Friedliche Koexistenz

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Einleitung[Bearbeiten]

Lenin und Stalin zur friedlichen Koexistenz[Bearbeiten]

Lenin und später auch Stalin haben sich zur Frage der Beziehungen zwischen sozialistischen und kapitalistischen/imperialistischen Staaten für eine Politik der friedlichen Koexistenz zwischen Ländern mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen ausgesprochen. Lenin verstand die friedliche Koexistenz als eine Form des Klassenkampfes, bei der die sozialistische Sowjetunion und die kapitalistischen Länder dennoch nebeneinander existierten und nicht direkt Krieg miteinander führten. Lenin hielt eine solche friedliche Koexistenz für richtig und erstrebenswert, um dem Sozialismus die Möglichkeit zur möglichst ungehinderten Entwicklung zu geben. Gleichzeitig hielt er einen solchen Zustand aber auch nur für zeitweise möglich: Wir leben nicht nur in einem Staat, sondern in einem System von Staaten, und die Existenz der Sowjetrepublik neben den imperialistischen Staaten ist auf die Dauer undenkbar. Am Ende wird entweder das eine oder das andere siegen. Und bis dieses Ende eintritt, ist eine Reihe furchtbarster Zusammenstöße zwischen der Sowjetrepublik und den bürgerlichen Staaten unvermeidlich[1]. Im Rahmen der Politik der friedlichen Koexistenz sprach Lenin sich dennoch selbstverständlich dafür aus, dass der sozialistische Staat die revolutionären Bewegungen auf der ganzen Welt unterstützen müsse.

Stalin knüpfte an der Haltung Lenins an. Auch er strebte eine friedliche Koexistenz an, betonte aber dieselben Einschränkungen wie Lenin: Es wäre töricht, anzunehmen, das internationale Kapital werde uns in Ruhe lassen. Nein, Genossen, so ist es nicht. Es existieren Klassen, es existiert das internationale Kapital, und dieses kann der Entwicklung des Landes, das den Sozialismus aufbaut, nicht ruhig zusehen[2].

Auf dem 19. Parteitag der KPdSU 1952, dem letzten vor Stalins Tod, wurde im von Malenkow vorgetragenen Rechenschaftsbericht des ZK festgehalten: Die sowjetische Politik des Friedens und der Sicherheit der Völker geht davon aus, daß das friedliche Nebeneinanderbestehen des Kapitalismus und des Kommunismus sowie deren Zusammenarbeit durchaus möglich sind, wenn nur der beiderseitige Wunsch zur Zusammenarbeit, wenn nur die Bereitschaft vorhanden ist, die übernommenen Verpflichtungen zu erfüllen, wenn von beiden Seiten des Prinzip der Gleichberechtigung und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten gewahrt wird. […] Wir sind überzeugt, daß das sozialistische Wirtschaftssystem im friedlichen Wettbewerb mit dem Kapitalismus von Jahr zu Jahr immer anschaulicher seine Ueberlegenheit [sic] gegenüber dem kapitalistischen Wirtschaftssystem beweisen wird[3].

Wurde hier schon angedeutet, dass man eine längerfristige Koexistenz und einen Sieg des Sozialismus auf dem Weg des friedlichen ökonomischen Wettbewerbs für möglich hielt, kam es auf dem 20. Parteitag 1956 dann zu einer umfassenden Umorientierung.

Der 20. Parteitag der KPdSU[Bearbeiten]

