Opportunistische Auffassungen zum sozialistischen Staat: „Demokratischer Sozialismus“

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Worum geht es? [Bearbeiten]

Es gibt heute ein breites Spektrum an linken und sozialistischen Kräften, die für sich in Anspruch nehmen, einen „demokratischen Sozialismus“ zu vertreten, der von allen angeblichen Mängeln und Deformationen des sowjetischen Sozialismus frei sein soll. Dahinter verbirgt sich aber, so die Gegenposition, meist nichts anderes, als entweder die Vorstellung von einem „dritten Weg“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus, oder schlicht die Illusion eines reformierten Kapitalismus mit „menschlichem Antlitz“. Diese Strömung geht also von einer opportunistischen Sicht auf den bürgerlichen Staat aus und mündet in einer ebenso opportunistischen Vorstellung des Sozialismus und des sozialistischen Staats. Letztlich laufen diese Positionen auf eine Aufgabe des sozialistischen Ziels hinaus und vertreten eine angebliche Klassenneutralität nicht nur des bürgerlichen, sondern auch des „sozialistischen Staats“, der in dieser Vorstellung nur eine reformierte Variante des bürgerlichen Staats ist.

Geschichte[Bearbeiten]

Schon Friedrich Engels bezeichnete in seinen Grundsätzen des Kommunismus (1847) manche Vertreter des Frühsozialismus als „demokratische Sozialisten“[1]. Diese strebten zwar wie die Kommunisten eine Überwindung des Elends und Aufhebung der Klassengesellschaft an, gäben sich aber schon mit einer demokratischen Staatsverfassung und einigen anschließenden Sozialreformen zufrieden. Diese Richtung innerhalb der Arbeiterbewegung hängt eng zusammen mit den Traditionen des klassischen Revisionismus (Bernstein und Kautsky) und der Vorstellung einer schrittweisen Verwirklichung des Sozialismus durch eine Politik der „Demokratisierung“ und „Verstaatlichung“. Weitere Verbreitung in der Arbeiterbewegung fand der Ausdruck „demokratischer Sozialismus“ ab etwa 1920 infolge der Spaltung der europäischen Arbeiterbewegung im Zuge des Ersten Weltkriegs und der anschließenden Revolutionen. Mit dem Begriff grenzte sich die reformistische Sozialdemokratie von den Kommunisten und dem Marxismus-Leninismus ab, die ihrerseits am Begriff der „Diktatur des Proletariats“ festhielten und die Sowjetunion verteidigten.

Seitdem haben sowohl sozialdemokratische und sozialistische als auch „kommunistische“ Gruppen, Parteien und Regierungen unterschiedliche Politiken als „demokratischen Sozialismus“ bezeichnet. Der Ausdruck wurde seit etwa 1970 im „Reformkommunismus“ Osteuropas, im Eurokommunismus, in manchen Staaten Lateinamerikas sowie 1989 von Teilen der DDR-Opposition verwendet. Dort wurde er zuweilen auch als „dritter Weg“ zwischen Kapitalismus und „real existierendem Sozialismus“ bezeichnet. Nach 1989 wurde der „demokratische Sozialismus“ zum Leitbegriff der PDS, heute der Linkspartei.

Thesen und Positionen[Bearbeiten]

Die SPD versteht unter „demokratischem Sozialismus“ seit dem Godesberger Programm (1959) „soziale Marktwirtschaft“ mit „gerechter Verteilung“ von Gewinnen, die gleiche Lebenschancen eröffnen soll. Nach dem bürgerlichen Politikwissenschaftler Thomas Meyer (SPDler mit Nähe zur Frankfurter Schule) vertreten alle Theorien eines demokratischen Sozialismus ein „egalitäres“ Gerechtigkeitskonzept, bejahen den „demokratischen Rechtsstaat“, streben sozialstaatliche Sicherungen aller Bürger an, wollen das Privateigentum „sozialverträglich“ begrenzen und den Wirtschaftssektor „gesellschaftlich einbinden“ und „politisch regulieren“. In ihrem Hamburger Programm (2007) spricht die SPD immer noch vom „demokratischen Sozialismus“. Sie definiert den Begriff allerdings wenig überraschend watteweich im Sinne einer „sozialen Marktwirtschaft“: „Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, deren Verwirklichung für uns eine dauernde Aufgabe ist. Das Prinzip unseres Handelns ist die soziale Demokratie.“[2]

