Dissens Historischer Materialismus

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Einleitung[Bearbeiten]

Das materialistisch-dialektische Geschichtsverständnis, der historische Materialismus, wurde von Marx und Engels begründet. In seiner Schrift Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (Erstveröffentlichung 1880) führte Friedrich Engels das gemeinsame Verständnis von ihm und Marx genauer aus. Diese Schrift wurde von Karl Marx in einem Vorwort zur ersten Auflage als eine Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus bezeichnet. Dies sei hier deshalb vorweggeschickt, da verschiedene Kritiker der historisch-materialistischen Geschichtswissenschaft einen Unterschied zwischen Marx und Engels in diesen Fragen auszumachen glauben. Tatsächlich schrieben schon Engels und Marx ihr Verständnis von Geschichte im Manifest der Kommunistischen Partei, im Jahre 1848 unmissverständlich nieder. Sie behaupteten nicht nur das historische Subjekt in der Arbeiterklasse ausgemacht zu haben, das endlich nicht nur die eigene Ausbeutung, sondern gleich die Ausbeutung überhaupt auszurotten berufen war, sondern stellten auch klar, dass sie den Untergang des Kapitalismus und den Sieg des Proletariats als historisch unvermeidlich ansahen [1]. Dieses Postulat hat — wie sollte es anders sein — ein lautes Geschrei an Kritik auf sich gezogen und tut dies bis heute. Der Vorwurf lautet: „Geschichtsteleologie“, „Determinismus“ oder gar „revolutionärer Messianismus“. Ob wir uns mit all diesen Vorwürfen seitens der bürgerlichen Akademie auseinandersetzen müssen, ist noch nicht geklärt. Jedoch ist das Eindringen solcher Vorstellungen in die Reihen der Kommunisten zu erkennen, einer Kritik zu unterziehen und als Revisionismus zu bekämpfen. Deshalb müssen wir uns vor allem den Kritikern zuwenden, die in der Gesamtbewegung auftreten.

Das Verständnis des historischen Materialismus in der DDR[Bearbeiten]

Zunächst einmal ist klarzustellen, dass der historische Materialismus nicht vom dialektischen Materialismus abgetrennt betrachtet werden kann. Die Erkenntnisse des dialektischen Materialismus sind bei der Auseinandersetzung mit dem historischen Materialismus vorausgesetzt, bilden sozusagen eine Einheit. In der SU und in der DDR wurde unter historischem Materialismus die Anwendung des dialektischen Materialismus auf die menschliche Gesellschaft und ihren Entwicklungsprozess verstanden. „Er geht vom wirklichen Lebensprozeß der Menschen, von ihrer praktischen Lebenstätigkeit aus, die er vor allem als Praxis des materiellen Produktions- und Reproduktionsprozesses sowie des Klassenkampfes und der sozialen Revolution versteht, […]; er deckt die entscheidenden sozialen Triebkräfte des Geschichtsprozesses auf, die letztlich aus dem realen Lebensprozeß der Gesellschaft selbst hervorgehen, und untersucht die allgemeinen und grundlegenden Struktur- und Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft als Ganzes.“ [2] Der historische Materialismus wurde also verstanden als eine Theorie der Gesellschaft und ihren Bewegungsgesetzen und ihrer Veränderbarkeit durch gesellschaftliche Subjekte, wie z.B. im Kapitalismus es die Arbeiterklasse ist. Einen besonders starken Schwerpunkt legte man darauf die Bewegungsgesetze der Gesellschaft zu analysieren und entsprechend praktisch auszunutzen. Das Anliegen des historischen Materialismus müsse es sein, die Triebkräfte ausfindig zu machen, die über einen längeren historischen Zeitraum (Epoche) wirkmächtig sind, und zwar unabhängig vom Wollen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteure, ganz gleich welcher Klasse sie zugehörig sind. Das Erkennen dieser gesetzmäßigen Entwicklungen würde im Interesse der Klasse liegen, die diese Verhältnisse nicht mehr zu tragen bereit ist und sie entsprechend befähigen unter Ausnutzung der erkannten Gesetze verändernd einzugreifen. Ein vielleicht besonders strittiger und streitbarer Aspekt der in den einschlägigen Akademien vertretenen Lehre ist die prognostische Funktion, die dem historischen Materialismus zugerechnet wird. „Er [der historische Materialismus] hat einen objektiven Gesellschafts- und Geschichtsprozess sichtbar gemacht, der aus seinen Bedingungen, aus seinen Triebkräften und in seiner gesetzmäßigen Entwicklung erklärt und zugleich prognostiziert werden kann, und liefert auf diese Weise die allgemeine theoretische und methodologische Voraussetzung für die marxistisch-leninistische Gesellschaftsprognostik.“ [3]

Kritik am historischen Materialismus[Bearbeiten]

