml (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Stalin, Josef: Zur internationalen Lage, in: J.W. Stalin Werke Bd. 6, S. 251–269. <br />
<br />
* Stanicic, Sascha: Welcher Weg zum Sozialismus? Eine kritische Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis von Linksruck, Berlin 2001. <br />
<br />
* Steffen, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971-1991 in: Archiv Uni Marburg, 2002, URL: http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2002/0060/pdf/dsm.pdf (zletzter Zugriff: 02.01.2018).<br />
<br />
* Stoodt, Hans Christoph: Volksfront, breites Bündnis, Antimonopolistische Demokratie, 2017. URL: http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2017/03/volksfront-breites-buendnis-antimonopolistische-demokratie/ (27.12.2018). <br />
<br />
* Trotzki, Leo: Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland in: mlwerke, 1930, URL: http://www.mlwerke.de/tr/1930/300926a.htm (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Trotzki, Leo: Vor der Entscheidung in: Sozialistische Klassiker 2.0, 1933, URL: https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1933/leo-trotzki-vor-der-entscheidung (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Sozialfaschismusthese&diff=5955Sozialfaschismusthese2019-03-17T14:16:27Z<p>Dio: /* Was steht dazu in den Programmatischen Thesen? */</p>
<hr />
<div>Zurück zu [[AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br><br />
<br />
== Worum geht es? ==<br />
Der Begriff “Sozialfaschismus” als Bezeichnung für die Politik der Führung der SPD wurde durch verschiedene Aussagen und Losungen der KomIntern und der KPD in der Weimarer Republik geprägt. Mit dem Begriff sollte deren reaktionäre und arbeiterfeindliche Rolle aufgezeigt werden. <br />
<br />
Kaum eine politische Orientierung hat in der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung eine so große Kontroverse ausgelöst wie die sogenannte Sozialfaschismusthese. Nach 1945 herrschte sowohl unter DDR-Historikern als auch unter DKP-Theoretikern weitgehende Einigkeit darüber, dass die Sozialfaschismusthese (gemeinsam mit der revolutionären Gewerkschaftsoppositionspolitik) der KPD in der Weimarer Republik ein Fehler – wenn nicht sogar der aller verhängnisvollste – gewesen sei und zu großen Problemen im Kampf gegen den Faschismus geführt habe. Die Theorie vom Sozialfaschismus habe den qualitativen Unterschied zwischen der bürgerlichen Demokratie und faschistischer Herrschaft relativiert und sei ein wichtiger Grund für das Scheitern einer erfolgreichen Einheitsfront mit der Sozialdemokratie gewesen. Sie habe Unterschiede zwischen der sozialdemokratischen Basis und der faschistischen Bewegung nicht erkannt. Teilweise wird sogar explizit die Sozialfaschismusthese verantwortlich gemacht für das Scheitern des antifaschistischen Widerstands und den Machtantritt der Faschisten. <br />
<br />
Der VII. Weltkongress mit den Beschlüssen zur Einheits- und Volksfrontpolitik wird als Korrektur und Abkehr von der Sozialfaschismusthese bewertet und ist in diesem Sinne der zentrale Bezugspunkt für die antifaschistische Strategie und Taktik der Kommunisten auch nach 1945, insbesondere auch was die Neu-Ausrichtung des Verhältnisses zur Sozialdemokratie betrifft ([[Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts |siehe auch Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts]]).<br />
<br />
== Welche Positionen gibt es? Wer vertritt sie? ==<br />
=== Historischer Überblick ===<br />
Den historischen Hintergrund der Sozialfaschismusthese bildete laut Kurt Gossweiler “[d]as Erlebnis, dass die sozialdemokratischen Führer fähig waren, Millionen Proletarier auf die Schlachtfelder des imperialistischen Krieges zu jagen; dass sie fähig waren, im Bündnis mit den kaiserlichen Generälen das revolutionäre deutsche Proletariat abzuschlachten und seine Führer kaltblütig ermorden zu lassen, – diese Erlebnisse haben den Grundstein zur Theorie vom Sozialfaschismus gelegt”.<ref>Gossweiler, Kurt: Zur Strategie und Taktik der KPD in der Weimarer Republik, 2002.</ref><br />
<br />
Erstmalig taucht der Begriff wahrscheinlich in den Diskussionen des Exekutivkomitees der KomIntern (EKKI) Anfang 1924 um den gescheiterten Hamburger Aufstand auf. Als bekanntester Ausspruch wird Josef Stalin zitiert, der die Sozialdemokratie als “Zwillingsbruder” des Faschismus bezeichnete.<ref>Stalin, Josef: Zur internationalen Lage, Berlin/DDR 1952, S.253.</ref> Damit war gemeint, dass sowohl Sozialdemokratie als auch Faschismus Stützen des imperialistischen Systems seien. Ein Bündnis mit der Führung der SPD wurde durch die KPD abgelehnt. Diese Linie wurde auf dem 6. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1928 bestätigt und weiter ausgearbeitet. <br />
<br />
Sieben Jahre später auf dem VII. Weltkongress der Komintern 1935 beschloss der Kongress dann die Abkehr von der Theorie des Sozialfaschismus und außerdem die taktische Neuorientierung auf die Volksfront. Die These vom Sozialfaschismus wurde als Hindernis im Ringen um eine proletarische Einheitsfront bewertet (Pieck 1935). Im Gegensatz zur Sozialfaschismusthese orientierte die Volksfrontpolitik nun auf eine Aktionseinheit der Kommunisten und der Sozialdemokraten im Kampf gegen den Faschismus und unter bestimmten Bedingungen sogar auf die Bildung gemeinsamer Volksfront-Regierungen (so z.B. in Frankreich und Spanien). Auf der einen Seite betonten mehrere Redner, dass es richtig gewesen sei, vor 1930 den scharfen Kampf gegen die SPD geführt zu haben (Pieck 1935), auf der anderen Seite, grenzte sich insbesondere Dimitroff mehrmals von “sektiererischen Fehlern” der Vergangenheit ab und bezog dies auch auf die Bündnispolitik der KPD. <ref>Dimitroff, Georgi: Arbeiterklasse gegen Faschismus, 1935.</ref> Inwiefern die Abkehr von der Sozialfaschismusthese Ergebnis taktischer oder grundsätzlicher Erwägungen war, muss noch untersucht werden.<ref>Vgl. Stoodt, Hans Christioph: Volksfront, breites Bündnis, Antimonopolistische Demokratie, 2017. URL: http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2017/03/volksfront-breites-buendnis-antimonopolistische-demokratie/ (27.12.2018). </ref><br />
<br />
Eine genaue Bewertung der Diskussionen des 7.Weltkongresses und dessen Folgen steht für uns noch an. Für die große Mehrheit der deutschen kommunistischen Bewegung schienen nach dem Zweiten Weltkrieg die Lehren der Vergangenheit allerdings eindeutig zu sein: Sowohl in der jungen DDR als auch in der sich erst wieder konstituierenden, dann ab August 1956 erneut illegalen KPD war man sich einig darin, dass die These vom Sozialfaschismus einer der gravierendsten Fehler der kommunistischen Weltbewegung (KWB) vor 1933 gewesen war. Viele gingen sogar so weit, dass die Überwindung der Sozialfaschismusthese und die Einsicht in die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie und anderen „fortschrittlichen Kräften“ die zentrale Lehre aus dem deutschen Faschismus gewesen sei. Die Vorwürfe, die der KPD gemacht wurden und bis heute im Raum stehen, lassen sich wie folgt zusammenfassen: <br />
<br />
* Sie habe keine Unterscheidung zwischen “Sozialfaschisten” und “Nationalfaschisten” getroffen, Faschismus und Sozialdemokratie also gleichgesetzt und gleichermaßen bekämpft. <br />
<br />
* Die KPD habe die bürgerlich-demokratische Herrschaft und die faschistische Diktatur gleichgesetzt. Sie hätte ein Bündnis mit der Führung der SPD zur Verteidigung demokratischer Errungenschaften frühzeitig eingehen sollen. So habe sie den Widerstand gegen den Faschismus geschwächt. <br />
<br />
* Die KPD habe den Unterschied in der sozialen Basis der Sozialdemokratie und der faschistischen Bewegung nicht erkannt. So habe die sie die faschistische Massenbewegung unterschätzt. <br />
<br />
* Der Begriff Sozialfaschismus war massenfeindlich, weil er nicht schaffte, den Unterschied zwischen sozialdemokratischer Basis und Führung differenziert zu vermitteln und so den Aufbau einer “Einheitsfront von unten” verhinderte. <br />
<br />
Dies sind auch Vorwürfe, die den Kommunisten von Seite bürgerlicher Antikommunisten und der Sozialdemokratie gemacht werden. Sie suchen so ihre arbeiterfeindliche und verräterische Rolle in der Weimarer Republik und ihre Schuld an der Machtübertragung an die NSDAP zu vertuschen. Die SPD hatte in der Weimarer Republik ihrerseits selbst eine aggressiv antikommunistische Propaganda der systematischen Gleichsetzung von Kommunismus und Faschismus betrieben – musste sich im antikommunistischen Klima des Kalten Krieges jedoch nie für diese „rotlackierte-Faschisten“-These rechtfertigen, geschweige denn sich den Vorwurf einer Mitschuld am Aufstieg des Faschismus gefallen lassen. Sie lag mit ihrer damaligen Politik rückblickend ganz auf der Linie der Totalitarismus-Doktrin der Nachkriegszeit und damit völlig im Einklang mit der Staatsraison der BRD. Das Erkenntnissinteresse der kommunistischen Bewegung kann dagegen nicht in der Diffamierung der damaligen Genossen oder in ahistorischen Schuldzuweisungen und Abrechnungen liegen, sondern richtet sich ganz auf die Frage nach den Ursachen unserer historischen Niederlage, nach den Fehlern, die die KPD und die Arbeiterklasse so viele Opfer gekostet hat. <br />
<br />
Im Folgenden will dieser Artikel einen ersten Überblick über die verschiedenen Einschätzungen zur Sozialfaschismusthese innerhalb des Spektrums der deutschen kommunistischen Bewegung geben.<br />
<br />
=== DKP ===<br />
Die DKP bewertete und bewertet die Sozialfaschismusthese als den größten Fehler der deutschen Kommunisten. Viele DKPler geben in der Regel der KI, aber insbesondere dem Einfluss Josef Stalins die Schuld daran, die deutschen Kommunisten in ihrer Einschätzung irregeleitet und dazu gebracht zu haben, die SPD als "sozialfaschistisch" zu bekämpfen, anstatt ihr gegenüber eine Einheitsfrontpolitik zu betreiben. In dem Buch “25 Jahre DKP” herausgegeben vom ehemaligen Vorsitzenden der DKP, Heinz Stehr und seinem damaligen Stellvertreter Rolf Priemer, entwickelten verschiedene damalige Leitungsmitglieder der DKP Grundpositionen zu Geschichte und Ideologie der DKP. In dem Abschnitt zur Parteifrage heißt es: <br />
{{Zitat |Denken wir nur an ein Beispiel, an den 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale von 1934 [sic!] [gemeint ist 1935; Anm. Autor] und die Brüsseler Konferenz der KPD im Jahr darauf. Dort erfolgte eine kritische Aufarbeitung der Erfahrungen im Kampf gegen den Faschismus, die Korrektur eigener Fehler, wie z. B. der „Sozialfaschismusthese". Es wurde eine antifaschistische Einheitsfrontstrategie entwickelt, die bis heute zu den Grundlagen kommunistischer Politik zählt. […] Es bleibt dabei eine bittere Wahrheit, daß auch nach dem 7. Weltkongreß durch den Stalinschen Dogmatismus der kommunistischen Bewegung schlimmer Schaden entstand, durch seine Willkürherrschaft tiefe Wunden geschlagen wurden.|Freyeisen, Bruni et al.: Aufzeichnungen über die Parteifrage, Essen 1993, S.43.}} <br />
<br />
Der Umschwung zur "Volksfront"-Politik, so die übliche Einschätzung in der DKP, sei zwar richtig gewesen, allerdings zu spät vollzogen worden. Es hätte bereits frühzeitig auf ein Bündnis mit der Führung der SPD gesetzt werden sollen. Auch der VI. Weltkongress habe noch eine falsche Faschismusanalyse vertreten. Die Kommunisten hätten zu diesem Zeitpunkt die Weimarer Republik verteidigen müssen, anstatt für die sozialistische Revolution zu kämpfen, liest man etwa in einem DKP Bildungsheft von 2011. <br />
{{Zitat |So wurde auf dem Vl. Weltkongress der Komintern vom Ende der zwanziger Jahre eingeschätzt, eine neue Epoche der Kriege und Revolutionen beginne. Diese Einschätzung war ja nicht durchweg falsch, wurde jedoch mit der Folgerung verbunden, der bürgerliche Demokratie-Typus sei historisch überholt, denn die Revolution stehe auf der Tagesordnung[…].Das wurde teils unzureichenden, teils direkt falschen Faschismus-Analyse (Sozialfaschismus-”Theorie”) verbunden und führte dazu, dass die Kommunisten in Deutschland ihre historische Aufgabe bei der Verteidigung der Weimarer Republik verkannten.|DKP-Bildungsheft: Imperialistischer Staat und Demokratie, 2011, S.15.}} <br />
<br />
Vor allem habe die Sozialfaschismusthese den Unterschied zwischen der bürgerlichen Demokratie und der faschistischen Diktatur nicht erkannt und so den Widerstand massiv geschwächt. Der führende DKP-Theoretiker Josef Schleifstein schreibt dazu: <br />
{{Zitat |Dies wurde durch die Schlußfolgerung ergänzt, dass man mit der ‚Konstruierung eines Gegensatzes zwischen Faschismus und der bürgerlichen Demokratie sowie zwischen den parlamentarischen Formen der Diktatur der Bourgeoisie und den offenen faschistischen Formen‘ aufhören müsse. Es ist klar, daß dies nicht nur die Herstellung der Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Massen gegen faschistische Gefahr erschweren, sondern auch zu einer Unterschätzung dieser Gefahr führen mußte. So wurde der für die Kampfbedingungen der Arbeiterklasse bedeutsame Unterschied zwischen bürgerlich-parlamentarischen und faschistischen Herrschaftsmethoden der Bourgeoisie negiert[…].|Schleifstein, Josef: Die „Sozialfaschismus“-These: Zu ihrem geschichtlichen Hintergrund, Essen 1980.}} <br />
<br />
Mit dem VII. Weltkongress hatte die Bewegung, so die DKP-Position, diese historische Lektion aber gelernt – und bewahrt sie seither in der Strategie der Antimonopolistischen Demokratie (AMD), welche u.a. zentral mit dem 7.Weltkongress begründet wird <ref>vgl. Stoodt, HC.: Volksfront, breites Bündnis, Antimonopolistische Demokratie, Frankfurt, 2017. </ref><ref>vgl. Spanidis, Thanasis: Der VII. Weltkongress und seine Folgen, 2017. </ref> obwohl die antifaschistische Volksfront-Taktik nie als langfristige und allgemeingültige Strategie gedacht war und auch nicht als solche beschlossen wurde.<ref>vgl. Stoodt, HC.: Volksfront, breites Bündnis, Antimonopolistische Demokratie, Frankfurt 2017. </ref> Die praktischen Folgerungen sind weitreichend – im Programm von 1978 betonte die DKP ausdrücklich ihr freundschaftliches Verhältnis zur Sozialdemokratie und bekundigte ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der SPD ([[Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts|siehe auch Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts]] oder auch [[„Antimonopolistische Demokratie“ (DKP)| Antimonopolistische Demokratie]]).<ref>DKP: Protokoll des Mannheimer Parteitags der Deutschen Kommunistischen Partei, Mannheim 1978, S.259. </ref><br />
<br />
Allerdings gibt es Teile der DKP und einige DDR-Historiker, die anerkennen, dass die historischen Erfahrungen seit 1914 – vor allem während der Novemberrevolution und der Weimarer Republik – der Sozialfaschismusthese große Plausibilität gaben. So zum Beispiel Josef Schleifstein in seiner Monographie “Die Sozialfaschismusthese”, in welcher er ausführlich den Verrat der SPD an der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik nachzeichnet. <br />
{{Zitat |Nur auf diesem Hintergrund wird die ‚Sozialfaschismus‘-These überhaupt verständlich. Sie hat zweifellos die Herstellung einer gemeinsamen Front gegen den Faschismus erschwert. Aber sie war nicht die Ursache, sondern die Reaktion auf die sozialdemokratische Politik seit dem August 1914 und seit der Novemberrevolution 1918.|Schleifstein, Josef: Die „Sozialfaschismus“-These: Zu ihrem geschichtlichen Hintergrund, Essen 1980.}} <br />
<br />
Die “linken” Kräfte in der DKP stimmen der Analyse, die Sozialdemokratie sei die "soziale Hauptstütze" (KI Programm 1928) des Imperialismus für den Ersten Weltkrieg, die Novemberrevolution und den größeren Teil der Geschichte der Weimarer Republik, zu. Die Orientierung, die rechte Führung der SPD zu bekämpfen und den Einfluss des Opportunismus in der Arbeiterklasse zurückzudrängen war demnach richtig. Der Fehler der Komintern und der deutschen Kommunisten bestand im Wesentlichen darin, zu spät erkannt zu haben, dass die Bourgeoisie sich mit dem Faschismus eine "zweite Hauptstütze" aufgebaut hatte und auf die Integrationsfunktion der Sozialdemokratie für die Vorbereitung des nächsten imperialistischen Krieges nicht mehr angewiesen war.<br />
<br />
=== Kurt Gossweiler / DDR ===<br />
Die Auffassungen in DKP und DDR zur Sozialfaschismusthese waren wohl überwiegend deckungsgleich. Eine tiefergehende Recherche über eventuellen Dissens innerhalb der DDR-Wissenschaft steht aber noch an. Exemplarisch für die Bewertung der Sozialfaschismusthese seitens der DDR-Historiographie kann die Studie “Zur Strategie und Taktik der KPD” des DDR-Historikers Kurt Gossweiler deswegen nicht genannt werden, weil sie zwar 1957 von ihm verfasst wurde, allerdings erst viele Jahre später nach der Konterrevolution veröffentlicht wurde (2002). Trotzdem kann sie als interessanter Einblick in interne Diskussionen unter DDR-Historikern eingeschätzt werden. Gossweiler zusammenfassendes Urteil über die These vom Sozialfaschismus ist: <br />
{{Zitat |Obwohl die Kennzeichnung der Politik der rechtssozialistischen Führer als Politik des schändlichsten Verrats an den Interessen der Arbeiterklasse und der Wegbereitung für den Faschismus vollkommen richtig war, waren die wesentlichsten Schlussfolgerungen, die seitens der K.I. und der KPD daraus gezogen wurden, irrig. Das betrifft vor allem die Theorie des “Sozialfaschismus”; die Einschätzung der SPD als Hauptstütze der Bourgeoisie bis 1933 und die These, dass der Hauptstoß gegen die SPD geführt werden müsse.|Gossweiler, Kurt: Zur Strategie und Taktik der KPD in der Weimarer Republik, 2002.}}<br />
<br />
Er spricht sich klar gegen Illusionen über die sozialdemokratischen Führer aus, deren “offizielle Strategie” die “Verewigung der Spaltung” der Arbeiter sei.Es sei aber die Aufgabe der Kommunisten gewesen, den Arbeitern selbst die Möglichkeit zu geben, sich davon zu überzeugen, dass “nur die Kommunisten Vorkämpfer der Arbeitereinheit, die rechten sozialdemokratischen und Gewerkschaftsführer aber verantwortlich für die Spaltung und deren Aufrechterhaltung sind.”<ref>ebd. </ref> Das hätte eine “solche elastische Taktik” erfordert, “dass es auch den raffiniertesten Manövern der rechten Führer nicht gelingt, die Kommunisten in den Augen der Massen als Gegner der Arbeitereinheit hinzustellen […]”.<ref>ebd., S.X-Y. </ref> Die These vom Sozialfaschismus habe es den Führern der Sozialdemokratie leicht gemacht, die KPD als Gegner der Einheit zu brandmarken: <br />
{{Zitat |Diese mehrfachen, demagogischen Angebote der SPD-Führung an die KPD wurden von ihr abgelehnt mit der Begründung: Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Arbeitern – ja, mit den sozialfaschistischen Führern – niemals. Diese starre Festlegung der KPD hat es den sozialdemokratischen Führern überhaupt erst erlaubt, solche demagogischen Einheitsfrontangebote zu starten, da sie von vornherein wussten, dass keine Gefahr ihrer Annahme bestand. [… ]|ebd.}} <br />
<br />
Er betont aber, dass die Sozialfaschismusthese die historische Widerspiegelung des Verrats der Sozialdemokratie war und nicht lediglich dem “Dogmatismus” einzelner Köpfe wie Stalin entsprang: <br />
<br />