Auch die Europäischen Linkspartei (ELP) (und damit all ihre Mitgliedsparteien) vertritt die „Perspektive eines demokratischen Sozialismus“. Definiert wird diese „sozialistische Perspektive“ von der ELP als eine „gerechte Gesellschaft, die auf der Zusammenlegung des Reichtums und der Produktionsmittel und auf der Souveränität der demokratischen Entscheidung in Harmonie mit den begrenzten Ressourcen des Planeten basiert.“[3] All das soll ohne eine Revolution gegen den bürgerlichen Staat und ohne die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln möglich sein.

In ihrem Programm (2011) leitet die Linkspartei zunächst die Notwendigkeit eines „demokratischen Sozialismus“ aus dem Scheitern der Sowjetunion und des sozialistischen Lagers her:

„Der erste große Versuch im 20. Jahrhundert, eine nichtkapitalistische Ordnung aufzubauen, ist an mangelnder Demokratie, Überzentralisation und ökonomischer Ineffizienz gescheitert. Unter Pervertierung der sozialistischen Idee wurden Verbrechen begangen. Dies verpflichtet uns, unser Verständnis von Sozialismus neu zu bestimmen. Wir wollen einen demokratischen Sozialismus, der den gesellschaftlichen und globalen Herausforderungen und Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts gerecht wird.“
Programm der Partei DIE LINKE (2011), S. 27[4]

In den folgenden Passagen wird aber klar, dass die Linkspartei sich längst von sehr viel mehr Grundpositionen des Marxismus verabschiedet hat, als nur von der „Diktatur des Proletariats“ zugunsten einer scheinbar demokratischeren Konzeption:

„Die Überwindung der Dominanz kapitalistischen Eigentums in der Wirtschaft und ein sozialer Rechtsstaat sind dafür die wichtigsten Grundlagen. Alle Menschen sollen am Reichtum teilhaben können. Der sozial gleiche Zugang jedes Menschen zu den Bedingungen eines freien Lebens und die Demokratisierung aller Lebensbereiche gehören zusammen. Sozialismus und Demokratie sind untrennbar. […] Wir wollen, dass Rechtsstaat und Sozialstaat eine Einheit bilden, und streiten für eine weltweite Ordnung, die durch Frieden, Solidarität und Gerechtigkeit geprägt ist. So kann ein gutes Leben gestaltet, eine soziale Demokratie hergestellt und erweitert werden.“
Programm der Partei DIE LINKE (2011), S. 27.

Es geht also nicht mehr um die Abschaffung, sondern nur noch um die „Überwindung der Dominanz“ des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln – also vermutlich einer irgendwie gearteten kapitalistischen Mischwirtschaft mit sozialstaatlichen Mechanismen der Reichtumsumverteilung. Wichtigstes Merkmal des „sozialistischen“ Staats ist aus dieser Sicht nicht etwa sein Klassencharakter als Staat der Arbeiterklasse, sondern dass er formal die Formen der liberalen Demokratie und des bürgerlichen „Rechtsstaates“ einhält.

Der Weg zu diesem „demokratischen Sozialismus“ führt nicht etwa über eine Revolution, in der die unterdrückte Klasse den Unterdrückern ihre politische und ökonomische Macht entreißt, sondern über eine allmähliche „Transformation“ im Rahmen der bürgerlichen Staatlichkeit und Legalität: „DIE LINKE kämpft in einem großen transformatorischen Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung für den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Dieser Prozess wird von vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gekennzeichnet sein.“[5]

Ähnliche Perspektiven auf die sozialistische Gesellschaft haben sich im vergangenen Jahrzehnt auch in zahlreichen Parteien und Bewegungen in Lateinamerika durchgesetzt. Von Chavez’ „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bis zum “Sozialismus des guten Lebens” in Ecuador, vertreten all diese Bewegungen den Aufbau eines „demokratischen Sozialismus“ auf dem parlamentarischen Weg und unter Beibehaltung der bürgerlichen Legalität und des Staatsapparats.

