„Arbeiterstaaten“ und „Volksrepubliken“

Version vom 10. Januar 2019, 11:20 Uhr von Abi (Diskussion | Beiträge) (Worum geht es? Welche Positionen / Thesen gibt es? Und wer vertritt sie?)

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Worum geht es? Welche Positionen / Thesen gibt es? Und wer vertritt sie?[Bearbeiten]

Es gibt in der kommunistischen Bewegung die weit verbreitete Tendenz, Staaten nicht anhand einer Analyse ihrer realen ökonomischen Basis zu bewerten, sondern nur auf Grundlage von Betrachtungen ihres Überbaus oder anhand ihren jeweiligen Selbstbezeichnungen als „Arbeiterstaaten“ oder „Volksrepubliken“. In der Frage, wie der Klassencharakter nationaler Befreiungsbewegungen, die Stellung von Staaten im imperialistischen Weltsystem und der Charakter von Staaten, die sich selbst als sozialistisch bezeichnen, eingeschätzt werden können, besteht permanenter Dissens innerhalb der internationalen Linken und kommunistischen Bewegung. Im folgenden soll dieser Dissens anhand einiger konkreter Beispiele dargestellt werden.

Lenin hat die grundlegenden Eigenschaften von sozialistischen bzw. Arbeiterstaaten beschrieben: Die Produktionsmittel befinden sich in den Händen der Arbeiterklasse, die Produktion wird zentral geplant und kontrolliert, die politische Macht wird durch die in Räten organisierte Arbeiterklasse ausgeübt. Viele Kommunisten machen ihr Urteil über die angeblichen „Arbeiterstaaten“ und „Volksrepubliken“ jedoch nicht davon abhängig, ob sie dieser groben Definition entsprechen, sondern vor allem von deren Selbstdefinition. Das zeigt sich zum Beispiel am unkritischen Verhältnis vieler kommunistischer Parteien zu den „Volksrepubliken“ von Donezk oder Lugansk, aber auch zu China, Vietnam oder Nordkorea. In den letzten Jahren sind zudem die kurdischen Gebiete in Nordsyrien besonders in den Fokus der deutschen und internationalen Linken gerückt, wo sich, glaubt man den Einschätzungen der Solidaritätsbewegung, eine „befreite Gesellschaft“ im Aufbau befindet.

„Volksrepubliken“ im Donbass[Bearbeiten]

Vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs in der Ukraine, in dem westlich-imperialistische Interessen militärisch mit denen Russlands aufeinanderprallten, entstanden im Osten des Landes 2014 die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk. Der pro-westliche Teil der ukrainischen Bourgeoise und ihr Machtapparat hatten bei der Durchführung des Putsches und der Konsolidierung ihrer Macht massiv auf faschistische Kräfte zurückgegriffen. In Teilen der deutschen und internationalen Linken entstand daraufhin eine Solidaritätsbewegung, die die Kämpfe im Osten der Ukraine als antifaschistische Widerstandskämpfe interpretierte und die „Volksrepubliken“ quasi mit der Spanischen „Volksfront“-Republik von 1936-1939 gleichsetzte. Dabei spielten häufig die Einschätzung Russlands als „objektiv antiimperialistisch“ (z.B. durch die DKP) eine zentrale Rolle. Die entgegengesetzte Position innerhalb des kommunistischen Spektrums lautet, dass die Aggression zwar hauptsächlich von den NATO-Staaten ausgeht, es sich bei den Kämpfen um die Ukraine jedoch um einen zwischenimperialistischen Konflikt handelt, in dem Kommunisten sich nicht auf eine der beiden Seiten schlagen dürfen. Fest steht: Die Produktionsmittel und Rohstoffquellen in den „Volksrepubliken“ befinden sich nach wie vor in den Händen der Kapitalisten, die Staatsmacht geht nicht vom organisierten „Volk“ aus, sondern von der regionalen, pro-russischen Bourgeoisie und ihrem Staat.

Rojava / Kurdistan[Bearbeiten]

Ein ähnliches Phänomen, das in der deutschen Linken allerdings auf viel stärkere Resonanz stößt als der Krieg in der Ukraine, ist die Solidaritätsbewegung mit den kurdischen Gebieten in Nordsyrien (Rojava und die Stadt Kobane). Die Einschätzung, dass sich auch in Kurdistan ein antifaschistischer Kampf abspiele (gegen den „IS-Faschismus“), in dessen Zuge dort eine „befreite Gesellschaft“ aufgebaut werde, vereint seit einigen Jahren ein politisches Spektrum das von Anarchisten, Autonomen und Antinationalen („ums Ganze“) über rote Gruppen („Perspektive Kommunismus“ etc.), Trotzkisten, Maoisten, die MLPD, die interventionistische Linke (iL), bis weit in die Linkspartei und sogar in „antideutsche“ Kreise hineinreicht.