{{Zitat |Durch die Ereignisse in Italien, Bulgarien und Deutschland war auch die Frage des Verhältnisses zwischen Faschismus und Sozialdemokratie aufgeworfen worden. In allen diesen Ländern hatte sich gezeigt, dass die Spitzen der sozialdemokratischen Parteien und der reformistischen Gewerkschaften zu einer Verständigung mit dem Faschismus zu kommen suchten. […] Die Theorie von den ‚Zwillingsbrüdern‘ kann nicht als die Theorie eines Einzelnen, Stalins, betrachtet werden, sondern sie war die Auffassung der übergroßen Mehrzahl aller führenden Köpfe der Kommunistischen Internationale, gebildet auf Grund der Erfahrungen der Jahre 1920 bis 1924.|ebd.}}<br />
<br />
Trotzdem hält er die “die Gleichsetzung von Faschismus und Sozialdemokratie” für einen Fehler, sie “war theoretisch falsch und praktisch von verhängnisvollster Auswirkung, weil sie eine wichtige theoretische Begründung für all die linkssektiererischen Fehler in der darauffolgenden Zeit […] wurde”. Das gleiche gelte für die Einordnung der linken Sozialdemokratie als größten Feind der Arbeiterbewegung: “Ein weiterer Ausdruck der Abweichung in der Richtung des linken Sektierertums war auch die neuerliche schematische Abstempelung aller linken SP-Führer als der gefährlichsten Feinde der Arbeiterbewegung”.<ref>ebd. </ref> <br />
<br />
Gossweiler kritisiert schließlich den Begriff Sozialfaschismus als schematische und unscharfe Weiterentwicklung der Leninschen Begriffe von „Sozialimperialismus“ und „Sozialchauvinismus“. Er kritisiert die KPD und KI für ihr fehlendes Verständnis der Unterschiede der Basis und der Herrschaftsformen von Sozialdemokratie und Faschismus. <br />
{{Zitat |Die Formulierung “Sozialfaschismus” wäre nur dann zutreffend, wenn die SPD zum Träger der faschistischen Diktatur, d.h. der offenen, terroristischen Diktatur über die gesamte Arbeiterklasse und deren Organisationen werden könnte, ohne dass sie damit aufhörte, Sozialdemokratie zu sein, d.h. Agentur der Bourgeoisie, deren spezifischer Wert für die Bourgeoisie darin besteht, dass sie das Vertrauen eines erheblichen Teiles der organisierten Arbeiterklasse besitzt. Das aber ist unmöglich. Die Sozialdemokratie kann direkter Träger der bürgerlichen Herrschaft nur unter der Bedingung sein, dass ihr die Bourgeoisie ein Mindestmaß an Spielraum zur Vertretung ökonomischer und politischer Forderungen der Arbeiterklasse lässt, d.h. unter der Bedingung, dass noch ein Mindestmaß an bürgerlicher Demokratie erhalten bleibt.|ebd.}} <br />
<br />
Die Gewalt in der Herrschaft der Sozialdemokratie sei eher die Ausnahme, nicht die Hauptmethode. Die Sozialdemokratie könne es sich nicht leisten, ihre gesamte Basis zu verprellen. “Zur Ausübung der faschistischen Diktatur muss sich deshalb die Bourgeoisie andere Instrumente schaffen, nicht etwa, weil Sozialdemokratie und Faschismus dem Klasseninhalt ihrer Politik nach unversöhnliche Gegensätze bilden würden, sondern weil die Art und Weise, wie beide die Bourgeoisie vor dem Ansturm der Arbeiterklasse zu bewahren suchen, in ihrem Hauptakzent verschieden sind.”<ref>ebd. </ref> Nichtsdestotrotz ist es nur die Sozialdemokratie, die den Faschismus an die Macht verhelfen kann, sie ist “für die Bourgeoisie dennoch von großer Wichtigkeit in der Übergangsphase von der bürgerlichen Demokratie zur faschistischen Diktatur. In dieser für die Bourgeoisie kritischen Situation des Überganges von der einen zur anderen Herrschaftsform […] hat die Sozialdemokratie die Funktion, die Bourgeoisie gegen die Angriffe der Arbeiterklasse abzuschirmen. Ob sie diese Funktion zu erfüllen vermag oder nicht, hängt weitgehend davon ab, ob die kommunistische Partei ihr erlaubt, diese Rolle zu spielen.”<ref>ebd. </ref> ([[Antifaschismus |Siehe Antifaschistische Strategie]] und [[Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts|Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts]])<br />
<br />
=== K-Gruppen ===<br />
Ein vollständiger Überblick über die verschiedenen Haltungen der maoistischen K-Gruppen in Westdeutschland zur Sozialfaschismus-Frage kann hier nicht erfolgen. Allgemein kann gesagt werden, dass die Mehrzahl die Einschätzung der SPD als sozialfaschistisch durch die KPD für einen Fehler hielt oder zumindest nicht auf die SPD nach 1945 anwenden mochte. Es gab aber auch solche Gruppen, die die Sozialfaschismusthese in ihrer Grundaussage als richtig einstuften, oder sogar die Kennzeichnung “sozialfaschistisch” auf die SPD und teilweise auch die Sowjetunion anwendeten. <br />
<br />
Ein Beispiel für einen positiven Bezug auf die Grundaussage der Sozialfaschismusthese ist die Dissertation des KPD/Aufbauorganisation (KPD/AO) - (später KPD) Theoretikers Alexander von Plato. Er vertritt die Auffassung, dass die Analyse der KPD die SPD sei die “Steigbügelhalterin” des Faschismus gewesen, durchaus richtig war und dass es tatsächlich viele “Überschneidungen zwischen sozialdemokratischen und faschistischen Maßnahmen” in der Weimarer Republik gegeben habe.<ref>Von Plato, Alexander: Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik, Berlin 1973, S.324-331.</ref> Er führt aus: <br />
{{Zitat |Die Geschichte der SPD beweist weiterhin, dass der Vorwurf der KPD und der Komintern, die SPD-Führung sei sozialfaschistisch, Gültigkeit besaß: Sowohl in ihrer Politik der Verelendung der Arbeiterklasse als auch in ihrem Terror, sowie in ihrem Arrangement mit den Nationalsozialisten und schließlich in ihrer Ideologie wies die deutsche Sozialdemokratie dem Faschismus den Weg und erleichterte der NSDAP ihren Aufstieg. Die SPD war [...] einer der Wegbereiter des Faschismus.|Von Plato, Alexander: Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik, Berlin 1973, S.328f.}}<br />
<br />
Diese Position findet sich heute wieder beim Kommunistischer Aufbau (KA) in ihrer Broschüre “Die historische Bolschewisierung”, dort übernehmen sie weitestgehend die Einschätzung Platos.<ref>vgl. Kommunistischer Aufbau: Die historische Bolschewisierung, 2015, S.17-19.</ref> <br />
<br />
Zum Teil findet sich bei den K-Gruppen auch eine Übertragung der Sozialfaschismusthese auf den real existierenden Sozialismus und Gleichsetzung von Faschismus und Sowjetunion. Im Zentralorgan der KPD-AO (später KPD), der Roten Fahne, hieß es 1976: <br />
{{Zitat |Daher ist es völlig richtig, die Diktatur der Bourgeoisie in der Sowjetunion als sozialfaschistische Diktatur zu kennzeichnen, die sich – je nach besonderen Bedürfnissen der Täuschung oder Niederhaltung – hinter den Aushängeschildern ‚Staat des ganzen Volkes‘ oder ‚Diktatur des Proletariats‘ versteckt. Auch Hitler erklärte seinen faschistischen Terrorstaat zum Ausdruck einer ,Volksgemeinschaft’, in dem es angeblich keine Klassen mehr gäbe, auch er bediente sich sozialistischer Phrasen, um über den Klassencharakter der faschistischen Herrschaft zu täuschen. Der Unterschied zwischen Hitler und den neuen Zaren besteht allein darin, dass diese die faschistische Unterdrückungsmaschine und die sozialistischen Phrasen noch umfassender und perfekter ausgebaut haben.|zitiert nach Fischer, Michael: Horst Mahler. Biographische Studie zu Antisemitismus, Antiamerikanismus und Versuchen deutscher Schuldabwehr, Karlsruhe 2014, S.266.}} <br />
<br />
Auch die DDR war nicht vor dem Faschismusvorwurf sicher. In der Zeitung der “Roten Hilfe” der KPD (AO) hieß es: “Ein Teil unseres Volkes muss unter dem Faschismus des DDR Regimes leben”.<ref>Ebd.</ref> <br />
Die kommunistischen Parteien des “Sowjetlagers” waren aus Sicht einiger K-Gruppen also zu den Hauptvertretern eines “Sozialfaschismus” und damit zum Hauptfeind erklärt worden, selbst in der Situation des Sturzes der Salazar-Diktatur, sah z.B. die KPD (AO) die Hauptgefahr in einer "sozialfaschistischen Diktatur" getragen durch die sowjetnahe PCP.<ref>Steffen, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971-1991, 2002, S.116.</ref> <br />
<br />
Der Kommunistische Arbeiterbund (KAB) lehnte den Begriff ab und betonte die Notwendigkeit breiter antifaschistischer Bündnisse.<ref>vgl. ebd., S.49.</ref> Allerdings leiste die Sozialdemokratie ihren Beitrag zur Faschisierung der Gesellschaft, z.B. durch Notstandsgesetzgebung.<ref>ebd.</ref> <br />
<br />
Der Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW) gab im September 1975 einen Artikel von Joscha Schmierer zum Thema Sozialfaschismus in einer Broschüre heraus. Diese war u.a. eine Reaktion auf die Dissertation Platos und Publikationen in der KPD-AO Zeitung Rote Fahne. Diese würde in “apologetischer Weise” die Sozialfaschismus-These behandeln, die in der Praxis die Entstehung einer Aktionseinheit der Arbeiter verhindert habe.<ref>Schmierer, Joscha: Sozialfaschismusthese und politische Programmatik der KPD 1928-33 (Sept. 1975) Materialien zur Analyse von Opposition, 1975, S.6f.</ref> Zusammenfassend trifft der KBW-Autor die Einschätzung: “Die Sozialfaschismusthese ist […] eine von mehreren wichtigen Abweichungen vom Marxismus-Leninismus, die die Politik der Komintern und insbesondere die Politik der KPD nach dem VI. Weltkongress kennzeichneten. […] Durch den VII. Weltkongress wurden diese Fehler korrigiert”.<ref>ebd., S.5f.</ref> Allerdings habe der VII. Weltkongress, die Sozialfaschismus-These nur “unter der Hand”<ref>ebd., S.13</ref> revidiert, dies zeige die Schwäche des VII. Weltkongresses, “die in einer Verharmlosung der Sozialfaschismus-These und der durch sie verursachten Fehler bestand”<ref>ebd.</ref>. <br />
<br />
Der Kommunistische Bund (KB) beschäftigte sich in den 70ern und frühen 80ern schwerpunktmäßig mit der “Faschisierung” der Gesellschaft. Laut dieser These muss der Übergang von der bürgerlichen Demokratie zur „offenen terroristischen Diktatur“ nicht unbedingt plötzlich (z.B. durch einen Putsch) vollzogen werden, sondern kann sich auch unter formaler Beibehaltung der bürgerlichen Institutionen schleichend vollziehen (etwa durch die Einführung von Notstandsgesetzen und eine allmähliche Militarisierung). Zur Rolle der SPD in diesem Prozess, analysieren sie, dass diese die Faschisierung vorantreibe, aber selbst keine Faschisten seien.<ref>Steffen, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971-1991, 2002, S.127.</ref> Die SPD sei im Vergleich zu CDU das kleinere Übel, gegen die CDU sei folglich der Hauptstoß zu führen. Der KB rief als Konsequenz auch zeitweise zur Wahl der SPD auf und unterbreiteten ihnen Kooperationsangebote – bis hin zur ihrem Aufruf 1972 Willy Brandt zu wählen.<ref>ebd., S.135f. und 140.</ref><br />
<br />
Insgesamt finden sich im Spektrum der K-Gruppen alle Positionen zur Sozialfaschismusthese wieder, die es in der kommunistischen Bewegung insgesamt gibt.<br />
<br />
=== MLPD ===<br />
Die MLPD verurteilte zwar auf der einen Seite die Sozialfaschismusthese der KI und KPD als falsch und mitverantwortlich für das Scheitern der Einheitsfront<ref>MLPD: Fremdwörter und Begriffserklärungen, Essen 2000, S.13</ref>, benutzt selbst aber den Begriff “sozialfaschistisch” um eine bestimmte Form der Demagogie zu kennzeichnen, Sozialfaschismus sei “Politik, die sich sozial nennt, aber in Wirklichkeit Faschismus ist, gewaltsame Unterdrückung der Arbeiterbewegung”.<ref>Ebd.</ref> “Als Reaktion auf die siegreiche Oktoberrevolution […] errichteten die Monopole 1933 eine faschistische Diktatur zum Erhalt ihrer Macht […] und benutzten eine rassistische, die Begriffe des Sozialismus missbrauchende sozialfaschistische Demagogie.”<ref>MLPD: Türkei. Erdogan-Gegner schließen sich zusammen, 2016, S.33.</ref> Aber die MLPD verwendet den Begriff 'Sozialfaschismus' nicht nur historisch, sondern auch programmatisch mit Bezug auf die Gegenwart: “Die MLPD (…) hilft den Massen, den Einfluss sozialfaschistischer Demagogie sowie nationalistische und rassistische Vorurteile zu überwinden.”<ref>MLPD: Türkei. Erdogan-Gegner schließen sich zusammen, 2016, S.142.</ref> Wer die Träger dieser sozialfaschistischen Demagogie sind, wird z.B. in einem Interview mit Stefan Engel 2015 der Roten Fahne konkretisiert. Der ehemalige Parteivorsitzende sagt in Bezug auf den “IS”, dieser praktiziere eine “Neue Art des Faschismus” und könne mit seiner “sozialfaschisischen Demagogie” besonders viele Jugendliche aus Europa in seinen Bann ziehen.<ref>Engel, Stefan: Der Stimmungsumschwung 2015 und der X. Parteitag der MLPD, in: Rote Fahne 2015. </ref> <br />
<br />
Die MLPD-Definition von “Sozialfaschimus” ist also eher zu verstehen als Synonym zur Formulierung von der "sozialen Demagogie der Faschisten”. Mit der Kennzeichnung von reaktionärer Politik der Sozialdemokratie wie durch die Weimarer KPD, hat das also nichts zu tun. In Bezug auf die SPD wird auf die Analyse MLPD-Mitbegründers Willi Dickhut verwiesen: “Die Diffamierung aller Sozialdemokraten als Sozialfaschisten zerstörte bestehende Kontakte zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten und verhinderte die Schaffung einer proletarischen Einheitsfront, die als starkes Rückgrat einer breiten antifaschistischen Aktionseinheit die Machtübernahme Hitlers hätte verhindern können.”<ref>zitiert nach MLPD: Wie und warum die Herrschenden die Geschichte fälschen, 2013.</ref><br />
<br />
Auch wenn die MLPD den Begriff des Sozialfaschismus nicht für die SPD gebrauchen wollte, schien sie (zu diesem Zeitpunkt noch als KABD) keinen Widerspruch darin zu sehen, Anfang der 1980er die sowjetische Politik als “sozialfaschistisch” zu bezeichnen. Angesichts der Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 durch die Volksrepublik sprach die MLPD von einer “Errichtung der sozialfaschistischen Diktatur in Polen” unter dem Druck der Sowjetunion.<ref>MLPD: Vor 30 Jahren: Errichtung der sozialfaschistischen Diktatur in Polen, 2011.</ref><br />
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=== Trotzkisten ===<br />
Leo Trotzki schrieb früh aus dem Exil vehement gegen die Sozialfaschismusthese an und forderte in diversen Artikeln ein engeres Bündnis zwischen KPD und SPD. Seine Differenzen mit der Führung der KPD lagen nicht hauptsächlich in der Einschätzung des Charakters der SPD, allerdings betonte er die feste Verbindung der Sozialdemokratie zu bürgerlich-demokratischen “pazifistischen” Herrschaftsformen und wollte sie so bündnisfähig machen (vgl. Trotzki 1933).<ref>vgl. Trotzki, Leo: Vor der Entscheidung, 1933.</ref> 1930 schrieb Trotzki über die Sozialfaschismusthese: <br />
{{Zitat |Die Kommunistische Partei hat sich trotz ausnehmend günstiger Bedingungen als zu schwach erwiesen, das Gebilde der Sozialdemokratie mit Hilfe der Formel des »Sozialfaschismus« zu erschüttern; […] Mag die Feststellung, daß die Sozialdemokratie durch ihre gesamte Politik das Aufblühen des Faschismus vorbereitet, noch so richtig sein, so ist es nicht weniger richtig, daß der Faschismus vor allem für die Sozialdemokratie selbst eine tödliche Drohung darstellt, deren ganze Herrlichkeit untrennbar mit den parlamentarisch-demokratisch-pazifistischen Regierungsformen verknüpft ist. […] Die Politik der Einheitsfront der Arbeiter gegen den Faschismus ist ein Erfordernis der gesamten Situation; […]. Die Bedingung des Erfolges ist das Fallenlassen von Theorie und Praxis des »Sozialfaschismus«, deren Schädlichkeit unter den gegenwärtigen Bedingungen katastrophal wird.|Trotzki, Leo: Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland, 1930.}} <br />
An gleicher Stelle forderte er vehement das Organisationsbündnis mit den sozialdemokratischen Parteien und Fraktionen.<ref>Ebd.</ref> <br />
<br />
Die trotzkistische Bewegung wie auch bürgerliche Wissenschaftler nach 1945, haben Trotzki als eine Art frühen und tragischen “Propheten” stilisiert, der als einer der ersten die verhängnisvollen Fehler der KI und KPD-Führung in Bezug auf den Sozialfaschismus erkannt habe, und vor allem als einer der wenigen auf die Gefahr des Faschismus hingewiesen habe. Außerdem als mutige Opposition gegen den “Stalinismus”.<ref>vgl. Brauns, Nick: Der Machtlose Prophet. Trotzkis Warnungen vor dem Nationalsozialismus, 1999.</ref><ref>vgl. Koch, Nikolas: Trotzki. Frühe Hinweise, 2010. </ref> <br />
<br />
Heute findet die Verbreitung der Thesen Trotzkis v.a. durch trotzkistische Gruppierungen und Zeitungen statt. Hier zu nennen sind das News-Portal “Klasse gegen Klasse”, die Marx21-Plattform, die SAV, außerdem Autoren wie Nick Brauns, der regelmäßig auch in nicht-trotzkistischen Zeitungen wie der Jungen Welt publiziert. Gemeinsam ist ihnen die Einschätzung der Sozialfaschismusthese als “ultralinken Fehler”<ref>Stanicic, Sascha: Welcher Weg zum Sozialismus? Eine kritische Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis von Linksruck, Berlin 2001, S.25. </ref>, und als einer der Hauptgründe der Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung: “Die Sozialfaschismustheorie verhinderte nicht nur eine Einheitsfrontpolitik auf Seiten der KPD, sie führte auch dazu, dass die KPD-Mitgliedschaft die besondere Bedrohung, die durch die Nazis für die Arbeiterklasse ausging nicht erkannte”.<ref>Kühne, Steve: Vor 80 Jahren: Das Kapital bringt Hitler an die Macht, 2013.</ref> Sie sehen in dem Bestreben kleiner trotzkistischer Gruppen in der Weimarer Republik die wahren Vertreter der Einheitsfront.<ref>ebd.</ref> Aber auch im klassischen Antifaspektrum findet durchaus positiver Bezug auf die SF-Analyse von Trotzki statt (s.u.). Verbunden wird die positive Bezugnahme auf Trotzki oft mit einem Angriff auf Ernst Thälmann, der als Stalins langer Arm aufgefasst wird.<ref>vgl. Bois, Marcel: Ernst Thälmann: Der Politiker Hinter Dem Mythos, 2018.</ref> So schreibt Brauns in der Jungen Welt in einem Artikel über Ernst Thälmann, dieser trage Mitverantwortung an der Niederlage der Arbeiterbewegung durch das Vertreten der Sozialfaschismusthese: <br />
{{Zitat |Es gibt nur die seit 50 Jahren wiedergekäute Thälmann-Legende. […] Doch um wieviel mehr wäre Thälmann ein politischer Bankrotteur zu nennen, der mit seiner Linie des scharfen Kampfes gegen den »Sozialfaschismus« der SPD die Mitverantwortung für die Kapitulation der deutschen Arbeiterbewegung vor Hitler trägt?|Brauns, Nick: Geschichten um Teddy. Materialistische Geschichtsforschung statt linker Legendenbildung, in: Junge Welt, 03.05.2003}}<br />
<br />
Die SAV fasst Trotzkis Position, dieses “Kämpfers gegen Kapitalismus und Stalinismus ” wie folgt zusammen: <br />
{{Zitat |Ein Wesenszug des Faschismus lag in seiner existenziellen Bedrohung auch für diese Arbeiterparteien mit bürgerlicher Führung. […] Auf dieser Grundlage forderte Trotzki die Bildung einer Einheitsfront: Gemeinsamer Kampf gegen den Faschismus auf der Grundlage einer scharfen Trennung zwischen den Organisationen der Arbeiterklasse auf der einen und den Parteien des Kapitals auf der anderen Seite. […] Einem solchen Appell zu einer Einheitsfront aller Arbeiterorganisationen hätten sich auch sozialdemokratische Parteien und Gewerkschaften nicht entziehen können […] Forderungen [wie] zum Beispiel eine Entmachtung der hinter den Faschisten stehenden Kapitalisten, hätten sich recht natürlich aus dem gemeinsamen Kampf heraus entwickelt. Aus dem Kampf aller Arbeiterorganisationen gegen die unmittelbare Bedrohung des Faschismus hätte sich der Kampf […] für revolutionär-sozialistische Ideen entwickelt, als einzigem Ausweg vor der kapitalistischen Konterrevolution in Gestalt des Nationalsozialismus entwickelt.|Kimmerle, Stephan: Wer war Leo Trotzki? Kämpfer gegen Kapitalismus und Stalinismus, 2000.}} <br />
<br />
Auch hier zeichnet sich die oben angesprochene Widersprüchlichkeit ab. Auf der einen Seite solle dieses Bündnis eine scharfe Trennlinie zu den bürgerlichen Parteien entwickeln, auf der anderen Seite teilten diese die grundlegende Abwehr des Faschismus und es sei möglich auf Basis eines solchen Bündnis “revolutionär-sozialistische Ideen” zu entwickeln. Viele Trotzkisten beziehen sich auf eine kleine trotzkistische Gruppe in der Weimarer KPD-Opposition, die “Linke Opposition (LO)”.<ref>vgl. Flakin, Wladek: Vergessene KommunistInnen, 2013.</ref><ref>vgl. Kropf, Albert: Von der Republik zum Bürgerkrieg, 2006.</ref><br />