Im Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees, jetzt vorgetragen von Nikita Chruschtschow, hieß es: Die Sowjetunion ist fest entschlossen, alles Notwendige zu tun, um den internationalen Frieden und die Sicherheit zu wahren. Die Etablierung fester freundschaftlicher Beziehungen zwischen den beiden größten Mächten der Welt, der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten von Amerika, wäre von großer Bedeutung für die Stärkung des Weltfriedens. Wir denken, dass wenn die wohlbekannten fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz den Beziehungen zwischen der UdSSR und den Vereinigten Staaten zugrundeliegen würden, das von wirklich großer Bedeutung für die gesamte Menschheit wäre […]. Wir wollen Freunde der Vereinigten Staaten sein und mit ihnen für den Frieden und die internationale Zusammenarbeit, sowie in der ökonomischen und kulturellen Sphäre kooperieren[4]. Chruschtschows Haltung unterscheidet sich damit entscheidend von der Lenins und Stalins. Chruschtschow begnügt sich nicht mit der bloßen Koexistenz der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme: Es ist notwendig, weiterzugehen, die Beziehungen zu verbessern, das Vertrauen zwischen Ländern zu stärken und zusammenzuarbeiten. Die marxistisch-leninistische Erkenntnis, dass Kriege im Imperialismus unvermeidlich sind, sei inzwischen überholt: Diese Regel wurde entwickelt zu einer Zeit, wo 1) der Imperialismus ein allumfassendes Weltsystem war und 2) die soziale und politischen Kräfte, die den Krieg nicht wollten, schwach und schwach organisiert waren und daher unfähig waren, die Imperialisten zur Aufgabe des Krieges zu zwingen[5]. Diese Position verband sich auf dem 20. Parteitag der KPdSU mit einer generellen Vorstellung, dass der Kampf zwischen den Kräften der Bourgeoisie und des Proletariats mit friedlichen Mitteln zu lösen sei: Es ist wahrscheinlich, dass weitere Formen des Übergangs zum Sozialismus auftauchen. Darüber hinaus muss die Umsetzung dieser Formen nicht unter allen Umständen mit Bürgerkrieg einhergehen[6].

Vertreter dieser Position Chruschtschows finden sich auch heute. Für Hans-Peter Brenner und Robert Steigerwald (beide DKP) war die Politik der friedlichen Koexistenz nach dem 20. Parteitag immer noch dieselbe wie die davor: Friedliche Koexistenz bedeutete sowohl unter Lenin, Stalin und ihren Nachfolgern – bis zum verhängnisvollen Antreten Gorbatschows – die Ausgestaltung zwischenstaatlicher Beziehungen zu den kapitalistischen Ländern durch Friedens-, Handels, Kultur- und Sportabkommen. […] Ein Stillstand oder eine Abschwächung der politischen und vor allem der ideologischen Auseinandersetzung und ein Verzicht auf die Unterstützung für die Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Staaten oder für nationale Befreiungsbewegungen war damit absolut nicht verbunden. […] Entgegen der maoistischen Mythenbildung hat der XX. Parteitag der KPdSU in dieser Frage absolut keine andere Meinung vertreten[7].

Die Kritik der KP Chinas[Bearbeiten]

Zunächst wurden die Beschlüsse des 20. Parteitags der KPdSU zur Frage der friedlichen Koexistenz von den anderen KPen akzeptiert, einschließlich der KP Chinas. 1956 hieß es noch: Der 20. Parteitag der KPdSU […] traf eine Reihe von sehr wichtigen Entscheidungen. Diese Entscheidungen betreffen die stetige Umsetzung der Politik Lenins in Bezug auf die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz zwischen Staaten unterschiedlicher gesellschaftlicher Systeme, die Entwicklung des sowjetischen demokratisches System, die konsequente Einhaltung des Grundsatzes der kollektiven Führung innerhalb der Partei, der Kritik an den Unzulänglichkeiten der Partei[8].