Der hier an verschiedenen Beispielen skizzierte „Sozialismus“-Begriff geht also weder von der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln noch von der Aufhebung der Klassen aus, sondern lediglich von einer staatlichen Regulations- und Umverteilungspolitik. Das führt nicht nur notwendig zu illusionären Vorstellungen über die Reformierbarkeit des bürgerlichen Staats, sondern unterstellt auch, der sozialistische Staat müsse klassenneutral sein, also für einen „pluralistischen“ und „demokratischen“ Ausgleich zwischen den Klasseninteressen sorgen. Er ist also weder Staat des Proletariats noch der Bourgeoise, soll aber zwischen diesen beiden Polen das „Allgemeinwohl“ vertreten – was in einer antagonistischen Klassengesellschaft unmöglich und in einer sozialistischen Gesellschaft ohne Klassen hinfällig ist. Die gesamte Rhetorik des „demokratischen Sozialismus“ basiert einerseits auf einem konstruierten Widerspruch zwischen Demokratie und real existierendem Sozialismus auf der einen und einer idealistischen Gleichsetzung von Demokratie und bürgerlich-liberalem Parlamentarismus auf der anderen Seite.

Am schärfsten und konsequentesten werden die verschiedenen Spielarten des „demokratischen Sozialismus“ in der kommunistischen Weltbewegung derzeit von der KKE kritisiert. Die griechischen Genossen haben mit Blick auf die ELP und die verschiedenen „Sozialismen“ Lateinamerikas oft betont, dass es sich dabei letztlich um die Verbreitung opportunistischer Positionen über die Möglichkeit einer „Humanisierung“ des Kapitalismus handelt. Den Kern dieser Utopie bildet die Vorstellung einer tiefgreifenden „Demokratisierung“ des bürgerlichen Staats, kombiniert mit einer Politik der „Verstaatlichung“ von Teilen der Wirtschaft und dem Ziel einer „gemischten“ kapitalistischen Wirtschaft, die als neues Sozialismusmodell präsentiert wird. Die Argumente der Vertreter des „demokratischen Sozialismus“ dienen laut KKE dazu,

„die Ersetzung des revolutionären Weges durch den Parlamentarismus und die Verlegung des Sozialismus auf bloße Regierungsveränderungen, um die bürgerliche Gesellschaft zu verwalten, wie es z.B. das Forum von Sao Paulo und andere Kräfte tun, zu begründen. Der Aufbau des Sozialismus ist ein einheitlicher Prozess, der mit der Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse beginnt, um eine neue Produktionsweise zu schaffen und die vollständige Abschaffung der kapitalistischen Verhältnisse, der Kapital-Arbeit-Beziehung, durchzusetzen. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und der zentrale Plan sind Gesetze des sozialistischen Aufbaus, notwendige Voraussetzungen für die Befriedigung der Bedürfnisse des Volkes.“
Rede der KKE auf dem 16. Internationalen Treffen der Kommunistischen- und Arbeiterparteien in Ecuador.


Bezug zu den Grundannahmen[Bearbeiten]

Der Dissenz in der Theorie des „demokratischen Sozialismus“ berührt im Besonderen die Grundannahmen über den Klassencharakter des bürgerlichen Staats und den Staat als Scheinbar über den Klassen stehende Macht. Dies zeigt sich vor allem darin, dass Sie die Standpunkte von Marx, Engels und Lenin über die Notwendigkeit der Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparats verneinen und somit eine falsche Hoffnung der Arbeiterklasse in den bürgerlichen Staat schüren.

Klärung / Arbeit mit dem Dissens [Bearbeiten]

Welche theoretischen Fragen müssen beantwortet werden?[Bearbeiten]

Worin genau besteht die Differenz zwischen bürgerlicher und sozialistischer Demokratie? Welche Illusionen über die bürgerliche Demokratie und den bürgerlichen Rechtsstaat sind in der Parole vom „demokratischen Sozialismus“ notwendig enthalten? Welches strategische Verhältnis zum bürgerlichen Staat legt diese Analyse nahe? Welche Institutionen und Strukturen des bürgerlichen Staates können im Sozialismus übernommen werden, welche müssen zerschlagen werden? Wie ist die Analyse einzuschätzen, der „real existierende Sozialismus“ sei vor allem an „Überzentralisierung“ und „mangelnder Demokratie“ gescheitert?