<br />
=== Linksradikale Antifas ===<br />
In der linksradikalen Antifabewegung ist gemäß ihrer Neigung zum Sozialdemokratismus und Antikommunismus auch bei den mit der historischen Arbeiterbewegung sympathisierenden Teilen schnell der “stalinistische” Kurs der KPD als Schuldiger für die Niederlage ausgemacht. Sie betrachten den Kampf gegen die Sozialdemokratie teils stark vereinfachend als einen Kampf gegen “Abweichler” und projizieren aktuelle Diskussionen auf die Weimarer Republik, indem sie der KPD die Spaltung einer damaligen “Linken” vorwerfen, die im antifaschistischen Kampf über alle Differenzen hinweg hätte vereint werden müssen. So schreibt die A.L.I. aus Göttingen 2014: <br />
{{Zitat | 1=Die Machtkämpfe innerhalb der KPdSU nach Lenins Tod 1924, die sich vor allem zwischen Stalin und Trotzki abspielten, waren die Grundlage für die „Sozialfaschismusthese“, die in Deutschland verfolgt wurde: Stalin und seine Anhänger bereiteten sich auf einen Kampf vor gegen alle, die nicht ihre Linie verfolgten. Sie trafen Absprachen mit der Leitung der KPD, die auch in Deutschland den Kampf gegen „abweichende Kräfte“ führen sollte. So wurde nun die SPD als „sozialfaschistisch“ betrachtet und musste nach dieser Logik als erstes bekämpft werden. Dies verkannte nicht nur die Gefahr des Faschismus, sondern vertiefte auch die Spaltung und Schwächung der Linken. | 2=Broschüre der Antifaschistischen Linken International: Antifaschistische Geschichtspolitik, Göttingen 2014, S.12.}} <br />
<br />
Der der autonomen Szene angehörige Schriftsteller Bernd Langer erklärt in der Flugschrift anlässlich des 80-jährigen Jubiläums der Antifaschistischer Aktion sogar die SFT als taktischen Schachzug Stalins um das “geheime Bündnis” zwischen Deutschland und der Sowjetunion nicht zu gefährden: <br />
{{Zitat | 1=Dass die Sozialfaschismus-Politik zur weltweiten Richtschnur der Kommunisten wurde, hatte seine Gründe in der Sowjetunion. Dort hatte sich Josef Stalin 1927 endgültig als unumschränkter Alleinherrscher durchgesetzt. Hinsichtlich Deutschlands hatte der Diktator aufgrund eines geheimen Rüstungsabkommens ein besonderes Interesse. Die Reichswehr half, die Rote Armee aufzubauen. Im Gegenzug konnten sich deutsche Soldaten auf russischem Gebiet an Waffen ausbilden, die ihnen der Versailler Vertrag in Deutschland verbot. Dieses Geheimabkommen gefährdete die SPD, denn sie propagierte einen gegen die Sowjetunion gerichteten Kurs und strebte eine Annäherung mit Frankreich an. | 2=Langer, Bernd: 80 Jahre Antifaschistische Aktion, Göttingen 2012, S.15.}} <br />
<br />
Auch Langer kann aber nicht leugnen, dass die SF-These eine reale Grundlage in den Erfahrungen der KPD mit der SPD hatte.<ref>Ebd.</ref> <br />
<br />
Exemplarisch für Positionen in der Radikalen Linken noch zu nennen, ist das als Einführungsbuch konzipierte ''Antifa'' von einem Autorenkollektiv aus der Frankfurter antifaschistischen “Linken”. Nicht genug, dass die Autoren über die Rolle der SPD in der Niederschlagung der Novemberrevolution, dem Aufbau der Freikorps, dem Aufbau eines arbeiterfeindlichen Polizeiregimes weitgehend schweigen. Sie machen sich auch gar nicht erst die Mühe, die Sozialfaschismusthese inhaltlich zu widerlegen. Es genügt die für sich selbst sprechende Betitelung des entsprechenden Buchabschnitts als “Sozialfaschismusthese und Siegeszug des Faschismus” (Keller et. Al, S.26).<ref>Keller, Mirja et al: Antifa. Geschichte und Organisierung, Stuttgart 2011, S.26. </ref> Die Autoren scheuen sich auch nicht, Mythen aus der Totalitarismus-Mottenkiste zu holen. Nicht nur habe die KPD “absurderweise” der SPD Schuld am Erstarken des Faschismus gegeben, sondern auch die NSDAP punktuell in ihre Einheitsfront einbezogen: <br />
{{Zitat | 1=Als infolge der Notverordnungen […] die Löhne bei den Berliner Verkehrsbetrieben gesenkt werden sollten, unternahm die KPD ihren politisch fatalsten Versuch einer »Einheitsfront« der ArbeiterInnenklasse. In der Leitung des am 2.November 1932 ausgerufenen Streiks saßen neben KPD-Angehörigen und SozialdemokratInnen auch zwei Mitglieder der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganistion. Die reale Zusammenarbeit zwischen KommunistInnen und Nazis war zwar begrenzt, das politische Signal war jedoch fatal. Der BVG-Streik […] zeigt die grobe Fehleinschätzung des Nationalsozialismus durch die KPD. | 2=Keller, Mirja et al: Antifa. Geschichte und Organisierung, Stuttgart 2011, S.26.}} <br />
<br />
Damit haben sie das “Paradepferd der Totalitarismustheorie” (Oltmann 1982) herbeizitiert, und liegen dennoch in der historischen Bewertung komplett daneben. In Wirklichkeit war das Agieren der KPD im BVG-Streik ein taktischer Schachzug zur Entlarvung der arbeiterfeindlichen Haltung der NSDAP. Ihr Ziel war es deren soziale Demagogie vor den Hitleranhängern in der Arbeiterschaft aufzudecken. Es handelt sich hier keinesfalls um eine Zusammenarbeit mit NS-Organisationen.<ref>vgl. Oltmann, Joachim: Das Paradepferd der Totalitarismustheorie. Der Streik der Berliner Verkehrsarbeiter im November 1932, Berlin 1892.</ref> Ihr Beleg für diese Behauptung stammt übrigens bezeichnenderweise aus einer Publikation der Landeszentrale für politische Bildung. Der Band aus dem Schmetterling-Verlag, der auch von der Bundeszentrale für politische Bildung stammen könnte, gehört natürlich nicht mehr in die innerkommunistische Debatte. Allerdings haben solche Positionen Einfluss in weiten Teilen der antifaschistischen Linken und tragen zur Verbreitung von antikommunistischem Bewusstsein in dieser bei. <br />
<br />
Auffällig ist bei all diesen Gruppierungen ein positiver Bezug auf die Analysen von Thalheimer und Trotzki in Bezug auf die Sozialfaschismusthese.<br />
<br />
== Bezug zu den Grundannahmen ==<br />
<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
<br />
== Was steht dazu in den Programmatischen Thesen? ==<br />
Siehe hierzu den Abschnitt zum [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#5_Faschismus_und_Antifaschismus Faschismus und Antifaschismus] in unseren ''Programmatischen Thesen''.<br />
<br />
Darin äußern wir uns nicht konkret zur sogenannten Sozialfaschismusthese, schreiben aber Verhältnis von Faschismus und Sozialdemokratie schreiben wir:<br />
{{Zitat|In Bezug auf den Faschismus wollen wir uns beispielsweise damit beschäftigen, wie die historisch auftretenden Varianten dieser Herrschaftsform sich unterschieden, was sie gemeinsam hatten und was allgemeine Charakteristika des Faschismus sind. Wir wollen uns auch mit dem Verhältnis von Sozialdemokratie und Faschismus historisch und aktuell auseinandersetzen, wie zum Beispiel der Rolle der Sozialdemokratie in Bezug auf den Aufstieg und die Machtübertragung des Faschismus in verschiedenen Ländern. Wir gehen davon aus, dass sozialdemokratische und faschistische Ideologie und Methoden der kapitalistischen Herrschaftsausübung sich nicht prinzipiell ausschließen. Dies zeigen uns die bitteren Erfahrungen der Arbeiterklasse mit der vielfältigen Zusammenarbeit zwischen sozialdemokratischer Führung und faschistischen Strukturen während und nach der Novemberrevolution bis zur Errichtung der faschistischen Diktatur 1933.<br>Für zentral halten wir auch die Beschäftigung mit den Erfahrungen des antifaschistischen Kampfes der Kommunisten, insbesondere mit der Frage, wie der Faschismus in Deutschland 1933 siegen konnte und mit den Orientierungen, die von der Kommunistischen Internationale im Zuge der Volksfront- und Einheitsfrontpolitik in den 1930er Jahren beschlossen wurden. Wir wollen der Frage nachgehen, welche Widersprüche und Mängel in der Faschismusanalyse existieren. Das betrifft grundsätzlich die Frage, wie der Begriff Faschismus zu verstehen und anzuwenden ist. Schließlich stellt sich auch heute zentral die Frage, mit welcher bündnispolitischen Orientierung der Faschismus wirksam bekämpft werden kann.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.12-13.}}<br />
<br />
== Arbeitsschritte / Klärung des Dissens ==<br />
Folgende inhaltliche Fragen ergeben sich aus dem Dissens zur Sozialfaschismusthese. Zu ihrer Beantwortung müssen Untersuchungen des historischen Materials und der dokumentierten Diskussionen angestellt werden.<br />
* Diskussion und “Paradigmenwechsel” in der KI nachvollziehen, wo taucht der Begriff zum ersten Mal auf? Welche strategische Position nahm die KI in ihrem Programm von 1928 zur Sozialdemokratie ein? Welche verschiedenen Phasen gab es im Verhältnis der KPD zur Sozialdemokratie? <br />
* Wie war die Unterscheidung in “National-” und “Sozialfaschismus” durch die KI begründet? Wie bewerten wir diese Unterscheidung heute? Um sie zu verstehen, müssen wir auch noch besser verstehen, was die KI zu diesem Zeitpunkt unter “Faschismus” verstanden hatte, wir reden hier schließlich von der Zeit vor der faschistischen Diktatur. <br />
* Hat die KPD zu spät die Gefahr des Faschismus erkannt? Hat sie den Masseneinfluss der NSDAP unterschätzt? Lag wirklich der Fehler der KPD darin, dass sie zu spät erkannt hatte, dass der Faschismus an Stelle der Sozialdemokratie zur sozialen “Hauptstütze” des Imperialismus werden sollte? <br />
* Welche Differenzen gab es in der Einschätzung der Sozialdemokratie und der drohenden faschistischen Diktatur zwischen der KPD-Führung und dem EKKI? (siehe insbesondere die Dokumente: Dok. 234: [Moskau], 13.1.193, Dok 242: [Moskau], 26.4.1930, Dok 275: [Moskau], 1.12.1931, Dok. 282: [Berlin], 20.2.1932–23.2.1932) <br />
* Es braucht eine gute Zusammenstellung von Material welches dann ausgewertet werden soll. Bestehende Materialisammlung (z.B. “doc” s.u.) müssen kritisch eingeschätzt werden – welche Stellen wurden herausgekürzt und was ist deren Inhalt? <br />
* In der Diskussion um die Sozialfaschismusthese muss getrennt werden zwischen einer Bewertung des Inhalts dieser, der praktischen Ableitungen und der Bewertung des Begriffes andererseits. <br />
* Wie sahen die Einheitsfrontbemühungen in der Praxis aus? <br />
* Gab es in der DDR auch eine kontroverse Diskussion über die Bewertung der “Sozialfaschismusthese”? <br />
* Folgende These muss überprüft werden: Sozialdemokratie und Faschismus haben auf unterschiedliche Weise beide die Funktion, die Herrschaft des Kapitals zu sichern und eine Revolution zu verhindern. Die Sozialdemokratie besitzt allerdings andere Merkmale als der Faschismus und die sozialdemokratische Ideologie unterscheidet sich von der faschistischen. Die Unterschiede müssen beachtet werden, um die Massen über ihren Charakter aufzuklären und den Kampf gegen sie richtig organisieren zu können. Objektiv hat die Politik der Führung der Sozialdemokratie in Partei und Gewerkschaften das Anwachsen des Faschismus und die Errichtung der offenen Diktatur durch die Bekämpfung der revolutionären Arbeiterbewegung, durch die Unterstützung der Angriffe des Kapitals, durch Ablehnung von gemeinsamen Widerstandsaktionen und das Angebot der Mitarbeit im Nazi-Staat. Auch in der Folgezeit hat sie jede Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei abgelehnt, obwohl zehntausende Sozialdemokraten in den Konzentrationslagern litten und ein Teil aktiv gegen die Faschisten kämpfte - zum Teil auch zusammen mit den Kommunisten. Das Verhältnis von Sozialdemokratie und Faschismus ist deshalb genau zu untersuchen und nicht einfach mit Verweis auf die „Sozialfaschismusthese“ abzutun, ebenso wenig wie es richtig wäre, Unterschiede insbesondere in der Klassenzusammensetzung und der subjektiven Haltung zu ignorieren.<br />
<br />
== Literatur zum Thema ==<br />
* Autonome Antifa (M): Geschichte der Antifaschistischen Aktion in: Nadir, Göttingen 1995, URL: https://www.nadir.org/nadir/initiativ/aam/broschueren/hist/antifak.html (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Bahne, Siegfried: „Sozialfaschismus“ in Deutschland. Zur Geschichte eines politischen Begriffs, in: International Review of Social History 10, Assen (Niederlande) 1965, S.211-245.<br />
<br />
* Bois, Marcel: Ernst Thälmann. Der Politiker hinter dem Mythos in: Marx21, 18.08.2018, URL: https://www.marx21.de/ernst-thaelmann-der-politiker-hinter-dem-mythos/ (letzter Zugriff: 02.12.2019).<br />
<br />
* Brauns, Nick: »4. August der Kommunistischen Internationale«. Trotzkis Schriften über den deutschen Faschismus in einer Neuausgabe in: Junge Welt, 16.10.1999, Url: https://www.jungewelt.de/artikel/13205.4-august-der-kommunistischen-internationale.html (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Brauns, Nick: Der Machtlose Prophet. Trotzkis Warnungen vor dem Nationalsozialismus in: Nikolaus Brauns, 1999, Url: http://www.nikolaus-brauns.de/Der_machtlose_Prophet.htm (letzter Zugriff 02.01.2019).<br />
<br />
* Brauns, Nick: Geschichten um Teddy. Materialistische Geschichtsforschung statt linker Legendenbildung, in: Junge Welt, 03.05.2003, URL: https://www.jungewelt.de/artikel/36704.geschichten-um-teddy.html (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Brauns, Nick: SPD läßt schießen, in: Junge Welt, 30.04.2009, URL: https://www.jungewelt.de/artikel/124326.spd-l%C3%A4%C3%9Ft-schie%C3%9Fen.html (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Sohn-Rethel, Alfred: Die soziale Rekonsolidierung des Kapitalismus, in: Deutsche Führerbriefe, Nr. 72 und 73, Berlin 16. und 20.09.1932. <br />
<br />
* Doc: Komintern Dokumente 1918 - 1943. Deutschland Russland. Bd. 3 URL: https://www.degruyter.com/downloadpdf/books/9783110339789/9783110339789.699/9783110339789.699.pdf (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Dimitroff, Georgi: Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale. im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus in: mlwerke, 1935, URL: http://www.mlwerke.de/gd/gd_001.htm (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* DKP: Protokoll des Mannheimer Parteitags der Deutschen Kommunistischen Partei, Mannheim 1978. <br />
<br />
* Engel, Stefan: Der Stimmungsumschwung 2015 und der X. Parteitag der MLPD in: Rote Fahne, 2015, URL: https://www.mlpd.de/2015/kw52/der-stimmungsumschwung-2015-und-der-x-parteitag-der-mlpd (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Fischer, Michael: Horst Mahler. Biographische Studie zu Antisemitismus, Antiamerikanismus und Versuchen deutscher Schuldabwehr, Karlsruhe 2014. <br />
<br />
* Flakin, Wladek: Vergessene KommunistInnen in: Klasse gegen Klasse, 11.09.2015, URL: https://www.klassegegenklasse.org/vergessene-kommunistinnen/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Freyeisen, Bruni/ Schneider, Lilo /Fritsch, Kurt/ Priemer, Rolf /Köbele, Patrick: Aufzeichnungen über die Parteifrage, in: Rolf Priemer/ Heinz Stehr (Hrsg.): 25 Jahre DKP. Eine Geschichte ohne Ende, Essen 1993. <br />
<br />
* Gossweiler, Kurt: Zur Strategie und Taktik der KPD in der Weimarer Republik (geschrieben APRIL BIS JUNI 1957), in: Schriftenreihe der KPD Heft 78 I u. II, 2002. <br />
<br />
* Keller, Mirja/ Kögler, Lena/ Krawinkel, Moritz/ Schlemmermeyer, Jan: Antifa. Geschichte und Organisierung, Stuttgart 2011. <br />
<br />
* Kimmerle, Stephan: Wer war Leo Trotzki? Kämpfer gegen Kapitalismus und Stalinismus in: Sozialismus Info, 2000, Url: https://www.sozialismus.info/sav/wer-war-leo-trotzki/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Koch, Nikolas: Trotzki. Frühe Hinweise in: Marx21, 12.01.2010, URL: https://www.marx21.de/12-01-10-gegen-nazis/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* KommAufbau, Die historische Bolschewisierung, S. 17- 19. URL: <br />
<br />
* Klönne, Arno: Sozialdemokratie - eine Agentur kapitalistischer Interessen? in: Lenk, Kurt, Klönne, Arno/ Rosenbaum, Wolf/ Stuby, Gerhard (Hrsg.): Der bürgerliche Staat der Gegenwart, Hamburg 1972, S.57-86.<br />
<br />
* Kropf, Albert: Von der Republik zum Bürgerkrieg in: Sozialismus Info, 21.08.2006, URL: https://www.sozialismus.info/2006/08/11730/ (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Kühne, Steve: Vor 80 Jahren. Das Kapital bringt Hitler an die Macht in: Sozialismus Info, 13.01.2013, URL: https://www.sozialismus.info/2013/01/vor-80-jahren-das-kapital-bringt-hitler-an-die-macht/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Langer, Bernd: 80 Jahre Antifaschistische Aktion in: Blogsport, Göttingen 2012, URL: http://antifaeu.blogsport.de/images/80J_AA_web.pdf (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Lewerenz, Elfriede: Die Analyse des Faschismus durch die Kommunistische Internationale, Berlin 1975.<br />
<br />
* MLPD: Sozialfaschismus, in: Fremdwörter und Begriffserklärungen, Essen 2000, S. 94. <br />
<br />
* MLPD: Türkei. Erdogan-Gegner schließen sich zusammen in: MLPD, 2016, URL: https://www.mlpd.de/2016/kw33/tuerkei-erdogan-gegner-schliessen-sich-zusammen (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* MLPD: Vor 30 Jahren: Errichtung der sozialfaschistischen Diktatur in Polen in: MLPD, 2011, URL: https://www.mlpd.de/2011/kw50/vor-30-jahren-errichtung-der-sozialfaschistischen-diktatur-in-polen (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* MLPD: Wie und warum die Herrschenden die Geschichte fälschen in: MLPD, 2013, URL: https://www.mlpd.de/2013/kw04/wie-und-warum-die-herrschenden-die-geschichte-faelschen (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Oltmann, Joachim: Das Paradepferd der Totalitarismustheorie. Der Streik der Berliner Verkehrsarbeiter im November 1932, in: horizont - Sozialistische Wochenzeitung der DDR für internationale Politik und Wirtschaft, 1982 Berlin. <br />
<br />
* Pjatnitzki, Ossip A.: Die faschistische Diktatur in Deutschland, Broschüre, 1934. <br />
<br />
* Plato, Alexander von: Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik, Berlin 1973. <br />
<br />
* Priemer, Rolf/ Stehr, Heinz (Hrsg.): 25 Jahre DKP. Eine Geschichte ohne Ende, Essen 1993. <br />
<br />
* Schleifstein, Josef: Die „Sozialfaschismus“-These: Zu ihrem geschichtlichen Hintergrund in: DKP, Essen 1980, URL: http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2015/07/die-sozialfaschismus-these/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Schmierer, Joscha: Sozialfaschismusthese und politische Programmatik der KPD 1928-33 (Sept. 1975) Materialien zur Analyse von Opposition digitalisiert von Jürgen Schröder in: Mao-Projekt, Berlin 21.9.2016, URL: https://www.mao-projekt.de/BRD/ORG/KBW/KBW_1975_Sozialfaschismus.shtml (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Stalin, Josef: Zur internationalen Lage, in: J.W. Stalin Werke Bd. 6, S. 251–269. <br />
<br />
* Stanicic, Sascha: Welcher Weg zum Sozialismus? Eine kritische Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis von Linksruck, Berlin 2001. <br />
<br />
* Steffen, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971-1991 in: Archiv Uni Marburg, 2002, URL: http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2002/0060/pdf/dsm.pdf (zletzter Zugriff: 02.01.2018).<br />
<br />
* Stoodt, Hans Christoph: Volksfront, breites Bündnis, Antimonopolistische Demokratie, 2017. URL: http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2017/03/volksfront-breites-buendnis-antimonopolistische-demokratie/ (27.12.2018). <br />
<br />