In ihrem „Vorschlag zur Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung“ von 1963 vertrat die KPCh dann jedoch eine ganz andere Position und kritisierte öffentlich die Position der sowjetischen KP: Friedliche Koexistenz darf niemals auf die Beziehungen zwischen unterdrückten und unterdrückenden Nationen, zwischen unterdrückten und unterdrückenden Staaten, zwischen unterdrückten und unterdrückenden Klassen ausgedehnt werden. Die friedliche Koexistenz darf nie als Hauptinhalt des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus beschrieben werde. Noch weniger darf die friedliche Koexistenz zum Weg, der die ganze Menschheit zum Sozialismus führt, gemacht werden. und: Wenn aber die Generallinie der Außenpolitik sozialistischer Staaten auf die friedliche Koexistenz beschränkt wird, ist die richtige Behandlung der Beziehungen zwischen sozialistischen Staaten ebenso unmöglich wie die richtige Behandlung der Beziehungen der sozialistischen Staaten mit den unterdrückten Völkern und Nationen. Deshalb ist es falsch, die friedliche Koexistenz zur Generallinie der Außenpolitik sozialistischer Staaten zu machen[9]. Die Kritik der KPCh zielte also vor allem darauf ab, dass mit dem 20. Parteitag der KPdSU die friedliche Koexistenz von einem taktischen Prinzip der kommunistischen Parteien an der Macht, also in der Außenpolitik der sozialistischen Länder, zur allgemeinen strategischen Ausrichtung der kommunistischen Bewegung gemacht worden war. Diese Kritik wurde auch von anderen kommunistischen Parteien geteilt.

Auch in den Auseinandersetzungen innerhalb der kommunistischen Bewegung in Deutschland ist zum Teil eine ähnliche Kritik formuliert worden. So schreibt Renate Münder 2007 zur Politik der friedlichen Koexistenz der KPdSU nach 1956: Es wird behauptet, die Spannungen zwischen Imperialismus und Sozialismus seien willkürlich herbeigeführt und deshalb auch zu vermeiden. Es bedürfe nur des guten Willens von beiden Seiten, und der Kalte Krieg sei vorbei. Indem sozialistische Außen- und Friedenspolitik diese Ansichten übernahm, wurde sie nicht mehr als Klassenkampf begriffen, der das Umschlagen der objektiv vorhandenen Spannungen zwischen kapitalistischen und sozialistischen Staaten in einen militärischen Konflikt zu verhindern sucht. Sondern es wird die Illusion einer dauerhaften Klassenzusammenarbeit beschworen, die Illusion eines freundschaftlichen Nebeneinanders. Die Idee der Zusammenarbeit der Klassen ist aber, wie Lenin sagte, das Wesentliche am Opportunismus[10].

Fazit[Bearbeiten]

Die Frage der friedlichen Koexistenz zwischen gegensätzlichen Gesellschaftssystemen hat in der kommunistischen Weltbewegung eine sehr wichtige Rolle gespielt. Sie stand auch – neben anderen Fragen – im Zentrum der Spaltung, die sich Anfang der 60er zwischen der KPdSU und der Mehrheit der kommunistischen Parteien auf der anderen Seite und der KP Chinas und der Partei der Arbeit Albaniens auf der anderen Seite ereignet hat. Auch für zukünftige sozialistische Aufbauprozesse, die sich zwangsläufig zuerst in einem feindlichen imperialistischen Umfeld vollziehen werden, muss diese Frage geklärt werden.

Es sollte auch untersucht werden, wie die Frage der friedlichen Koexistenz dazu beigetragen hat, Positionen zu rechtfertigen, die von einem friedlichen Übergang zum Sozialismus ausgehen: Hat die Annahme eines möglichen dauerhaften Gewaltverzichts der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaftsformation in ihrem gegenseitigen Verhältnis die Auffassung begünstigt, dass auch der Übergang von der einen in die andere Formation ohne Gewalt vonstattengehen kann?

Bezug zu den Grundannahmen[Bearbeiten]

Folgende Zitate der Klassiker werden bei der Bearbeitung des Dissenses zur friedlichen Koexistenz zu berücksichtigen sein:


„Nur der gewaltsame Sturz der Bourgeoisie, die Konfiskation ihres Eigentums, die Zerstörung des gesamten bürgerlichen Staatsapparats von unten bis oben, des parlamentarischen, gerichtlichen, militärischen, bürokratischen, administrativen, kommunalen Apparats usw., bis zur völligen Vertreibung oder Internierung der gefährlichsten und hartnäckigsten Ausbeuter, ihre strenge Überwachung zwecks Bekämpfung der unausbleiblichen Versuche, Widerstand zu leisten und die kapitalistische Sklaverei wiedereinzuführen – nur solche Maßnahmen sind geeignet, die tatsächliche Unterwerfung der ganzen Ausbeuterklasse zu gewährleisten.“
Lenin, Lenin Werke Bd. 31, S. 174 f.