Welche empirischen Untersuchungen sind notwendig? [Bearbeiten]

Welche konkrete Gefahr geht für die Arbeiterbewegung von den Illusionen aus, die die Orientierung auf einen „demokratischen Sozialismus“ verbreitet? Welche strategischen Schlussfolgerungen ergeben sich daraus und auf welche historischen Erfahrungen kann die Arbeiterbewegung zurückgreifen (Rolle der „Reformkommunisten“ in Osteuropa, „Arbeiterselbstverwaltung“ in Jugoslawien, Chile 1973, Portugal 1974, etc.)? In welchen Teilen der Arbeiterklasse ist diese Vorstellung heute besonders anknüpfungsfähig?

Überschneidungen mit anderen AGen[Bearbeiten]

Die Beantwortung dieser Fragen fällt hauptsächlich in den Bereich der AG Revolutionäre Arbeiterbewegung und Kommunistische Partei und der AG Sozialismus.

Bezug zu den Programmatischen Thesen[Bearbeiten]

Siehe zu den hier aufgeworfenen Fragen vor allem unsere Programmatischen Thesen zum Staat, zum Kampf gegen Opportunismus und Revisionismus und zur Revolutionären Strategie.

In den Programmatischen Thesen wenden wir uns explizit gegen Vorstellungen der Reformierbarkeit des bürgerlichen Staats:

„Der bürgerliche Staa[t] ist Ausdruckder Unversöhnlichkeit der Klasseninteressen miteinander.[…] Dieser Klassencharakter des Staates macht es für die Arbeiterklasse (oder auch jede andere Klasse) unmöglich, ihn zu übernehmen und in ihrem Interesse zu verwenden.“
Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.7-8.


In den Programmatischen Thesen gibt es bisher keine Stelle, die explizit auf die These der „Demokratisierung“ des bürgerlichen Staats als Schritt in Richtung Sozialismus eingeht. Wir halten über die Herrschaftsformen des Staates jedoch grundsätzlich fest:

„Er wendet letztlich alle Formen von Gewalt an, verbreitet aber auch die bürgerliche Ideologie und betreibt die Einbindung von Teilen der Arbeiterklasse durch Zugeständnisse, um die ausgebeutete Klasse niederzuhalten.“
Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.8.


Wir schreiben außerdem, dass die Diktatur des Proletariats für die „breiten Volksmassen die umfassendste Demokratie“ [6] darstellt.

Bezüglich des Wegs zur Diktatur des Proletariats sagen wir:

„Es gibt keine Zwischen- oder Übergangsetappen dorthin […], die innerhalb des Kapitalismus und auf dem Boden des bürgerlichen Staates die Voraussetzungen für den Sozialismus schaffen könnte und erst recht keine Gesellschaftsformation, die zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus liegen würde.“
Kommunistische Organisation: Programmatische These, Berlin 2018, S.22.


Literatur zum Thema[Bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Engels, Friedrich: Grundsätze des Kommunismus, in: MEW 4, Dietz Verlag Berlin, 1974, S. 361-380.
  2. Hamburger Programm der SPD (2007), URL: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Beschluesse/Grundsatzprogramme/hamburger_programm.pdf (10.1.2019)
  3. Programm der ELP (2004), URL: https://www.die-linke.de/fileadmin/download/europaeische_linke/programm/EL-Programm_DE.pdf (10.1.2019)
  4. URL: https://www.die-linke.de/fileadmin/download/grundsatzdokumente/programm_formate/programm_der_partei_die_linke_erfurt2011.pdf (10.1.2019)
  5. Programm der Partei DIE LINKE (2011), S. 27 und 29.
  6. Kommunistische Organisation: Programmatische Thesen, Berlin 2018, S.19.