* Trotzki, Leo: Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland in: mlwerke, 1930, URL: http://www.mlwerke.de/tr/1930/300926a.htm (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Trotzki, Leo: Vor der Entscheidung in: Sozialistische Klassiker 2.0, 1933, URL: https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1933/leo-trotzki-vor-der-entscheidung (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Sozialfaschismusthese&diff=5954Sozialfaschismusthese2019-03-17T14:16:02Z<p>Dio: /* Was steht dazu in den Programmatischen Thesen? */</p>
<hr />
<div>Zurück zu [[AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br><br />
<br />
== Worum geht es? ==<br />
Der Begriff “Sozialfaschismus” als Bezeichnung für die Politik der Führung der SPD wurde durch verschiedene Aussagen und Losungen der KomIntern und der KPD in der Weimarer Republik geprägt. Mit dem Begriff sollte deren reaktionäre und arbeiterfeindliche Rolle aufgezeigt werden. <br />
<br />
Kaum eine politische Orientierung hat in der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung eine so große Kontroverse ausgelöst wie die sogenannte Sozialfaschismusthese. Nach 1945 herrschte sowohl unter DDR-Historikern als auch unter DKP-Theoretikern weitgehende Einigkeit darüber, dass die Sozialfaschismusthese (gemeinsam mit der revolutionären Gewerkschaftsoppositionspolitik) der KPD in der Weimarer Republik ein Fehler – wenn nicht sogar der aller verhängnisvollste – gewesen sei und zu großen Problemen im Kampf gegen den Faschismus geführt habe. Die Theorie vom Sozialfaschismus habe den qualitativen Unterschied zwischen der bürgerlichen Demokratie und faschistischer Herrschaft relativiert und sei ein wichtiger Grund für das Scheitern einer erfolgreichen Einheitsfront mit der Sozialdemokratie gewesen. Sie habe Unterschiede zwischen der sozialdemokratischen Basis und der faschistischen Bewegung nicht erkannt. Teilweise wird sogar explizit die Sozialfaschismusthese verantwortlich gemacht für das Scheitern des antifaschistischen Widerstands und den Machtantritt der Faschisten. <br />
<br />
Der VII. Weltkongress mit den Beschlüssen zur Einheits- und Volksfrontpolitik wird als Korrektur und Abkehr von der Sozialfaschismusthese bewertet und ist in diesem Sinne der zentrale Bezugspunkt für die antifaschistische Strategie und Taktik der Kommunisten auch nach 1945, insbesondere auch was die Neu-Ausrichtung des Verhältnisses zur Sozialdemokratie betrifft ([[Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts |siehe auch Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts]]).<br />
<br />
== Welche Positionen gibt es? Wer vertritt sie? ==<br />
=== Historischer Überblick ===<br />
Den historischen Hintergrund der Sozialfaschismusthese bildete laut Kurt Gossweiler “[d]as Erlebnis, dass die sozialdemokratischen Führer fähig waren, Millionen Proletarier auf die Schlachtfelder des imperialistischen Krieges zu jagen; dass sie fähig waren, im Bündnis mit den kaiserlichen Generälen das revolutionäre deutsche Proletariat abzuschlachten und seine Führer kaltblütig ermorden zu lassen, – diese Erlebnisse haben den Grundstein zur Theorie vom Sozialfaschismus gelegt”.<ref>Gossweiler, Kurt: Zur Strategie und Taktik der KPD in der Weimarer Republik, 2002.</ref><br />
<br />
Erstmalig taucht der Begriff wahrscheinlich in den Diskussionen des Exekutivkomitees der KomIntern (EKKI) Anfang 1924 um den gescheiterten Hamburger Aufstand auf. Als bekanntester Ausspruch wird Josef Stalin zitiert, der die Sozialdemokratie als “Zwillingsbruder” des Faschismus bezeichnete.<ref>Stalin, Josef: Zur internationalen Lage, Berlin/DDR 1952, S.253.</ref> Damit war gemeint, dass sowohl Sozialdemokratie als auch Faschismus Stützen des imperialistischen Systems seien. Ein Bündnis mit der Führung der SPD wurde durch die KPD abgelehnt. Diese Linie wurde auf dem 6. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1928 bestätigt und weiter ausgearbeitet. <br />
<br />
Sieben Jahre später auf dem VII. Weltkongress der Komintern 1935 beschloss der Kongress dann die Abkehr von der Theorie des Sozialfaschismus und außerdem die taktische Neuorientierung auf die Volksfront. Die These vom Sozialfaschismus wurde als Hindernis im Ringen um eine proletarische Einheitsfront bewertet (Pieck 1935). Im Gegensatz zur Sozialfaschismusthese orientierte die Volksfrontpolitik nun auf eine Aktionseinheit der Kommunisten und der Sozialdemokraten im Kampf gegen den Faschismus und unter bestimmten Bedingungen sogar auf die Bildung gemeinsamer Volksfront-Regierungen (so z.B. in Frankreich und Spanien). Auf der einen Seite betonten mehrere Redner, dass es richtig gewesen sei, vor 1930 den scharfen Kampf gegen die SPD geführt zu haben (Pieck 1935), auf der anderen Seite, grenzte sich insbesondere Dimitroff mehrmals von “sektiererischen Fehlern” der Vergangenheit ab und bezog dies auch auf die Bündnispolitik der KPD. <ref>Dimitroff, Georgi: Arbeiterklasse gegen Faschismus, 1935.</ref> Inwiefern die Abkehr von der Sozialfaschismusthese Ergebnis taktischer oder grundsätzlicher Erwägungen war, muss noch untersucht werden.<ref>Vgl. Stoodt, Hans Christioph: Volksfront, breites Bündnis, Antimonopolistische Demokratie, 2017. URL: http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2017/03/volksfront-breites-buendnis-antimonopolistische-demokratie/ (27.12.2018). </ref><br />
<br />
Eine genaue Bewertung der Diskussionen des 7.Weltkongresses und dessen Folgen steht für uns noch an. Für die große Mehrheit der deutschen kommunistischen Bewegung schienen nach dem Zweiten Weltkrieg die Lehren der Vergangenheit allerdings eindeutig zu sein: Sowohl in der jungen DDR als auch in der sich erst wieder konstituierenden, dann ab August 1956 erneut illegalen KPD war man sich einig darin, dass die These vom Sozialfaschismus einer der gravierendsten Fehler der kommunistischen Weltbewegung (KWB) vor 1933 gewesen war. Viele gingen sogar so weit, dass die Überwindung der Sozialfaschismusthese und die Einsicht in die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie und anderen „fortschrittlichen Kräften“ die zentrale Lehre aus dem deutschen Faschismus gewesen sei. Die Vorwürfe, die der KPD gemacht wurden und bis heute im Raum stehen, lassen sich wie folgt zusammenfassen: <br />
<br />
* Sie habe keine Unterscheidung zwischen “Sozialfaschisten” und “Nationalfaschisten” getroffen, Faschismus und Sozialdemokratie also gleichgesetzt und gleichermaßen bekämpft. <br />
<br />
* Die KPD habe die bürgerlich-demokratische Herrschaft und die faschistische Diktatur gleichgesetzt. Sie hätte ein Bündnis mit der Führung der SPD zur Verteidigung demokratischer Errungenschaften frühzeitig eingehen sollen. So habe sie den Widerstand gegen den Faschismus geschwächt. <br />
<br />
* Die KPD habe den Unterschied in der sozialen Basis der Sozialdemokratie und der faschistischen Bewegung nicht erkannt. So habe die sie die faschistische Massenbewegung unterschätzt. <br />
<br />
* Der Begriff Sozialfaschismus war massenfeindlich, weil er nicht schaffte, den Unterschied zwischen sozialdemokratischer Basis und Führung differenziert zu vermitteln und so den Aufbau einer “Einheitsfront von unten” verhinderte. <br />
<br />
Dies sind auch Vorwürfe, die den Kommunisten von Seite bürgerlicher Antikommunisten und der Sozialdemokratie gemacht werden. Sie suchen so ihre arbeiterfeindliche und verräterische Rolle in der Weimarer Republik und ihre Schuld an der Machtübertragung an die NSDAP zu vertuschen. Die SPD hatte in der Weimarer Republik ihrerseits selbst eine aggressiv antikommunistische Propaganda der systematischen Gleichsetzung von Kommunismus und Faschismus betrieben – musste sich im antikommunistischen Klima des Kalten Krieges jedoch nie für diese „rotlackierte-Faschisten“-These rechtfertigen, geschweige denn sich den Vorwurf einer Mitschuld am Aufstieg des Faschismus gefallen lassen. Sie lag mit ihrer damaligen Politik rückblickend ganz auf der Linie der Totalitarismus-Doktrin der Nachkriegszeit und damit völlig im Einklang mit der Staatsraison der BRD. Das Erkenntnissinteresse der kommunistischen Bewegung kann dagegen nicht in der Diffamierung der damaligen Genossen oder in ahistorischen Schuldzuweisungen und Abrechnungen liegen, sondern richtet sich ganz auf die Frage nach den Ursachen unserer historischen Niederlage, nach den Fehlern, die die KPD und die Arbeiterklasse so viele Opfer gekostet hat. <br />
<br />
Im Folgenden will dieser Artikel einen ersten Überblick über die verschiedenen Einschätzungen zur Sozialfaschismusthese innerhalb des Spektrums der deutschen kommunistischen Bewegung geben.<br />
<br />
=== DKP ===<br />
Die DKP bewertete und bewertet die Sozialfaschismusthese als den größten Fehler der deutschen Kommunisten. Viele DKPler geben in der Regel der KI, aber insbesondere dem Einfluss Josef Stalins die Schuld daran, die deutschen Kommunisten in ihrer Einschätzung irregeleitet und dazu gebracht zu haben, die SPD als "sozialfaschistisch" zu bekämpfen, anstatt ihr gegenüber eine Einheitsfrontpolitik zu betreiben. In dem Buch “25 Jahre DKP” herausgegeben vom ehemaligen Vorsitzenden der DKP, Heinz Stehr und seinem damaligen Stellvertreter Rolf Priemer, entwickelten verschiedene damalige Leitungsmitglieder der DKP Grundpositionen zu Geschichte und Ideologie der DKP. In dem Abschnitt zur Parteifrage heißt es: <br />
{{Zitat |Denken wir nur an ein Beispiel, an den 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale von 1934 [sic!] [gemeint ist 1935; Anm. Autor] und die Brüsseler Konferenz der KPD im Jahr darauf. Dort erfolgte eine kritische Aufarbeitung der Erfahrungen im Kampf gegen den Faschismus, die Korrektur eigener Fehler, wie z. B. der „Sozialfaschismusthese". Es wurde eine antifaschistische Einheitsfrontstrategie entwickelt, die bis heute zu den Grundlagen kommunistischer Politik zählt. […] Es bleibt dabei eine bittere Wahrheit, daß auch nach dem 7. Weltkongreß durch den Stalinschen Dogmatismus der kommunistischen Bewegung schlimmer Schaden entstand, durch seine Willkürherrschaft tiefe Wunden geschlagen wurden.|Freyeisen, Bruni et al.: Aufzeichnungen über die Parteifrage, Essen 1993, S.43.}} <br />
<br />
Der Umschwung zur "Volksfront"-Politik, so die übliche Einschätzung in der DKP, sei zwar richtig gewesen, allerdings zu spät vollzogen worden. Es hätte bereits frühzeitig auf ein Bündnis mit der Führung der SPD gesetzt werden sollen. Auch der VI. Weltkongress habe noch eine falsche Faschismusanalyse vertreten. Die Kommunisten hätten zu diesem Zeitpunkt die Weimarer Republik verteidigen müssen, anstatt für die sozialistische Revolution zu kämpfen, liest man etwa in einem DKP Bildungsheft von 2011. <br />
{{Zitat |So wurde auf dem Vl. Weltkongress der Komintern vom Ende der zwanziger Jahre eingeschätzt, eine neue Epoche der Kriege und Revolutionen beginne. Diese Einschätzung war ja nicht durchweg falsch, wurde jedoch mit der Folgerung verbunden, der bürgerliche Demokratie-Typus sei historisch überholt, denn die Revolution stehe auf der Tagesordnung[…].Das wurde teils unzureichenden, teils direkt falschen Faschismus-Analyse (Sozialfaschismus-”Theorie”) verbunden und führte dazu, dass die Kommunisten in Deutschland ihre historische Aufgabe bei der Verteidigung der Weimarer Republik verkannten.|DKP-Bildungsheft: Imperialistischer Staat und Demokratie, 2011, S.15.}} <br />
<br />
Vor allem habe die Sozialfaschismusthese den Unterschied zwischen der bürgerlichen Demokratie und der faschistischen Diktatur nicht erkannt und so den Widerstand massiv geschwächt. Der führende DKP-Theoretiker Josef Schleifstein schreibt dazu: <br />
{{Zitat |Dies wurde durch die Schlußfolgerung ergänzt, dass man mit der ‚Konstruierung eines Gegensatzes zwischen Faschismus und der bürgerlichen Demokratie sowie zwischen den parlamentarischen Formen der Diktatur der Bourgeoisie und den offenen faschistischen Formen‘ aufhören müsse. Es ist klar, daß dies nicht nur die Herstellung der Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Massen gegen faschistische Gefahr erschweren, sondern auch zu einer Unterschätzung dieser Gefahr führen mußte. So wurde der für die Kampfbedingungen der Arbeiterklasse bedeutsame Unterschied zwischen bürgerlich-parlamentarischen und faschistischen Herrschaftsmethoden der Bourgeoisie negiert[…].|Schleifstein, Josef: Die „Sozialfaschismus“-These: Zu ihrem geschichtlichen Hintergrund, Essen 1980.}} <br />
<br />
Mit dem VII. Weltkongress hatte die Bewegung, so die DKP-Position, diese historische Lektion aber gelernt – und bewahrt sie seither in der Strategie der Antimonopolistischen Demokratie (AMD), welche u.a. zentral mit dem 7.Weltkongress begründet wird <ref>vgl. Stoodt, HC.: Volksfront, breites Bündnis, Antimonopolistische Demokratie, Frankfurt, 2017. </ref><ref>vgl. Spanidis, Thanasis: Der VII. Weltkongress und seine Folgen, 2017. </ref> obwohl die antifaschistische Volksfront-Taktik nie als langfristige und allgemeingültige Strategie gedacht war und auch nicht als solche beschlossen wurde.<ref>vgl. Stoodt, HC.: Volksfront, breites Bündnis, Antimonopolistische Demokratie, Frankfurt 2017. </ref> Die praktischen Folgerungen sind weitreichend – im Programm von 1978 betonte die DKP ausdrücklich ihr freundschaftliches Verhältnis zur Sozialdemokratie und bekundigte ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der SPD ([[Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts|siehe auch Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts]] oder auch [[„Antimonopolistische Demokratie“ (DKP)| Antimonopolistische Demokratie]]).<ref>DKP: Protokoll des Mannheimer Parteitags der Deutschen Kommunistischen Partei, Mannheim 1978, S.259. </ref><br />
<br />
Allerdings gibt es Teile der DKP und einige DDR-Historiker, die anerkennen, dass die historischen Erfahrungen seit 1914 – vor allem während der Novemberrevolution und der Weimarer Republik – der Sozialfaschismusthese große Plausibilität gaben. So zum Beispiel Josef Schleifstein in seiner Monographie “Die Sozialfaschismusthese”, in welcher er ausführlich den Verrat der SPD an der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik nachzeichnet. <br />
{{Zitat |Nur auf diesem Hintergrund wird die ‚Sozialfaschismus‘-These überhaupt verständlich. Sie hat zweifellos die Herstellung einer gemeinsamen Front gegen den Faschismus erschwert. Aber sie war nicht die Ursache, sondern die Reaktion auf die sozialdemokratische Politik seit dem August 1914 und seit der Novemberrevolution 1918.|Schleifstein, Josef: Die „Sozialfaschismus“-These: Zu ihrem geschichtlichen Hintergrund, Essen 1980.}} <br />
<br />
Die “linken” Kräfte in der DKP stimmen der Analyse, die Sozialdemokratie sei die "soziale Hauptstütze" (KI Programm 1928) des Imperialismus für den Ersten Weltkrieg, die Novemberrevolution und den größeren Teil der Geschichte der Weimarer Republik, zu. Die Orientierung, die rechte Führung der SPD zu bekämpfen und den Einfluss des Opportunismus in der Arbeiterklasse zurückzudrängen war demnach richtig. Der Fehler der Komintern und der deutschen Kommunisten bestand im Wesentlichen darin, zu spät erkannt zu haben, dass die Bourgeoisie sich mit dem Faschismus eine "zweite Hauptstütze" aufgebaut hatte und auf die Integrationsfunktion der Sozialdemokratie für die Vorbereitung des nächsten imperialistischen Krieges nicht mehr angewiesen war.<br />
<br />
=== Kurt Gossweiler / DDR ===<br />
Die Auffassungen in DKP und DDR zur Sozialfaschismusthese waren wohl überwiegend deckungsgleich. Eine tiefergehende Recherche über eventuellen Dissens innerhalb der DDR-Wissenschaft steht aber noch an. Exemplarisch für die Bewertung der Sozialfaschismusthese seitens der DDR-Historiographie kann die Studie “Zur Strategie und Taktik der KPD” des DDR-Historikers Kurt Gossweiler deswegen nicht genannt werden, weil sie zwar 1957 von ihm verfasst wurde, allerdings erst viele Jahre später nach der Konterrevolution veröffentlicht wurde (2002). Trotzdem kann sie als interessanter Einblick in interne Diskussionen unter DDR-Historikern eingeschätzt werden. Gossweiler zusammenfassendes Urteil über die These vom Sozialfaschismus ist: <br />
{{Zitat |Obwohl die Kennzeichnung der Politik der rechtssozialistischen Führer als Politik des schändlichsten Verrats an den Interessen der Arbeiterklasse und der Wegbereitung für den Faschismus vollkommen richtig war, waren die wesentlichsten Schlussfolgerungen, die seitens der K.I. und der KPD daraus gezogen wurden, irrig. Das betrifft vor allem die Theorie des “Sozialfaschismus”; die Einschätzung der SPD als Hauptstütze der Bourgeoisie bis 1933 und die These, dass der Hauptstoß gegen die SPD geführt werden müsse.|Gossweiler, Kurt: Zur Strategie und Taktik der KPD in der Weimarer Republik, 2002.}}<br />
<br />
Er spricht sich klar gegen Illusionen über die sozialdemokratischen Führer aus, deren “offizielle Strategie” die “Verewigung der Spaltung” der Arbeiter sei.Es sei aber die Aufgabe der Kommunisten gewesen, den Arbeitern selbst die Möglichkeit zu geben, sich davon zu überzeugen, dass “nur die Kommunisten Vorkämpfer der Arbeitereinheit, die rechten sozialdemokratischen und Gewerkschaftsführer aber verantwortlich für die Spaltung und deren Aufrechterhaltung sind.”<ref>ebd. </ref> Das hätte eine “solche elastische Taktik” erfordert, “dass es auch den raffiniertesten Manövern der rechten Führer nicht gelingt, die Kommunisten in den Augen der Massen als Gegner der Arbeitereinheit hinzustellen […]”.<ref>ebd., S.X-Y. </ref> Die These vom Sozialfaschismus habe es den Führern der Sozialdemokratie leicht gemacht, die KPD als Gegner der Einheit zu brandmarken: <br />
{{Zitat |Diese mehrfachen, demagogischen Angebote der SPD-Führung an die KPD wurden von ihr abgelehnt mit der Begründung: Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Arbeitern – ja, mit den sozialfaschistischen Führern – niemals. Diese starre Festlegung der KPD hat es den sozialdemokratischen Führern überhaupt erst erlaubt, solche demagogischen Einheitsfrontangebote zu starten, da sie von vornherein wussten, dass keine Gefahr ihrer Annahme bestand. [… ]|ebd.}} <br />
<br />
Er betont aber, dass die Sozialfaschismusthese die historische Widerspiegelung des Verrats der Sozialdemokratie war und nicht lediglich dem “Dogmatismus” einzelner Köpfe wie Stalin entsprang: <br />
<br />
{{Zitat |Durch die Ereignisse in Italien, Bulgarien und Deutschland war auch die Frage des Verhältnisses zwischen Faschismus und Sozialdemokratie aufgeworfen worden. In allen diesen Ländern hatte sich gezeigt, dass die Spitzen der sozialdemokratischen Parteien und der reformistischen Gewerkschaften zu einer Verständigung mit dem Faschismus zu kommen suchten. […] Die Theorie von den ‚Zwillingsbrüdern‘ kann nicht als die Theorie eines Einzelnen, Stalins, betrachtet werden, sondern sie war die Auffassung der übergroßen Mehrzahl aller führenden Köpfe der Kommunistischen Internationale, gebildet auf Grund der Erfahrungen der Jahre 1920 bis 1924.|ebd.}}<br />
<br />
Trotzdem hält er die “die Gleichsetzung von Faschismus und Sozialdemokratie” für einen Fehler, sie “war theoretisch falsch und praktisch von verhängnisvollster Auswirkung, weil sie eine wichtige theoretische Begründung für all die linkssektiererischen Fehler in der darauffolgenden Zeit […] wurde”. Das gleiche gelte für die Einordnung der linken Sozialdemokratie als größten Feind der Arbeiterbewegung: “Ein weiterer Ausdruck der Abweichung in der Richtung des linken Sektierertums war auch die neuerliche schematische Abstempelung aller linken SP-Führer als der gefährlichsten Feinde der Arbeiterbewegung”.<ref>ebd. </ref> <br />