Die iL schreibt in einem Aufruf zur Solidarität mit Rojava:

„Dieser Angriff [durch das türkische Militär], ist ein Angriff auf uns alle, alle die für eine befreite Gesellschaft kämpfen: Seit dem 19.01.2018 greift türkische Artillerie und Luftwaffe den Kanton Efrin an. In Zusammenarbeit mit islamistischen Söldnertruppen soll ausradiert werden, was dort und in den anderen Kantonen Rojavas als ein politisches System demokratischer Selbstverwaltung entstand. Die Bevölkerung organisiert sich in eigenen Versammlungen und Räten, um ihr Leben über z.B. ethnische und religiöse Unterschiede hinweg gemeinsam zu gestalten. Die Frauen spielen dabei eine zentrale Rolle: Sie organisieren sich in allen Bereichen eigenständig und sind maßgeblich an der Gestaltung des Gemeinwesens beteiligt. […] Kobane konnte verteidigt werden. Das Leben und der Kampf der Commune Rojava begann.“
Interventionistische Linke, Solidarität mit Rojava.


Inhaltliche Unterschiede zur MLPD, die für sich selbst einen marxistisch-leninistischen Standpunkt in Anspruch nimmt, sind kaum zu erkennen:

„Rojava – das steht für den erfolgreichen Kampf um Freiheit und Demokratie, für Frauenrechte, Umweltschutz, Respektierung aller Nationen und Religionen. […] Der kurdische Befreiungskampf wird mehr und mehr zu einem Teil des internationalen Kampfs für Freiheit, Demokratie und Sozialismus.“
MLPD, Flugblatt: Hände Weg von Rojava.


Zentrale Anknüpfungspunkte für viele deutsche Linke sind vor allem der basisdemokratische Charakter und die Identitätspolitik der kurdischen Bewegung (Rolle der Frauen, sexuellen und ethnischen Minderheiten). Eine Analyse des Imperialismus sowie der tatsächlichen Macht-, Eigentums- und Produktionsverhältnisse spielen dagegen bei der Einschätzung der Lage in Nordsyrien durch diese Gruppen kaum eine Rolle. Die Rolle der zeitweise massiven US-Amerikanische Militärpräsenz, die Interessen Israels und die Neuaufteilung der Einflusszonen in der Region werden kaum analysiert. Das enge Bündnis der kurdischen Bewegung mit dem US-Imperialismus wird entweder ausgeblendet oder gerechtfertigt. Der Journalist und Aktivist Peter Schaber vertrat etwa in der Jungen Welt immer wieder, dieses Bündnis sei notwendig und angeblich rein taktischer und vorübergehender Natur.

Hier stehen sich innerhalb der kommunistischen Bewegung also zwei konträre Einschätzungen gegenüber. Die erste geht davon aus, dass die kurdische Bewegung mit einer erfolgversprechenden Taktik und im Rahmen einer alternativlosen Bündnisstrategie für eine „befreite Gesellschaft“ bzw. für „Demokratie und Sozialismus“ kämpft. Die andere schätzt wesentlich skeptischer ein, dass die kurdische Bewegung sich mittlerweile von ihrem sozialistischen Ziel verabschiedet hat und in der Region im Bündnis mit dem westlichen Imperialismus allenfalls noch für die regionale Autonomie der kurdischen Gebiete und eine bürgerlich-liberale Demokratie kämpft.

China, Vietnam, Kuba[Bearbeiten]

Eher ein Nischenphänomen in der deutschen und internationalen kommunistischen Bewegung ist der positive Bezug auf die „Volksrepublik“ China, die sich, glaubt man ihren jeweiligen Selbsterzählungen, auf dem Weg zum Sozialismus befindet. Dass dieser Weg seit Jahrzehnten über eine lange Etappe der kapitalistischen Marktwirtschaft führt, erklären die Anhänger Chinas gerne damit, die Sowjetunion unter Lenin habe mit der Neuen Ökonomischen Politik in den 1920er Jahren eine ähnliche Taktik angewandt. Solange die kommunistische Partei an der Macht sei, so die Begründung, könne die Bourgeoisie nicht die herrschende Klasse sein. Zur gegebenen Zeit würden die mithilfe der kapitalistischen Dynamik entwickelten Produktivkräfte in den Sozialismus überführt werden. Nach der konkreten ökonomischen Basis des chinesischen Staats und dem Klassencharakter der Partei wird von den Freunden des „Chinesischen Wegs zum Sozialismus“ in der Regel nicht gefragt.