Zu unterscheiden wären hier bürgerliche (als einer der bekanntesten Vertreter muss hier Karl Popper genannt werden [4] ) und marxistische Kritik, wobei letztere meint, dass die jeweiligen Autoren sich selbst positiv auf Marx beziehen bzw. versuchen ihre Aussagen von Marx abzuleiten. Des Weiteren aber gibt es auch unter den marxistischen Kritikern des historischen Materialismus jene, die Unzulänglichkeiten und Widersprüche in der Marxschen Argumentation entdeckt zu haben überzeugt sind (wie z.B. Michael Heinrich [5] oder auch Stefan Kalmring [6] ) und wiederum andere, die meinen Marx wäre falsch interpretiert worden. Kernpunkt der Kritik ist dabei immer die Frage danach, ob die Marxsche Geschichtsphilosophie oder der historische Materialismus einen geschichtsdeterministischen Ansatz verfolgt oder nicht. Dabei wird häufig unterstellt, dass die Vorstellung von ‚historischer Notwendigkeit’ eine Art Gottesvorstellung sei, weil die Auffassung von Notwendigkeit in dem Sinne, dass etwas nur so und nicht anders kommen kann die Vorstellung einer Vorbestimmung beinhalten müsse. Auch wird in diesem Zusammenhang die historisch-materialistische Geschichtsauffassung als schematisch und verflachend dargestellt. Michael Heinrich sieht vor allem Engels' Naturdialektik und die Übertragung seiner Ideen auf Gesellschaft als Quelle der Verirrungen im Marxismus: „Besonders hervorstechende Merkmale dieses Populärmarxismus waren ein oftmals kruder Ökonomismus […] sowie ein ausgeprägter historischer Determinismus, der das Ende des Kapitalismus und die proletarische Revolution als naturnotwendig eintretende Ereignisse betrachet.“ [7] Diese Sichtweise kann wohl für die heutige Zeit als mehr oder weniger repräsentativ für sozialdemokratische bis linksradikale Linke stehen. Ihre Quelle ist, historisch betrachtet, der Neo- bzw. der Westliche Marxismus. Es gibt auch Ansätze, die infrage stellen, ob es im Marxschen Denken überhaupt einen geschichtsphilosophischen Ansatz gegeben habe und deshalb auch das Konzept des historischen Materialismus sozusagen auf einem Missverständnis beruhe. Die Kritik gegen die historisch-materialistische Auffassung der Geschichte griff vor allem die Behauptung der Prognosefähigkeit auf und befasste sich mit dieser. Die Verteidiger des historischen Materialismus sahen im Sieg des Sozialismus (Oktoberrevolution / Sieg über den Faschismus) einen Beweis für die Richtigkeit ihrer Auffassungen. Dass wir uns nach der Niederlage der sozialistischen Versuche und dem Sieg der Konterrevolution dieser Frage neu zuwenden müssen, ist selbsterklärend.

Literatur zum Thema[Bearbeiten]

Bollhagen, Peter: Gesetzmäßigkeit und Gesellschaft, Zur Theorie gesellschaftlicher Gesetze, Netherlands 1973.

Bucharin, N.: Theorie des Historischen Materialismus, Gemeinverständliches Lehrbuch der marxistischen Soziologie, Hamburg 1922.

Habermas, Jürgen: Arbeit, Erkenntnis, Fortschritt, Amsterdam 1970.

Heinrich, Michael: Die Wissenschaft vom Wert, Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition, Münster 1999.

Heinrich, Michael: Kritik der politischen Ökonomie, Eine Einführung, Stuttgart 2004.

Kalmring, Stefan: Die Lust zur Kritik, Ein Plädoyer für soziale Emanzipation, Berlin 2012.

Kelle, W. / Kowalson, M.: Der historische Materialismus, Abriss der marxistischen Gesellschaftstheorie, Moskau 1975.

Klaus, Georg / Buhr, Manfred: Philosophisches Wörterbuch, Band 1 und 2, Berlin 1971.

Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewusstsein, Ulm 1970.

Marx, Karl / Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, Berlin 1971.

MARXISMUS IN UNSERER ZEIT, Beiträge zum zeitgenössischen Marxismus, Marxistische Blätter, Sonderheft1/1968, veröffentlicht zum 150. Geburtstag von Karl Marx am 5.Mai 1968.

Oelßner, Fred: Der Marxismus der Gegenwart und seine Kritiker, Berlin 1949.

Einzelnachweise[Bearbeiten]


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  1. Marx, Karl / Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW Band 4, Berlin 1971, S.474.
  2. Klaus, Georg / Buhr, Manfred: Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1971 S.686.
  3. Ebd. S. 690.
  4. Popper, Karl: Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften, in: Topitsch, E.(Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften, Köln/Berlin 1966, S.113.
  5. Heinrich, Michael: Die Wissenschaft vom Wert, Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition, Münster 1999, S.139 / 149ff.
  6. Kalmring, Stefan: Die Lust zur Kritik, Ein Plädoyer für soziale Emanzipation, Berlin 2012, S.175 ff.
  7. Heinrich, Michael: Kritik der politischen Ökonomie, Eine Einführung, Stuttgart 2004, S.23.