<br />
Gossweiler kritisiert schließlich den Begriff Sozialfaschismus als schematische und unscharfe Weiterentwicklung der Leninschen Begriffe von „Sozialimperialismus“ und „Sozialchauvinismus“. Er kritisiert die KPD und KI für ihr fehlendes Verständnis der Unterschiede der Basis und der Herrschaftsformen von Sozialdemokratie und Faschismus. <br />
{{Zitat |Die Formulierung “Sozialfaschismus” wäre nur dann zutreffend, wenn die SPD zum Träger der faschistischen Diktatur, d.h. der offenen, terroristischen Diktatur über die gesamte Arbeiterklasse und deren Organisationen werden könnte, ohne dass sie damit aufhörte, Sozialdemokratie zu sein, d.h. Agentur der Bourgeoisie, deren spezifischer Wert für die Bourgeoisie darin besteht, dass sie das Vertrauen eines erheblichen Teiles der organisierten Arbeiterklasse besitzt. Das aber ist unmöglich. Die Sozialdemokratie kann direkter Träger der bürgerlichen Herrschaft nur unter der Bedingung sein, dass ihr die Bourgeoisie ein Mindestmaß an Spielraum zur Vertretung ökonomischer und politischer Forderungen der Arbeiterklasse lässt, d.h. unter der Bedingung, dass noch ein Mindestmaß an bürgerlicher Demokratie erhalten bleibt.|ebd.}} <br />
<br />
Die Gewalt in der Herrschaft der Sozialdemokratie sei eher die Ausnahme, nicht die Hauptmethode. Die Sozialdemokratie könne es sich nicht leisten, ihre gesamte Basis zu verprellen. “Zur Ausübung der faschistischen Diktatur muss sich deshalb die Bourgeoisie andere Instrumente schaffen, nicht etwa, weil Sozialdemokratie und Faschismus dem Klasseninhalt ihrer Politik nach unversöhnliche Gegensätze bilden würden, sondern weil die Art und Weise, wie beide die Bourgeoisie vor dem Ansturm der Arbeiterklasse zu bewahren suchen, in ihrem Hauptakzent verschieden sind.”<ref>ebd. </ref> Nichtsdestotrotz ist es nur die Sozialdemokratie, die den Faschismus an die Macht verhelfen kann, sie ist “für die Bourgeoisie dennoch von großer Wichtigkeit in der Übergangsphase von der bürgerlichen Demokratie zur faschistischen Diktatur. In dieser für die Bourgeoisie kritischen Situation des Überganges von der einen zur anderen Herrschaftsform […] hat die Sozialdemokratie die Funktion, die Bourgeoisie gegen die Angriffe der Arbeiterklasse abzuschirmen. Ob sie diese Funktion zu erfüllen vermag oder nicht, hängt weitgehend davon ab, ob die kommunistische Partei ihr erlaubt, diese Rolle zu spielen.”<ref>ebd. </ref> ([[Antifaschismus |Siehe Antifaschistische Strategie]] und [[Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts|Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts]])<br />
<br />
=== K-Gruppen ===<br />
Ein vollständiger Überblick über die verschiedenen Haltungen der maoistischen K-Gruppen in Westdeutschland zur Sozialfaschismus-Frage kann hier nicht erfolgen. Allgemein kann gesagt werden, dass die Mehrzahl die Einschätzung der SPD als sozialfaschistisch durch die KPD für einen Fehler hielt oder zumindest nicht auf die SPD nach 1945 anwenden mochte. Es gab aber auch solche Gruppen, die die Sozialfaschismusthese in ihrer Grundaussage als richtig einstuften, oder sogar die Kennzeichnung “sozialfaschistisch” auf die SPD und teilweise auch die Sowjetunion anwendeten. <br />
<br />
Ein Beispiel für einen positiven Bezug auf die Grundaussage der Sozialfaschismusthese ist die Dissertation des KPD/Aufbauorganisation (KPD/AO) - (später KPD) Theoretikers Alexander von Plato. Er vertritt die Auffassung, dass die Analyse der KPD die SPD sei die “Steigbügelhalterin” des Faschismus gewesen, durchaus richtig war und dass es tatsächlich viele “Überschneidungen zwischen sozialdemokratischen und faschistischen Maßnahmen” in der Weimarer Republik gegeben habe.<ref>Von Plato, Alexander: Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik, Berlin 1973, S.324-331.</ref> Er führt aus: <br />
{{Zitat |Die Geschichte der SPD beweist weiterhin, dass der Vorwurf der KPD und der Komintern, die SPD-Führung sei sozialfaschistisch, Gültigkeit besaß: Sowohl in ihrer Politik der Verelendung der Arbeiterklasse als auch in ihrem Terror, sowie in ihrem Arrangement mit den Nationalsozialisten und schließlich in ihrer Ideologie wies die deutsche Sozialdemokratie dem Faschismus den Weg und erleichterte der NSDAP ihren Aufstieg. Die SPD war [...] einer der Wegbereiter des Faschismus.|Von Plato, Alexander: Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik, Berlin 1973, S.328f.}}<br />
<br />
Diese Position findet sich heute wieder beim Kommunistischer Aufbau (KA) in ihrer Broschüre “Die historische Bolschewisierung”, dort übernehmen sie weitestgehend die Einschätzung Platos.<ref>vgl. Kommunistischer Aufbau: Die historische Bolschewisierung, 2015, S.17-19.</ref> <br />
<br />
Zum Teil findet sich bei den K-Gruppen auch eine Übertragung der Sozialfaschismusthese auf den real existierenden Sozialismus und Gleichsetzung von Faschismus und Sowjetunion. Im Zentralorgan der KPD-AO (später KPD), der Roten Fahne, hieß es 1976: <br />
{{Zitat |Daher ist es völlig richtig, die Diktatur der Bourgeoisie in der Sowjetunion als sozialfaschistische Diktatur zu kennzeichnen, die sich – je nach besonderen Bedürfnissen der Täuschung oder Niederhaltung – hinter den Aushängeschildern ‚Staat des ganzen Volkes‘ oder ‚Diktatur des Proletariats‘ versteckt. Auch Hitler erklärte seinen faschistischen Terrorstaat zum Ausdruck einer ,Volksgemeinschaft’, in dem es angeblich keine Klassen mehr gäbe, auch er bediente sich sozialistischer Phrasen, um über den Klassencharakter der faschistischen Herrschaft zu täuschen. Der Unterschied zwischen Hitler und den neuen Zaren besteht allein darin, dass diese die faschistische Unterdrückungsmaschine und die sozialistischen Phrasen noch umfassender und perfekter ausgebaut haben.|zitiert nach Fischer, Michael: Horst Mahler. Biographische Studie zu Antisemitismus, Antiamerikanismus und Versuchen deutscher Schuldabwehr, Karlsruhe 2014, S.266.}} <br />
<br />
Auch die DDR war nicht vor dem Faschismusvorwurf sicher. In der Zeitung der “Roten Hilfe” der KPD (AO) hieß es: “Ein Teil unseres Volkes muss unter dem Faschismus des DDR Regimes leben”.<ref>Ebd.</ref> <br />
Die kommunistischen Parteien des “Sowjetlagers” waren aus Sicht einiger K-Gruppen also zu den Hauptvertretern eines “Sozialfaschismus” und damit zum Hauptfeind erklärt worden, selbst in der Situation des Sturzes der Salazar-Diktatur, sah z.B. die KPD (AO) die Hauptgefahr in einer "sozialfaschistischen Diktatur" getragen durch die sowjetnahe PCP.<ref>Steffen, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971-1991, 2002, S.116.</ref> <br />
<br />
Der Kommunistische Arbeiterbund (KAB) lehnte den Begriff ab und betonte die Notwendigkeit breiter antifaschistischer Bündnisse.<ref>vgl. ebd., S.49.</ref> Allerdings leiste die Sozialdemokratie ihren Beitrag zur Faschisierung der Gesellschaft, z.B. durch Notstandsgesetzgebung.<ref>ebd.</ref> <br />
<br />
Der Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW) gab im September 1975 einen Artikel von Joscha Schmierer zum Thema Sozialfaschismus in einer Broschüre heraus. Diese war u.a. eine Reaktion auf die Dissertation Platos und Publikationen in der KPD-AO Zeitung Rote Fahne. Diese würde in “apologetischer Weise” die Sozialfaschismus-These behandeln, die in der Praxis die Entstehung einer Aktionseinheit der Arbeiter verhindert habe.<ref>Schmierer, Joscha: Sozialfaschismusthese und politische Programmatik der KPD 1928-33 (Sept. 1975) Materialien zur Analyse von Opposition, 1975, S.6f.</ref> Zusammenfassend trifft der KBW-Autor die Einschätzung: “Die Sozialfaschismusthese ist […] eine von mehreren wichtigen Abweichungen vom Marxismus-Leninismus, die die Politik der Komintern und insbesondere die Politik der KPD nach dem VI. Weltkongress kennzeichneten. […] Durch den VII. Weltkongress wurden diese Fehler korrigiert”.<ref>ebd., S.5f.</ref> Allerdings habe der VII. Weltkongress, die Sozialfaschismus-These nur “unter der Hand”<ref>ebd., S.13</ref> revidiert, dies zeige die Schwäche des VII. Weltkongresses, “die in einer Verharmlosung der Sozialfaschismus-These und der durch sie verursachten Fehler bestand”<ref>ebd.</ref>. <br />
<br />
Der Kommunistische Bund (KB) beschäftigte sich in den 70ern und frühen 80ern schwerpunktmäßig mit der “Faschisierung” der Gesellschaft. Laut dieser These muss der Übergang von der bürgerlichen Demokratie zur „offenen terroristischen Diktatur“ nicht unbedingt plötzlich (z.B. durch einen Putsch) vollzogen werden, sondern kann sich auch unter formaler Beibehaltung der bürgerlichen Institutionen schleichend vollziehen (etwa durch die Einführung von Notstandsgesetzen und eine allmähliche Militarisierung). Zur Rolle der SPD in diesem Prozess, analysieren sie, dass diese die Faschisierung vorantreibe, aber selbst keine Faschisten seien.<ref>Steffen, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971-1991, 2002, S.127.</ref> Die SPD sei im Vergleich zu CDU das kleinere Übel, gegen die CDU sei folglich der Hauptstoß zu führen. Der KB rief als Konsequenz auch zeitweise zur Wahl der SPD auf und unterbreiteten ihnen Kooperationsangebote – bis hin zur ihrem Aufruf 1972 Willy Brandt zu wählen.<ref>ebd., S.135f. und 140.</ref><br />
<br />
Insgesamt finden sich im Spektrum der K-Gruppen alle Positionen zur Sozialfaschismusthese wieder, die es in der kommunistischen Bewegung insgesamt gibt.<br />
<br />
=== MLPD ===<br />
Die MLPD verurteilte zwar auf der einen Seite die Sozialfaschismusthese der KI und KPD als falsch und mitverantwortlich für das Scheitern der Einheitsfront<ref>MLPD: Fremdwörter und Begriffserklärungen, Essen 2000, S.13</ref>, benutzt selbst aber den Begriff “sozialfaschistisch” um eine bestimmte Form der Demagogie zu kennzeichnen, Sozialfaschismus sei “Politik, die sich sozial nennt, aber in Wirklichkeit Faschismus ist, gewaltsame Unterdrückung der Arbeiterbewegung”.<ref>Ebd.</ref> “Als Reaktion auf die siegreiche Oktoberrevolution […] errichteten die Monopole 1933 eine faschistische Diktatur zum Erhalt ihrer Macht […] und benutzten eine rassistische, die Begriffe des Sozialismus missbrauchende sozialfaschistische Demagogie.”<ref>MLPD: Türkei. Erdogan-Gegner schließen sich zusammen, 2016, S.33.</ref> Aber die MLPD verwendet den Begriff 'Sozialfaschismus' nicht nur historisch, sondern auch programmatisch mit Bezug auf die Gegenwart: “Die MLPD (…) hilft den Massen, den Einfluss sozialfaschistischer Demagogie sowie nationalistische und rassistische Vorurteile zu überwinden.”<ref>MLPD: Türkei. Erdogan-Gegner schließen sich zusammen, 2016, S.142.</ref> Wer die Träger dieser sozialfaschistischen Demagogie sind, wird z.B. in einem Interview mit Stefan Engel 2015 der Roten Fahne konkretisiert. Der ehemalige Parteivorsitzende sagt in Bezug auf den “IS”, dieser praktiziere eine “Neue Art des Faschismus” und könne mit seiner “sozialfaschisischen Demagogie” besonders viele Jugendliche aus Europa in seinen Bann ziehen.<ref>Engel, Stefan: Der Stimmungsumschwung 2015 und der X. Parteitag der MLPD, in: Rote Fahne 2015. </ref> <br />
<br />
Die MLPD-Definition von “Sozialfaschimus” ist also eher zu verstehen als Synonym zur Formulierung von der "sozialen Demagogie der Faschisten”. Mit der Kennzeichnung von reaktionärer Politik der Sozialdemokratie wie durch die Weimarer KPD, hat das also nichts zu tun. In Bezug auf die SPD wird auf die Analyse MLPD-Mitbegründers Willi Dickhut verwiesen: “Die Diffamierung aller Sozialdemokraten als Sozialfaschisten zerstörte bestehende Kontakte zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten und verhinderte die Schaffung einer proletarischen Einheitsfront, die als starkes Rückgrat einer breiten antifaschistischen Aktionseinheit die Machtübernahme Hitlers hätte verhindern können.”<ref>zitiert nach MLPD: Wie und warum die Herrschenden die Geschichte fälschen, 2013.</ref><br />
<br />
Auch wenn die MLPD den Begriff des Sozialfaschismus nicht für die SPD gebrauchen wollte, schien sie (zu diesem Zeitpunkt noch als KABD) keinen Widerspruch darin zu sehen, Anfang der 1980er die sowjetische Politik als “sozialfaschistisch” zu bezeichnen. Angesichts der Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 durch die Volksrepublik sprach die MLPD von einer “Errichtung der sozialfaschistischen Diktatur in Polen” unter dem Druck der Sowjetunion.<ref>MLPD: Vor 30 Jahren: Errichtung der sozialfaschistischen Diktatur in Polen, 2011.</ref><br />
<br />
=== Trotzkisten ===<br />
Leo Trotzki schrieb früh aus dem Exil vehement gegen die Sozialfaschismusthese an und forderte in diversen Artikeln ein engeres Bündnis zwischen KPD und SPD. Seine Differenzen mit der Führung der KPD lagen nicht hauptsächlich in der Einschätzung des Charakters der SPD, allerdings betonte er die feste Verbindung der Sozialdemokratie zu bürgerlich-demokratischen “pazifistischen” Herrschaftsformen und wollte sie so bündnisfähig machen (vgl. Trotzki 1933).<ref>vgl. Trotzki, Leo: Vor der Entscheidung, 1933.</ref> 1930 schrieb Trotzki über die Sozialfaschismusthese: <br />
{{Zitat |Die Kommunistische Partei hat sich trotz ausnehmend günstiger Bedingungen als zu schwach erwiesen, das Gebilde der Sozialdemokratie mit Hilfe der Formel des »Sozialfaschismus« zu erschüttern; […] Mag die Feststellung, daß die Sozialdemokratie durch ihre gesamte Politik das Aufblühen des Faschismus vorbereitet, noch so richtig sein, so ist es nicht weniger richtig, daß der Faschismus vor allem für die Sozialdemokratie selbst eine tödliche Drohung darstellt, deren ganze Herrlichkeit untrennbar mit den parlamentarisch-demokratisch-pazifistischen Regierungsformen verknüpft ist. […] Die Politik der Einheitsfront der Arbeiter gegen den Faschismus ist ein Erfordernis der gesamten Situation; […]. Die Bedingung des Erfolges ist das Fallenlassen von Theorie und Praxis des »Sozialfaschismus«, deren Schädlichkeit unter den gegenwärtigen Bedingungen katastrophal wird.|Trotzki, Leo: Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland, 1930.}} <br />
An gleicher Stelle forderte er vehement das Organisationsbündnis mit den sozialdemokratischen Parteien und Fraktionen.<ref>Ebd.</ref> <br />
<br />
Die trotzkistische Bewegung wie auch bürgerliche Wissenschaftler nach 1945, haben Trotzki als eine Art frühen und tragischen “Propheten” stilisiert, der als einer der ersten die verhängnisvollen Fehler der KI und KPD-Führung in Bezug auf den Sozialfaschismus erkannt habe, und vor allem als einer der wenigen auf die Gefahr des Faschismus hingewiesen habe. Außerdem als mutige Opposition gegen den “Stalinismus”.<ref>vgl. Brauns, Nick: Der Machtlose Prophet. Trotzkis Warnungen vor dem Nationalsozialismus, 1999.</ref><ref>vgl. Koch, Nikolas: Trotzki. Frühe Hinweise, 2010. </ref> <br />
<br />
Heute findet die Verbreitung der Thesen Trotzkis v.a. durch trotzkistische Gruppierungen und Zeitungen statt. Hier zu nennen sind das News-Portal “Klasse gegen Klasse”, die Marx21-Plattform, die SAV, außerdem Autoren wie Nick Brauns, der regelmäßig auch in nicht-trotzkistischen Zeitungen wie der Jungen Welt publiziert. Gemeinsam ist ihnen die Einschätzung der Sozialfaschismusthese als “ultralinken Fehler”<ref>Stanicic, Sascha: Welcher Weg zum Sozialismus? Eine kritische Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis von Linksruck, Berlin 2001, S.25. </ref>, und als einer der Hauptgründe der Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung: “Die Sozialfaschismustheorie verhinderte nicht nur eine Einheitsfrontpolitik auf Seiten der KPD, sie führte auch dazu, dass die KPD-Mitgliedschaft die besondere Bedrohung, die durch die Nazis für die Arbeiterklasse ausging nicht erkannte”.<ref>Kühne, Steve: Vor 80 Jahren: Das Kapital bringt Hitler an die Macht, 2013.</ref> Sie sehen in dem Bestreben kleiner trotzkistischer Gruppen in der Weimarer Republik die wahren Vertreter der Einheitsfront.<ref>ebd.</ref> Aber auch im klassischen Antifaspektrum findet durchaus positiver Bezug auf die SF-Analyse von Trotzki statt (s.u.). Verbunden wird die positive Bezugnahme auf Trotzki oft mit einem Angriff auf Ernst Thälmann, der als Stalins langer Arm aufgefasst wird.<ref>vgl. Bois, Marcel: Ernst Thälmann: Der Politiker Hinter Dem Mythos, 2018.</ref> So schreibt Brauns in der Jungen Welt in einem Artikel über Ernst Thälmann, dieser trage Mitverantwortung an der Niederlage der Arbeiterbewegung durch das Vertreten der Sozialfaschismusthese: <br />
{{Zitat |Es gibt nur die seit 50 Jahren wiedergekäute Thälmann-Legende. […] Doch um wieviel mehr wäre Thälmann ein politischer Bankrotteur zu nennen, der mit seiner Linie des scharfen Kampfes gegen den »Sozialfaschismus« der SPD die Mitverantwortung für die Kapitulation der deutschen Arbeiterbewegung vor Hitler trägt?|Brauns, Nick: Geschichten um Teddy. Materialistische Geschichtsforschung statt linker Legendenbildung, in: Junge Welt, 03.05.2003}}<br />
<br />
Die SAV fasst Trotzkis Position, dieses “Kämpfers gegen Kapitalismus und Stalinismus ” wie folgt zusammen: <br />
{{Zitat |Ein Wesenszug des Faschismus lag in seiner existenziellen Bedrohung auch für diese Arbeiterparteien mit bürgerlicher Führung. […] Auf dieser Grundlage forderte Trotzki die Bildung einer Einheitsfront: Gemeinsamer Kampf gegen den Faschismus auf der Grundlage einer scharfen Trennung zwischen den Organisationen der Arbeiterklasse auf der einen und den Parteien des Kapitals auf der anderen Seite. […] Einem solchen Appell zu einer Einheitsfront aller Arbeiterorganisationen hätten sich auch sozialdemokratische Parteien und Gewerkschaften nicht entziehen können […] Forderungen [wie] zum Beispiel eine Entmachtung der hinter den Faschisten stehenden Kapitalisten, hätten sich recht natürlich aus dem gemeinsamen Kampf heraus entwickelt. Aus dem Kampf aller Arbeiterorganisationen gegen die unmittelbare Bedrohung des Faschismus hätte sich der Kampf […] für revolutionär-sozialistische Ideen entwickelt, als einzigem Ausweg vor der kapitalistischen Konterrevolution in Gestalt des Nationalsozialismus entwickelt.|Kimmerle, Stephan: Wer war Leo Trotzki? Kämpfer gegen Kapitalismus und Stalinismus, 2000.}} <br />
<br />
Auch hier zeichnet sich die oben angesprochene Widersprüchlichkeit ab. Auf der einen Seite solle dieses Bündnis eine scharfe Trennlinie zu den bürgerlichen Parteien entwickeln, auf der anderen Seite teilten diese die grundlegende Abwehr des Faschismus und es sei möglich auf Basis eines solchen Bündnis “revolutionär-sozialistische Ideen” zu entwickeln. Viele Trotzkisten beziehen sich auf eine kleine trotzkistische Gruppe in der Weimarer KPD-Opposition, die “Linke Opposition (LO)”.<ref>vgl. Flakin, Wladek: Vergessene KommunistInnen, 2013.</ref><ref>vgl. Kropf, Albert: Von der Republik zum Bürgerkrieg, 2006.</ref><br />
<br />
=== Linksradikale Antifas ===<br />
In der linksradikalen Antifabewegung ist gemäß ihrer Neigung zum Sozialdemokratismus und Antikommunismus auch bei den mit der historischen Arbeiterbewegung sympathisierenden Teilen schnell der “stalinistische” Kurs der KPD als Schuldiger für die Niederlage ausgemacht. Sie betrachten den Kampf gegen die Sozialdemokratie teils stark vereinfachend als einen Kampf gegen “Abweichler” und projizieren aktuelle Diskussionen auf die Weimarer Republik, indem sie der KPD die Spaltung einer damaligen “Linken” vorwerfen, die im antifaschistischen Kampf über alle Differenzen hinweg hätte vereint werden müssen. So schreibt die A.L.I. aus Göttingen 2014: <br />