„Die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat setzt seinem Klassenkampf gegen die Bourgeoisie kein Ende, im Gegenteil, dieser Kampf nimmt dadurch besonders großen Umfang, besondere Schärfe und Schonungslosigkeit an.“
Lenin, Das Wesen der Diktatur des Proletariats, Lenin Werke Bd. 31, S. 177.


„Die Diktatur des Proletariats bedeutet nicht die Einstellung des Klassenkampfes, sondern seine Fortsetzung in neuer Form und mit neuen Mitteln. Solange Klassen bestehen, solange die in einem einzigen Lande gestürzte Bourgeoisie ihre Attacken gegen den Sozialismus im internationalen Maßstab verzehnfacht, solange ist diese Diktatur notwendig.“
Thesen zum Referat über die Taktik der KPR, S. 482.


Arbeitsschritte[Bearbeiten]

Es geht hier sowohl um die Frage, ob der Imperialismus auf Aggressionen gegen ein sozialistisches System auf Dauer verzichten kann oder wird, als auch um die Frage, wie weitgehend die außenpolitischen Kompromisse sein sollten, die ein sozialistischer Staat zur Sicherung seiner Existenz eingehen sollte. Die verschiedenen Positionen, die von der KPdSU und anderen kommunistischen Parteien im Laufe der Zeit dazu vertreten wurden, müssen vor dem Hintergrund des grundsätzlichen antagonistischen Verhältnisses zwischen Kapitalismus und Sozialismus, aber auch der konkreten weltpolitischen Bedrohungssituation durch den Imperialismus analysiert werden.

Die Kritik der KP Chinas an der Linie des 20. Parteitags der KPdSU zur Frage der friedlichen Koexistenz sollte daraufhin untersucht werden, inwiefern es sich hier wirklich um eine Kritik aus Prinzip handelt oder ob diese nicht auch außenpolitische Interessen der chinesischen Parteiführung bediente.


Literatur[Bearbeiten]

  • Brenner, Hans-Peter / Steigerwald, Robert: Zu den Auseinandersetzungen in der DKP um den rechten und linken Revisionismus, Neue Impulse Verlag, 2010.
  • KP Chinas: Ein Vorschlag zur Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung. Antwort des ZK der KP Chinas auf den Brief des ZK der KPdSU vom 30. März 1963 (14.6.1963), Verlag für fremdsprachige Literatur Peking, 1963.
  • Khrushchov, Nikita: Report of the Central Committee of the Communist Party of the Soviet Union to the 20th Party Congress, Foreign Languages Publishing House Moscow, 1956.
  • Malenkow, G. M.: Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU(B) an den XIX. Parteitag, KPdSU(B) 1952. XIX. Parteitag der KPdSU(B), in: Neue Welt, Heft 22, 7. Jahrgang, Verlag „Tägliche Rundschau“.
  • Münder, Renate: Im Sog des Revisionismus, junge Welt, 7.8.2007.
  • Münder, Renate: Klassenziel bewahrt, junge Welt, 8.8.2007.
  • Über die historische Erfahrung der Diktatur des Proletariats (auf griechisch), 5. April 1956, Historische Ausgaben, Athen, 1963.

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Lenin, S. 138 f.
  2. Stalin, S. 48.
  3. Malenkow (1952), S. 2693 f.
  4. Khrushchov (1956), S. 34 f.
  5. Ebd., S. 41.
  6. Ebd., S. 45.
  7. Brenner/Steigerwald (2010), S. 63.
  8. Über die historische Erfahrung der Diktatur des Proletariats (1963), S. 7.
  9. KP Chinas (1953).
  10. Münder (2007).