Bemerkenswert ist, dass dieser positive Bezug auf China ausgerechnet in der DKP – die historisch immer dem sowjetischen Lager angehörte und in den 1970er Jahren von den pro-chinesischen K-Gruppen massiv bekämpft und diffamiert wurde – in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen hat. Ähnlich unkritisch bewertet die DKP auch die Entwicklung in der Volksrepublik Vietnam.

Kuba bildet dagegen einen Sonderfall. Dort herrschen an der ökonomischen Basis nach wie vor sozialistische Produktions- und Eigentumsverhältnisse vor, gleichzeitig zeigen sich im politischen Überbau aber seit vielen Jahren Reformtendenzen in Richtung eines Ausbaus kapitalistischer Beziehungen. Dabei spielt eine Orientierung am „chinesischen Modell“ eine zentrale Rolle. Die DKP bewertet diese Entwicklungen in ihren offiziellen Einschätzungen durchweg unkritisch und positiv als Maßnahmen zur Modernisierung und Festigung des Sozialismus.

Auch zu China, Kuba und Vietnam gehen die Einschätzungen innerhalb der kommunistischen Weltbewegung also weit auseinander. Auf der einen Seite steht die uneingeschränkte Solidarität jener Gruppen und Organisationen, die alle aktuellen Reformen und Entwicklungen als Schritte in Richtung „Modernisierung“ oder „Verbesserung“ des Sozialismus interpretieren und gegen jede Kritik verteidigen. Auf der anderen Seite stehen die Genossen, die China klar als kapitalistisches Land und imperialistische Großmacht einschätzen und die gegenüber Ländern wie Kuba neben der Solidarität gegenüber den imperialistischen Aggressionen auch die offene Kritik am dortigen Revisionismus für ihre internationalistische Pflicht halten.

Alle drei Beispiele offenbaren grundlegende Differenzen in der praktischen Anwendung der marxistischen Staatstheorie innerhalb der kommunistischen Bewegung und der internationalistischen Linken. Gemeinsam ist den drei hier dargestellten Fällen, dass sich an ihnen zeigen lässt, wie sehr zahlreiche Gruppen und Organisationen ihr Urteil über die jeweiligen Staaten und Befreiungsbewegungen offenbar hauptsächlich auf der Basis von deren Selbstdefinitionen oder anhand moralischer Kriterien fällen, nicht auf Grundlage eigener materialistischer Analysen.

Bezug zu den Grundannahmen[Bearbeiten]

Zentral ist hier der Bezug zur Lehre von Basis und Überbau, die den Kern der marxistischen Staatstheorie bildet (Grundannahmen Staat). Karl Marx schreibt in seiner berühmten Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie:

„Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.“
Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW Band 13, S. 9.

Der politische Überbau kann also, folgt man dieser Grundannahme, ohne eine Analyse der ökonomischen Basis nicht materialistisch eingeschätzt werden.

Klärung / Arbeit mit dem Dissens [Bearbeiten]

Welche theoretischen Fragen müssen beantwortet werden?[Bearbeiten]

Theoretisch müssen wir uns einerseits mit der Frage beschäftigen, wie Staaten einzuschätzen sind, die aus erfolgreichen Revolutionen in abhängigen Ländern hervorgegangen sind, mit dem Aufbau des Sozialismus begonnen haben, dann aber wieder von diesem Kurs abgekommen sind oder diesen Kurs gerade verlassen (China, Vietnam, Kuba). Dabei muss die konkrete Analyse der ökonomischen Basis in diesen Ländern im Mittelpunkt stehen. Andererseits müssen wir eine Position zu Befreiungs- bzw. Widerstandsbewegungen erarbeiten, deren Klassencharakter nur schwer zu bestimmen ist und die gezwungen sind, zwischen den Fronten des Imperialismus zu kämpfen (Kurdistan, Ukraine, etc.).

Welche empirischen Untersuchungen sind notwendig? [Bearbeiten]

Empirisch-historisch müssen wir klären, wie es zu diesen heute so weit verbreiteten idealistischen Einschätzungen kommen konnte und welche Folgen diese für die Arbeiterbewegung haben können. Dabei gilt es sowohl die „Volksfront“-Politik der Komintern in den Blick zu nehmen, auf die sich in den Solidaritätsbewegungen häufig bezogen wird, als auch die antiimperialistische „Dritte-Welt-Bewegung“ seit den 1960ern, aus der viele dieser Theorie-Traditionen stammen.

Überschneidungen mit anderen AGen[Bearbeiten]

Diese Fragen fallen zum Teil in den Bereich der AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei, zum Teil in den Bereich der AG Sozialismus (z.B. was die Einschätzung Chinas und Kubas angeht).

Bezug zu den Programmatischen Thesen[Bearbeiten]

Siehe zu den hier aufgeworfenen Fragen die Programmatischen Thesen zu Staat, Imperialismus und proletarischem Internationalismus.

Literatur und Quellen[Bearbeiten]