{{Zitat | 1=Die Machtkämpfe innerhalb der KPdSU nach Lenins Tod 1924, die sich vor allem zwischen Stalin und Trotzki abspielten, waren die Grundlage für die „Sozialfaschismusthese“, die in Deutschland verfolgt wurde: Stalin und seine Anhänger bereiteten sich auf einen Kampf vor gegen alle, die nicht ihre Linie verfolgten. Sie trafen Absprachen mit der Leitung der KPD, die auch in Deutschland den Kampf gegen „abweichende Kräfte“ führen sollte. So wurde nun die SPD als „sozialfaschistisch“ betrachtet und musste nach dieser Logik als erstes bekämpft werden. Dies verkannte nicht nur die Gefahr des Faschismus, sondern vertiefte auch die Spaltung und Schwächung der Linken. | 2=Broschüre der Antifaschistischen Linken International: Antifaschistische Geschichtspolitik, Göttingen 2014, S.12.}} <br />
<br />
Der der autonomen Szene angehörige Schriftsteller Bernd Langer erklärt in der Flugschrift anlässlich des 80-jährigen Jubiläums der Antifaschistischer Aktion sogar die SFT als taktischen Schachzug Stalins um das “geheime Bündnis” zwischen Deutschland und der Sowjetunion nicht zu gefährden: <br />
{{Zitat | 1=Dass die Sozialfaschismus-Politik zur weltweiten Richtschnur der Kommunisten wurde, hatte seine Gründe in der Sowjetunion. Dort hatte sich Josef Stalin 1927 endgültig als unumschränkter Alleinherrscher durchgesetzt. Hinsichtlich Deutschlands hatte der Diktator aufgrund eines geheimen Rüstungsabkommens ein besonderes Interesse. Die Reichswehr half, die Rote Armee aufzubauen. Im Gegenzug konnten sich deutsche Soldaten auf russischem Gebiet an Waffen ausbilden, die ihnen der Versailler Vertrag in Deutschland verbot. Dieses Geheimabkommen gefährdete die SPD, denn sie propagierte einen gegen die Sowjetunion gerichteten Kurs und strebte eine Annäherung mit Frankreich an. | 2=Langer, Bernd: 80 Jahre Antifaschistische Aktion, Göttingen 2012, S.15.}} <br />
<br />
Auch Langer kann aber nicht leugnen, dass die SF-These eine reale Grundlage in den Erfahrungen der KPD mit der SPD hatte.<ref>Ebd.</ref> <br />
<br />
Exemplarisch für Positionen in der Radikalen Linken noch zu nennen, ist das als Einführungsbuch konzipierte ''Antifa'' von einem Autorenkollektiv aus der Frankfurter antifaschistischen “Linken”. Nicht genug, dass die Autoren über die Rolle der SPD in der Niederschlagung der Novemberrevolution, dem Aufbau der Freikorps, dem Aufbau eines arbeiterfeindlichen Polizeiregimes weitgehend schweigen. Sie machen sich auch gar nicht erst die Mühe, die Sozialfaschismusthese inhaltlich zu widerlegen. Es genügt die für sich selbst sprechende Betitelung des entsprechenden Buchabschnitts als “Sozialfaschismusthese und Siegeszug des Faschismus” (Keller et. Al, S.26).<ref>Keller, Mirja et al: Antifa. Geschichte und Organisierung, Stuttgart 2011, S.26. </ref> Die Autoren scheuen sich auch nicht, Mythen aus der Totalitarismus-Mottenkiste zu holen. Nicht nur habe die KPD “absurderweise” der SPD Schuld am Erstarken des Faschismus gegeben, sondern auch die NSDAP punktuell in ihre Einheitsfront einbezogen: <br />
{{Zitat | 1=Als infolge der Notverordnungen […] die Löhne bei den Berliner Verkehrsbetrieben gesenkt werden sollten, unternahm die KPD ihren politisch fatalsten Versuch einer »Einheitsfront« der ArbeiterInnenklasse. In der Leitung des am 2.November 1932 ausgerufenen Streiks saßen neben KPD-Angehörigen und SozialdemokratInnen auch zwei Mitglieder der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganistion. Die reale Zusammenarbeit zwischen KommunistInnen und Nazis war zwar begrenzt, das politische Signal war jedoch fatal. Der BVG-Streik […] zeigt die grobe Fehleinschätzung des Nationalsozialismus durch die KPD. | 2=Keller, Mirja et al: Antifa. Geschichte und Organisierung, Stuttgart 2011, S.26.}} <br />
<br />
Damit haben sie das “Paradepferd der Totalitarismustheorie” (Oltmann 1982) herbeizitiert, und liegen dennoch in der historischen Bewertung komplett daneben. In Wirklichkeit war das Agieren der KPD im BVG-Streik ein taktischer Schachzug zur Entlarvung der arbeiterfeindlichen Haltung der NSDAP. Ihr Ziel war es deren soziale Demagogie vor den Hitleranhängern in der Arbeiterschaft aufzudecken. Es handelt sich hier keinesfalls um eine Zusammenarbeit mit NS-Organisationen.<ref>vgl. Oltmann, Joachim: Das Paradepferd der Totalitarismustheorie. Der Streik der Berliner Verkehrsarbeiter im November 1932, Berlin 1892.</ref> Ihr Beleg für diese Behauptung stammt übrigens bezeichnenderweise aus einer Publikation der Landeszentrale für politische Bildung. Der Band aus dem Schmetterling-Verlag, der auch von der Bundeszentrale für politische Bildung stammen könnte, gehört natürlich nicht mehr in die innerkommunistische Debatte. Allerdings haben solche Positionen Einfluss in weiten Teilen der antifaschistischen Linken und tragen zur Verbreitung von antikommunistischem Bewusstsein in dieser bei. <br />
<br />
Auffällig ist bei all diesen Gruppierungen ein positiver Bezug auf die Analysen von Thalheimer und Trotzki in Bezug auf die Sozialfaschismusthese.<br />
<br />
== Bezug zu den Grundannahmen ==<br />
<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
<br />
== Was steht dazu in den Programmatischen Thesen? ==<br />
Siehe hierzu den Abschnitt zum [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#5_Faschismus_und_Antifaschismus Faschismus und Antifaschismus] in unseren ''Programmatischen Thesen''.<br />
<br />
Darin äußern wir uns nicht konkret zur sogenannten Sozialfaschismusthese. Zum Verhältnis von Faschismus und Sozialdemokratie schreiben wir:<br />
{{Zitat|In Bezug auf den Faschismus wollen wir uns beispielsweise damit beschäftigen, wie die historisch auftretenden Varianten dieser Herrschaftsform sich unterschieden, was sie gemeinsam hatten und was allgemeine Charakteristika des Faschismus sind. Wir wollen uns auch mit dem Verhältnis von Sozialdemokratie und Faschismus historisch und aktuell auseinandersetzen, wie zum Beispiel der Rolle der Sozialdemokratie in Bezug auf den Aufstieg und die Machtübertragung des Faschismus in verschiedenen Ländern. Wir gehen davon aus, dass sozialdemokratische und faschistische Ideologie und Methoden der kapitalistischen Herrschaftsausübung sich nicht prinzipiell ausschließen. Dies zeigen uns die bitteren Erfahrungen der Arbeiterklasse mit der vielfältigen Zusammenarbeit zwischen sozialdemokratischer Führung und faschistischen Strukturen während und nach der Novemberrevolution bis zur Errichtung der faschistischen Diktatur 1933.<br>Für zentral halten wir auch die Beschäftigung mit den Erfahrungen des antifaschistischen Kampfes der Kommunisten, insbesondere mit der Frage, wie der Faschismus in Deutschland 1933 siegen konnte und mit den Orientierungen, die von der Kommunistischen Internationale im Zuge der Volksfront- und Einheitsfrontpolitik in den 1930er Jahren beschlossen wurden. Wir wollen der Frage nachgehen, welche Widersprüche und Mängel in der Faschismusanalyse existieren. Das betrifft grundsätzlich die Frage, wie der Begriff Faschismus zu verstehen und anzuwenden ist. Schließlich stellt sich auch heute zentral die Frage, mit welcher bündnispolitischen Orientierung der Faschismus wirksam bekämpft werden kann.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.12-13.}}<br />
<br />
== Arbeitsschritte / Klärung des Dissens ==<br />
Folgende inhaltliche Fragen ergeben sich aus dem Dissens zur Sozialfaschismusthese. Zu ihrer Beantwortung müssen Untersuchungen des historischen Materials und der dokumentierten Diskussionen angestellt werden.<br />
* Diskussion und “Paradigmenwechsel” in der KI nachvollziehen, wo taucht der Begriff zum ersten Mal auf? Welche strategische Position nahm die KI in ihrem Programm von 1928 zur Sozialdemokratie ein? Welche verschiedenen Phasen gab es im Verhältnis der KPD zur Sozialdemokratie? <br />
* Wie war die Unterscheidung in “National-” und “Sozialfaschismus” durch die KI begründet? Wie bewerten wir diese Unterscheidung heute? Um sie zu verstehen, müssen wir auch noch besser verstehen, was die KI zu diesem Zeitpunkt unter “Faschismus” verstanden hatte, wir reden hier schließlich von der Zeit vor der faschistischen Diktatur. <br />
* Hat die KPD zu spät die Gefahr des Faschismus erkannt? Hat sie den Masseneinfluss der NSDAP unterschätzt? Lag wirklich der Fehler der KPD darin, dass sie zu spät erkannt hatte, dass der Faschismus an Stelle der Sozialdemokratie zur sozialen “Hauptstütze” des Imperialismus werden sollte? <br />
* Welche Differenzen gab es in der Einschätzung der Sozialdemokratie und der drohenden faschistischen Diktatur zwischen der KPD-Führung und dem EKKI? (siehe insbesondere die Dokumente: Dok. 234: [Moskau], 13.1.193, Dok 242: [Moskau], 26.4.1930, Dok 275: [Moskau], 1.12.1931, Dok. 282: [Berlin], 20.2.1932–23.2.1932) <br />
* Es braucht eine gute Zusammenstellung von Material welches dann ausgewertet werden soll. Bestehende Materialisammlung (z.B. “doc” s.u.) müssen kritisch eingeschätzt werden – welche Stellen wurden herausgekürzt und was ist deren Inhalt? <br />
* In der Diskussion um die Sozialfaschismusthese muss getrennt werden zwischen einer Bewertung des Inhalts dieser, der praktischen Ableitungen und der Bewertung des Begriffes andererseits. <br />
* Wie sahen die Einheitsfrontbemühungen in der Praxis aus? <br />
* Gab es in der DDR auch eine kontroverse Diskussion über die Bewertung der “Sozialfaschismusthese”? <br />
* Folgende These muss überprüft werden: Sozialdemokratie und Faschismus haben auf unterschiedliche Weise beide die Funktion, die Herrschaft des Kapitals zu sichern und eine Revolution zu verhindern. Die Sozialdemokratie besitzt allerdings andere Merkmale als der Faschismus und die sozialdemokratische Ideologie unterscheidet sich von der faschistischen. Die Unterschiede müssen beachtet werden, um die Massen über ihren Charakter aufzuklären und den Kampf gegen sie richtig organisieren zu können. Objektiv hat die Politik der Führung der Sozialdemokratie in Partei und Gewerkschaften das Anwachsen des Faschismus und die Errichtung der offenen Diktatur durch die Bekämpfung der revolutionären Arbeiterbewegung, durch die Unterstützung der Angriffe des Kapitals, durch Ablehnung von gemeinsamen Widerstandsaktionen und das Angebot der Mitarbeit im Nazi-Staat. Auch in der Folgezeit hat sie jede Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei abgelehnt, obwohl zehntausende Sozialdemokraten in den Konzentrationslagern litten und ein Teil aktiv gegen die Faschisten kämpfte - zum Teil auch zusammen mit den Kommunisten. Das Verhältnis von Sozialdemokratie und Faschismus ist deshalb genau zu untersuchen und nicht einfach mit Verweis auf die „Sozialfaschismusthese“ abzutun, ebenso wenig wie es richtig wäre, Unterschiede insbesondere in der Klassenzusammensetzung und der subjektiven Haltung zu ignorieren.<br />
<br />
== Literatur zum Thema ==<br />
* Autonome Antifa (M): Geschichte der Antifaschistischen Aktion in: Nadir, Göttingen 1995, URL: https://www.nadir.org/nadir/initiativ/aam/broschueren/hist/antifak.html (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Bahne, Siegfried: „Sozialfaschismus“ in Deutschland. Zur Geschichte eines politischen Begriffs, in: International Review of Social History 10, Assen (Niederlande) 1965, S.211-245.<br />
<br />
* Bois, Marcel: Ernst Thälmann. Der Politiker hinter dem Mythos in: Marx21, 18.08.2018, URL: https://www.marx21.de/ernst-thaelmann-der-politiker-hinter-dem-mythos/ (letzter Zugriff: 02.12.2019).<br />
<br />
* Brauns, Nick: »4. August der Kommunistischen Internationale«. Trotzkis Schriften über den deutschen Faschismus in einer Neuausgabe in: Junge Welt, 16.10.1999, Url: https://www.jungewelt.de/artikel/13205.4-august-der-kommunistischen-internationale.html (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Brauns, Nick: Der Machtlose Prophet. Trotzkis Warnungen vor dem Nationalsozialismus in: Nikolaus Brauns, 1999, Url: http://www.nikolaus-brauns.de/Der_machtlose_Prophet.htm (letzter Zugriff 02.01.2019).<br />
<br />
* Brauns, Nick: Geschichten um Teddy. Materialistische Geschichtsforschung statt linker Legendenbildung, in: Junge Welt, 03.05.2003, URL: https://www.jungewelt.de/artikel/36704.geschichten-um-teddy.html (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Brauns, Nick: SPD läßt schießen, in: Junge Welt, 30.04.2009, URL: https://www.jungewelt.de/artikel/124326.spd-l%C3%A4%C3%9Ft-schie%C3%9Fen.html (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Sohn-Rethel, Alfred: Die soziale Rekonsolidierung des Kapitalismus, in: Deutsche Führerbriefe, Nr. 72 und 73, Berlin 16. und 20.09.1932. <br />
<br />
* Doc: Komintern Dokumente 1918 - 1943. Deutschland Russland. Bd. 3 URL: https://www.degruyter.com/downloadpdf/books/9783110339789/9783110339789.699/9783110339789.699.pdf (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Dimitroff, Georgi: Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale. im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus in: mlwerke, 1935, URL: http://www.mlwerke.de/gd/gd_001.htm (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* DKP: Protokoll des Mannheimer Parteitags der Deutschen Kommunistischen Partei, Mannheim 1978. <br />
<br />
* Engel, Stefan: Der Stimmungsumschwung 2015 und der X. Parteitag der MLPD in: Rote Fahne, 2015, URL: https://www.mlpd.de/2015/kw52/der-stimmungsumschwung-2015-und-der-x-parteitag-der-mlpd (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Fischer, Michael: Horst Mahler. Biographische Studie zu Antisemitismus, Antiamerikanismus und Versuchen deutscher Schuldabwehr, Karlsruhe 2014. <br />
<br />
* Flakin, Wladek: Vergessene KommunistInnen in: Klasse gegen Klasse, 11.09.2015, URL: https://www.klassegegenklasse.org/vergessene-kommunistinnen/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Freyeisen, Bruni/ Schneider, Lilo /Fritsch, Kurt/ Priemer, Rolf /Köbele, Patrick: Aufzeichnungen über die Parteifrage, in: Rolf Priemer/ Heinz Stehr (Hrsg.): 25 Jahre DKP. Eine Geschichte ohne Ende, Essen 1993. <br />
<br />
* Gossweiler, Kurt: Zur Strategie und Taktik der KPD in der Weimarer Republik (geschrieben APRIL BIS JUNI 1957), in: Schriftenreihe der KPD Heft 78 I u. II, 2002. <br />
<br />
* Keller, Mirja/ Kögler, Lena/ Krawinkel, Moritz/ Schlemmermeyer, Jan: Antifa. Geschichte und Organisierung, Stuttgart 2011. <br />
<br />
* Kimmerle, Stephan: Wer war Leo Trotzki? Kämpfer gegen Kapitalismus und Stalinismus in: Sozialismus Info, 2000, Url: https://www.sozialismus.info/sav/wer-war-leo-trotzki/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Koch, Nikolas: Trotzki. Frühe Hinweise in: Marx21, 12.01.2010, URL: https://www.marx21.de/12-01-10-gegen-nazis/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* KommAufbau, Die historische Bolschewisierung, S. 17- 19. URL: <br />
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* Klönne, Arno: Sozialdemokratie - eine Agentur kapitalistischer Interessen? in: Lenk, Kurt, Klönne, Arno/ Rosenbaum, Wolf/ Stuby, Gerhard (Hrsg.): Der bürgerliche Staat der Gegenwart, Hamburg 1972, S.57-86.<br />
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* Kropf, Albert: Von der Republik zum Bürgerkrieg in: Sozialismus Info, 21.08.2006, URL: https://www.sozialismus.info/2006/08/11730/ (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Kühne, Steve: Vor 80 Jahren. Das Kapital bringt Hitler an die Macht in: Sozialismus Info, 13.01.2013, URL: https://www.sozialismus.info/2013/01/vor-80-jahren-das-kapital-bringt-hitler-an-die-macht/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Langer, Bernd: 80 Jahre Antifaschistische Aktion in: Blogsport, Göttingen 2012, URL: http://antifaeu.blogsport.de/images/80J_AA_web.pdf (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Lewerenz, Elfriede: Die Analyse des Faschismus durch die Kommunistische Internationale, Berlin 1975.<br />
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* MLPD: Sozialfaschismus, in: Fremdwörter und Begriffserklärungen, Essen 2000, S. 94. <br />
<br />
* MLPD: Türkei. Erdogan-Gegner schließen sich zusammen in: MLPD, 2016, URL: https://www.mlpd.de/2016/kw33/tuerkei-erdogan-gegner-schliessen-sich-zusammen (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* MLPD: Vor 30 Jahren: Errichtung der sozialfaschistischen Diktatur in Polen in: MLPD, 2011, URL: https://www.mlpd.de/2011/kw50/vor-30-jahren-errichtung-der-sozialfaschistischen-diktatur-in-polen (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* MLPD: Wie und warum die Herrschenden die Geschichte fälschen in: MLPD, 2013, URL: https://www.mlpd.de/2013/kw04/wie-und-warum-die-herrschenden-die-geschichte-faelschen (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Oltmann, Joachim: Das Paradepferd der Totalitarismustheorie. Der Streik der Berliner Verkehrsarbeiter im November 1932, in: horizont - Sozialistische Wochenzeitung der DDR für internationale Politik und Wirtschaft, 1982 Berlin. <br />
<br />
* Pjatnitzki, Ossip A.: Die faschistische Diktatur in Deutschland, Broschüre, 1934. <br />
<br />
* Plato, Alexander von: Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik, Berlin 1973. <br />
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* Priemer, Rolf/ Stehr, Heinz (Hrsg.): 25 Jahre DKP. Eine Geschichte ohne Ende, Essen 1993. <br />
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* Schleifstein, Josef: Die „Sozialfaschismus“-These: Zu ihrem geschichtlichen Hintergrund in: DKP, Essen 1980, URL: http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2015/07/die-sozialfaschismus-these/ (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Schmierer, Joscha: Sozialfaschismusthese und politische Programmatik der KPD 1928-33 (Sept. 1975) Materialien zur Analyse von Opposition digitalisiert von Jürgen Schröder in: Mao-Projekt, Berlin 21.9.2016, URL: https://www.mao-projekt.de/BRD/ORG/KBW/KBW_1975_Sozialfaschismus.shtml (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
* Stalin, Josef: Zur internationalen Lage, in: J.W. Stalin Werke Bd. 6, S. 251–269. <br />
<br />
* Stanicic, Sascha: Welcher Weg zum Sozialismus? Eine kritische Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis von Linksruck, Berlin 2001. <br />
<br />
* Steffen, Michael: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971-1991 in: Archiv Uni Marburg, 2002, URL: http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2002/0060/pdf/dsm.pdf (zletzter Zugriff: 02.01.2018).<br />
<br />
* Stoodt, Hans Christoph: Volksfront, breites Bündnis, Antimonopolistische Demokratie, 2017. URL: http://news.dkp.suhail.uberspace.de/2017/03/volksfront-breites-buendnis-antimonopolistische-demokratie/ (27.12.2018). <br />
<br />
* Trotzki, Leo: Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland in: mlwerke, 1930, URL: http://www.mlwerke.de/tr/1930/300926a.htm (letzter Zugriff: 02.01.2019). <br />
<br />
* Trotzki, Leo: Vor der Entscheidung in: Sozialistische Klassiker 2.0, 1933, URL: https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1933/leo-trotzki-vor-der-entscheidung (letzter Zugriff: 02.01.2019).<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Sozialdemokratie_als_Kraft_des_Fortschritts&diff=5953Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts2019-03-17T14:13:05Z<p>Dio: /* Worum geht's? */</p>
<hr />
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<br />
== Worum geht's? ==<br />
Die Sozialdemokratie (ob SPD oder PdL) vertritt auch heute noch die Interessen der Arbeiterklasse – nur eben reformistisch – und ist der wichtigste Bündnispartner der kommunistischen Partei (z.B. im Rahmen der AMS). Die Sozialdemokratie an der Macht verbessert die Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse und sichert den Frieden. Eine Reformierung des Kapitalismus und eine „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ ist auch heute noch möglich. <br />
<br />
Die Sozialdemokratie mag die Arbeiterklasse in ihrer Geschichte immer wieder verraten haben, aber im Kampf gegen "Rechtsruck" und faschistische Gefahr müssen antifaschistische Bündnisse, wenn möglich, auch mit der Führung geschlossen werden. In Deutschland nimmt die Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie die Form von breiten Bündnissen an, - nicht auf Führungsebene der Parteien, weil die kommunistischen Parteien dazu momentan zu unbedeutend sind. In anderen Ländern dagegen formiert sich ein “Linksblock” (Portugal u.a.), dieser wird zum Vorbild auch für kommunistische Kräfte in Deutschland. In manchen Ländern nehmen Kommunistische Parteien auch auch an sozialdemokratischen Regierungen teil. Dies geschieht sehr oft mit der Begründung einer Verhinderung einer rechten und reaktionären Regierung. <br />
<br />
Die Vertreter solcher Vorstellungen interpretieren den 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale als eine resolute Abkehr von der [[Sozialfaschismusthese| Sozialfaschismusthese]] und einer Neu-Definition des Verhältnisses zur Sozialdemokratie.<br />
<br />
== Geschichte und Positionen ==<br />
<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
<br />
== Wie wollen wir den Dissens klären? ==<br />
<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
<br />
== Bezug zu den Grundannahmen ==<br />
<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
<br />
== Was steht dazu in den Programmatischen Thesen ==<br />
Siehe hierzu den Abschnitt zum [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#12_Der_Kampf_gegen_Opportunismus_und_Revisionismus Kampf gegen Opportunismus und Revisionismus] in den ''Programmatischen Thesen''.<br />
<br />
Wir stellen unter anderem fest:<br />
{{Zitat|Von besonderer Bedeutung für die kommunistische Bewegung ist der Kampf gegen die Sozialdemokratie. Diese ist nicht einfach nur eine von vielen Varianten bürgerlicher Ideologie. Ihr besonderer Charakter ergibt sich daraus, dass sie als Strömung der Arbeiterbewegung agiert, allerdings die Arbeiterklasse nicht auf ihre Selbstbefreiung vorbereitet, sondern im Gegenteil objektiv für die Fortsetzung und Verewigung der Ausbeutung arbeitet. </br></br>Die Sozialdemokratie beruht auf der Illusion, dass der Kapitalismus durch Reformen seine unerträglichen Widersprüche überwinden könne. Daher ist ihre Perspektive die Verwaltung und schrittweise „Verbesserung“, nicht die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus. Sie führt die Arbeiterklasse durch reformistische Illusionen in die Irre, sie bindet kämpferische und revolutionäre Potenziale ein und macht sie unschädlich für das System. Ihr bürgerlicher Charakter bringt sie dazu, auch reaktionäre Maßnahmen der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse mitzutragen. Wie Geschichte und Gegenwart zeigen, ist sie letzten Endes immer auch bereit zur gewaltsamen Verteidigung der Interessen des Kapitals gegen die revolutionäre Bewegung. Dieser systemstützende Charakter der Sozialdemokratie ist der Grund für unsere unversöhnliche Gegnerschaft zu ihr.</br></br>Ihren Einfluss auf die Arbeiterklasse zu brechen, ist eine zentrale Voraussetzung für den erfolgreichen Kampf der Arbeiterklasse. Die Existenz der Sozialdemokratie und allgemein des rechten Opportunismus in der Arbeiterbewegung ist nicht einfach das Ergebnis von Verrat oder Charakterschwäche der Arbeiterführer. Sie ist ein regelmäßig auftretendes Phänomen unter den Bedingungen des Imperialismus. Das Monopolkapital realisiert aufgrund seiner die Produktion und den Austausch beherrschenden Stellung enorme Extraprofite, die es möglich machen, einen bedeutenden Teil der Arbeiterklasse durch materielle Zugeständnisse einzubinden. Diese „Arbeiteraristokratie“ wird tendenziell zu einer sozialen Stütze der Sozialdemokratie und damit des Imperialismus. Diese Analyse schließt jedoch nicht aus, dass Einzelpersonen und in Aufschwungsphasen des revolutionären Klassenkampfs auch größere Teile dieser Schicht der Arbeiterklasse politisch gewonnen werden können.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S. 28-29.}}<br />
<br />
== Literatur und Quellen ==<br />
*Klönne, Arno: Sozialdemokratie - eine Agentur kapitalistischer Interessen? in: Lenk, Klönne, Rosenbaum, Stuby (Hrsg.), Der bürgerliche Staat der Gegenwart, Hamburg 1972, S.57-86.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<br />
<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Faschismus_und_Milit%C3%A4rdiktatur&diff=5952Faschismus und Militärdiktatur2019-03-17T14:12:33Z<p>Dio: /* Worum geht's? */</p>
<hr />
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== Worum geht's? ==<br />
Was hat es mit Militärdiktaturen in abhängigen Ländern auf sich, die die Massen mit faschistischen Methoden unterdrücken? Lässt sich der marxistische Faschismusbegriff auch auf die Militärdiktatur in Griechenland 1967, Regime wie unter Pinochet in Chile oder andere Diktaturen die in den 60er Jahren in Lateinamerika errichtet wurden, anwenden? Inwiefern unterscheiden sie sich von faschistischen Diktaturen in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern? Welche Gemeinsamkeiten sind in Form und Funktion zu finden? Diese Fragen hängt auch sehr eng mit der Frage zusammen, ob die Existenz einer[[Massenbewegung_als_Faschismuskriterium| faschistischen Massenbewegung]] ein notwendiges Faschismuskriterium ist.<br />
<br />
== Welche Positionen gibt es? Wer vertritt sie? ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
<br />
== Abgleich mit den Grundannahmen ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
<br />
== Welche Arbeitsschritte schließen sich an? ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
<br />
== Bezug zu den Programmatischen Thesen ==<br />
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Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
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== Literatur ==<br />
== Einzelnachweise ==<br />
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[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Faschismus_und_Milit%C3%A4rdiktatur&diff=5951Faschismus und Militärdiktatur2019-03-17T14:11:46Z<p>Dio: /* Worum geht's? */</p>
<hr />
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== Worum geht's? ==<br />
Was hat es mit Militärdiktaturen in abhängigen Ländern auf sich, die die Massen mit faschistischen Methoden unterdrücken? Lässt sich der marxistische Faschismusbegriff auch auf die Militärdiktatur in Griechenland 1967, Regime wie unter Pinochet in Chile oder andere Diktaturen die in den 60er Jahren in Lateinamerika errichtet wurden, anwenden? Inwiefern unterscheiden sie sich von faschistischen Diktaturen in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern? Welche Gemeinsamkeiten sind in Form und Funktion zu finden? Diese Fragen hängt auch sehr eng mit der Frage zusammen, ob die Existenz einer[[AG_Staat,_Faschismus_und_Sozialdemokratie#Massenbewegung als Faschismuskriterium| faschistischen Massenbewegung]] ein notwendiges Faschismuskriterium ist.<br />
<br />
== Welche Positionen gibt es? Wer vertritt sie? ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
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== Abgleich mit den Grundannahmen ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
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== Welche Arbeitsschritte schließen sich an? ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
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== Bezug zu den Programmatischen Thesen ==<br />
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Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
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== Literatur ==<br />
== Einzelnachweise ==<br />
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[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Faschismus_und_Milit%C3%A4rdiktatur&diff=5950Faschismus und Militärdiktatur2019-03-17T14:10:31Z<p>Dio: /* Bezug zu den Programmatischen Thesen */</p>
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== Worum geht's? ==<br />
Was hat es mit Militärdiktaturen in abhängigen Ländern auf sich, die die Massen mit faschistischen Methoden unterdrücken? Lässt sich der marxistische Faschismusbegriff auch auf die Militärdiktatur in Griechenland 1967, Regime wie unter Pinochet in Chile oder andere Diktaturen die in den 60er Jahren in Lateinamerika errichtet wurden, anwenden? Inwiefern unterscheiden sie sich von faschistischen Diktaturen in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern? Welche Gemeinsamkeiten sind in Form und Funktion zu finden? Diese Fragen hängt auch sehr eng mit der Frage zusammen, ob die Existenz einer[[AG_Staat,_Faschismus_und_Sozialdemokratie#Massenbewegung_als_Faschismuskriterium| faschistischen Massenbewegung]] ein notwendiges Faschismuskriterium ist.<br />
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== Welche Positionen gibt es? Wer vertritt sie? ==<br />
Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
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== Abgleich mit den Grundannahmen ==<br />
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== Welche Arbeitsschritte schließen sich an? ==<br />
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== Bezug zu den Programmatischen Thesen ==<br />
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Dieser Abschnitt befindet sich in Arbeit.<br />
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== Literatur ==<br />
== Einzelnachweise ==<br />
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[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Sozialdemokratie_als_Kraft_des_Fortschritts&diff=5949Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts2019-03-17T14:08:56Z<p>Dio: /* Was steht dazu in den Programmatischen Thesen */</p>
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== Worum geht's? ==<br />
Die Sozialdemokratie (ob SPD oder PdL) vertritt auch heute noch die Interessen der Arbeiterklasse – nur eben reformistisch – und ist der wichtigste Bündnispartner der kommunistischen Partei (z.B. im Rahmen der AMS). Die Sozialdemokratie an der Macht verbessert die Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse und sichert den Frieden. Eine Reformierung des Kapitalismus und eine „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ ist auch heute noch möglich. <br />
<br />
Die Sozialdemokratie mag die Arbeiterklasse in ihrer Geschichte immer wieder verraten haben, aber im Kampf gegen "Rechtsruck" und faschistische Gefahr müssen antifaschistische Bündnisse, wenn möglich, auch mit der Führung geschlossen werden. In Deutschland nimmt die Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie die Form von breiten Bündnissen an, - nicht auf Führungsebene der Parteien, weil die kommunistischen Parteien dazu momentan zu unbedeutend sind. In anderen Ländern dagegen formiert sich ein “Linksblock” (Portugal u.a.), dieser wird zum Vorbild auch für kommunistische Kräfte in Deutschland. In manchen Ländern nehmen Kommunistische Parteien auch auch an sozialdemokratischen Regierungen teil. Dies geschieht sehr oft mit der Begründung einer Verhinderung einer rechten und reaktionären Regierung. <br />
<br />
Die Vertreter solcher Vorstellungen interpretieren den 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale als eine resolute Abkehr von der [[AG_Staat,_Faschismus_und_Sozialdemokratie#Sozialfaschismusthese| Sozialfaschismusthese]] und einer Neu-Definition des Verhältnisses zur Sozialdemokratie.<br />
<br />
== Geschichte und Positionen ==<br />
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Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
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== Wie wollen wir den Dissens klären? ==<br />
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== Bezug zu den Grundannahmen ==<br />
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Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
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== Was steht dazu in den Programmatischen Thesen ==<br />
Siehe hierzu den Abschnitt zum [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#12_Der_Kampf_gegen_Opportunismus_und_Revisionismus Kampf gegen Opportunismus und Revisionismus] in den ''Programmatischen Thesen''.<br />
<br />
Wir stellen unter anderem fest:<br />
{{Zitat|Von besonderer Bedeutung für die kommunistische Bewegung ist der Kampf gegen die Sozialdemokratie. Diese ist nicht einfach nur eine von vielen Varianten bürgerlicher Ideologie. Ihr besonderer Charakter ergibt sich daraus, dass sie als Strömung der Arbeiterbewegung agiert, allerdings die Arbeiterklasse nicht auf ihre Selbstbefreiung vorbereitet, sondern im Gegenteil objektiv für die Fortsetzung und Verewigung der Ausbeutung arbeitet. </br></br>Die Sozialdemokratie beruht auf der Illusion, dass der Kapitalismus durch Reformen seine unerträglichen Widersprüche überwinden könne. Daher ist ihre Perspektive die Verwaltung und schrittweise „Verbesserung“, nicht die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus. Sie führt die Arbeiterklasse durch reformistische Illusionen in die Irre, sie bindet kämpferische und revolutionäre Potenziale ein und macht sie unschädlich für das System. Ihr bürgerlicher Charakter bringt sie dazu, auch reaktionäre Maßnahmen der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse mitzutragen. Wie Geschichte und Gegenwart zeigen, ist sie letzten Endes immer auch bereit zur gewaltsamen Verteidigung der Interessen des Kapitals gegen die revolutionäre Bewegung. Dieser systemstützende Charakter der Sozialdemokratie ist der Grund für unsere unversöhnliche Gegnerschaft zu ihr.</br></br>Ihren Einfluss auf die Arbeiterklasse zu brechen, ist eine zentrale Voraussetzung für den erfolgreichen Kampf der Arbeiterklasse. Die Existenz der Sozialdemokratie und allgemein des rechten Opportunismus in der Arbeiterbewegung ist nicht einfach das Ergebnis von Verrat oder Charakterschwäche der Arbeiterführer. Sie ist ein regelmäßig auftretendes Phänomen unter den Bedingungen des Imperialismus. Das Monopolkapital realisiert aufgrund seiner die Produktion und den Austausch beherrschenden Stellung enorme Extraprofite, die es möglich machen, einen bedeutenden Teil der Arbeiterklasse durch materielle Zugeständnisse einzubinden. Diese „Arbeiteraristokratie“ wird tendenziell zu einer sozialen Stütze der Sozialdemokratie und damit des Imperialismus. Diese Analyse schließt jedoch nicht aus, dass Einzelpersonen und in Aufschwungsphasen des revolutionären Klassenkampfs auch größere Teile dieser Schicht der Arbeiterklasse politisch gewonnen werden können.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S. 28-29.}}<br />
<br />
== Literatur und Quellen ==<br />
*Klönne, Arno: Sozialdemokratie - eine Agentur kapitalistischer Interessen? in: Lenk, Klönne, Rosenbaum, Stuby (Hrsg.), Der bürgerliche Staat der Gegenwart, Hamburg 1972, S.57-86.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
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[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Sozialdemokratie_als_Kraft_des_Fortschritts&diff=5948Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts2019-03-17T14:07:07Z<p>Dio: /* Was steht dazu in den Programmatischen Thesen */</p>
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== Worum geht's? ==<br />
Die Sozialdemokratie (ob SPD oder PdL) vertritt auch heute noch die Interessen der Arbeiterklasse – nur eben reformistisch – und ist der wichtigste Bündnispartner der kommunistischen Partei (z.B. im Rahmen der AMS). Die Sozialdemokratie an der Macht verbessert die Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse und sichert den Frieden. Eine Reformierung des Kapitalismus und eine „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ ist auch heute noch möglich. <br />
<br />
Die Sozialdemokratie mag die Arbeiterklasse in ihrer Geschichte immer wieder verraten haben, aber im Kampf gegen "Rechtsruck" und faschistische Gefahr müssen antifaschistische Bündnisse, wenn möglich, auch mit der Führung geschlossen werden. In Deutschland nimmt die Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie die Form von breiten Bündnissen an, - nicht auf Führungsebene der Parteien, weil die kommunistischen Parteien dazu momentan zu unbedeutend sind. In anderen Ländern dagegen formiert sich ein “Linksblock” (Portugal u.a.), dieser wird zum Vorbild auch für kommunistische Kräfte in Deutschland. In manchen Ländern nehmen Kommunistische Parteien auch auch an sozialdemokratischen Regierungen teil. Dies geschieht sehr oft mit der Begründung einer Verhinderung einer rechten und reaktionären Regierung. <br />
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Die Vertreter solcher Vorstellungen interpretieren den 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale als eine resolute Abkehr von der [[AG_Staat,_Faschismus_und_Sozialdemokratie#Sozialfaschismusthese| Sozialfaschismusthese]] und einer Neu-Definition des Verhältnisses zur Sozialdemokratie.<br />
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== Geschichte und Positionen ==<br />
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Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
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== Wie wollen wir den Dissens klären? ==<br />
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Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
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== Bezug zu den Grundannahmen ==<br />
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Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
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== Was steht dazu in den Programmatischen Thesen ==<br />
Siehe hierzu den Abschnitt zum [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#12_Der_Kampf_gegen_Opportunismus_und_Revisionismus Kampf gegen Opportunismus und Revisionismus] in den ''Programmatischen Thesen''.<br />
<br />
{{Zitat|Von besonderer Bedeutung für die kommunistische Bewegung ist der Kampf gegen die Sozialdemokratie. Diese ist nicht einfach nur eine von vielen Varianten bürgerlicher Ideologie. Ihr besonderer Charakter ergibt sich daraus, dass sie als Strömung der Arbeiterbewegung agiert, allerdings die Arbeiterklasse nicht auf ihre Selbstbefreiung vorbereitet, sondern im Gegenteil objektiv für die Fortsetzung und Verewigung der Ausbeutung arbeitet. </br></br>Die Sozialdemokratie beruht auf der Illusion, dass der Kapitalismus durch Reformen seine unerträglichen Widersprüche überwinden könne. Daher ist ihre Perspektive die Verwaltung und schrittweise „Verbesserung“, nicht die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus. Sie führt die Arbeiterklasse durch reformistische Illusionen in die Irre, sie bindet kämpferische und revolutionäre Potenziale ein und macht sie unschädlich für das System. Ihr bürgerlicher Charakter bringt sie dazu, auch reaktionäre Maßnahmen der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse mitzutragen. Wie Geschichte und Gegenwart zeigen, ist sie letzten Endes immer auch bereit zur gewaltsamen Verteidigung der Interessen des Kapitals gegen die revolutionäre Bewegung. Dieser systemstützende Charakter der Sozialdemokratie ist der Grund für unsere unversöhnliche Gegnerschaft zu ihr.</br></br>Ihren Einfluss auf die Arbeiterklasse zu brechen, ist eine zentrale Voraussetzung für den erfolgreichen Kampf der Arbeiterklasse. Die Existenz der Sozialdemokratie und allgemein des rechten Opportunismus in der Arbeiterbewegung ist nicht einfach das Ergebnis von Verrat oder Charakterschwäche der Arbeiterführer. Sie ist ein regelmäßig auftretendes Phänomen unter den Bedingungen des Imperialismus. Das Monopolkapital realisiert aufgrund seiner die Produktion und den Austausch beherrschenden Stellung enorme Extraprofite, die es möglich machen, einen bedeutenden Teil der Arbeiterklasse durch materielle Zugeständnisse einzubinden. Diese „Arbeiteraristokratie“ wird tendenziell zu einer sozialen Stütze der Sozialdemokratie und damit des Imperialismus. Diese Analyse schließt jedoch nicht aus, dass Einzelpersonen und in Aufschwungsphasen des revolutionären Klassenkampfs auch größere Teile dieser Schicht der Arbeiterklasse politisch gewonnen werden können.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S. 28-29.}}<br />
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== Literatur und Quellen ==<br />
*Klönne, Arno: Sozialdemokratie - eine Agentur kapitalistischer Interessen? in: Lenk, Klönne, Rosenbaum, Stuby (Hrsg.), Der bürgerliche Staat der Gegenwart, Hamburg 1972, S.57-86.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
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<br />
[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Sozialdemokratie_als_Kraft_des_Fortschritts&diff=5947Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts2019-03-17T14:06:47Z<p>Dio: </p>
<hr />
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== Worum geht's? ==<br />
Die Sozialdemokratie (ob SPD oder PdL) vertritt auch heute noch die Interessen der Arbeiterklasse – nur eben reformistisch – und ist der wichtigste Bündnispartner der kommunistischen Partei (z.B. im Rahmen der AMS). Die Sozialdemokratie an der Macht verbessert die Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse und sichert den Frieden. Eine Reformierung des Kapitalismus und eine „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ ist auch heute noch möglich. <br />
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Die Sozialdemokratie mag die Arbeiterklasse in ihrer Geschichte immer wieder verraten haben, aber im Kampf gegen "Rechtsruck" und faschistische Gefahr müssen antifaschistische Bündnisse, wenn möglich, auch mit der Führung geschlossen werden. In Deutschland nimmt die Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie die Form von breiten Bündnissen an, - nicht auf Führungsebene der Parteien, weil die kommunistischen Parteien dazu momentan zu unbedeutend sind. In anderen Ländern dagegen formiert sich ein “Linksblock” (Portugal u.a.), dieser wird zum Vorbild auch für kommunistische Kräfte in Deutschland. In manchen Ländern nehmen Kommunistische Parteien auch auch an sozialdemokratischen Regierungen teil. Dies geschieht sehr oft mit der Begründung einer Verhinderung einer rechten und reaktionären Regierung. <br />
<br />
Die Vertreter solcher Vorstellungen interpretieren den 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale als eine resolute Abkehr von der [[AG_Staat,_Faschismus_und_Sozialdemokratie#Sozialfaschismusthese| Sozialfaschismusthese]] und einer Neu-Definition des Verhältnisses zur Sozialdemokratie.<br />
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== Geschichte und Positionen ==<br />
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Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
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== Wie wollen wir den Dissens klären? ==<br />
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Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
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== Bezug zu den Grundannahmen ==<br />
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Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
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== Was steht dazu in den Programmatischen Thesen ==<br />
Siehe hierzu die Abschnitte zum [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#12_Der_Kampf_gegen_Opportunismus_und_Revisionismus Kampf gegen Opportunismus und Revisionismus] in den ''Programmatischen Thesen''<br />
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{{Zitat|Von besonderer Bedeutung für die kommunistische Bewegung ist der Kampf gegen die Sozialdemokratie. Diese ist nicht einfach nur eine von vielen Varianten bürgerlicher Ideologie. Ihr besonderer Charakter ergibt sich daraus, dass sie als Strömung der Arbeiterbewegung agiert, allerdings die Arbeiterklasse nicht auf ihre Selbstbefreiung vorbereitet, sondern im Gegenteil objektiv für die Fortsetzung und Verewigung der Ausbeutung arbeitet. </br></br>Die Sozialdemokratie beruht auf der Illusion, dass der Kapitalismus durch Reformen seine unerträglichen Widersprüche überwinden könne. Daher ist ihre Perspektive die Verwaltung und schrittweise „Verbesserung“, nicht die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus. Sie führt die Arbeiterklasse durch reformistische Illusionen in die Irre, sie bindet kämpferische und revolutionäre Potenziale ein und macht sie unschädlich für das System. Ihr bürgerlicher Charakter bringt sie dazu, auch reaktionäre Maßnahmen der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse mitzutragen. Wie Geschichte und Gegenwart zeigen, ist sie letzten Endes immer auch bereit zur gewaltsamen Verteidigung der Interessen des Kapitals gegen die revolutionäre Bewegung. Dieser systemstützende Charakter der Sozialdemokratie ist der Grund für unsere unversöhnliche Gegnerschaft zu ihr.</br></br>Ihren Einfluss auf die Arbeiterklasse zu brechen, ist eine zentrale Voraussetzung für den erfolgreichen Kampf der Arbeiterklasse. Die Existenz der Sozialdemokratie und allgemein des rechten Opportunismus in der Arbeiterbewegung ist nicht einfach das Ergebnis von Verrat oder Charakterschwäche der Arbeiterführer. Sie ist ein regelmäßig auftretendes Phänomen unter den Bedingungen des Imperialismus. Das Monopolkapital realisiert aufgrund seiner die Produktion und den Austausch beherrschenden Stellung enorme Extraprofite, die es möglich machen, einen bedeutenden Teil der Arbeiterklasse durch materielle Zugeständnisse einzubinden. Diese „Arbeiteraristokratie“ wird tendenziell zu einer sozialen Stütze der Sozialdemokratie und damit des Imperialismus. Diese Analyse schließt jedoch nicht aus, dass Einzelpersonen und in Aufschwungsphasen des revolutionären Klassenkampfs auch größere Teile dieser Schicht der Arbeiterklasse politisch gewonnen werden können.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S. 28-29.}}<br />
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== Literatur und Quellen ==<br />
*Klönne, Arno: Sozialdemokratie - eine Agentur kapitalistischer Interessen? in: Lenk, Klönne, Rosenbaum, Stuby (Hrsg.), Der bürgerliche Staat der Gegenwart, Hamburg 1972, S.57-86.<br />
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== Einzelnachweise ==<br />
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[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Sozialdemokratie_als_Kraft_des_Fortschritts&diff=5946Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts2019-03-17T14:06:00Z<p>Dio: /* Literatur und Quellen */</p>
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== Worum geht's? ==<br />
Die Sozialdemokratie (ob SPD oder PdL) vertritt auch heute noch die Interessen der Arbeiterklasse – nur eben reformistisch – und ist der wichtigste Bündnispartner der kommunistischen Partei (z.B. im Rahmen der AMS). Die Sozialdemokratie an der Macht verbessert die Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse und sichert den Frieden. Eine Reformierung des Kapitalismus und eine „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ ist auch heute noch möglich. <br />
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Die Sozialdemokratie mag die Arbeiterklasse in ihrer Geschichte immer wieder verraten haben, aber im Kampf gegen "Rechtsruck" und faschistische Gefahr müssen antifaschistische Bündnisse, wenn möglich, auch mit der Führung geschlossen werden. In Deutschland nimmt die Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie die Form von breiten Bündnissen an, - nicht auf Führungsebene der Parteien, weil die kommunistischen Parteien dazu momentan zu unbedeutend sind. In anderen Ländern dagegen formiert sich ein “Linksblock” (Portugal u.a.), dieser wird zum Vorbild auch für kommunistische Kräfte in Deutschland. In manchen Ländern nehmen Kommunistische Parteien auch auch an sozialdemokratischen Regierungen teil. Dies geschieht sehr oft mit der Begründung einer Verhinderung einer rechten und reaktionären Regierung. <br />
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Die Vertreter solcher Vorstellungen interpretieren den 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale als eine resolute Abkehr von der [[AG_Staat,_Faschismus_und_Sozialdemokratie#Sozialfaschismusthese| Sozialfaschismusthese]] und einer Neu-Definition des Verhältnisses zur Sozialdemokratie.<br />
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== Geschichte und Positionen ==<br />
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Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
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== Wie wollen wir den Dissens klären? ==<br />
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Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
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== Was steht dazu in den Programmatischen Thesen ==<br />
Siehe hierzu die Abschnitte zum [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#12_Der_Kampf_gegen_Opportunismus_und_Revisionismus Kampf gegen Opportunismus und Revisionismus] in den ''Programmatischen Thesen''<br />
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{{Zitat|Von besonderer Bedeutung für die kommunistische Bewegung ist der Kampf gegen die Sozialdemokratie. Diese ist nicht einfach nur eine von vielen Varianten bürgerlicher Ideologie. Ihr besonderer Charakter ergibt sich daraus, dass sie als Strömung der Arbeiterbewegung agiert, allerdings die Arbeiterklasse nicht auf ihre Selbstbefreiung vorbereitet, sondern im Gegenteil objektiv für die Fortsetzung und Verewigung der Ausbeutung arbeitet. </br></br>Die Sozialdemokratie beruht auf der Illusion, dass der Kapitalismus durch Reformen seine unerträglichen Widersprüche überwinden könne. Daher ist ihre Perspektive die Verwaltung und schrittweise „Verbesserung“, nicht die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus. Sie führt die Arbeiterklasse durch reformistische Illusionen in die Irre, sie bindet kämpferische und revolutionäre Potenziale ein und macht sie unschädlich für das System. Ihr bürgerlicher Charakter bringt sie dazu, auch reaktionäre Maßnahmen der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse mitzutragen. Wie Geschichte und Gegenwart zeigen, ist sie letzten Endes immer auch bereit zur gewaltsamen Verteidigung der Interessen des Kapitals gegen die revolutionäre Bewegung. Dieser systemstützende Charakter der Sozialdemokratie ist der Grund für unsere unversöhnliche Gegnerschaft zu ihr.</br></br>Ihren Einfluss auf die Arbeiterklasse zu brechen, ist eine zentrale Voraussetzung für den erfolgreichen Kampf der Arbeiterklasse. Die Existenz der Sozialdemokratie und allgemein des rechten Opportunismus in der Arbeiterbewegung ist nicht einfach das Ergebnis von Verrat oder Charakterschwäche der Arbeiterführer. Sie ist ein regelmäßig auftretendes Phänomen unter den Bedingungen des Imperialismus. Das Monopolkapital realisiert aufgrund seiner die Produktion und den Austausch beherrschenden Stellung enorme Extraprofite, die es möglich machen, einen bedeutenden Teil der Arbeiterklasse durch materielle Zugeständnisse einzubinden. Diese „Arbeiteraristokratie“ wird tendenziell zu einer sozialen Stütze der Sozialdemokratie und damit des Imperialismus. Diese Analyse schließt jedoch nicht aus, dass Einzelpersonen und in Aufschwungsphasen des revolutionären Klassenkampfs auch größere Teile dieser Schicht der Arbeiterklasse politisch gewonnen werden können.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S. 28-29.}}<br />
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== Abgleich mit den Grundannahmen ==<br />
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Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
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== Literatur und Quellen ==<br />
*Klönne, Arno: Sozialdemokratie - eine Agentur kapitalistischer Interessen? in: Lenk, Klönne, Rosenbaum, Stuby (Hrsg.), Der bürgerliche Staat der Gegenwart, Hamburg 1972, S.57-86.<br />
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== Einzelnachweise ==<br />
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[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Diohttp://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Sozialdemokratie_als_Kraft_des_Fortschritts&diff=5945Sozialdemokratie als Kraft des Fortschritts2019-03-17T14:05:49Z<p>Dio: /* Abgleich mit den Grundannahmen */</p>
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== Worum geht's? ==<br />
Die Sozialdemokratie (ob SPD oder PdL) vertritt auch heute noch die Interessen der Arbeiterklasse – nur eben reformistisch – und ist der wichtigste Bündnispartner der kommunistischen Partei (z.B. im Rahmen der AMS). Die Sozialdemokratie an der Macht verbessert die Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse und sichert den Frieden. Eine Reformierung des Kapitalismus und eine „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“ ist auch heute noch möglich. <br />
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Die Sozialdemokratie mag die Arbeiterklasse in ihrer Geschichte immer wieder verraten haben, aber im Kampf gegen "Rechtsruck" und faschistische Gefahr müssen antifaschistische Bündnisse, wenn möglich, auch mit der Führung geschlossen werden. In Deutschland nimmt die Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie die Form von breiten Bündnissen an, - nicht auf Führungsebene der Parteien, weil die kommunistischen Parteien dazu momentan zu unbedeutend sind. In anderen Ländern dagegen formiert sich ein “Linksblock” (Portugal u.a.), dieser wird zum Vorbild auch für kommunistische Kräfte in Deutschland. In manchen Ländern nehmen Kommunistische Parteien auch auch an sozialdemokratischen Regierungen teil. Dies geschieht sehr oft mit der Begründung einer Verhinderung einer rechten und reaktionären Regierung. <br />
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Die Vertreter solcher Vorstellungen interpretieren den 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale als eine resolute Abkehr von der [[AG_Staat,_Faschismus_und_Sozialdemokratie#Sozialfaschismusthese| Sozialfaschismusthese]] und einer Neu-Definition des Verhältnisses zur Sozialdemokratie.<br />
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== Geschichte und Positionen ==<br />
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Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
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== Wie wollen wir den Dissens klären? ==<br />
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Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
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== Was steht dazu in den Programmatischen Thesen ==<br />
Siehe hierzu die Abschnitte zum [https://kommunistische.org/programmatische-thesen/#12_Der_Kampf_gegen_Opportunismus_und_Revisionismus Kampf gegen Opportunismus und Revisionismus] in den ''Programmatischen Thesen''<br />
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{{Zitat|Von besonderer Bedeutung für die kommunistische Bewegung ist der Kampf gegen die Sozialdemokratie. Diese ist nicht einfach nur eine von vielen Varianten bürgerlicher Ideologie. Ihr besonderer Charakter ergibt sich daraus, dass sie als Strömung der Arbeiterbewegung agiert, allerdings die Arbeiterklasse nicht auf ihre Selbstbefreiung vorbereitet, sondern im Gegenteil objektiv für die Fortsetzung und Verewigung der Ausbeutung arbeitet. </br></br>Die Sozialdemokratie beruht auf der Illusion, dass der Kapitalismus durch Reformen seine unerträglichen Widersprüche überwinden könne. Daher ist ihre Perspektive die Verwaltung und schrittweise „Verbesserung“, nicht die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus. Sie führt die Arbeiterklasse durch reformistische Illusionen in die Irre, sie bindet kämpferische und revolutionäre Potenziale ein und macht sie unschädlich für das System. Ihr bürgerlicher Charakter bringt sie dazu, auch reaktionäre Maßnahmen der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse mitzutragen. Wie Geschichte und Gegenwart zeigen, ist sie letzten Endes immer auch bereit zur gewaltsamen Verteidigung der Interessen des Kapitals gegen die revolutionäre Bewegung. Dieser systemstützende Charakter der Sozialdemokratie ist der Grund für unsere unversöhnliche Gegnerschaft zu ihr.</br></br>Ihren Einfluss auf die Arbeiterklasse zu brechen, ist eine zentrale Voraussetzung für den erfolgreichen Kampf der Arbeiterklasse. Die Existenz der Sozialdemokratie und allgemein des rechten Opportunismus in der Arbeiterbewegung ist nicht einfach das Ergebnis von Verrat oder Charakterschwäche der Arbeiterführer. Sie ist ein regelmäßig auftretendes Phänomen unter den Bedingungen des Imperialismus. Das Monopolkapital realisiert aufgrund seiner die Produktion und den Austausch beherrschenden Stellung enorme Extraprofite, die es möglich machen, einen bedeutenden Teil der Arbeiterklasse durch materielle Zugeständnisse einzubinden. Diese „Arbeiteraristokratie“ wird tendenziell zu einer sozialen Stütze der Sozialdemokratie und damit des Imperialismus. Diese Analyse schließt jedoch nicht aus, dass Einzelpersonen und in Aufschwungsphasen des revolutionären Klassenkampfs auch größere Teile dieser Schicht der Arbeiterklasse politisch gewonnen werden können.|Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S. 28-29.}}<br />
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== Abgleich mit den Grundannahmen ==<br />
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Dieser Abschnitt befindet sich in Bearbeitung.<br />
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== Literatur und Quellen ==<br />
Klönne, Arno: Sozialdemokratie - eine Agentur kapitalistischer Interessen? in: Lenk, Klönne, Rosenbaum, Stuby (Hrsg.), Der bürgerliche Staat der Gegenwart, Hamburg 1972, S.57-86.<br />
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== Einzelnachweise ==<br />
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[[Kategorie: AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]<br />
[[Kategorie: Dissens]]<br />
[[Kategorie: Dissens AG Staat, Faschismus und Sozialdemokratie]]</div>Dio